Das erwähnte Ereignis ist das gelungene Attentat auf Herrn von
P., den Präsidenten der berüchtigten Unterdrückungskommmission, die
vor einigen Jahren vom Staatsminister eingesetzt und mit
außerordentlicher Macht bekleidet worden war. Die Zeitungen
schrieben mehr als genug über jene fanatische schmalbrüstige
Erscheinung in goldverschnürter Uniform, mit einem Gesicht wie
altes Pergament, ausdruckslosen, bebrillten Augen und dem Großkreuz
des Prokopius-Ordens um den faltigen Hals. Eine Zeitlang verging,
wie man sich erinnern wird, kein Monat, ohne daß sein Bild in
irgendeiner der illustrierten Zeitschriften Europas erschienen
wäre. Er diente der Monarchie, indem er Männer und Frauen, junge
und alte, ins Gefängnis, in die Verbannung oder zum Galgen
schickte, mit ewig gleichem, unerschütterlichem Eifer. In seiner
mystischen Verehrung des autokratischen Prinzips hatte er es sich
zum Ziel gesetzt, im Lande jedwede Spur davon auszutilgen, was an
Freiheit im öffentlichen Leben erinnern konnte, und bei seiner
rücksichtslosen Verfolgung der neuen Generation schien er es darauf
abgesehen zu haben, sogar die Hoffnung auf Freiheit zu
vernichten.
Man erzählt sich, daß dieser vielfach verwünschte Mann nicht
Einbildungskraft genug hatte, sich über den Haß klar zu werden, den
er erweckte. Es klingt kaum glaublich; und doch ist es eine
Tatsache, daß er recht wenig Maßnahmen für seine persönliche
Sicherheit traf. In dem Leitartikel einer gewissen bekannten
Staatszeitung hat er einmal erklärt, daß »der Freiheitsgedanke in
dem Werk des Schöpfers niemals existiert habe. Aus einer Vielheit
menschlicher Entschlüsse könne immer nur Auflehnung und Unordnung
sich ergeben, und diese seien Sünde in einer Welt, die für Gehorsam
und Ordnung geschaffen sei. Nicht Vernunft, sondern Autorität sei
der Ausdruck der göttlichen Absicht. Gott sei der Selbstherrscher
des Weltalls … « Es mag sein, daß der Mann, der diese
Erklärung abgab, glaubte, der Himmel selbst müßte ihn in seinem
rücksichtslosen Kampf für die Autokratie auf dieser Welt
beschützen.
Zweifellos rettete ihn die Wachsamkeit der Polizei zu
verschiedenen Malen. Fest steht aber auch, daß die zuständigen
Behörden ihm keine Warnung hatten geben können, als das ihm
zugedachte Geschick sich erfüllte. Sie hatten keine Kenntnis von
irgendeiner Verschwörung gegen des Ministers Leben; durch ihre
üblichen Kanäle war keine Kunde davon gesickert, man hatte keine
Anzeichen bemerkt, keine verdächtigen Regungen oder gefährliche
Personen.
Herr von P. fuhr in einem offenen, zweispännigen Schlitten nach
der Bahnstation, mit Lakai und Kutscher auf dem Bock. Es hatte die
ganze Nacht geschneit, und die Straße war zu dieser frühen Stunde
noch nicht frei gemacht, so daß die Pferde schwer vorwärts kamen.
Der Schnee fiel immer noch in dichten Flocken. Doch der Schlitten
mußte genau beobachtet worden sein. Als das Gefährt nach links
ausbog, um eine Ecke zu nehmen, bemerkte der Lakai einen Bauern,
der langsam auf dem Bürgersteig hinschritt, die Hände in den
Taschen seines Pelzrockes und die Schultern im Schneegestöber
hochgezogen. Als der Schlitten ihn überholte, fuhr der Bauer
plötzlich herum und erhob den Arm. Im Augenblick erfolgte ein
furchtbarer Schlag, eine Detonation, die durch das Schneetreiben
gedämpft wurde. Beide Pferde lagen tot und verstümmelt auf dem
Boden, und der Kutscher war mit einem schrillen Aufschrei tödlich
verwundet vom Bock gefallen. Der Lakai, der unverletzt blieb, hatte
keine Zeit, sich das Gesicht des Mannes in dem Schafpelz
einzuprägen. Dieser entfernte sich, nachdem er die Bombe
geschleudert hatte. doch vermutet man, daß er es für klüger
gehalten habe, zu dem Ort der Explosion zurückzukehren, da er von
allen Seiten eine Menge von Leuten durch das Schneetreiben
heraneilen sah.
