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Nr. 2906

 

Das gestohlene Raumschiff

 

In Terrania kämpft ein Junge ums Überleben – ein geheimnisvolles Volk tritt auf

 

Michael Marcus Thurner

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

1. Yeto Carell

2. Paracel Fitzgerald

3. Yeto Carell

4. Paracel Fitzgerald

5. Yeto Carell

6. Paracel Fitzgerald

7. Yeto Carell

8. Paracel Fitzgerald

9. Yeto Carell

10. Paracel Fitzgerald

11. Yeto Carell

12. Paracel Fitzgerald

13. Yeto Carell

14. Paracel Fitzgerald

15. Yeto Carell

Journal

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

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Wir schreiben das Jahr 1551 NGZ, gut dreitausend Jahre vom 21. Jahrhundert alter Zeitrechnung entfernt. Nach großen Umwälzungen in der Milchstraße haben sich die Verhältnisse zwischen den unterschiedlichen Sternenreichen beruhigt; im Großen und Ganzen herrscht Frieden.

Vor allem die von Menschen bewohnten Planeten und Monde streben eine positive Zukunft an. Tausende von Welten haben sich zur Liga Freier Galaktiker zusammengeschlossen, in der auch Wesen mitwirken, die man in früheren Jahren als »nichtmenschlich« bezeichnet hätte.

Trotz aller Spannungen, die nach wie vor bestehen: Perry Rhodans Vision, die Galaxis in eine Sterneninsel ohne Kriege zu verwandeln, scheint sich langsam zu verwirklichen. Man knüpft sogar vermehrt Kontakte zu anderen Galaxien.

Gegenwärtig befindet sich Rhodan selbst im Goldenen Reich der Thoogondu, die ebenfalls eine Beziehung zur Milchstraße aufbauen wollen.

Auf der Erde bahnt sich indessen eine neue Entwicklung an. In deren Mittelpunkt steht DAS GESTOHLENE RAUMSCHIFF ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Yeto Carell – Ein Junge kämpft ums Überleben.

Locctar Vetshener – Ein Onryone wird gemieden.

Paracel Fitzgerald – Ein Agent mit Ecken und Kanten.

Ona Jutaite – Fitzgeralds Partnerin muss einiges einstecken.

Der Spross war in fruchtbaren Boden gelegt. Er würde bald erblühen, wachsen und gedeihen.

Es brauchte allerdings jemanden, der ihn mit seiner Aufmerksamkeit düngte.

 

 

1.

Yeto Carell

 

Tag X: 19. Juni 1551 NGZ

Die Schwarze Clara besuchte ihn überraschend, wie immer.

Sie brachte Schmerzen mit sich, wie immer.

Sie schickte ihn in die Dunkelheit, wie immer.

Sie ließ ihn zweifeln und verzweifeln, wie immer.

Yeto lag da und wartete. Auf die Erlösung. Oder auf den Tod. Oder auf beides.

Manchmal verschwamm das alles.

Yeto fühlte sein Herz schlagen. Bunur hatte ihm gesagt, dass es verlässlich wie ein Pendel sei und dass er sich während des Besuchs der Schwarzen Clara auf das Babomm-Babomm-Babomm konzentrieren solle. Es würde ihm dabei helfen, die Schmerzen nicht so direkt wahrzunehmen.

Er mochte Bunur nicht. Sie war eine gute Ärztin und kümmerte sich oft um ihn. Aber da war dieses kalte Gesicht. Die Augen, in denen keine Gefühle zu erkennen waren. Die langen Finger, die ihn an die einer alten Hexe erinnerten.

»Ein Anfall«, hörte Yeto eine bekannte Stimme. Nestor war also zur Stelle. Er sagte immer Anfall statt Schwarze Clara.

Gleich darauf ertönte ein Alarmsignal, das an die Seymour-Klinik weitergemeldet wurde. Yetos Eltern wurden informiert, Bunur, zwei Spezialisten und noch ein paar Leute, deren Namen ihm gerade nicht einfielen.

