John Lanchester

KAPITAL

Roman

Aus dem Englischen
von Dorothee Merkel

Impressum

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Klett-Cotta

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Capital«

bei Faber & Faber Ltd; London

© 2012 by Orlando Books Ltd

Für die deutsche Ausgabe

© 2012 by J.G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Schutzumschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg unter Verwendung

des Originalcovers von Faber and Faber, Illustration von Tom Berry

Datenkonvertierung: Koch, Neff & Volckmar GmbH, KN digital – die digitale Verlagsauslieferung Stuttgart

Printausgabe: ISBN 978-3-608-93985-9

E-Book: ISBN 978-3-608-10316-8

Dieses E-Book entspricht der 10. Auflage 2013 der Printausgabe.

PROLOG

Im Morgengrauen eines Spätsommertags ging ein Mann in einem Kapuzenshirt langsam und leise durch eine ganz normal wirkende Straße im Süden Londons. Er war mit irgendetwas beschäftigt, aber ein zufälliger Beobachter hätte nur schwer erraten können, womit. Manchmal ging er näher an eines der Häuser heran, manchmal trat er ein paar Schritte zurück. Mal schaute er nach unten, dann wieder nach oben. Besagter zufälliger Beobachter hätte aus der Nähe allerdings erkennen können, dass der junge Mann eine kleine Videokamera in der Hand hielt. Aber es gab keinen solchen Beobachter. Niemand sah den jungen Mann, die Straße war leer. Sogar die Frühaufsteher schliefen noch. Es war auch nicht einer der Tage, an denen die Milch geliefert wurde oder die Müllabfuhr kam. Vielleicht wusste der junge Mann das und es war kein Zufall, dass er die Häuser genau zu diesem Zeitpunkt filmte.

Der Name der Straße war Pepys Road. Sie sah nicht anders aus als viele andere Straßen in diesem Teil Londons. Die meisten Häuser in ihr waren zur gleichen Zeit entstanden. Ein Immobilienunternehmer hatte sie während des Aufschwungs gebaut, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf die Abschaffung der Backsteinsteuer folgte. Der Architekt aus Cornwall und die irischen Bauarbeiter, die damals von der Firma beauftragt worden waren, brauchten zum Errichten der Häuser ungefähr achtzehn Monate. Jedes von ihnen hatte drei Stockwerke und unterschied sich auf bestimmte Weise von seinen Nachbarn, denn der Architekt und seine Bauarbeiter hatten winzige Variationen eingefügt. Bei manchen war es die Form der Fenster oder der Schornsteine, bei anderen betraf es die Details im Mauerwerk. In einem architektonischen Reiseführer der Gegend heißt es: »Sobald man dieses Phänomen bemerkt hat, beginnt man unweigerlich, die Gebäude näher zu betrachten und nach den kleinen Unterschieden zu suchen.« Vier von den Häusern in der Straße waren doppelt so breit wie die anderen und boten dementsprechend mehr Platz. Und weil Platz immer unbezahlbarer wurde, waren diese Häuser ungefähr dreimal so viel wert wie ihre kleineren Nachbarn. Es waren jene größeren, teureren Häuser, an denen der junge Mann mit der Kamera besonderes Interesse zu haben schien.

Die Gebäude in der Pepys Road waren für eine ganz bestimmte Klientel errichtet worden: Familien aus der unteren Mittelschicht, denen es nichts ausmachte, in einem weniger modischen Stadtteil zu wohnen, wenn sie dafür ihr eigenes Reihenhaus besitzen konnten – groß genug, um auch Dienstboten darin unterzubringen. In den ersten Jahren nach ihrer Fertigstellung wohnten dort nicht etwa Rechtsanwälte, Notare oder Doktoren, sondern deren Angestellte: angesehene, ehrgeizige Leute, die nicht mehr jeden Penny einzeln umdrehen mussten. Im Laufe der nächsten Jahrzehnte vollzog sich in der Straße ein fortwährender demographischer Wandel, sowohl was das Alter der Einwohner als auch was deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht betraf. Es hing ganz davon ab, wie beliebt sie gerade bei aufstrebenden jungen Familien war oder welche Anziehungskraft die Gegend zur jeweiligen Zeit ausübte. Im Zweiten Weltkrieg wurde auch dieser Teil der Stadt Opfer von Bombardierungen, aber die Pepys Road blieb unversehrt, bis 1944 eine V2-Rakete einschlug und zwei Häuser in der Mitte der Straße zerstörte. Jahrelang blieb die Lücke offen, wie ein Paar fehlender Schneidezähne, bis schließlich in den fünfziger Jahren neue Häuser gebaut wurden, die mit ihren Balkonen und Terrassentüren aus Glas inmitten all der viktorianischen Architektur sehr seltsam wirkten. Damals waren vier Häuser der Straße von Familien bewohnt, die erst vor kurzem aus der Karibik gekommen waren; die Väter arbeiteten alle für London Transport. Ein kleines, unregelmäßiges, grasbewachsenes Grundstück am Ende der Straße, das seit der Zerstörung des vorherigen Gebäudes im Zweiten Weltkrieg leer gestanden hatte, wurde 1960 zubetoniert, und es entstand ein zweigeschossiger Eckladen mit zwei Räumen auf jeder Etage.