In unglaublich kurzer Zeit hatte sich eine aufgeregte Masse
rings um den Schlitten versammelt. Der Ministerpräsident, ebenfalls
unverletzt, war in den tiefen Schnee hinausgetreten, stand neben
dem sterbenden Kutscher und sprach zu wiederholten Malen den Leuten
mit seiner schwachen, farblosen Stimme zu: »Ich bitte euch, bleibt
weg. Um der Liebe Gottes willen bitte ich euch, gute Leute,
wegzubleiben.«
In diesem Augenblick trat ein schlanker junger Mensch, der
bisher regungslos in einem Torweg zwei Häuser weiter gestanden
hatte, in die Straße hinaus, ging rasch ein paar Schritte und
schleuderte über die Köpfe der Menge weg eine zweite Bombe. Diese
traf den Ministerpräsidenten gerade an der Schulter, während er
sich über seinen sterbenden Diener beugte, fiel dann zu seinen
Füßen nieder, explodierte mit grauenhafter Gewalt und streckte ihn
selbst tot zu Boden, gab dem Verwundeten den Rest und vernichtete
den leeren Schlitten in einem Umsehen. Mit einem Schrei des
Entsetzens stob die Menge nach allen Richtungen auseinander, mit
Ausnahme jener, die tot oder sterbend nächst dem
Ministerpräsidenten liegen blieben, und einem oder zwei anderen,
die erst niederstürzten, nachdem sie eine kurze Strecke gerannt
waren. Die erste Explosion hatte wie durch Hexerei eine
Menschenmenge zur Stelle gebracht, die zweite ebenso rasch eine
völlige Leere in der Straße geschaffen, für Hunderte von Metern
nach jeder Seite hin. Durch den fallenden Schnee blickten Leute von
ferne auf den kleinen Haufen von Leichen, die übereinander lagen,
neben den beiden Pferdekadavern. Niemand wagte sich in die Nähe,
bis ein paar Kosaken von einer Straßenpatrouille angaloppierten,
absaßen und die Toten umzuwenden begannen. Unter den unschuldigen
Opfern der zweiten Explosion, die man auf den Bürgersteig gebettet
hatte, war auch ein Mann in einem bäuerlichen Schafpelz, doch das
Gesicht war unkenntlich, in den Taschen seiner ärmlichen Kleidung
wurde absolut nichts gefunden, und er war der einzige, dessen
Identität niemals festgestellt wurde.
An jenem Tage stand Rasumoff zur gewöhnlichen Stunde auf und
verbrachte den Vormittag in der Universität, indem er Vorlesungen
hörte und eine Zeitlang in der Bibliothek arbeitete. Bei Tisch in
der Mensa academica, wo er sein Mittagsmahl zu nehmen pflegte,
hatte er die ersten leisen Andeutungen über irgend etwas wie ein
Bombenattentat gehört. Doch diese Andeutungen wurden nur
geflüstert, und man war in Rußland, wo es nicht immer rätlich war,
besonders für einen Studenten, an gewissen Arten von Geflüster zu
viel Anteil zu nehmen; Rasumoff war einer jener Leute, die in einer
Periode geistiger und politischer Unruhen leben und dabei
instinktiv im normalen, praktischen, alltäglichen Leben Halt
suchen. Er war sich der hochgradigen Spannung seiner Zeit bewußt.
Er reagierte sogar darauf in unbestimmter Weise; sein
Hauptaugenmerk aber war auf seine Arbeit, seine Studien und seine
eigene Zukunft gerichtet.
Da er offiziell und tatsächlich keine Familie besaß (denn die
Tochter des Erzpriesters war längst tot), so hätten keine
äußerlichen Einflüsse auf seine Überzeugungen oder Gefühle
einwirken können. Er stand in der Welt so allein wie ein Mann, der
auf hoher See schwimmt. Das Wort Rasumoff war nichts als die
Spitzmarke für eine einsame Persönlichkeit. Nirgendwo gab es
Rasumoffs, die zu ihm gehörten. Seine nächsten verwandtschaftlichen
Beziehungen waren mit der Feststellung gegeben, daß er ein Russe
war, und diese Beziehung allein konnte ihm alles Gute, was er vom
Leben erhoffte, geben oder versagen. Diese ungeheure Verwandtschaft
litt unter·inneren Zerwürfnissen. Doch er schreckte instinktiv vor
dem Getriebe zurück, so wie ein gutmütiger Mensch davor
zurückschrecken mag, in einem heftigen Familienzwist Partei zu
nehmen.
Auf dem Heimweg überlegte Rasumoff, daß er nun seine ganze Zeit
der Preisarbeit widmen könne, da er mit den Vorarbeiten für die
nächste Prüfung fertig sei. Er strebte nach der Silbernen Medaille.
Das Unterrichtsministerium hatte einen Preis ausgesetzt, die Namen
der Bewerber sollten dem Minister selbst vorgelegt werden. Die
bloße Beteiligung mußte höheren Ortes als verdienstvoll angesehen
werden, und der Erringer des Preises sollte nach Erlangung des
Doktorgrades Anspruch auf eine bessere Anstellung bei der Regierung
haben. In einer Anwandlung von Stolz vergaß der Student Rasumoff
die Gefahren, die den Bestand der Einrichtungen bedrohten, die
Belohnungen und Anstellungen zu vergeben hatten; dachte er aber an
den Preisträger des Vorjahres, dann fühlte Rasumoff, der junge Mann
ohne irgendwelche Verwandte, sich ernüchtert. Er und einige andere
waren zufällig im Zimmer ihres Kameraden anwesend, als diesem
gerade die offizielle Verständigung von seinem Erfolg zugestellt
wurde. Er war ein ruhiger, anspruchsloser junger Mensch.
