Störungen

systemisch

behandeln

 

Störungen systemisch behandeln Band 6

Herausgegeben von

Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus

Elisabeth Wagner

Katharina Henz

Heiko Kilian

Persönlichkeitsstörungen

2016

Vorwort der Herausgeber

Ursprünglich ein querdenkendes Außenseiterkonzept, hat sich der systemische Ansatz heute in vielen Bereichen der Therapie und der Beratung theoretisch wie praktisch etabliert. Auch Vertreter anderer Schulen bereichert er mittlerweile in ihrer Arbeit. Die Etablierung eines Paradigmas birgt für dieses selbst aber auch Risiken, weil sie stets mit der Verfestigung von Denk- und Handlungsgewohnheiten einhergeht. Die Reihe Störungen systemisch behandeln stellt sich vor diesem Hintergrund zwei Herausforderungen: Nichtsystemischen Behandlern und Vertretern anderer Therapierichtungen soll sie komprimiert und praxisorientiert vorstellen, was die systemische Welt im Hinblick auf bestimmte Störungsbilder zu bieten hat. Innerhalb der Systemtherapie steht sie für eine neue Phase im Umgang mit dem Konzept von »Störung« und »Krankheit«.

Historisch gesehen war einer ersten Phase mit erfolgreichen Konzepten zu Krankheitsbildern wie Schizophrenie, Essstörungen, psychosomatischen Krankheiten und affektiven Störungen eine zweite Phase gefolgt, die geprägt war von einem gezielten Verzicht oder einer definitiven Ablehnung aller Formen störungsspezifischer Codierungen. In jüngerer Zeit wenden sich manche Vertreter der systemischen Welt wieder störungsspezifischen Konzepten und Fragen zu – und werden von anderen dafür deutlich attackiert. Diese neue Welle ist bedingt durch die Anerkennung der Systemtherapie als wissenschaftliches Heilverfahren, durch den Antrag auf deren sozialrechtliche Anerkennung und nicht zuletzt dadurch, dass viele im klinischen Sektor systemisch arbeitende Kollegen täglich gezwungen sind, sich zu störungsspezifischen Konzepten zu positionieren.

Die systemische Welt hat hierzu einiges anzubieten. Die Reihe Störungen systemisch behandeln will zeigen, dass und wie die Systemtheorie mit traditionellen diagnostischen Kategorien bezeichnete Phänomene ebenso gut und oft besser beschreiben, erklären und mit hoher praktischer Effizienz behandeln kann. Sie verfolgt dabei zwei Ziele: Zum einen soll systemisch arbeitenden Kollegen das große Spektrum theoretisch fundierter und praktikabler systemischer Lösungen für einzelne Störungen zugänglich gemacht werden – ohne das Risiko, die eigene systemische Identität zu verlieren, im besten Fall sogar mit dem Ergebnis einer gestärkten systemischen Identität. Gleichzeitig soll nicht-systemischen Behandlern und Vertretern anderer Schulen das umfangreiche systemische Material an Erklärungen, Behandlungskonzepten und praktischen Tools zu verschiedenen Störungsbildern auf kompakte und nachvollziehbare Weise vermittelt werden.

Verlag, Herausgeber und Autoren bemühen sich, einerseits eine für alle Bände gleiche Gliederung einzuhalten und andererseits kreativen systemischen Querdenkern die Freiheit des Gestaltens zu lassen.

An die Stelle der Abgrenzung und der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Therapieschulen ist heute der Austausch zwischen ihnen getreten. Die Reihe »Störungen systemisch behandeln« versteht sich als ein Beitrag zu diesem Dialog.

Dr. Hans Lieb, Dr. Wilhelm Rotthaus

 

Vorwort

Lange Zeit war die Reflexion therapeutischen Vorgehens unter störungsspezifischer Perspektive in der systemischen Therapie verpönt. Zwar durften gewisse Störungen, wie z. B. Essstörungen, auch als solche benannt und mit Expertenwissen angereichert werden (so wäre die systemische Therapie um einiges ärmer, hätte z. B. die Mailänder Schule sich nicht explizit mit der Anorexia nervosa oder Giorgio Nardone sich nicht mit Angststörungen auseinandergesetzt), manche Störungsbilder schafften es jedoch nie, im systemischen Diskurs einen Platz zu finden – und, wenig überraschend, gehören die Persönlichkeitsstörungen zu dieser Kategorie. »Unter der Hand« werden zwar Begriffe wie »Borderline« oder »Narzisstische Störung« in Supervisionen immer wieder benutzt, »offiziell« jedoch haben »Persönlichkeitsstörungen« bis heute kaum ihren Platz in der systemischen Fachliteratur gefunden. Dieses Buch wurde daher vor allem geschrieben, um dieses »Tabu« zu brechen und aufzuzeigen, wie das Konzept »Persönlichkeitsstörung« in systemisches Denken integriert werden kann und wie systemische Therapeuten1 in diesem Kontext verantwortungsvoll und professionell arbeiten können, ohne ihre »systemische Identität« hinter sich lassen zu müssen.