Es wäre schwierig zu sagen, wann genau die Pepys Road auf der Preisleiter nach oben zu klettern begann. Die übliche Antwort wäre vielleicht, dass es zur gleichen Zeit geschah, als in ganz Großbritannien der Lebensstandard zu steigen begann. Mit dem Beginn der Thatcher-Jahre befreite sich die Wirtschaft aus dem unansehnlichen Kokon, in dem sie während der späten Siebziger eingesponnen war, und verwandelte sich in einen grellbunten Schmetterling. Es folgte eine langjährige Hochkonjunktur. Aber die Leute, die in der Straße wohnten, empfanden das ein bisschen anders – nicht zuletzt deswegen, weil sich auch mit ihnen ein Wandel vollzogen hatte. Während die Immobilienpreise langsam stiegen, verkauften die Angehörigen der Arbeiterklasse ihre Häuser und zogen fort, meistens in größere Häuser in ruhigeren Lagen, wo ihre Nachbarn so waren wie sie. Die Bewohner, die neu in die Straße zogen, gehörten größtenteils der Mittelschicht an. Aber nach wie vor galt, dass die Häuser vor allem bei jungen Familien sehr beliebt waren. Die Familienväter hatten einigermaßen gut bezahlte, wenn auch nicht gerade spektakuläre Jobs, die Ehefrauen blieben zu Hause und kümmerten sich um die Kinder. Als dann die Preise weiter stiegen und die Zeiten sich änderten, zogen mehr Familien in die Gegend, bei denen beide Eltern berufstätig waren und sich andere Leute um die Kinder kümmerten.

Man begann, die Häuser nachzubessern, aber nicht so wie bisher, als einfach nur erledigt wurde, was gerade anfiel, sondern mit systematischen Umgestaltungen. Dabei folgte man dem Trend, der in den siebziger Jahren begonnen hatte und seither niemals wirklich aus der Mode gekommen war: Man durchbrach Wände und schuf offene, großflächige Räume. Zahlreiche Hausbesitzer bauten ihre Dachgeschosse aus. Als der Stadtrat in den Achtzigern einen Linksruck machte und zu einem solchen Ausbau keine Erlaubnis mehr erteilte, taten sich einige Anwohner zusammen und zogen für das Recht, ihre Häuser aufzustocken, vor Gericht. Der Musterprozess wurde zu ihren Gunsten entschieden. Sie argumentierten, dass die Häuser ursprünglich für Familien konzipiert gewesen seien und dass der Dachgeschossausbau somit ganz dem Geist der Erbauer entsprach – was durchaus stimmte. Es gab in der Straße immer jemanden, der sein Haus modernisierte, und es verging kein Tag, an dem nicht irgendwo ein Baucontainer stand. Die Laster der Bauarbeiter versperrten die Straße, andauernd hörte man es hämmern, klopfen, bohren, prasseln und dröhnen, die Transistorradios der Handwerker beschallten die Gegend, und unablässig wurden Baugerüste aufgestellt. Nach dem Crash des Immobilienmarktes 1987 ließ die Bauwut etwas nach, aber bereits zehn Jahre später nahm sie wieder zu. Und nach vielen weiteren Jahren des Booms war es auch gegen Ende 2007 noch durchaus normal, dass zwei oder drei Häuser in der Straße gleichzeitig größeren Renovierungen unterzogen wurden. Der neueste Trend war der Einbau eines Kellergeschosses, dessen Kosten jeweils bei mindestens 100 000 £ oder mehr lagen. Aber viele von denen, die das Fundament ihres Hauses aushoben, verwiesen gerne darauf, dass der Umbau zwar einen großen Batzen Geld kostete, dem Haus aber mindestens genauso viel an Wert hinzufügte. Wenn man es also von diesem Standpunkt aus betrachtete – und weil viele der neuen Anwohner im Finanzsektor arbeiteten, war es ein sehr beliebter Standpunkt –, gab es den Kellerausbau praktisch zum Nulltarif.