»Verzeiht«, hatte er gesagt, während er mit einem schwachen Lächeln
der Entschuldigung nach seiner Pelzmütze griff, »ich gehe fort und
lasse Wein heraufschicken. Zuerst aber muß ich meinen Leuten nach
Hause telegraphieren. Ich bin sicher, daß die beiden Alten ein Fest
deswegen feiern und die Leute zwanzig Meilen in der Runde zu Gaste
laden werden.«
Rasumoff dachte, daß es für ihn nichts dergleichen in der Welt
gäbe. Über seinen Erfolg würde sich niemand freuen. Dennoch fühlte
er keine Bitterkeit gegen seinen hochadeligen Protektor, der
übrigens kein Provinzmagnat war, wie man allgemein annahm.
Tatsächlich war es niemand Geringeres als Fürst K., der einst eine
große und glänzende Rolle in der Welt gespielt hatte und nun, da
seine Zeit um war, als Senator und gichtischer Invalide zwar immer
noch glänzend, doch mehr in seine Häuslichkeit zurückgezogen lebte.
Er hatte ein paar junge Kinder und eine Frau, die ebenso adelsstolz
war wie er selbst.
In seinem ganzen Leben war es Rasumoff nur einmal vergönnt
gewesen, mit dem Fürsten in persönliche Berührung zu kommen.
Dies eine Mal trug den Anschein eines zufälligen
Zusammentreffens in dem Büro des kleinen Sachwalters. Als Rasumoff
sich eines Tages auf eine Einladung dort einfand, sah er einen
Fremden vor sich stehen, einen schlanken Mann von aristokratischem
Äußeren, mit seidigem, grauem Backenbart. Der kahlköpfige, listige
kleine Advokat rief mit leicht ironischer Herzlichkeit: »Treten Sie
ein, treten Sie ein, Herr Rasumoff!« Dann wandte er sich
ehrfurchtsvoll an den großartigen Fremden mit den Worten: »Mein
Mündel, Ew. Exzellenz, einer der meistversprechenden Studenten
seiner Fakultät an der St. Petersburger Universität.« Zu seiner
maßlosen Überraschung sah Rasumoff, wie sich ihm eine weiße,
wohlgeformte Hand entgegenstreckte. Er nahm sie in großer
Verwirrung (sie war weich und schlaff) und hörte zur gleichen Zeit
ein herablassendes Murmeln, von dem er nur die Worte erfaßte:
»erfreulich« und »so fortmachen«. Das Erstaunlichste dabei aber
war, daß er plötzlich einen deutlichen Druck der weißen
wohlgeformten Hand fühlte, knapp bevor sie zurückgezogen wurde,
einen leichten Druck wie ein geheimes Zeichen. Rasumoff wurde
dadurch unglaublich erregt. Das Herz schien ihm in die Kehle zu
springen. Als er die Augen wieder erhob, hatte die aristokratische
Persönlichkeit eben den kleinen Sachwalter zur Seite gewinkt, die
Türe geöffnet und war im Hinausgehen.
Der Advokat wühlte eine Zeitlang unter den Papieren auf seinem
Tisch. »Wissen Sie, wer das war?« fragte er plötzlich.
Rasumoff, dessen Herz noch immer hart pochte, schüttelte
schweigend den Kopf.
»Das war Fürst K. Sie wundern sich, was er in der Bude eines
armen Aktenschnüfflers, wie ich es bin, zu tun haben könnte, he?
Diese grausam hohen Herrschaften kennen die sentimentale Neugier so
gut wie gewöhnliche Sünder. Wenn ich aber Sie wäre, Kyrill
Sidorowitsch«, fuhr er fort – mit einem scharfen Seitenblick und
eigentümlicher Betonung des ersten Vornamens, »dann würde ich mich
dieser Vorstellung nicht weiter rühmen. Das wäre nicht schlau,
Kyrill Sidorowitsch, bei Gott nicht! Im Gegenteil, es wäre
gefährlich für Ihre Zukunft.«
Dem jungen Menschen brannten die Ohren wie Feuer. Sein Blick war
umnebelt. »Dieser Mann«, sagte sich Rasumoff, »Er!« Von da ab wurde
es Rasumoff zur Gewohnheit, dieses »Er« zu gebrauchen, wenn er an
den Fremden mit dem grauen seidigen Backenbart dachte. Von dieser
Zeit an achtete er auch mit besonderer Aufmerksamkeit auf die
prachtvollen Pferde und Wagen mit den Lakaien des Fürsten K. auf
dem Bock, sooft er sie in den Straßen traf. Einmal sah er die
Fürstin aussteigen – sie machte Einkäufe –, von zwei Mädchen
gefolgt, von denen das eine fast um einen Kopf größer war als das
andere. Ihr blondes Haar hing ihnen offen über den Rücken, nach
englischer Art; sie hatten frohe Augen, ihre Pelzjacken, Muffe und
kleinen Pelzkappen waren vollkommen gleich, und ihre Wangen und
Nasenspitzen hatte die Kälte lustig gerötet. Sie kreuzten gerade
vor ihm die Straße, und Rasumoff ging seines Weges weiter und
lächelte verstohlen vor sich hin. »Seine« Töchter. Sie waren »Ihm«
ähnlich. Der junge Mann fühlte eine warme Sympathie für diese
Mädchen, die nie von seiner Existenz erfahren sollten. Heute oder
morgen würden sie Generale oder Kammerherren heiraten und wieder
Mädel und Buben haben, die vielleicht einmal von ihm hören würden,
wenn er ein berühmter alter Professor sein würde, mit vielen Orden,
vielleicht ein Geheimrat, eine von den Größen Rußlands und nichts
mehr.