In der Auseinandersetzung mit den berufsspezifischen Anforderungen in ihren Arbeitskontexten entwickelten die Autoren über viele Jahre teils unabhängig voneinander Konzepte und Ideen zu dieser Störungsgruppe:

Elisabeth Wagner arbeitete als Psychiaterin und Psychotherapeutin auf Psychotherapiestationen psychiatrischer Abteilungen und in der forensischen Psychiatrie (u. a. auf einer forensischen Begutachtungsstation) – Settings also, in denen unterschiedliche Berufsgruppen und Therapieschulen aufeinandertreffen und in denen »Persönlichkeitsstörungen« mit weit weniger »Enthaltsamkeit« benannt und therapiert werden. Um in diesem Kontext professionell anschlussfähig zu bleiben, war es für sie als damals junge Systemikerin notwendig, sich mit den Konzepten anderer Therapiemethoden im Umgang mit »Persönlichkeitsstörungen« auseinanderzusetzen. In ihrer späteren Identität als Lehrtherapeutin für systemische Therapie versuchte sie, den Phänomenbereich »Persönlichkeitsstörung« sowohl auf theoretischer als auch auf therapiepragmatischer Ebene für systemische Therapeuten anschlussfähig zu machen, und bietet regelmäßig systemische Fortbildungen zum Thema »Persönlichkeitsstörungen« an. Dr. Wagner ist daher vor allem für die theoretischen und methodologischen Teile dieses Buches verantwortlich, inklusive der Diskussion der Behandlungskonzepte anderer »Schulen« und der Entwicklung des systemischen Störungsverständnisses.

Katharina Henz ist systemische Therapeutin, Soziologin und Kulturwissenschaftlerin, arbeitet vor allem in freier Praxis und als Supervisorin und hat ihre Sichtweise und Erfahrungen daher auch »aus der Praxis« beigesteuert. Die Arbeit auf einer Psychotherapiestation mit Schwerpunkt »Borderline«, aber vor allem die alltäglichen Herausforderungen mit »besonderen« Klienten im ambulanten Setting haben sie dazu gebracht, sich intensiv mit Behandlungskonzepten und notwendigen Modifikationen des therapeutischen Vorgehens zu beschäftigen. Sie zeichnet vor allem für die Fallbeispiele in diesem Buch verantwortlich, hat aber auch das systemische Störungsverständnis und die »Eingemeindung« bzw. Anbindung an bereits bestehende systemische Ideen mitentwickelt.

Heiko Kilian, Autor von Abschnitt 4.2 und Kapitel 5, arbeitete viele Jahre als psychologischer Therapeut im klinischen Bereich (u. a. in einem psychiatrischen Zentrum inkl. Tagesklinik) und ist heute u. a. als Supervisor in psychiatrischen, rehabilitativen und Jugendhilfeeinrichtungen tätig. Als »Systemiker der ersten Stunde« machte er die Erfahrung, dass das damals übliche, durch die Mailänder Schule geprägte systemische Gesprächsinventar bei Menschen mit Persönlichkeitsstörungen nur eingeschränkt funktionierte, da diese nur selten in der Lage waren, auf zirkuläre oder hypothetische Fragen einzugehen. Angeregt durch Gunthard Weber entwickelte er das Konzept der jeweils typischen interaktionellen »Einladungen« und verfasste in weiterer Folge die ersten Publikationen, die sich innerhalb der systemischen Fachliteratur differenziert mit den Anforderungen in der Behandlung von »Persönlichkeitsstörungen« auseinandersetzten. Um diesen genuin systemischen Beitrag zu würdigen, wurde Heiko Kilian gebeten, seine Überlegungen zu aktualisieren und im Abschnitt »Einladungen zu bestimmten interaktionellen Mustern erkennen und utilisieren« sowie in der Fallgeschichte am Ende des Buches darzustellen.

Die Autoren hoffen, mit diesem Buch die systemische Auseinandersetzung mit »Persönlichkeitsstörungen« angeregt und einen Beitrag geliefert zu haben, an dem man sich reiben oder den man vertiefen kann. Vor allem aber hoffen sie, dass die Diskussion aufgenommen und weitergeführt wird!

Elisabeth Wagner, Katharina Henz, Heiko Kilian
Wien und Wiesloch im April 2016

Auf ausdrücklichen Wunsch des Verlages wird in diesem Buch ausschließlich die männliche Form verwendet.

Einleitung

1.1 Persönlichkeitsstörungen systemisch konzeptualisieren – geht das überhaupt?


»Persönlichkeitsstörungen« wurden bislang im systemischen Diskurs marginalisiert oder extrem kritisch diskutiert, was nicht verwundert, da kaum eine Diagnose in einem solchen Ausmaß im Widerspruch zur systemischen Denkweise steht wie diese. Damit Ausführungen zur Konzeptualisierung, Diagnose und Therapie von »Persönlichkeitsstörungen« für systemische Therapeuten anschlussfähig werden, müssen zunächst die wesentlichen Unterschiede der theoretischen Grundlagen aufgezeigt und diskutiert werden. Schauen wir uns daher das klinische Konzept der »Persönlichkeitsstörung« genauer an: »Persönlichkeitsstörungen« gelten als tief verwurzelte und anhaltende Fühl-, Denk- und Verhaltensschemata, die sich in starren Reaktionen und abnormen Verhaltensmustern in unterschiedlichen Lebenslagen zeigen. Laut ICD oder DSM sind diese Schemata in vielen persönlichen und sozialen Situationen eindeutig unpassend, gehen mit einem erhöhten Ausmaß persönlichen Leidens und/oder gestörter sozialer Funktionsfähigkeit einher und führen häufig zu Problemen in der Interaktion mit anderen Menschen. Aus systemischer Perspektive ergeben sich bereits hier zwei Einwände: Zum einen wird die Rolle des Beobachters bei der Identifikation der »Störung« nicht mitbedacht (wer genau definiert Schemata als »eindeutig unpassend«?), zum anderen ist es problematisch, Erleben und Verhalten, das immer in einem interaktionellen Kontext stattfindet, einer Person zuzuschreiben. Diese »Personperspektivierung« ist aber Voraussetzung für die Beschreibung einer »Persönlichkeitsstörung«, da wiederholt beobachtbares Verhalten in konkreten Situationen auf scheinbar zeitstabile und kontextunabhängige Persönlichkeitseigenschaften zurückgeführt (vgl. Fiedler 1994, S. 4) wird.