All das war Teil einer einschneidenden Veränderung, die mit der Pepys Road vor sich ging. Seit es die Straße gab, war darin fast alles geschehen, was in einer Straße geschehen konnte. Zahllose Menschen verliebten und trennten sich wieder, ein junges Mädchen wurde zum ersten Mal geküsst, ein alter Mann tat seinen letzten Atemzug, ein Anwalt, der von der U-Bahn-Station nach Hause ging, schaute in den vom Wind ganz blaugefegten Himmel und hatte plötzlich das Gefühl, eine höhere Macht würde ihm Trost zusprechen, würde ihm versichern, dass es mehr als dieses Leben gab und dass das Bewusstsein mit dem Tod nicht endete. Babys starben an Diphtherie, Junkies spritzten sich auf dem Klo Heroin, junge Mütter bekamen Weinkrämpfe, weil sie sich so unendlich müde und einsam fühlten, andere planten ihre Flucht, hofften auf ihre große Chance, schauten Fernsehen, setzten ihre Küche in Brand, weil sie vergessen hatten, ihre Fritteuse auszuschalten, fielen von Leitern und sammelten alle Erfahrungen, die man im Leben so sammeln kann, Geburt, Tod, Liebe, Hass, Glück, Trauer, verwickelte Gefühle und einfache Gefühle, und alle Schattierungen dazwischen.

Jetzt war die Geschichte jedoch mit einer ganz erstaunlichen und unerwarteten Wendung über die Anwohner der Pepys Road hereingebrochen. Das erste Mal seit Entstehen der Straße waren die Menschen, die in ihr lebten – nach globalen und womöglich auch lokalen Maßstäben – reich. Ihr Reichtum ergab sich einfach und allein aus der Tatsache, dass sie in der Pepys Road wohnten. Sie waren reich, weil wie durch ein Wunder alle Häuser in der Straße nun Millionen von Pfund wert waren.

Dadurch vollzog sich eine seltsame Verkehrung der Umstände. Bisher war die Pepys Road von der Art Leuten bewohnt worden, für die sie auch gebaut worden war: aufstrebende, nicht besonders wohlhabende Leute. Sie waren froh gewesen, hier leben zu können, und dass sie hier lebten, war ein Teil ihrer zielstrebigen Bemühungen, etwas Besseres aus sich zu machen und für sich selbst und ihre Familien mehr Wohlstand zu schaffen. Die Häuser selbst hatten in ihrem Leben nur einen Platz im Hintergrund eingenommen. Sie waren zwar ein wichtiger Teil des Lebens gewesen, aber eben nur die Bühne, auf der sich die Handlung abspielte, und nicht die Hauptdarsteller selbst. Jetzt aber wurden die Häuser für die Menschen, die bereits darin wohnten, so wertvoll und für die, die gerade erst einzogen, so teuer, dass die Gebäude selbst die Rolle von Hauptdarstellern übernahmen.

All das geschah zunächst nur ganz allmählich. Die durchschnittlichen Preise krochen langsam nach oben und lagen zunächst bei wenigen Hunderttausend. Als dann die Beschäftigten der Finanzwelt die Gegend für sich entdeckten, stiegen die Immobilienpreise rasant. Es wurde üblich, den Leuten riesige Boni zu zahlen, die drei- oder viermal so hoch waren wie ihr eigentliches Jahreseinkommen und ein Vielfaches dessen betrugen, was ein englischer Durchschnittsbürger verdiente. In der Immobilienwelt brach eine allgemeine Hysterie aus. Ganz plötzlich gingen die Preise so steil nach oben, als hätten sie einen eigenen Willen. Es gab einen Satz, der jahrzehntelang überall zu hören war, einen sehr englischen Satz: »Hast du gehört, was die für das Haus unten in der Straße bekommen haben?« Anfänglich hatten die erstaunlich hohen Summen, über die man sprach, nur im Bereich von einigen Zehntausend gelegen. Dann erreichten sie ein Vielfaches von zehntausend. Dann wenige Hunderttausend, dann lagen sie im oberen Hunderttausenderbereich, und mittlerweile handelte es sich um siebenstellige Summen. Es wurde ganz normal, unentwegt über Immobilienpreise zu reden. Wenn man anfing, sich zu unterhalten, dauerte es nur wenige Minuten, bis unweigerlich das Gespräch auf dieses Thema kam. Immer wenn sich Leute trafen, versuchten sie erst eine Weile, sich zu beherrschen, um dann mit Erleichterung dem Wunsch nachzugeben, genau darüber zu sprechen.