Doch ein berühmter Professor war immerhin auch etwas. Die
Berühmtheit würde die Spitzmarke Rasumoff zu einem geehrten Namen
machen. In der Sehnsucht des Studenten Rasumoff nach Berühmtheit
lag nichts Außergewöhnliches. Das wahre Leben eines Mannes beginnt
ja erst, wenn er in der Begriffssphäre anderer Menschen in
Ehrfurcht oder natürlicher Liebe festen Fuß gefaßt hat. Als er am
Tage des Attentats an Herrn von P. nach Hause kam, faßte er den
Entschluß, seine volle Kraft für die Silberne Medaille einzusetzen.
– Während er langsam in dem dunkeln, schmutzigen Stiegenhaus die
vier Stockwerke bis zu seiner Wohnung emporklomm, fühlte er eine
feste Siegeszuversicht. Der Name des Gewinners sollte am
Neujahrstage in den Zeitungen veröffentlicht werden, und bei dem
Gedanken, daß »Er« ihn da höchstwahrscheinlich lesen würde, machte
Rasumoff auf der Treppe kurz halt und stieg dann mit einem leisen
Lächeln über seine eigene Erregung weiter. »Das sind ja nur
Träume«, sagte er sich, »die Medaille ist aber doch ein fester
Anfang.«
Mit diesen verheißenden Plänen im Kopfe empfand er die Wärme
seines Zimmers doppelt angenehm und ermutigend. »Ich will vier
Stunden lang fest arbeiten«, sagte er. Kaum aber hatte er die Tür
hinter sich geschlossen, da erschrak er furchtbar. Gegen den
landesüblichen, hohen weißen Kachelofen, der durch das Dämmer
schimmerte, hob sich ganz schwarz eine merkwürdige Gestalt ab, in
einem langen, eng anliegenden, braunen Tuchrock mit einem Gürtel um
die Taille, in hohen Stiefeln und mit einer kleinen Astrachanmütze
auf dem Kopf. Ein leichtes Grauen schien von dem Fremden
auszugehen.
Rasumoff war aufs tiefste bestürzt. Erst als die Gestalt zwei
Schritte vortrat und ihn mit ruhiger, ernster Stimme fragte, ob die
äußere Tür geschlossen sei, gewann er die Sprache zurück.
»Haldin … Viktor Viktorowitsch, sind Sie es … ? Ja,
die Außentür ist gut zu. – Doch das hatte ich wirklich nicht
erwartet.«
Viktor Haldin, ein Student, der älter war als die meisten seines
Jahrganges an der Universität, war keiner von den Fleißigen. Fast
nie sah man ihn in den Vorlesungen. Im Rektorat wurde er als
»unruhig« und »ungläubig« geführt – eine sehr üble Klassifikation.
Unter seinen Kameraden aber erfreute er sich hohen Ansehens und
beeinflußte ihre Gedanken stark. Rasumoff war mit ihm nie vertraut
gewesen. Von Zeit zu Zeit waren sie in Versammlungen bei anderen
Studenten zusammengetroffen. Einmal hatten sie sogar eine
Diskussion miteinander geführt, eine jener Diskussionen über
grundlegende Prinzipien, wie die heißköpfige Jugend sie liebt.
Rasumoff wünschte, daß der Mann eine andere Zeit für eine
Plauderstunde gewählt hätte. Er fühlte sich in der richtigen
Verfassung, die Preisarbeit anzugehen. Da er nun aber Haldin nicht
kurzweg hinausweisen konnte, so bequemte er sich zu einem
gastfreundlichen Ton und forderte ihn auf, Platz zu nehmen und zu
rauchen.
»Kyrill Sidorowitsch«, sagte der andere und warf seine Kappe
weg, »wir stehen vielleicht nicht ganz im selben Lager, Ihr Urteil
ist mehr philosophisch gefärbt, Sie sind ein Mensch von wenig
Worten; ich habe aber niemand getroffen, der die Großmut Ihrer
Gefühle anzuzweifeln gewagt hätte. In Ihrem Charakter liegt eine
Festigkeit, die ohne Mut nicht denkbar ist.«
Rasumoff fühlte sich geschmeichelt und murmelte verlegen etwas
von »sehr erfreut über die gute Meinung«. Da hob Haldin die
Hand.