Das war alles weit, weit weg. Yeto war fast ausschließlich mit sich selbst beschäftigt. Mit der Atemlosigkeit und dem Gefühl, augenblicklich aus der Haut fahren zu müssen.

»Zwanzig Sekunden«, sagte Nestor. »Ich bin bei dir, Yeto. Dir kann nichts geschehen.«

Er log. Der Medoroboter konnte nichts gegen diese Anfälle unternehmen.

Yeto brauchte Luft. Seine Lungen waren schwach. Nur das Herz sei stark, sagte Bunur. Es sei das eines Riesen. Doch das nützte ihm nichts, nicht hier und jetzt.

»Es geht vorüber«, hörte er Nestors Stimme. Und: »Atme. Ganz ruhig. Du weißt ja, wie es geht.«

Oh ja. Er hatte den Besuch der Schwarzen Clara oft durchgemacht und ihn jedes Mal überstanden. Mama und Papa hatten ihn trainiert, immer wieder trainiert. Und die Ärzte. Und Nestor. Und all die anderen Leute, die sich um ihn kümmerten.

Yeto befolgte die Regeln, die sie für ihn aufgestellt hatten. Er testete die Muskeln in seinem Körper und setzte sie nach und nach alle wieder so ein, wie es sich gehörte.

Er atmete tief ein und aus. Genoss das Gefühl, endlich wieder Luft zu bekommen. Ein Gefühl tiefer Freude erfüllte ihn, wie immer, wenn er die Schwarze Clara besiegt hatte.

Er fühlte Tränen in den Augen. Er hätte sie gerne weggeblinzelt, weil er schon viel zu alt dafür war, Schmerz zu zeigen. Er war immerhin vor einigen Wochen sieben Jahre alt geworden.

Nestor richtete den Oberkörper auf. Yeto war schmächtig, die Lunge rasselte, als er gehörig durchhusten musste. So wie immer nach dem Besuch der Schwarzen Clara.

Yeto fühlte sich gestützt und gehalten. Einerseits war er so schrecklich müde, und andererseits so schrecklich glücklich. Bunur sagte, dass die Hormone in ihm verrückt spielten, sobald die Schwarze Clara wieder verschwunden war.

Mama tauchte mit einem Mal neben ihm auf. Sie war wie immer früher da als Papa, und sie hielt seine Hand ganz besonders fest. Die Schwarze Clara war also diesmal hartnäckig gewesen.

Yeto wusste: Je fester Mama zudrückte, desto mehr sorgte sie sich.

»Ist alles in Ordnung«, krächzte er und hustete Schleim in eine Schwebeschüssel, die Nestor bereithielt. »Du weißt ja eh, wie es ist.«

»Ja, Liebes.«

Sie streichelte und herzte ihn. Begriff sie einfach nicht, dass er viel zu alt für diese Schmuserei war? Wenn das Gerdo und Panzer-Mona aus der Schule sehen würden ...

Sie sind aber nicht da!, dachte Yeto und ließ sich fallen. Er genoss Mamas Wärme. Ihre Nähe, ihre Liebe.

»Trink das, bitte«, sagte Nestor und reichte ihm die Schnabeltasse.

Yeto gehorchte und saugte die cremige Flüssigkeit ein. Sie schmeckte ein wenig bitter. Das war die Medizin, die mit kräftigendem Saft vermengt war. »Die Pampe schmeckt oberübel«, hatte Papa einmal gemeint, nachdem er gekostet hatte.

Da war er ja. Papa. Ernst, wie so oft, mit zerstrubbeltem Haar. Er roch nicht so gut wie Mama, und er war auch nicht so weich. Nicht, dass Yeto es gewollt hätte, von ihm umarmt zu werden. Diese Zeit war lang vorbei.

Yeto trank den Rest der Pampe aus und bekam von Nestor ein Lob zu hören. Wohlige Wärme breitete sich in seinem Magen aus.