Es war wie in Texas zur Zeit des Ölrauschs, mit dem einzigen Unterschied, dass man kein Loch in den Boden bohren musste, um fossile Brennstoffe daraus hervorschießen zu lassen. Stattdessen saß man einfach nur da und schaute zu, wie der Wert des eigenen Hauses so schnell in die Höhe raste, dass einem schwindelig wurde. Sobald die Eltern zur Arbeit und die Kinder zur Schule gegangen waren, sah man tagsüber weniger Leute in der Straße, abgesehen von den Bauarbeitern. Doch andauernd wurde irgendetwas geliefert. Es schien, als wären die Häuser lebendig geworden, seit ihr Preis gestiegen war, und als hätten sie dadurch ihre eigenen Wünsche und Begierden entwickelt. Transporter von Berry Brothers & Rudd kamen, um Wein zu liefern, zwei oder drei verschiedene Hundesitter fuhren in ihren Autos vor, es gab Blumenlieferanten, Paketboten von Amazon, Fitnesstrainer, Putzfrauen, Klempner und Yogalehrer. Sie alle näherten sich den Häusern wie Bittsteller und wurden prompt von ihnen geschluckt. Leute kamen, um die Wäsche zu waschen oder zu reinigen, es kamen FedEx- und UPS-Lieferungen, Lieferungen von Hundebetten, Druckerfarbpatronen, Gartenstühlen, Vintage-Filmpostern, DVD-Bestellungen, eBay-Schnäppchen und Impulskäufen, und von Fahrrädern aus dem Versandhandel. Es kamen Leute zu den Häusern, um zu betteln, und es kamen Leute, die etwas verkaufen wollten (warme Decken zu Gunsten der Obdachlosen und die besten Energiedeals für die Hausbesitzer). Geschäftsleute, Fitnesstrainer und Handwerker verschwanden im Innern der Gebäude und kamen wieder heraus, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig waren. Die Häuser waren wie Menschen geworden, noch dazu sehr reiche Menschen: Sie gaben sich herrisch und gebieterisch, und hatten ihre ganz eigenen Bedürfnisse, deren Befriedigung sie schamlos einforderten. Andauernd befanden sich Bauarbeiter in der Straße, die mit der Wartung der Häuser beschäftigt waren. Sie bauten Speicher um, reparierten Küchen, durchbrachen Wände oder fügten welche hinzu, und immer stand ein Container oder ein Baugerüst vor einem der Häuser. Der Trend, das Fundament auszuheben und Küchen, Spielzimmer oder andere Räume dort unterzubringen, führte zu endlosen Förderbändern voller Erde, die in die bereitgestellten Container geschüttet wurde. Weil das Erdreich von dem Gewicht des darüberstehenden Hauses zusammengepresst worden war, dehnte es sich, einmal an der Oberfläche, auf ein fünf- oder sechsmal so großes Volumen aus. Dadurch gewann dieses Gegrabe etwas Bizarres, Düsteres, als würde die Erde anschwellen, sich übergeben, sich ihrem eigenen Aushub widersetzen. Viel zu viel Boden schien aus dem Untergrund zu kommen, so als sei es gänzlich unnatürlich, sich so tief ins Erdreich zu wühlen, um sich noch mehr Platz zu verschaffen. Als könnte man bis in alle Ewigkeit weitergraben.

Wenn man ein Haus in der Pepys Road besaß, dann war das so, als befände man sich in einem Spielkasino mit Gewinngarantie. Wohnte man bereits dort, war man reich. Wollte man dort hinziehen, musste man reich sein. Es war das erste Mal in der Geschichte, dass dies der Fall war. Großbritannien war zu einem Land von Gewinnern und Verlierern geworden, und alle Menschen in dieser Straße hatten allein durch die Tatsache, dass sie dort wohnten, gewonnen. Der junge Mann, der an diesem Sommermorgen in die Gegend gekommen war, filmte eine Straße von Gewinnern.