»Das sagte ich zu mir selbst«, fuhr er fort, »während ich mich
in dem Holzlager am Fluß unten versteckt hielt; ›er ist ein fester
Charakter, dieser junge Mensch‹, sagte ich mir, ›er trägt nicht das
Herz auf der Zunge‹. Ihre Zurückhaltung hat mir immer ausgezeichnet
gefallen, Kyrill Sidorowitsch. Also versuchte ich, mich Ihrer
Adresse zu erinnern, und sehen Sie an, ich hatte Glück. Ihr Dwornik
war eben von der Tür fort und sprach mit einem Schlittenkutscher
auf der anderen Straßenseite. Ich traf niemand auf den Stiegen,
keine Seele. Als ich hier oben ankam, erblickte ich Ihre Wirtin,
die aus Ihrem Zimmer kam, doch sie sah mich nicht. Sie ging über
den Flur in ihre eigenen Zimmer, und dann schlüpfte ich herein. Ich
bin nun seit zwei Stunden hier und erwartete, Sie jeden Augenblick
kommen zu hören.«
Rasumoff hatte verwundert zugehört. Bevor er aber den Mund
öffnen konnte, fügte Haldin mit langsamer Betonung hinzu: »Ich war
es, der heute früh P. beiseite geschafft hat.«
Rasumoff unterdrückte einen Schrei des Entsetzens. Das Gefühl,
daß sein Leben zerstört sei durch die Berührung mit einem
derartigen Verbrechen, fand seinen gedrängten Ausdruck in dem halb
spöttischen Gedanken: »Jetzt ist die Silberne Medaille futsch.«
Haldin fuhr nach einer kurzen Pause fort:
»Sie sagen nichts, Kyrill Sidorowitsch! Ich verstehe Ihr
Schweigen. Von Ihrer kalten englischen Art war es ja auch
sicherlich nicht zu erwarten, daß Sie mich umarmen würden. Doch
lassen wir Ihre Art! Sie haben Herz genug, das Weinen und
Zähneknirschen gehört zu haben, das dieser Mann im Lande weckte.
Das allein müßte genügen, alle philosophischen Hemmungen zu
überwinden. Er wollte die zarte Pflanze entwurzeln. Man mußte ihm
Halt gebieten. Er war ein gefährlicher Mann – ein Mann von
Überzeugung. Wäre er noch drei Jahre am Werk geblieben, so hätte er
uns um fünfzig Jahre in die Knechtschaft zurückgeworfen, und
bedenken Sie, wie viele Leben, wie viele Seelen in dieser Zeit
zerstört und verlorengegangen wären.«
Seine harte, selbstbewußte Stimme verlor plötzlich allen Klang,
und er fügte dumpf hinzu: »Ja, Bruder, ich habe ihn getötet. Harte
Arbeit!«
Rasumoff war in einen Stuhl gesunken. Er erwartete jeden
Augenblick, einen Haufen Polizisten hereinstürzen zu sehen.
Tausende von ihnen mußten jetzt nach dem Mann Umschau halten, der
da in seinem Zimmer auf und ab schritt. Haldin sprach wieder, mit
beherrschter, fester Stimme; dann und wann schwenkte er einen Arm,
langsam und ohne Erregung.
Er erzählte Rasumoff, daß er sich ein Jahr lang mit dem
Entschluß getragen, daß er buchstäblich seit Wochen nicht mehr
geschlafen habe. Er und »ein anderer« waren von der Ausfahrt des
Ministers spät am Vorabend »durch eine gewisse Person« unterrichtet
worden. Er und dieser »andere« setzten ihre »Maschinen« instand und
beschlossen, nicht zu schlafen, bevor »die Tat« getan wäre. Sie
schritten im Schneetreiben durch die Straßen mit ihren »Maschinen«
und wechselten kein Wort während der ganzen Nacht, die lang war wie
ein Leben. Wenn ihnen eine Polizeipatrouille begegnete, faßten sie
sich unter und mimten feuchtfröhliche Bauern. Sie grölten und
redeten mit schnapsrauhen Stimmen. Von diesen erzwungenen
Ausbrüchen abgesehen, schwiegen sie still und gingen unaufhörlich
fort. Ihr Plan war vorher fest besprochen worden. Bei Tagesanbruch
begaben sie sich an den Punkt, den der Schlitten, wie sie wußten,
passieren mußte. Als der Schlitten in Sicht kam, tauschten sie ein
gemurmeltes »Lebe wohl!« und trennten sich. Der »andere« blieb an
der Ecke, Haldin faßte ein wenig weiter oben in der Straße
Posten …
Nachdem er seine »Maschine« geworfen hatte, rannte er fort und
wurde im Augenblick von der Menschenmenge überholt, die in
panischem Schrecken nach der zweiten Explosion den Ort floh. Die
Leute waren außer sich vor Entsetzen. Ein oder zweimal wurde er
niedergerannt. Er duckte sich, so gut es ging, um die Menschenflut
vorüberzulassen, und wandte sich dann nach links in ein enges
Gäßchen. Dort war er allein.
Er wunderte sich über dieses unmittelbare Entrinnen. Die Arbeit
war getan. Er konnte es kaum glauben. Er kämpfte mit dem fast
unüberwindlichen Drang, sich auf das Pflaster niederzuwerfen und zu
schlafen. Doch diese Schwäche – eine schläfrige Schwäche – ging
rasch vorüber. Er schritt schneller aus, einem der ärmeren
Stadtteile zu, um nach Siemianitsch zu sehen.
Dieser Siemianitsch war, soviel Rasumoff verstehen konnte, eine
Art Stadt-Bauer, der es zu etwas gebracht hatte; Besitzer von ein
paar Schlitten und Pferden, die er vermietete. Haldin. unterbrach
sich in seiner Erzählung mit dem Ausruf:
»Ein klarer Geist! Eine starke Seele! Der beste Fahrer in St.