Aus systemischen Therapien kennt man diese »interne Attribution« nur bei Ressourcen und Stärken – dann allerdings auch, wenn sie nur singulär, also nicht »persontypisch« sind: »Auf welche Stärke verweist Ihre Fähigkeit, in dieser Situation so zu reagieren…« ist die typische Realisierung des Prinzips »Lösungen internalisieren« in der narrativen Therapie, während Probleme in dieser Therapietradition externalisiert, also »außerhalb der Person« angesiedelt werden. Bei der Diagnose von »Persönlichkeitsstörungen« tun wir das Gegenteil: Die von Klienten berichteten Schwierigkeiten werden »dekontextualisiert« und kausal der Person zugeschrieben. Es werden damit gleich mehrere Prinzipien systemischer Realitätskonstruktion verletzt: Problematische Erfahrungen sollen kontextualisiert werden, die Zuschreibung stabiler negativer Eigenschaften, wie sie Klienten oft spontan vornehmen, soll dekonstruiert und Pathologisierung vermieden werden und die Rolle des Beobachters soll mitgedacht und mitbenannt werden.

Die wesentlichen Unterschiede zwischen der Beschreibung von »Persönlichkeitsstörungen« und den zentralen Ideen systemischer Therapie sind damit schon aufgezeigt: Während systemische Therapie durch Kontextualisierung und zirkuläre Fragen starre Problemzuschreibungen dekonstruiert, wird bei der Beschreibung einer »Persönlichkeitsstörung« eine interaktionelle Problematik einer Person zugeschrieben und dabei auch noch Permanenz postuliert/konstruiert, statt nach Ausnahmen, Ressourcen und Lösungen zu suchen.

Auf den ersten Blick scheinen also die Grundannahmen systemischer Therapie relativ inkompatibel mit der Diagnose einer »Persönlichkeitsstörung« zu sein. Dennoch gibt es sie: diese verstörenden Momente im Therapieraum, wenn das Verhalten der Klienten einfach nicht mit ihrer angebotenen Problemerklärung zusammenpassen will, wenn Klienten immer wieder Beziehungsangebote machen, die verwirren, verärgern, überfordern, und sich damit unangenehme Affekte bei den Therapeuten einstellen, die ihren Handlungsspielraum eingrenzen.

Klientin A erscheint zum Erstgespräch und berichtet von folgenden Symptomen: Sie könne kaum noch schlafen und habe quälende Gedanken, auch suizidal gefärbt. Anlass sei eine aus heiterem Himmel beendete Liebesbeziehung gewesen, die sie gerne noch fortgeführt hätte. In einer gut einfühlbaren Art berichtet sie, wie sie innerlich zwischen Trauer, Wut, Kränkung, Rachegedanken und alles verzeihenden Tagträumen hin- und herschwanke, das Leben erscheine ihr freudlos und leer und sie habe keine Idee, wie sie den Verlust überwinden werde. Im Moment stabilisiere sie sich nur mehr über die Arbeit und habe ihre sozialen Kontakte auf den engsten Freundeskreis eingeengt. Mithilfe der Therapie will sie lernen, das Geschehene zu bewältigen, die Enttäuschung hinter sich zu lassen und wieder offen für Neues zu werden.

Klientin B erscheint zum Erstgespräch und berichtet von folgenden Symptomen: Sie könne kaum noch schlafen und habe quälende Gedanken, auch suizidal gefärbt. Anlass sei eine aus heiterem Himmel beendete Liebesbeziehung gewesen, die sie gerne noch fortgeführt hätte. Sie sei unheimlich sauer und aufgebracht und nachts, wenn sie nicht schlafen könne, schicke sie ihrem Ex-Partner unzählige wütende E-Mails und SMS, leider ohne Erfolg. Manchmal drohe sie ihm dabei auch mit Selbstmord. Andere Männer hätten »solche Spiele« ebenfalls schon mit ihr gespielt. Auch in der Arbeit habe sie das Gefühl, gemobbt zu werden, Konflikte seien dort an der Tagesordnung. Dazwischen fühle sie sich innerlich ganz leer, sie vermute, letztlich an einem Burn-out zu leiden. Sie habe die Therapeutin im Internet gefunden und sei ganz sicher, dass diese die einzige Expertin sei, die ihr helfen könne, am besten gleich zwei Mal die Woche.