ERSTER TEIL
Dezember 2007

1

An einem regnerischen Tag Anfang Dezember saß eine zweiundachtzigjährige Frau in ihrem Wohnzimmer in der Pepys Road Nummer 42 und schaute durch ihre Spitzenvorhänge auf die Straße hinaus. Ihr Name war Petunia Howe, und sie wartete auf den Lieferwagen von Tesco.

Petunia war der älteste Mensch, der in der Pepys Road lebte, und sie war auch der letzte Mensch, der in der Straße geboren worden war und jetzt noch immer dort wohnte. Aber ihre Verbindung mit diesem Ort ging viel weiter zurück. Ihr Großvater hatte das Haus sozusagen vom Reißbrett weg gekauft, noch bevor es gebaut worden war. Er hatte als Rechtsanwaltsgehilfe in einer Kanzlei in Lincoln’s Inn gearbeitet und war privat wie politisch sehr konservativ gewesen. Und wie bei Rechtsanwaltsgehilfen so üblich, hatte er seinen Beruf an seinen Sohn vererbt, und als der nur Töchter bekam, weiter an den Mann einer seiner Enkelinnen. Und das war Petunias Mann gewesen, der vor fünf Jahren gestorben war.

Petunia sah sich selbst nicht gerade als jemanden, der ein besonders aufregendes Leben geführt hatte. Sie war eher der Ansicht, dass es ziemlich übersichtlich und belanglos gewesen war. Immerhin hatte sie zwei Drittel der gesamten Geschichte der Pepys Road miterlebt und eine ganze Menge dabei gesehen. Sie hatte mehr bemerkt, als sie je zugeben würde, und hatte versucht, so wenig wie möglich über die Dinge zu urteilen. Sie fand, dass Albert genug Urteile für sie beide zusammen gefällt hatte. Die einzige Lücke in ihrem Leben in der Pepys Road war entstanden, als sie Anfang des Zweiten Weltkriegs evakuiert worden war und von 1940 bis 1942 auf einem Bauernhof in Suffolk leben musste. So hatte man verhindern wollen, dass sie der Bombardierung ausgesetzt war. Das war eine Zeit, an die sie auch heute noch lieber nicht dachte, nicht etwa weil jemand grausam zu ihr gewesen wäre – der Bauer und seine Frau waren so freundlich gewesen wie möglich und wie es ihnen die ununterbrochene schwere körperliche Arbeit, aus der ihr Leben bestand, erlaubt hatte –, sondern einfach, weil sie ihre Eltern vermisste und sich nach dem behaglichen und vertrauten Familienleben sehnte, wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam und pünktlich um sechs das Abendessen serviert wurde. Die Ironie der Geschichte war, dass sie die Bombardierung dann doch mitbekam. Es war 1944, um vier Uhr morgens, als eine V2-Rakete gerade mal zehn Häuser weiter einschlug. Petunia konnte sich noch gut daran erinnern, dass die Explosion weniger ein Geräusch als vielmehr eine körperliche Empfindung gewesen war. Sie wurde mit unwiderstehlicher Kraft aus dem Bett gestoßen, so als hätte ein neben ihr liegender Liebhaber sie nicht mehr darin dulden mögen, ohne ihr aber Übles zu wollen. Zehn Menschen starben in dieser Nacht. Das Begräbnis, das in der großen Kirche am Park abgehalten wurde, war ganz fürchterlich. Begräbnisse sollten eigentlich besser an regnerischen Tagen stattfinden, wenn man den Himmel nicht sehen kann. An diesem Tag aber war das Wetter hell, klar und frisch gewesen, und noch Monate später musste Petunia immer wieder daran denken.

Ein Lastwagen kam die Straße entlanggefahren, wurde langsamer und hielt vor ihrem Haus. Der Dieselmotor war so laut, dass er die Fenster zum Klirren brachte. Vielleicht war das endlich ihre Lieferung? Aber dann legte der Lastwagen einen anderen Gang ein und verschwand die Straße hinunter, wobei er mit zweimaligem lauten Gepolter – einmal hoch, einmal runter – über die Straßenschwellen fuhr. Die hatten eigentlich dazu dienen sollen, den Verkehr in der Straße zu reduzieren, aber ihr einziger Erfolg schien zu sein, dass es noch mehr Krach gab, und auch mehr Abgase, denn die Autos wurden vor den Schwellen langsamer und beschleunigten danach umso mehr. Seit man sie eingebaut hatte, war kein einziger Tag vergangen, an dem Albert sich nicht über sie beschwert hätte: buchstäblich kein einziger, von dem Tag an, als die Straße wieder für den Verkehr geöffnet wurde, bis zu dem Tag, an dem er ganz plötzlich starb.