Petersburg. Er hat da ein Gespann von drei Pferden … oh! er
ist ein ganzer Kerl!«
Dieser Mann hatte sich bereit erklärt, zu jeder Zeit eine oder
zwei Personen sicher nach der zweiten oder dritten Station an einer
der südlichen Bahnlinien zu bringen. Es war aber keine Zeit
geblieben, ihn am Abend vorher zu verständigen. Sein gewöhnlicher
Unterschlupf schien ein Kosthaus letzter Klasse an der Stadtgrenze
zu sein. Als Haldin dorthin kam, war der Mann nicht zu finden. Man
glaubte nicht, daß er vor Abend wiederkehren würde. Haldin wanderte
ruhelos weiter.
Er fand das Tor eines Holzhofes offen und schritt hinein, um dem
Wind zu entgehen, der auf dem offenen Platz schneidend pfiff. Die
hohen rechtwinkligen Stöße von geschnittenem Holz, mit Schnee
bedeckt, glichen den Hütten eines Dorfes. Während er sich dahinter
duckte, fand ihn der Wächter und sprach ihn zunächst freundlich an.
Es war ein vertrockneter alter Mann, der zwei verwitterte
Soldatenmäntel übereinander trug. Sein runzeliges, kleines Gesicht,
in ein schmutziges rotes Taschentuch eingebunden, das Ohren und
Wangen bedeckte, sah komisch aus. Bald wurde er aber unwillig und
begann schließlich, ohne jeden ersichtlichen Grund wütend zu
brüllen:
»Willst du dich wohl bald hier hinauspacken, du Lump! Die
Arbeiter von deinem Schlage kennt man schon. Ein großer starker
Kerl, nicht einmal besoffen ist er. Was willst du hier? Uns machst
du keine Angst. Scher dich fort mit deinen verfluchten Augen.«
Haldin blieb vor dem sitzenden Rasumoff stehen. Seine schlanke
Gestalt und die weiße Stirn, über der das blonde Haar wie eine
Bürste stand, erweckten den Eindruck von Stolz und Kühnheit.
»Meine Augen gefielen ihm nicht«, sagte er, »und also …
hier bin ich.«
Rasumoff bemühte sich, ruhig zu sprechen.
»Aber verzeihen Sie, Viktor Viktorowitsch, wir kennen einander
so wenig … , ich sehe nicht ein, warum Sie … «
»Vertrauen«, sagte Haldin.
Dieses Wort schloß Rasumoff die Lippen, als hätte ihm eine Hand
auf den Mund geschlagen. In seinem Kopf jagten sich die
Gedanken.
»Und also – hier sind Sie«, murmelte er durch die Zähne. Der
andere merkte nicht den Ärger in diesen Worten, vermutete ihn nicht
einmal.
»Jawohl, und niemand weiß, daß ich hier bin. Sie sind der
letzte, der in Verdacht kommen könnte – wenn man mich fangen
sollte. Das ist ein Vorteil, sehen Sie, und dann – einem Mann von
überlegenem Geiste, wie Ihnen, kann ich wohl die volle Wahrheit
sagen. Es fiel mir ein, daß Sie – daß Sie niemand haben, der zu
Ihnen gehört, kein Band irgendwelcher Art, keinen, der leiden
würde, wenn dies alles irgendwie herauskäme. Es sind schon genug
russische Familien ins Unglück gestürzt worden. Doch ich sehe nicht
ein, wie mein Aufenthalt in Ihrer Wohnung je entdeckt werden
sollte. Wenn man mich festnimmt, dann werde ich zu schweigen wissen
– einerlei, was sie mit mir auch anfangen mögen«, fügte er grimmig
hinzu.
Er begann wieder auf und ab zu gehen, während Rasumoff in
stummem Entsetzen dasaß.
»Sie dachten, daß –« stotterte er endlich heraus, halbtot vor
Wut.
»Ja, Rasumoff, ja, Bruder! Eines Tages werden auch Sie am Bau
mithelfen. Sie halten mich nun für einen Terroristen – einen, der
das Bestehende zerstören will. Doch bedenken Sie, daß die wahren
Zerstörer die sind, welche den Geist des Fortschrittes und der
Wahrheit zerstören wollen, nicht die Rächer, welche nichts tun, als
die Leiber derer töten, die die menschliche Würde verfolgen. Leute
wie ich sind notwendig, um Platz zu schaffen für selbstbeherrschte,
denkende Leute wie Sie. Gut, wir haben unser Leben geopfert; und
dennoch möchte ich entfliehen, wenn es möglich ist. Es ist nicht
mein Leben, was ich retten möchte, sondern meine Tatkraft. Ich will
nicht müßig leben, o nein, täuschen Sie sich nicht darüber,
Rasumoff. Leute wie ich sind selten, und außerdem ist ein Exempel
wie dieses für die Bedrücker viel abschreckender, wenn der Täter
spurlos verschwindet. Sie sitzen in ihren Büros und Palästen und
zittern. Ich verlange nicht mehr von Ihnen, als daß Sie mir
verschwinden helfen. Keine große Sache das. Sie brauchen nur
hinzugehen und Siemianitsch für mich aufzusuchen, an dem Ort, wohin
ich heute morgen ging. Sagen Sie nur, er, den er kennt, wünscht,
daß ein gut bespannter Schlitten eine halbe Stunde nach Mitternacht
bei dem siebenten Laternenpfahl der Karabelnaya – links vom oberen
Ende gezählt – vorfährt. Wenn niemand einsteigt, soll der Schlitten
um einen oder zwei Häuserblöcke herumfahren und so zehn Minuten
später an derselben Stelle vorüberkommen.«
Rasumoff wunderte sich, warum er das Gespräch nicht längst schon
kurz abgeschnitten und diesen Mann hinausgewiesen hatte. War das
Schwäche oder was sonst?