Mama sang ein Lied, er kuschelte sich enger an sie. Obwohl er das Kuscheln überhaupt nicht mochte, schon lange nicht mehr. Aber er war so angenehm müde. Und er wusste, dass die Schwarze Clara an diesem Tag nicht mehr kommen würde. Sie hatte mit ihm gekämpft und versucht, ihn mit sich zu nehmen. Doch er war zu stark für sie gewesen.

Diesmal.

Beim nächsten Mal mochte er im Kampf unterliegen.

 

*

 

Yeto schlief ruhig, bewacht von Nestor, seinem Medoroboter, der manchmal auch ein toller Spielkamerad war. Aber an diesem Tag nervte er bloß. Er wollte, dass Yeto Medizin zu sich nahm, Diät hielt, seinen Trainingsplan befolgte, Atemübungen machte und dann diese unendlich öden Tests machte.

»Lass mich wenigstens vorher frühstücken!«, bat Yeto.

»Es tut mir leid«, sagte Nestor. »Du musst den Blut- und Gewebecheck mit leerem Magen machen. Und die Nano-Sonden brauchen eine Weile, bis sie deinen Körper abgesucht haben. Also mach bitte den Mund auf ...«

Yeto gehorchte. Er wusste, dass er gegen den Roboter keine Chance hatte. Der war unbarmherzig, wenn es um seine Aufgaben ging.

Na ja, eigentlich war es in Ordnung. Nestor hatte ihm bereits mehrmals das Leben gerettet.

Der Medoroboter legte ihm ein winziges Plättchen auf die Zunge. Es löste sich rasch auf und hinterließ einen zitronigen Geschmack. Yeto hatte Himmelbeeren zwar lieber, aber Zitrone kam bereits auf dem zweiten Platz, noch vor Hannesbeeren und diesen widerlichen Bitter-Maulonen.

»So, die Nanos sind auf dem Weg«, sagte Nestor. »Es wird wie immer eine halbe Stunde dauern, bis sie Resultate liefern. Wenn sie mit dir zufrieden sind, darfst du essen und anschließend im Garten spielen.«

»Ich geh auf jeden Fall raus!«, behauptete Yeto. »Du kannst mich nicht dran hindern. Und ins Pädagogikum gehe ich morgen auch wieder. Ich hab in diesem Monat schon drei Tage versäumt.«

»Wir müssen abwarten, wie du dich heute Abend fühlst. Aber keine Sorge; du wirst nichts verpassen. Das Pädagogikum übermittelt mir regelmäßig den Lehrstoff. Du weißt, dass ich ein guter Lehrer bin.«

»Nein, bist du nicht! Du bist eine Nervensäge!« Yeto stieß den Roboter weg.

Nestor ließ es geschehen. Das silberblaue Männlein mit der glatten, kalten Oberfläche, das etwa so groß war wie er selbst, zog sich in seinen eigenen Bereich zurück und verharrte stumm.

Nestor glaubt, dass ich mich wieder beruhige, so wie immer. Aber diesmal nicht! Ich lass mich nicht länger von ihm ärgern.

Yeto wusch sich und zog sich an. Im Holokopf seines Schreibtischs tauchten einige Meldungen auf, die sich mit seiner Krankheit beschäftigten. Mama hatte ihm zwar verboten, diesen Nachrichten-Thread zu archivieren, aber er hielt sich nicht daran. Er wollte wissen, ob es was Neues zu IMA gab.

Yeto konnte ausgezeichnet lesen. Es hatte so rasch wie möglich lernen müssen, sich selbstständig über Trivid-Kanäle und Leseportale zu informieren.

Papa sagte, dass er in manchen Bereichen schon so weit sei wie ein Zehnjähriger. In anderen wiederum hinkte er hoffnungslos hinterher. Er war nicht gut in Sport. Ihm fehlte die Kraft, um mit Panzer-Mona, Atlanta oder Gerdo mithalten zu können. Und er wurde schrecklich schnell müde. Mit den Händen war er auch nicht sonderlich geschickt.

Er blätterte mit der Rechten durch die Nachrichten und löschte einige. Sie brachten nichts Neues zur Intermittierenden Muskulären Atonie.