In beiden Fallvignetten wird von den Klientinnen zunächst die gleiche Symptomatik berichtet. Doch dann werden Unterschiede in der Art der Erzählung deutlich, wodurch auch unterschiedliche emotionale Reaktionen bei der Therapeutin ausgelöst werden:

Klientin A beschreibt das unvermittelte Beziehungsende als krisenhaftes Erlebnis, die damit verbundenen Affekte werden differenziert und gut einfühlbar berichtet. Sie erzählt von einer erst- und einmaligen Ausnahmesituation, für die sie noch keine adaptiven Ideen entwickeln konnte. Die Haltung der Therapeutin gegenüber ist zaghaft hoffend, die Therapeutin reagiert gelassen und verständnisvoll und ist zuversichtlich, dass sie mittels Ressourcenarbeit, Normalisierung bzw. Umdeutung und unterschiedserzeugenden Fragen eine Verbesserung der Symptomatik erzielen können wird.

Für Klientin B ist das unvermittelte Beziehungsende eine unzumutbare Kränkung, die vor allem Wut auslöst, von der sie sich auch in der Therapiesituation in keinem Moment distanzieren kann. Sie erzählt von einem sich wiederholenden Beziehungsmuster, erklärt dieses jedoch als zufällige Aneinanderreihung mehrerer feindlicher Angriffe. Heftige Konflikte scheinen eine Konstante in ihrem Leben zu sein, die Schuld dafür wird nur im Außen gesucht. Der Therapie wird eine Art Wunderheilungsfunktion zugeschrieben. Die Therapeutin spürt Verstörung, Überforderung und Verärgerung in sich aufsteigen, sie entwickelt konträre Hypothesen zu jenen der Klientin, traut sich diese aber nicht anzusprechen, da sie mit großer Verärgerung der Klientin rechnet. Sie setzt auf die nächste Supervision.

Was dieses Buch kann und will

Wenn wir also in diesem Buch »Persönlichkeits«- oder strukturelle Störungen (auf den unterschiedlichen Bedeutungsgehalt dieser Begriffe wird noch einzugehen sein) systemisch »behandeln« wollen, so stellen sich auf der Ebene der theoretischen Konzeptualisierung folgende Fragen:

Wie können wir überhaupt »systemisch« über Persönlichkeitsstörungen nachdenken?

Gibt es bestimmte systemische Paradigmen, die sich besonders gut oder besonders schlecht für die Konzeptualisierung, also für das »Denken über« Persönlichkeitsstörungen eignen?

Wo sind die Grenzen bzw. Spielräume einer systemischen Konzeptualisierung von »Persönlichkeitsstörungen« auf der theoretischen wie auf der therapiepragmatischen Ebene?

Welche neuen Metaphern und Landkarten können hilfreich sein?

Wie können Konzepte aus anderen Therapierichtungen nutzbar gemacht werden, ohne dabei die Grundsätze systemischen Denkens aufzugeben?

Und wie realisieren wir unser »typisch systemisches Handwerkszeug« unter Nutzung dieser neuen Landkarten?

Auf einer praxisnahen Ebene lauten die Fragen:

Gelten im therapeutischen Umgang mit Personen mit Persönlichkeitsstörungen die gleichen handlungsleitenden Prämissen wie bei anderen Klienten?

Welche Interventionen sind eher zu fokussieren, welche sind in diesem Fall weniger nützlich als bei anderen Störungen?

Welche spezifischen Probleme (Störungen der therapeutischen Beziehung, Krisenhaftigkeit …) sind zu erwarten und wie gehen wir damit um?

In diesem Buch wollen wir uns nicht nur mit diesen Fragen beschäftigen, sondern auch anhand vieler Fallbeispiele versuchen, »nützliche und schöne« Ideen zu kreieren, wie »Persönlichkeitsstörungen« systemisch behandelt werden können.

1.2 Grundsätze systemischer Therapie

Angesichts der großen Binnendifferenzierung systemischer Therapie – sie kann konversational sein, narrativ, strategisch, strukturell oder hypnosystemisch und sie kann »problem-« oder »lösungsorientiert« sein – weist Tom Levold (Levold u. Wirsching 2014) darauf hin, dass der systemische Ansatz »keine einheitliche, inhaltlich konsistente Arbeitsphilosophie darstellt, sondern eine Vielzahl von Konzepten und theoretischen Modellen umfasst, die untereinander mehr oder weniger anschlussfähig sind, aber gemeinsame Grundorientierungen und -haltungen aufweisen«.

In einem ersten Schritt wollen wir diese »gemeinsamen Grundorientierungen und -haltungen« anhand folgender Merkmale systemischer Therapie beschreiben2:

1. Nicht individualisieren (also Personen keine Eigenschaften zuschreiben)

2. Nicht pathologisieren (also Personen keine Defizite zuschreiben)

3. Stattdessen: interaktionelle Muster und Zusammenhänge beschreiben (In welchem Kontext entsteht ein Problem?)

4. Nach Funktionen und guten Absichten von Symptomen suchen

5. Die Konstruktion von Permanenz vermeiden, statt dessen Erzeugung von Unterschieden (Wann tritt ein Problem nicht auf?)