Er schloß, daß es ein gesunder Instinkt sei. Haldin mußte
gesehen worden sein. Es war undenkbar, daß sich nicht einige Leute
das Gesicht und das Äußere des Mannes gemerkt haben sollten, der
die zweite Bombe warf. Haldin war eine auffallende Erscheinung. Die
Tausende von Polizisten mußten innerhalb einer Stunde seine
Beschreibung gehabt haben. Mit jedem Augenblick wurde die Gefahr
größer. Schickte man ihn auf die Straße hinaus, so mußte er
notwendig schließlich festgenommen werden.
Die Polizei würde sehr schnell alles über ihn in Erfahrung
bringen. Sie würden sich dahintersetzen, eine Verschwörung zu
entdecken. Alle, die Haldin je gekannt hätte, würden in die größte
Gefahr geraten. Unbedachte Äußerungen, kleine, an sich geringfügige
Tatsachen würden als Verbrechen angerechnet werden. Rasumoff
erinnerte sich an gewisse Worte, die er gesagt hatte, an die Reden,
die er angehört, an die harmlosen Zusammenkünfte, denen er
beigewohnt hatte – es war fast unmöglich für einen Studenten, sich
von allem auszuschließen, ohne von seinen Kameraden verdächtigt zu
werden.
Rasumoff sah sich schon in einer Festung eingekerkert, gequält,
geplagt, mißhandelt vielleicht. Er sah sich auf Regierungsbefehl
deportiert, sein Leben zerbrochen, vernichtet und jeder Hoffnung
beraubt. Er sah sich – bestenfalls – ein elendes Leben führen,
unter Polizeiaufsicht, in irgendeiner kleinen, weit abgelegenen
Provinzstadt, ohne Freunde, wie andere sie hatten, die ihm
beistehen oder Schritte tun konnten, um sein Los zu verbessern.
Andere hatten Väter, Mütter, Brüder, Verwandte, Verbindungen, die
Himmel und Erde ihretwegen in Bewegung setzen würden – er hatte
niemand. Die Beamten selbst, die ihn eines Morgens verurteilten,
würden seine Existenz vor Sonnenuntergang vergessen haben.
Er sah seine Jugend in Elend und bitterster Not verstreichen,
seine Kräfte nachlassen, seinen Geist verflachen. Er sah sich
selbst schmierig und heruntergekommen durch die Straßen kriechen
und vielleicht plötzlich einmal in einem schmutzigen Loch von
Zimmer – oder in dem schmierigen Bett eines Kreisspitales
sterben.
Er schauderte. Dann überkam ihn eine verbitterte Ruhe. Es war
das beste, diesen Mann von der Straße wegzuhalten, bis man sich
seiner mit einiger Aussicht auf Rettung entledigen konnte. Das war
das beste, was sich tun ließ. Natürlich fühlte Rasumoff, daß die
Sicherheit seines einsamen Lebens ständig gefährdet blieb. Die
Ereignisse dieses Abends konnten zu jeder Zeit gegen ihn aufstehen,
solange dieser Mann lebte und die gegenwärtigen Einrichtungen zu
Recht bestanden. Die letzteren erschienen ihm in diesem Augenblicke
vernünftig und unzerstörbar. Sie hatten die ganze Gewalt eines
harmonischen Gefüges für sich – im Gegensatz zu dem grellen Mißton,
den die Gegenwart dieses Mannes bedeutete. Er haßte den Menschen –
und sagte ruhig: »Ja natürlich, ich will gehen. Sie müssen mir
genaue Weisungen geben, und im übrigen – verlassen Sie sich auf
mich.«
»Oh, Sie sind ein Kerl! Kopf hoch – und kalt wie eine Gurke. Ein
richtiger Engländer. Wo haben Sie Ihre Seele her? Es gibt nicht
viele wie Sie. Sehen Sie mich an, Bruder! Männer wie ich
hinterlassen keine Nachkommen, doch ihre Seelen sind nicht
verloren. Keines Mannes Seele ist je verloren. Sie arbeitet für
sich weiter – denn wo bliebe sonst der Trieb zur Selbstaufopferung,
zum Märtyrertum, zur Überzeugungstreue – diesen edelsten Blüten der
Seele? Was soll aus meiner Seele werden, wenn ich den Tod sterbe,
der mir bestimmt ist – bald – sehr bald vielleicht? Sie soll nicht
zugrunde gehen! Und mißverstehen wir uns nicht, Rasumoff. Dies ist
nicht Mord – es ist Krieg, Krieg. Mein Geist soll in dem Körper
irgendeines Russen weiterkämpfen, bis alle Falschheit aus der Welt
gewichen ist. Die moderne Zivilisation ist falsch, doch aus Rußland
soll eine neue Erkenntnis hervorgehen. Ha, Sie sagen nichts. Sie
sind ein Skeptiker. Ich achte Ihre philosophische Skepsis, Rasumoff
– doch lassen Sie die Seele aus dem Spiel. Die russische Seele, die
in uns allen lebt, die hat eine Zukunft. Sie hat eine Mission, sage
ich Ihnen! Oder wodurch sonst hätte ich bestimmt werden können, all
dies zu tun – rücksichtslos – wie ein Schlächter –, mitten unter
alle diese Unschuldigen – den Tod zu schleudern – ich! ich! …
ich könnte keiner Fliege was zuleide tun!«
»Nicht so laut«, warnte Rasumoff mit heiserer Stimme.