Oha. Es gab einen neuen Patienten. Er stammte wie so viele andere von Luna und war ein wenig älter als Yeto. Die Ärzte rätselten einmal mehr, wie es zum Ausbruch der Krankheit gekommen war und warum die Anfälle nicht vorhersehbar waren. Der Zehnjährige breche immer wieder zusammen, die Muskulatur versagte. Selbst Teile des vegetativen, lebenserhaltenden Körpersystems waren betroffen.

Das kannte Yeto alles. Man sagte, dass die IMA damals von den Vertretern des Atopischen Tribunals eingeschleppt worden war und hauptsächlich Terranischstämmige betraf. Als wahrscheinlicher Ausbruchs- und Infektionsherd galt die Onryonenstadt Iacalla auf dem Mond. Siebzig der knapp hundert Erkrankten lebten dort. Aber eben auch dreißig auf Terra. Und niemand wusste, warum, selbst die besten Mediker nicht.

Yeto dachte an die letzten Monate. An das oftmalige Erbrechen. An die Atemlosigkeit. An das Hoffen und Bangen, ob sein Körper es nochmals schaffen würde. Die Schmerzen im Kopf und im Bauch und in den Beinen nach den Anfällen ...

Er hängte der neuen Nachricht einen Marker an und ordnete sie unter den vielen anderen ein, die er gesammelt hatte. Er sprach eine Nachricht und schickte sie an das Informationsportal. Vielleicht wollte der Junge Kontakt mit ihm aufnehmen.

»Sitzt du schon wieder vor dem Trivid?«

Yeto schreckte hoch. Wann war Mama ins Zimmer gekommen? Warum hatte er sie nicht bemerkt? War sein Gehör schlechter geworden? – Nein, das hätte Nestor ihm gesagt.

»Entschuldigung, Mami, ich wollte nur ...«

»Ist schon gut.« Sie streichelte ihm über die Haare, gegen den Strich, wie immer. »Kommst du frühstücken? Nestor hat mich benachrichtigt, dass alles in Ordnung wäre. Vielleicht möchtest du die neuen Kalamakken mit Pfannkuchen versuchen?«

»Wirklich? Kalamakken?«

Yeto sprang hoch. Seine Beine fühlten sich ein wenig zittrig an, aber das ließ sich ertragen. Er lief den Lichtgang entlang, glitt die Antigravrutsche, die seine Eltern ihm zum Geburtstag geschenkt hatten, hinab ins Wohnzimmer. Vorbei an Papa, der sich von einem Modeholo zu seiner heutigen Ausgehkleidung beraten ließ, hinein in die Küche.

Herrlich duftende Pfannkuchen warteten auf ihn. Am liebsten hätte er sich auf sie gestürzt und gleich zwei oder drei von ihnen zur selben Zeit in den Mund gestopft.

Yeto nahm sich zurück. Er musste sich unter Kontrolle haben und durfte nichts Unüberlegtes tun. Solange niemand wusste, was der Auslöser für einen IMA-Anfall war, hatte er Regeln zu befolgen, und eine davon lautete: immer mit der Ruhe.

Nestor folgte ihm dichtauf. Der Medoroboter bewegte sich kaum hörbar. Lichtreflexe der Morgensonne fingen sich auf der Oberfläche seines schlanken Körpers, als er sich niedersetzte und sorgfältig Pfannkuchen auf beide Teller verteilte. Mit einer Geschicklichkeit, die Yeto niemals erreichen würde.

»Drei Bissen, wie immer«, mahnte Nestor. »Gut kauen, dazwischen Tee trinken. Darauf achten, ob du Schmerzen bekommst. Dein Körper ist geschwächt von deinem jüngsten Anfall. Du musst es langsam angehen.«

»Jaja.«

Nestor schloss ihm einige Messgeräte an Schläfen und Brust an und verband sie mit seinem eigenen Körper. Der Medoroboter überwachte ihn, sogar beim harmlosen Frühstück.