6. Die Fähigkeit zur Veränderung unterstellen, aber neutral bleiben im Bezug auf die individuelle Lösung

7. Mögliche negative Auswirkungen der gewünschten Veränderung beachten

8. Therapieauftrag und die Erwartungen aller Beteiligten erfragen

9. In diesem Sinn zielorientiert arbeiten

10. Ressourcen und kleine Erfolge fokussieren

Traditionell definiert sich systemische Therapie also über den Verzicht auf eine dezidierte Störungslehre und die Ablehnung der Diagnose von »Störungen« oder gar »psychischen Krankheiten« samt traditionellen Psychopathologie-Konzeptionen und störungsspezifischen Behandlungsansätzen (was sich mit der Reihe »Störungen systemisch behandeln« allerdings gerade ändert). Im wohl bekanntesten Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung von Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe (und Lehrbücher formulieren ja meist den aktuellen fachlichen Konsens) heißt es dazu:

»Ihre Stärke liegt vor allem darin, Gesundheitsstörungen als Teil schwieriger Lebenslagen und zwischenmenschlicher Beziehungen umfassend und schnell zu verstehen und sie durch die Gestaltung eines Kooperationskontextes mit gesundheitsförderlicheren Beziehungsmustern positiv zu beeinflussen« (von Schlippe u. Schweitzer 2012: 12).

Schwierige Lebenslagen – eben ein bestimmter lebensgeschichtlicher Kontext – sind also das Agens der Störung.

Im Unterschied zu vielen anderen therapeutischen Methoden steht daher am Beginn einer systemischen Therapie keine umfassende Diagnostik, sondern eine genaue Auftragsklärung – was will die Klientin ändern, wie definiert sie das Problem, welche Lösungen sind vorstellbar, welche Ziele werden angestrebt? Therapeutische Absichten, die jenseits des von Klienten formulierten »Auftragsbereiches« liegen, sind tabu.

Neben der grundsätzlichen Zurückhaltung gegenüber der Konzeptualisierung von Störungen und der mit der Persönlichkeitsstörungsdiagnose unweigerlich verbundenen Individualisierung von Problemen (»Personperspektivierung«), die sich nicht nur, aber doch vorwiegend im interaktionellen Kontext zeigen, stellt die strikte Auftragsorientierung systemischer Therapie ein weiteres Hindernis für die Annäherung an das Konzept »Persönlichkeitsstörung« dar.

Bei »Persönlichkeitsstörungen« sind die interaktionellen Muster oder Schemata, die problemerzeugend oder -aufrechterhaltend wirken, so sehr Teil der eigenen Identität, dass das Problematische oder »Störungswertige« daran häufig vom Betroffenen selbst nicht erkannt wird (Ich-Syntonie). Die Auffälligkeiten von Erleben und Verhalten, die diese Störungsbilder definieren, werden aus der Eigenperspektive daher nicht zwingend als störend wahrgenommen. Aus diesem Grund ist die subjektive Wahrnehmung der Beeinträchtigung, der »Leidensdruck« des Betroffenen auch keine Voraussetzung für die Diagnose: Die Diagnose kann auch gestellt werden, wenn es durch die »tief verwurzelten deutlichen Abweichungen im Wahrnehmen, Denken, Fühlen und in den Beziehungen zu anderen« zu deutlichen Einschränkungen der beruflichen und sozialen Leistungsfähigkeit kommt. Aus systemischer Perspektive wird diesbezüglich problematisiert, dass die Konzeptualisierung einer ich-syntonen Störung eine Form von Definitionsgewalt beansprucht, indem der Beobachter des Betroffenen etwas »Pathologisches« oder zumindest »Problematisches« sieht, was dieser selbst nicht sieht oder anders bewertet. Dies ist auch Systemikern erlaubt – aber der Kybernetik II. Ordnung folgend sind sie sich dessen bewusst, dass sie durch spezifische Unterscheidungen eine Störung konstruieren (sie sehen sich sehen = Beobachtung zweiter Ordnung), wo andere glauben, nur zu sehen (Beobachtung erster Ordnung: sie sehen das Sehen nicht).

Wenn wir uns als Systemiker nun erlauben, mit den oben genannten Einschränkungen die Idee der ich-syntonen Störung zu nützen, so erfordert die Therapie von Persönlichkeitsstörungen oft eine »dosierte Selbstbeauftragung«: Dies beinhaltet die Fähigkeit und Bereitschaft, eine »Störung« zu konzeptualisieren, ohne dass diese explizit von Klienten thematisiert wird. Dabei muss die angebotene Problemerzählung ernst genommen und gleichzeitig eine Beobachter- (oder Experten-)Position aufgebaut werden.

Statt Klientin B in ihrer Selbstbeschreibung »Burn-out« naiv zu folgen, gilt es, durch Erfragen der »persontypischen« Besonderheiten des Erlebens und Verhaltens ein Verständnis für diese problemaufrechterhaltenden Muster zu entwickeln und diesbezüglich evtl. einen Therapieauftrag zu erwirken. Wie die einzelnen Schritte in diesem Prozess in einer systemischen Haltung realisiert werden können, wird im Kapitel 4 dargestellt. Auch auf die unterschiedlichen Anforderungen im ambulanten und stationären Bereich in Bezug auf die »dosierte Selbstbeauftragung« soll dort genauer eingegangen werden.