Petunia hörte, wie der Lastwagen weiter unten in der Straße hielt. Eine Lieferung – wohl keine Lebensmittel, und auch nicht für sie. Das war etwas, das ihr in diesen Tagen hauptsächlich an der Straße auffiel: die Lieferungen. Sie wurden immer mehr, während die Straße immer vornehmer wurde. Und hier war sie nun und wartete selbst auf eine Lieferung. Es hatte mal einen Begriff dafür gegeben: das »Fuhrkutschergewerbe«. Sie erinnerte sich, dass ihre Mutter davon gesprochen hatte. Irgendwie dachte man dabei an Männer mit Zylinderhüten und an Pferdegespanne. Jetzt gehöre ich auch zum Fuhrkutschergewerbe, dachte Petunia. Und das in meinem Alter. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Die Lieferung, das waren ihre Lebensmittel, und das Ganze war eine Idee ihrer Tochter Mary gewesen, die in Essex wohnte. Petunia hatte in letzter Zeit Schwierigkeiten mit dem Einkaufen gehabt, keine großen Probleme, aber genug, um ein wenig ängstlich zu werden auf dem Weg zur Hauptstraße und zurück, vor allem, wenn sie etwas mehr zu tragen hatte. Also hatte Mary einen Lieferservice für sie organisiert. Einmal in der Woche sollten alle großen und sperrigen Einkäufe direkt ins Haus geliefert werden, und zwar immer mittwochs zwischen zehn und zwölf. Petunia hätte es natürlich viel lieber gehabt, wenn Mary oder Marys Sohns Graham, der in London wohnte, selbst zu ihr gekommen wäre. Dann hätten sie zusammen einkaufen gehen können, aber davon war nie die Rede gewesen.

Jetzt hörte sie wieder einen Lastwagen, diesmal war es ein noch lauteres Poltern. Er fuhr vorbei, aber nicht weit, und sie hörte, wie er ein paar Meter die Straße hinunter parkte. Durch das Fenster sah sie das Firmenzeichen: Tesco! Ein Mann, der eine große Kiste trug, kam zu ihrem Vorgarten und öffnete die Gartentür geschickt mit der Hüfte. Petunia stand auf, sich vorsichtig mit beiden Armen abstützend, und hielt einen Moment lang inne, um sich zu sammeln. Dann öffnete sie die Haustür.

»Guten Morgen! Alles okay bei Ihnen? Es ist alles so, wie Sie’s bestellt haben. Soll ich es nach hinten bringen? Draußen verteilt jemand Knöllchen, aber ich habe ihm gesagt, er soll das mal schön bleiben lassen.«

Der nette Tesco-Mann trug ihre Einkäufe bis in die Küche und stellte die Sachen auf den Tisch. Mit zunehmendem Alter fiel es Petunia immer mehr auf, wenn andere Leute ihre Kraft und Gesundheit demonstrierten, als wäre es nichts Besonderes. So wie jetzt dieser junge Mann, der mit solcher Leichtigkeit die schwere Kiste auf den Tisch hievte und dann jeweils vier Tüten auf einmal herausnahm. Seine Schultern und Arme wurden noch breiter, während er die Tüten hochhob. Er sah dabei riesengroß aus, wie ein Eisbär beim Bodybuilding.

Petunia war es normalerweise nicht peinlich, wenn ihre Sachen ein wenig alt wirkten, aber wegen ihrer Küche schämte sie sich schon ein bisschen. Wenn Linoleum einmal anfing, schäbig auszusehen, dann aber auch so richtig, selbst wenn es sauber war. Aber dem Tesco-Mann schien das nicht weiter aufzufallen. Er war sehr höflich. Wenn er die Sorte Angestellter gewesen wäre, denen man ein Trinkgeld gibt, dann hätte Petunia ihm ordentlich was zugesteckt, aber als Mary den Lieferservice beauftragt hatte, hatte sie ihr extra gesagt, dass man Supermarktlieferanten kein Trinkgeld gibt. Sie hatte dabei ziemlich genervt geklungen, so als würde sie ihre Mutter gut genug kennen, um zu wissen, was sie jetzt schon wieder dachte.