Yeto verging der Appetit. Er hatte sich so sehr auf die Pfannkuchen und vor allem auf Mamas Kalamakken gefreut, und schon wieder wurde er bevormundet, ermahnt und überwacht ... Am liebsten wäre er davongelaufen, raus aus der Wohnung, ganz weit weg. Doch Nestor ließ sich niemals abschütteln.

»Du darfst jetzt essen, Yeto.«

Er griff lustlos zu und bestrich den Pfannkuchen mit Kalamakken. Sie schmeckten bitter und ein wenig salzig. Anders als diejenigen, die er beim letzten Versuch vorgesetzt bekommen hatte. Schade. Dabei war Mama eine so gute Obstdesignerin ...

Sie kam gemeinsam mit Papa in den Raum. Die beiden umarmten einander zärtlich und flüsterten einander etwas zu. Sie wirkten glücklich und gelöst.

Seine Krankheit brachte auch Vorteile mit sich. Unter anderem war er sehr sensibel geworden. Manche Dinge mussten nicht mehr ausgesprochen werden. Er fühlte sie und irrte sich dabei ganz selten. Wenn Mama weinte oder Papa sich ärgerte, konnte er augenblicklich sagen, worum es ging.

War das vielleicht eine Art Superkraft? Yeto stopfte den dritten Bissen in seinen Mund. Löste IMA eine Art Parabegabung aus?

»Blödsinn!«

»Wie bitte, Yeto?«

»Nichts, Nestor. Ich hab bloß laut nachgedacht.«

Er wartete geduldig, bis der Medoroboter Zeichen gab, dass er langsam weiteressen durfte. Nestor steckte sich selbst ein Pfannkuchenstück in den metallenen Mund. Er imitierte das Essen, warum auch immer.

»Bist du heute im Haus, Papa?«, fragte Yeto zwischen zwei Bissen. »Oder musst du arbeiten?«

»Zumindest am Vormittag habe ich etwas zu erledigen. Die alte Frau Jong-Zen auf der 36. Etage hat Probleme mit der Umgestaltung ihrer Wohnung. Sie möchte, dass ich ihr Tipps gebe.«

»Vielleicht kann ich dir ja helfen?«

»Das ist keine gute Idee, Yeto. Jong-Zen ist ... nun, sie ist alt.«

»Du willst sagen, dass sie keine Kinder mag.«

Papa sah ihn überrascht an, beherrschte sich aber gleich wieder. »Richtig, kleiner Mann. Sie hat schlechte Manieren. Was auch kein Wunder ist: Sie stammt von Lepso.«

Lepso! Der Freihandelsplanet, über deren Helden man in unzähligen Trivid-Abenteuern erfuhr.

Lepso! Dieser Name stand für Freiheit und für Abenteuer. Für Dinge, die Yeto niemals erleben würde. Und vor allem für ein Leben, das ohne so unendlich viele Regeln ablief wie auf Terra.

»Lass mich mitkommen, Papa! Bitte! Nur mal reinschauen in die Wohnung. Ich verspreche dir, dass ich mucksmäuschenstill bin und sie mich nicht einmal bemerkt. Du weißt, dass ich das kann! Du weißt, wie geschickt ich bin!«

Yeto bemerkte, dass Papa Blickkontakt mit Mama suchte. Das tat er immer, wenn er sich überfordert fühlte und nicht mehr weiterwusste. Manchmal half sie ihm, manchmal ließ sie ihn leiden. So wie diesmal.

Also hatte er eine Chance. Er musste bloß weiter lästig sein, allerdings nicht zu viel. Den besonders lieben Blick aufsetzen und vielleicht ein klein wenig mitleiderregend wirken. Wenn sich Yeto anstrengte, konnte er vielleicht sogar ein, zwei Tränen aus den Augen drücken. Er musste bloß an etwas Trauriges denken.

»Bitte, Papa! Ich seh dir so gerne bei der Arbeit zu. Ich möchte einmal so wie du Wohnungsdisponent werden. Das ist sooo toll.«

»Aber du bist noch schwach ...«

Gleich hatte er ihn. Yeto musste Papa bloß einen letzten Schlag versetzen.