1.3 Erste Ideen zur »Eingemeindung«: Über den Umgang mit »Unterschieden, die einen Unterschied machen«

Beschreibung von »Persönlichkeitsstörungen«

Systemische Therapie

Personperspektivierung

Kontextualisierung, Zirkularität

Konstruktion von Permanenz

Konstruktion von Unterschieden

Problemorientierung

Lösungs-/Ressourcenorientierung

Störungsperspektive

Interesse für Funktion des Symptoms

Expertenhaltung

Auftragsfokussierung

Tab.1: Unterschiedliche Merkmale von Denken in der Kategorie »Persönlichkeitsstörung« und systemischem Denken

Wie in der Tabelle veranschaulicht, stehen die Grundsätze systemischen Denkens in einem umfassenden Widerspruch zu den der Diagnose von Persönlichkeitsstörungen zugrunde liegenden Überzeugungen. Für den Umgang mit gegensätzlichen Positionen empfiehlt es sich aus systemischer Perspektive bekanntlich, die Entscheidung für ein »Entweder-oder« aufzugeben und statt dessen eine Haltung des »Sowohl-als-auch« einzunehmen. Was heißt das nun konkret für einen »systemischen Umgang mit Persönlichkeitsstörungen«?

Zunächst sollten wir, wie auch von Fiedler (2000) unter Bezugnahme auf Oldham und Morris (1995) ausgeführt, nicht von Persönlichkeitsstörungen, sondern von akzentuierten Merkmalen des persönlichen Stils sprechen; diese können wir dann sowohl als problemerzeugend wie auch als sinnvoll und nützlich in bestimmten Situationen konnotieren. Wir wahren damit die für Systemiker so wichtige Konstrukt- und Lösungsneutralität und müssen auch keineswegs von einer »Normabweichung« auf einen diesbezüglichen Therapieauftrag schließen. Wir können diese persontypischen Fühl- Denk-Verhaltensmuster (FDV-Muster) einer ökosystemischen Bilanz unterziehen, wie wir es auch mit anderen Überzeugungen oder Gewohnheiten tun, können überprüfen, was für einen Veränderungsbedarf spricht, was dagegen und was dafür der richtige Zeitpunkt wäre. Persönlichkeitsstile können auch kontextabhängige Ausprägungen aufweisen, sodass unterschiedserzeugendes Fragen und die Suche nach Ausnahmen im Unterschied zur Beschreibung stabiler Persönlichkeitseigenschaften ihre (therapeutische) Berechtigung haben (»In welchen Situationen gelingt es Ihnen denn am ehesten, Ihr ängstlich-vermeidendes Verhalten abzulegen und sich entschlossen für Ihre Interessen einzusetzen?«).

Wie im Kapitel 4 im Detail ausgeführt wird, kann das gesamte Interventionsrepertoire lösungsorientierter Therapie reflektiert eingesetzt werden, wenn erst einmal gemeinsam mit der Klientin ein adäquates Verständnis ihrer problemaufrechterhaltenden Fühl-Denk-Verhaltensmuster erarbeitet worden ist.

Auch Hans Lieb, der mit besonderem Nachdruck auf die mit der Diagnose einer »Persönlichkeitsstörung« verbundenen logischen Kategorienfehler und Aporien hinweist (Lieb 2014a), fordert die »Unterlassung aller Begrifflichkeiten, die direkt oder indirekt mit dem Störungskonstrukt operieren« (Lieb 2009), und spricht stattdessen von Persönlichkeitsstilen oder interaktionellen Stilen. Die Kenntnis der jeweiligen »Stile« hilft dabei, sich vor Verstrickungen zu schützen und die offen-transparente Entwicklung von Stil-Musterunterbrechungen einzuleiten. Da jedoch sowohl ICD-10 als auch DSM-5 immer noch von »Persönlichkeitsstörungen« sprechen, werden auch wir diesen Begriff weiter nützen, aber immer unter Anführungszeichen stellen, um auf die konzeptuellen Schwierigkeiten und das Stigmatisierungspotenzial dieser Diagnose zu verweisen. Aus systemischer Perspektive behandeln wir allerdings nicht »Persönlichkeitsstörungen«, sondern wir helfen Klienten bei Stil-Musterunterbrechungen – und das können wir gut, denn Mustererkennung, Musterbeschreibung und die Anregung zur Musterveränderung sind genuine Kompetenzen systemischer Therapeuten.