»Danke«, sagte Petunia. Während sie die Tür hinter ihm schloss, sah sie, dass auf der Fußmatte eine Postkarte lag. Sie bückte sich – ganz vorsichtig – und hob sie auf. Vorne auf der Karte war ein Foto ihres Hauses, Pepys Road 42. Sie drehte die Karte um. Es gab keine Unterschrift, nur eine gedruckte Nachricht. Da stand: »WIR WOLLEN WAS IHR HABT.« Darüber musste Petunia lächeln. Warum in aller Welt sollte irgendjemand das haben wollen, was sie hatte?

2

Der Besitzer des Hauses gegenüber von Petunia Howe, Pepys Road 51, befand sich an seinem Arbeitsplatz in der City. Roger Yount saß am Schreibtisch in seiner Bank, Pinker Lloyd, und rechnete. Er versuchte herauszufinden, ob sein Bonus dieses Jahr die Summe von einer Million Pfund erreichen würde.

Roger war vierzig Jahre alt. Es war ihm in seinem Leben mehr oder minder alles zugeflogen. Er war etwa eins neunzig groß – gerade klein genug, um nicht das Bedürfnis zu haben, seine Größe durch eine gebückte Haltung zu kaschieren. Es gelang ihm sogar, durch seinen hohen Wuchs eine gewisse Leichtigkeit auszustrahlen, so als hätte die Schwerkraft beim Wachsen auf ihn weniger eingewirkt als auf andere, gewöhnlichere Leute. Die sich daraus ergebende Selbstzufriedenheit schien so wohlverdient zu sein, und er hatte offensichtlich ein so geringes Bedürfnis, den Leuten sein Glück unter die Nase zu reiben, dass sogar seine Arroganz charmant wirkte. Hinzu kam, dass Roger durchaus attraktiv war, wenn auch auf eine gewisse unpersönliche Art und Weise, und dass er über gute Manieren verfügte. Er war auf eine gute Schule (Harrow) und eine gute Universität (Durham) gegangen und hatte einen guten Job (in der Londoner Finanzwelt). Sein Timing war perfekt gewesen (kurz nach dem großen Crash und kurz bevor der Finanzsektor von all den Mathematikgenies und Glücksrittern überschwemmt wurde). Er hätte perfekt in das alte System gepasst, als die Leute noch spät zur Arbeit kamen und früh wieder gingen und in der Zwischenzeit eine ausgedehnte Mittagspause genossen; als alles noch davon abhing, wer man war und wen man kannte und wie gut man sich anpassen konnte, und als die höchste Auszeichnung darin bestand, dazuzugehören und als ein guter Teamplayer zu gelten. Er passte aber auch hervorragend in das neue System, in dem vermeintlich alles leistungsorientiert war und in dem die Ideologie hieß: Arbeite hart, zocke hart und mache keine Gefangenen. Man musste mindestens von sieben Uhr morgens bis sieben Uhr abends im Büro sein, es war vollkommen egal, mit welchem Akzent man sprach oder wo man herkam, solange man unter Beweis stellte, dass man der Sache gewachsen war und Geld für seinen Arbeitgeber verdienen konnte. Roger hatte einen genialen Instinkt dafür, wann es gerade passte, die Menschen im neuen Finanzsystem an das alte zu erinnern, ohne das neue System dadurch in Frage zu stellen. Er schaffte es zu signalisieren, dass er problemlos mit dem alten System zurechtgekommen wäre, gleichzeitig aber das gegenwärtige System ganz wunderbar fand. Sogar seine Kleidung – exquisit gearbeitete Anzüge im Stil eines Mannes von Welt, angefertigt von einem Schneider, der sein Atelier nur wenige Meter von der Savile Row entfernt hatte – schien zu sagen, dass er verstand, worum es ging. (Bei der Auswahl hatte ihm seine Frau Arabella geholfen.) Er war ein beliebter Boss, der nie die Geduld verlor und wusste, wann man die Dinge einfach nur laufen lassen musste.

Das war ein nicht zu unterschätzendes Talent. Ein Talent, das in einem guten Jahr schon mal eine Million Pfund wert sein dürfte, sollte man meinen … Aber es war nicht so ganz einfach für Roger, die Höhe seines Bonusses auszurechnen. Das lag daran, dass es bei seinem Arbeitgeber, einer relativ kleinen Investmentbank, zahlreiche Gesichtspunkte gab, die man in Betracht ziehen musste: die Größe des Firmenprofits im Ganzen; den Anteil, den seine Abteilung daran gehabt hatte, die für Transaktionen im Devisenmarkt zuständig war; die Frage, wie die Leistung seiner Abteilung im Vergleich mit der Konkurrenz abschnitt; und eine Reihe anderer Faktoren, von denen die meisten nicht gerade transparent waren und viele von dem subjektiven Urteil abhingen, das man über seine Leistung als Manager fällte. Es hatte ganz den Anschein, als wollte man diesen Entscheidungsprozess mit Absicht verschleiern. Verantwortlich für die Entscheidung war der Vergütungsausschuss, auch Politbüro genannt. Und das Ergebnis all dieser verschiedenen Faktoren war, dass niemand je genau wissen konnte, welche Höhe sein Bonus haben würde.