Haldin setzte sich plötzlich hin, legte den Kopf über die
gefalteten Arme und brach in Tränen aus. Er weinte lange. Die
Dämmerung in dem Raume hatte sich vertieft. Rasumoff lauschte
reglos, in düsterem Staunen, dem Schluchzen des anderen.
Da hob der den Kopf, stand auf und zwang seine Stimme mit Gewalt
zur Festigkeit.
»Jawohl, Männer wie ich hinterlassen keine Nachkommen«,
wiederholte er in resigniertem Ton. »Zwar habe ich eine Schwester.
Sie ist bei meiner alten Mutter. Ich überredete sie, für dieses
Jahr zu verreisen – Gott sei Dank. Ein tüchtiges Mädchen soweit,
meine Schwester, sie hat treuere Augen als irgendein menschliches
Wesen, das je diese Welt betrat. Sie wird gut heiraten, hoffe ich.
Sie mag Kinder haben – Söhne vielleicht. Sehen Sie mich an. Mein
Vater war Regierungsbeamter in der Provinz, er hatte auch einen
kleinen Landbesitz. Ein einfacher, gottesfürchtiger Mann – ein
echter Russe in seiner Art. Seine erste Tugend war der Gehorsam.
Doch ich bin nicht wie er. Man sagt, ich sei dem ältesten Bruder
meiner Mutter ähnlich, einem Offizier. Der wurde im Jahr
achtundzwanzig erschossen, unter Nikolaus, Sie wissen. Habe ich
Ihnen nicht gesagt, daß dies Krieg ist, Krieg … Doch beim
gerechten Gott, es ist harte Arbeit.«
Rasumoff saß in seinem Stuhl, hatte den Kopf in die Hand
gestützt, und seine Stimme klang wie aus der Tiefe eines Abgrundes
herauf.
»Sie glauben an Gott, Haldin?«
»Da klammern Sie sich nun wieder an Worte, die einem die
Erregung erpreßt. Was tut das zur Sache? Wie sagte doch der
Engländer: ›Eine göttliche Seele wohnt in den Dingen … ‹, hol
ihn der Teufel, ich erinnere mich jetzt nicht. Aber er sprach die
Wahrheit. Wenn einmal der Tag für euch Denker kommt, dann vergeßt
nicht, was das Göttliche in der russischen Seele ist: es ist die
Ergebung. Die sollt ihr bei aller eurer geistigen Unruhe achten und
eurer arroganten Weisheit nicht erlauben, sie zu unterdrücken. Ich
spreche da zu Ihnen wie ein Mann, der schon den Strick um den Hals
hat. Wofür halten Sie mich? Für einen Empörer? Nein. Ihr Denker
seid es, die in ständiger Auflehnung sind. Ich bin einer der
Ergebenen. Als die Notwendigkeit dieser schweren Tat an mich
herantrat, und als ich begriff, daß sie getan sein mußte – was tat
ich da? Jubelte ich? Fühlte ich mich stolz auf mein Vorhaben?
Versuchte ich, seinen Wert und seine Folgen abzuwägen? Nein! ich
war ergeben. Ich dachte – ›Gottes Wille geschehe‹«.
Er warf sich der Länge nach auf Rasumoffs Bett, legte die
Handrücken über die Augen und verharrte vollkommen reglos und
schweigend. Man hörte nicht einmal das Geräusch seiner Atemzüge.
Die tote Stille des Raumes blieb ungestört, bis Rasumoff in das
Dunkel hinein dumpf fragte:
»Haldin?«
»Ja«, antwortete der andere, ohne Zögern, doch ohne sich zu
rühren. Er war nun auf dem Bett nicht mehr zu erkennen.
»Ist es nicht Zeit für mich, aufzubrechen?«
»Ja, Bruder«, hörte man den anderen sagen, aus der Dunkelheit
heraus, als spräche er im Schlaf, »die Stunde ist da, das Schicksal
auf die Probe zu stellen.«
Er machte eine Pause und gab dann wenige, klare Anweisungen mit
der ruhigen, unpersönlichen Stimme eines Menschen im Trance.
Rasumoff machte sich fertig, ohne ein Wort der Erwiderung. Als er
im Begriff stand, das Zimmer zu verlassen, klang die Stimme vom
Bett hinter ihm her:
»Geh mit Gott, du schweigsame Seele.«
Im Vorraum angekommen, schloß Rasumoff lautlos die Tür ab und
schob den Schlüssel in die Tasche.