1.4 Ein »secret turn«? Von der Kybernetik zur Synergetik – aktuelle Entwicklungen in der systemischen Metatheorie

Unter dem Einfluss neurobiologischer Diskurse, wie sie vor allem von der hypnosystemischen Therapie rezipiert werden, und unter Berücksichtigung der therapeutischen Wirkforschung wird systemische (Einzel-)Therapie in den letzten Jahren zunehmend unter synergetischer Perspektive beschrieben (Schiepek et al. 2013; Grossmann 2014; Wagner u. Russinger 2016). Das individuelle Erleben, also intrapsychische Prozesse, werden unter Bezugnahme auf Luc Ciompi (1997) als jeweils spezifische Fühl-Denkverhaltens-Muster konzeptualisiert und rücken in den Fokus des therapeutischen Interesses. Dies stellt einen relevanten Unterschied sowohl zu der früher vorherrschenden interpersonellen Perspektive als auch zu einer systemtheoretischkonstruktivistisch begründeten systemischen Einzeltherapie dar, da erstmals der Konzeptualisierung intrapsychischer Prozesse Aufmerksamkeit geschenkt wird. In dem Buch Emotionsbasierte Systemische Therapie. Intrapsychische Prozesse verstehen und behandeln (Wagner u. Russinger 2016) wird ausführlich dargelegt, wie intrapsychische Prozesse auch in ihrer relativen Konstanz in Übereinstimmung mit den theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie konzeptualisiert werden können und welche therapiepragmatischen Konsequenzen dies hat. Es wird eine Arbeitsweise vorgestellt, mit der auch tief greifende emotionale Störungen, die sich gegenüber kurztherapeutischen Methoden als resistent erwiesen haben, behandelbar werden. Damit soll der Wert von Kurztherapien keineswegs geschmälert werden: Wo ein kurztherapeutisches Vorgehen ausreicht, um Klienten zu nachhaltigen Veränderungen anzuregen, sollte es natürlich angewandt werden. Bei Vorliegen einer »Persönlichkeitsstörung« ist dies häufig nicht der Fall. In diesen Fällen brauchen wir ein Verständnis intrapsychischer Prozesse als relativ konstante, bzw. sich immer wieder neu erzeugende Phänomene (siehe Abschnitt 3.4). Im Unterschied zu anderen psychologischen oder psychotherapeutischen Methoden, die theoretische Konzepte entwickelt haben, um die Konstanz psychischer Probleme zu erklären, indem sie intrapsychische »Ursachen« (unbewusste Konflikte, ein »falsches Selbst«, ein »verletztes inneres Kind«) beschreiben, hat die systemische Therapie bislang weitgehend auf die Konzeptualisierung von konstanten intrapsychischen Prozessen verzichtet und geht von einer maximalen Wandlungsfähigkeit aus:

»Die systemische Therapie geht davon aus, dass Menschen zu jeder Zeit imstande sind, Lebensprobleme und Problemsysteme zu erzeugen und dauerhaft zu reproduzieren, dass sie aber zugleich fähig sind, durch Unterbrechung des Wiederholungsmusters solche Probleme vergehen bzw. im Hintergrund verschwinden zu lassen. Die Suche nach Bedingungen, die eine Alternative zu den problemerhaltenden darstellen, ist ein zentraler Bestandteil systemischer Therapie« (Ludewig 2013, S. 156).

Dieser Veränderungsoptimismus ist attraktiv: Man muss – theoretisch fundiert – an rasche, diskontinuierliche Veränderungen glauben, um sie in therapeutischen Prozessen unterstützen zu können. Diese Haltung schützt Systemiker davor, durch ihre Grundannahmen die Konstanz psychischer Probleme zu erzeugen, allerdings verhindert sie auch ein adäquates Verständnis für konstante intrapsychische Störungsmuster: »The person is not the problem, the problem ist the problem« postulierten White u. Epston noch 1992. Synergetiker würden dies – mit Bezug auf die bereits von Ciompi beschriebene relative Konstanz persontypischer FDV-Programme – anders beschreiben:

»Heute gehe ich davon aus, dass Problemzustände von KlientInnen in Erschütterungen menschlicher Biografie durch vergangene und gegenwärtige kritische Lebensereignisse und Lebenserfahrungen gründen. […] Aus dieser Erschütterung […] leiten sich problemassoziierte Denkweisen des Erlebens, Denkens und Handelns ab […] Es entstehen Muster psychischen und sozialen Prozessierens, die durch dysfunktionale (sekundäre) Bewältigungsstrategien stabilisiert werden« (Grossmann 2009).

Folgerichtig wird Psychotherapie als Vorgang der Reorganisation neuronaler Netzwerke verstanden (Spitzer 2000) und nicht mehr nur als Neuorganisation problemerzeugender Kommunikationen.

Gerade in der Beschäftigung mit dem Phänomenbereich der »Persönlichkeitsstörungen« scheint uns dieser Ansatz besonders nützlich zu sein – wir werden in Kapitel 3 ausführlicher darauf zurückkommen –, da er die Synthese zweier bisher unvereinbarer Sichtweisen ermöglicht: Zirkularität, Kontextualisierung und Auftragsfokussierung stehen nicht mehr im Widerspruch zur Personperspektivierung und der Konstruktion (relativer) Permanenz. Synergetisch orientierte systemische Therapie ist langsam und kleinschrittig und soll Klienten dabei unterstützen, dysfunktionale selbstreferenzielle Fühl-Denk-Verhaltens- und damit auch Interaktionsmuster zu erkennen, zu benennen und zu verändern.

1.5 Warum es »Sinn« macht, sich dem Phänomen »Persönlichkeitsstörung« systemisch anzunähern

Zunächst gibt es ein pragmatisches Argument: Die diagnostische Kategorie »Persönlichkeitsstörungen« ist aus dem klinischen Kontext nicht wegzudenken. In dem Ausmaß, in dem systemische Therapeuten auch in Institutionen des Gesundheitswesens, in Krankenhäusern, Reha-Kliniken, Ambulanzen und Tageskliniken arbeiten, in denen die hierarchische Deutungsmacht der Medizin oder der klinischen Psychologie obliegt, gewinnt die Anschlussfähigkeit für psychiatrisch-psychologische Konzepte an Bedeutung. Das bedeutet nicht, dass systemische Therapeuten ihre Überzeugungen, Theorien, Modelle und Methoden an der Eingangstür abgeben und unkritisch die von der Medizin vorgenommenen Unterscheidungen und Beschreibungen übernehmen. Es geht vielmehr um eine kritische Analyse und kontextadäquate Nutzung der klinischen Konzepte, was allerdings eine gewisse Kenntnis und theoretische Reflexion voraussetzt. Eine dogmatische Ablehnung des Konzepts »Persönlichkeitsstörung« im Sinne von »Wir Systemiker halten nichts von dieser Diagnose« wird wohl eher als Zeichen der Ignoranz und nicht als Ausdruck einer wohl reflektierten und theoretisch argumentierten kritischen Distanz gewertet werden.