Er seufzte abgrundtief. »Du hast sonst eh nie Zeit und kümmerst dich viel zu wenig um mich.«

Papa zuckte zusammen, seine Schultern verkrampften sich. Ausgezeichnet. Yeto hatte ihn genau dort erwischt, wo es ihm am meisten wehtat. Mama nannte diesen Fleck im Körper schlechtes Gewissen und sah ihn dann immer ganz sonderbar an.

»Also schön.« Papa bemühte sich, streng zu wirken. »Aber Nestor kommt mit und bleibt immer an deiner Seite, klar? Und du wirst Frau Jong-Zen nicht zur Last fallen.«

»Natürlich nicht!« Yeto wusste genau, was zu tun war. Er fiel Papa um den Hals und hielt ihn ganz, ganz fest. Auch wenn er längst zu alt dafür war.

 

*

 

Buccanphor, so hatte man Yeto im Pädagogikum gelehrt, hatte früher anders geheißen. Das Viertel war bis ins Jahr 1469 Neuer Galaktischer Zeitrechnung Teil des Gayatri-Komplexes gewesen. Etwas, das man Nirwana-Phänomen genannt hatte, hatte die Häuser zerstört, hatte ihre Integrität aufgelöst – was immer das heißen sollte.

Die Trümmer des alten Gayatri waren längst entsorgt worden. In den neuen Parks standen lediglich einige Grundpfeiler und Streben, zur Erinnerung. Alte Leute gingen ab und zu dorthin und ritzten mit Laserstiften Nachrichten ein. Nachrichten an die Toten nannten sie das. Es waren damals viele Leute gestorben, sagte man.

Das alles interessierte Yeto nicht sonderlich. Er lebte im Wohnturm Kimma III von Buccanphor. Gemeinsam mit mehr als tausend Terranern und ehemaligen Bewohnern anderer Welten. Sogar zwei Blues gehörten zur Wohngemeinschaft. Sie ließen sich nur selten blicken und wurden oft scheel angeblickt. Yeto verstand nicht ganz, warum das so war. Er fand sie witzig mit ihren Quietschestimmen, den langen Hälsen und den Tellerköpfen. Und er fand es viel schöner, sie Blues zu nennen, weil sie ja eigentlich eher rosa waren, und nicht Jülziish, wie die Erwachsenen immer sagten.

Papa und er schwebten im Antigrav nach oben und stiegen in der 36. Etage aus. Nestor blieb zwei Schritte hinter ihnen.

Papa ging zu Frau Jong-Zens Wohnungstür und drückte seinen rechten Daumen gegen das Erkennungs-Pad. Ein Läuten war zu hören, dann die Stimme der Hauspositronik. Die Tür öffnete sich, die alte Frau stand unmittelbar vor ihnen.

»Wird Zeit, dass du kommst, Millard Carell!«, sagte sie mit unangenehm lauter Stimme. »Aber ich bin nichts anderes gewohnt in diesem Haus. Niemand kümmert sich um mich. Früher war alles viel besser, sag ich dir. Da redete man miteinander und half einander ...«

»Selbstverständlich.« Papa verbeugte sich vor der alten Frau, als hätte er gar nicht gehört, wie unhöflich sie zu ihm war. »Du brauchst meine Hilfe bei der Umgestaltung des Wohnzimmers?«

»Warum hätte ich dich sonst kommen lassen, Millard? Die Positronik tut nicht das, was ich möchte und ...« Sie schwieg. »Was hat der hier zu suchen?«

»Der ist mein Sohn, Laryssa. Er wollte mich begleiten. Schließlich ist heute ein Feiertag, und er möchte Zeit mit mir verbringen.«

»Was kann ich dafür, dass du deine Arbeit nicht anständig erledigt und mir nicht beigebracht hast, wie die Umgestaltung funktioniert? Und was kann ich für diese dummen Feiertage? Bei uns auf Lepso, früher, da wurde immer gearbeitet. Da gab es keine Feiertage. Was ist schon so großartig an einem neunzehnten Juni?«