Aber auch im niedergelassenen Bereich ist (bei einer ungefähren Prävalenz von 10 % der Allgemeinbevölkerung und 50 % der psychiatrischen Patienten – für die genaueren Zahlen sei auf Kapitel 2 verwiesen) damit zu rechnen, dass man im Laufe seiner Berufskarriere mit Klienten zu tun hat, die die Kriterien einer »Persönlichkeitsstörung« erfüllen. Nun könnte man – in alter psychiatriekritisch-systemischer Tradition argumentieren, dass man sich alle mit der Diagnose von Persönlichkeitsstörungen assoziierten Probleme erspart, wenn man sie nicht stellt. Wir sind anderer Meinung: Wir glauben, dass Klienten mit »Persönlichkeitsstörungen« spezifische Anforderungen an Therapeuten stellen, und meist sind wir nicht gut beraten, diese zu ignorieren. Viele andere Therapiemethoden – allen voran Psychoanalyse und Verhaltenstherapie – haben spezifische Vorgehensweisen für die Behandlung von »Persönlichkeitsstörungen« entwickelt (siehe Abschnitte 3.1 und 3.2), weil die üblichen Behandlungstechniken nicht ausreichend erfolgreich waren. Wäre es nicht überheblich zu glauben, dass nur für die systemische Therapie »One size fits all« gilt?

Dies umso mehr, als Systemiker die Wahl zwischen teilweise sehr unterschiedlichen Konzepten und Ideen und damit in weiterer Folge sehr unterschiedlichen Haltungen und Interventionen haben. Lösungsorientierte, narrative, strukturelle, strategische und hypnosystemische Ansätze legen jeweils unterschiedliche therapeutische Vorgehensweisen nahe und es ist nicht davon auszugehen, dass all diese Konzepte in der Behandlung von »Persönlichkeitsstörungen« gleich hilfreich sind. So glauben wir, dass strikt kurztherapeutisch definierte Konzepte wie z. B. strategische Ansätze zu kurz greifen – eine provokative Musterunterbrechung reicht einfach nicht aus, um über viele Jahre oder Jahrzehnte entwickelte Fühl-Denk-Verhaltensmuster konstruktiv zu verändern. Ebenso dürfte die Konzeptualisierung therapeutisch induzierter Veränderungen durch narrative Therapie bei dieser Art der Störung zu eng sein – die Veränderung der Selbsterzählung genügt meist nicht, um die mit »Persönlichkeitsstörungen« assoziierten problematischen Erlebnis- und Verhaltensweisen nachhaltig zu beeinflussen. Und selbst die Lösungsorientierung muss modifiziert werden, da Zielarbeit zunächst ein Verständnis für das mitgebrachte Problem erfordert. Im Sinne einer verantwortungsvollen Steuerung des Therapieverlaufes ist daher aus unserer Sicht ein professionelles Fallverständnis, in das auch diagnostische Überlegungen einfließen, notwendig.

Dabei geht es weniger um die exakte Diagnose einer spezifischen Persönlichkeitsstörung. Die gängigen Diagnoseschemata ICD-10 und DSM-5 bieten für die Behandlungsplanung recht wenig Unterstützung und lassen sich, wie wir im Abschnitt 2.4 ausführen, auch aus epidemiologischer Sicht trefflich kritisieren. Vielmehr geht es um die Fähigkeit des Therapeuten, neben der Problemerzählung des Klienten auch problematische persontypische FDV-Programme wahrzunehmen, über diese mit dem Klienten ins Gespräch zu kommen, ein diesbezügliches Problembewusstsein zu entwickeln und evtl. einen Behandlungsauftrag zu erwirken. Problematische persontypische FDV-Programme wahrzunehmen, hilft auch zu antizipieren, mit welchen interaktionellen Schwierigkeiten in der therapeutischen Beziehung zu rechnen ist. Es ist zu erwarten, dass eine histrionische Klientin andere Interaktionselemente in die therapeutische Beziehung einbringt als ein zwanghafter oder dependenter Klient. Heiko Kilian konkretisiert diese Idee noch weiter, indem er die spezifischen »Einladungen« beschreibt, die Personen mit »Persönlichkeitsstörungen« ihrer Umwelt gegenüber aussprechen (siehe Kapitel 4).

Aus all diesen Gründen halten wir es für notwendig, dass auch systemische Therapeuten die Diagnose »Persönlichkeitsstörung« in ihren therapeutischen Referenzrahmen aufnehmen und differenziert Vor- und Nachteile des Gebrauchs abwägen. »Persönlichkeitsstörungen« sind eine Form der Unterschiedserzeugung in einem Behandlungssystem; wir müssen entscheiden, wann dieses Differenzierungsmerkmal für ein verantwortungsvolles therapeutisches Handeln im Sinne unserer Klienten nützlich ist.

Ähnlichkeiten zu Kurt Ludewigs »10+1 Leitsätzen und Leitfragen« (Ludewig 1987) sind keineswegs zufällig.