»Immerhin startete heute vor weißnichtwieviel Jahren Perry Rhodan als erster Mensch zum Mond. Und ein paar Jahre später wurde diese Stadt ebenfalls am 19. Juni von Galakto-City in Terrania umbenannt.«

»Na klar. Man findet immer einen Grund zum Faulenzen. Früher haben die Leute viel mehr gearbeitet. Ohne zu jammern.« Frau Jong-Zen stützte sich mit einer Hand schwer auf ihrer Stützplatte auf und fuchtelte mit der anderen in Yetos Richtung. »Es ist mir gar nicht recht, dass dein Balg meine Wohnung betritt. Er ist sicherlich schmutzig. Ich habe viel Geld für angeblichen Luxus bezahlt.«

Yeto sah, wie es in seinem Vater arbeitete. Er war ein freundlicher und geduldiger Mensch. Doch die alte Frau nervte ihn.

Was sie über ihn sagte, kümmerte Yeto nicht sonderlich. Er hatte längst gelernt, mit Vorurteilen umzugehen.

Vorurteile war eines der ersten Worte, das er gelernt hatte. Yeto begegnete ihm immer wieder. Meist ließ es sich aus den Köpfen der Menschen löschen, manchmal nicht. Bei der alten Jong-Zen war es längst zu spät, etwas zu verändern.

Mit einem Mal erschien die Welt Lepso gar nicht mehr so interessant. Was, wenn all seine Bewohner waren wie diese Frau?

Yeto unterdrückte ein Kichern. Vielleicht hatte man sie verbannt, weil sie dumm und böse war?

»... dann kommt meinetwegen rein!«, hörte er die alte Frau sagen. »Aber zieht die Schuhe aus und putzt eure Füße unter der Ultraschalldusche! Los, macht schon!«

Yeto trippelte seinem Vater hinterher und schob die Füße gehorsam in das Gerät. Rasch ertönte ein Piepszeichen, er galt als sauber und durfte Papa folgen. Nestor trabte gehorsam hinterdrein.

Die 36. Etage ... Sie lag im oberen Drittel von Kimma III. Die Glasfassade, die einen Großteil des Wohnzimmers umfasste, war sonnendurchflutet. Yeto hielt geblendet eine Hand vor die Augen.

»Ich will es dunkler haben, Millard! Und hier und hier und hier gehören Mauern hin!« Frau Jong-Zen fuchtelte wie wild mit den Armen. Sie deutete mal hier-, mal dorthin. »Außerdem gibt es diese Wasserbrunnen-Funktion fürs Wohnzimmer, hat mir jemand erzählt. Warum habe ich die nicht?«

»Weil sie nur gegen Aufpreis erhältlich ist«, antwortete Papa und verwendete dabei seine Geduldsstimme. Die benutzte er immer, wenn jemand besonders blöd daherredete. »Möchtest du, dass ich den Wasserbrunnen aktiviere?«

»Aufpreis? Davon wusste ich nichts! Du hast mich reingelegt, Millard! Na warte, ich werde damit zur Schlichtungsstelle gehen und ...«

»Laryssa, ich habe dir lang und breit erklärt, wie viel deine Wohnung kostet, welche Optionen du hast – und was es für dich bedeutet, wenn du dauernd Ärger machst.«

Oha. Papa änderte seine Stimme. Er war nun ganz ruhig. Er lauerte. Und er hatte etwas – wie hieß das noch? – Ach ja: Er hatte noch etwas in der Hinterhand.

»Du drohst mir, Millard?«

Papa zog einen Chip aus seiner Hosentasche und zeigte ihn der alten Frau. »Hier sind mehr als zwei Dutzend Beschwerden der Mitglieder der Hausgemeinschaft gespeichert, Laryssa. Du benimmst dich den anderen Bewohnern gegenüber arrogant und bösartig. Du beachtest die Gemeinschaftsregeln nicht. Du hast willkürlich Hauseigentum zerstört, schreibst Drohbriefe, bespitzelst andere Leuten, äußerst dich rassistisch gegenüber den beiden gatasischen Mitbewohnern ...«

»Was soll das heißen?« Die alte Frau unterbrach Papa mit schriller Stimme. »Ich passe bloß auf, dass im Haus nichts Unbotmäßiges geschieht. Dass die Tellerköpfe Verbrecher sind, sieht man ihnen ja wohl an. Und wie sie erst riechen ...«

»Genug!«

Oh. Das war jetzt Papas ganz, ganz böse Stimme. Yeto hatte sie bislang erst dreimal gehört, und jedes Mal hatte er etwas Schlimmes ausgefressen gehabt.

»Ich bin der Disponent der Kimma-Türme. Ich verkaufe die Wohnungen nicht nur; ich bin darüber hinaus auch dafür verantwortlich, dass Ruhe herrscht. Ein weiteres böses Wort von dir, und du fliegst raus. Hast du mich verstanden, Laryssa?«

Es war nicht, was Papa sagte, sondern wie er es sagte. Er war zum Fürchten, und das spürte sogar die alte Frau.

»Man wird ja wohl noch seine Meinung sagen dürfen«, murmelte sie.

»Solange sie weder Verleumdungen noch Gemeinheiten enthält. Also: Willst du weiterhin hier wohnen?«

»Natürlich, aber ...«

»Dann wirst du dich an die Regeln halten. Haben wir uns verstanden?«

Die alte Frau schwieg lange, und Yeto merkte ihr an, wie schwer es ihr fiel, letztlich ein »Ja« herauszupressen.

»Hervorragend. Dann sind wir uns einig. Du wirst dich anschließend zu den beiden Jülziish begeben und dich für dein Verhalten entschuldigen. Du wirst sämtlichen Bewohnern ab nun respektvoll gegenübertreten. Höre ich weitere Beschwerden, sind unsere Verträge nichtig.«

»Das ist Erpressung!«

»Das ist die Art, mit der ich andere Leute vor dir schütze.« Papa wandte sich Nestor zu. »Hast du das gesamte Gespräch gespeichert?«

»Selbstverständlich, Millard.«

»Sehr gut.« Und, wieder an Laryssa Jong-Zen gewandt, fuhr er fort: »Dieser Medoroboter besitzt unter anderem eine zertifizierte Aufnahmefunktion, die ihn dazu berechtigt, vor jedem Gericht in Terrania Ton- und Bildaufnahmen herzuzeigen. Nur für den Fall, dass du glauben könntest, dass unsere ... hm ... Vereinbarung nicht bindend sein könnte.«

»So einer bist du also, Millard! Du missbrauchst den Roboter deines Balg... deines Kindes.«

»Keine Sorge, Laryssa. Ich trage ein weiteres Bild- und Tonaufnahmesystem am Körper. Mit Nestor ist alles bloß ein wenig leichter.« Papa lächelte die Frau an. »Also: Wohin soll ich die Wände verschieben?«

Yeto sah ihm dabei zu, wie er die Projektionssteuerung des Wohnbereichs aktivierte und Mauern erscheinen ließ, die er anschließend nach den Wünschen der alten Frau platzierte.

2.

Paracel Fitzgerald

 

Tag X + 10: 29. Juni 1551 NGZ

»Was hältst du von diesem Onryonen?«

»Von Locctar Vetshener?« Ona Jutaite zögerte. »Er ist schwer einzuschätzen«, sagte sie, fuhr sich durchs kurz geschnittene Haar und ordnete einige Leucht-Klammerbänder neu. »Aber er hat Beharrlichkeit bewiesen. Er hat sich nicht von der Polizei abwimmeln lassen – und er ist sogar bis fast zur Spitze des Terranischen Liga-Dienstes durchgedrungen, bis zu Maurits Vingaden. Er nimmt diese Angelegenheit ernst, und wir sollten es auch tun.«

»Klar.« Fitzgerald näherte sich dem Wohnturm, in dem Sommer seinen Hauptwohnsitz hatte. Sommer, der Journalist. Sommer, der hauptsächlich für das arbeitete.