Auf Rogers Schreibtisch standen drei Computerbildschirme. Einer davon zeichnete die Aktivitäten der Abteilung in Echtzeit nach, ein zweiter war Rogers eigener PC, den er für E-Mails, Instant Messaging, Videokonferenzen und seinen Terminkalender benutzte, und ein dritter spiegelte wider, welchen Verlauf der Devisenhandel seiner Abteilung während des gesamten Jahres genommen hatte. Demzufolge hatten sie einen Gewinn von ungefähr 75 000 000 £ gemacht, bei einem Umsatz von bisher 625 000 000 £. Das war nicht schlecht, fand Roger, ohne überheblich klingen zu wollen. Wenn man sich die Zahlen so anschaute, dann wäre es nur gerecht, wenn man ihm einen Bonus von einer Million zugestehen würde. Aber es war ein seltsames Jahr am Finanzmarkt gewesen, seit dem Zusammenbruch von Northern Rock vor einigen Monaten. Im Grunde genommen hatte sich Northern Rock mit ihrem eigenen Geschäftsmodell selbst zerstört. Ihr Kredit war versiegt, die Bank of England hatte geschlafen, und die Börsianer waren in Panik geraten. Seitdem waren die Kredite teurer geworden, und es herrschte eine allgemeine Unruhe am Markt. Roger fand das durchaus in Ordnung, denn im Handel mit Devisen führte Unruhe zu Schwankungen, und Schwankungen führten zu Profit. Es hatte am Devisenmarkt einige ziemlich einleuchtende und relativ sichere Wetten gegen Hochzinswährungen gegeben, zum Beispiel gegen den argentinischen Peso; einige Devisenabteilungen von Konkurrenzfirmen hatten dabei höllisch abkassiert. Deswegen war die fehlende Transparenz ein Problem. Das Politbüro maß ihn womöglich an dem Gewinnergebnis irgendeines Senkrechtstarters, eines idiotischen halbwüchsigen Draufgängers, der ein paar verrückte, nicht abgesicherte Wetten abgezogen hatte. Mit einigen Zahlen konnte man eben unmöglich konkurrieren, wenn man nicht die Art von Risiko einging, die seine Bank für inakzeptabel hielt. Aber leider funktionierte das Ganze so, dass solche Risiken sofort viel akzeptabler wurden, wenn sie eine spektakuläre Geldsumme einbrachten.

Ein weiteres mögliches Problem war, dass die Bank behaupten könnte, in diesem Jahr weniger Gewinn erzielt zu haben, so dass die Boni generell unter den Erwartungen bleiben würden. Es gab tatsächlich Gerüchte, dass Pinker Lloyd einige ziemlich hohe Verluste in der Abteilung für Hypothekenanleihen hatte verkraften müssen. Und dann war da noch der weithin publik gemachte Schlag ins Kontor im Zusammenhang mit dem schweizerischen Tochterunternehmen gewesen, das in einem Übernahmekampf den Kürzeren gezogen und dessen Aktie infolgedessen einen Kurssturz von 30 Prozent erfahren hatte. Das Politbüro könnte behaupten, »es sind harte Zeiten angebrochen«, »der Verlust muss gleichmäßig aufgeteilt werden«, »wir spenden dieses Mal alle ein wenig Blut« und (mit einem Zwinkern) »nächstes Jahr wird alles besser«. Das wäre natürlich eine ziemlich große Scheiße.

Roger rotierte in seinem Drehsessel, damit er aus dem Fenster in Richtung Canary Wharf gucken konnte. Es hatte aufgehört zu regnen, und die früh untergehende Dezembersonne tauchte die Hochhäuser, die normalerweise so massiv und vollkommen unätherisch wirkten, einen Augenblick lang in ein klares goldenes Licht, so dass sie in Flammen zu stehen schienen. Es war halb vier, und er würde noch mindestens vier Stunden arbeiten müssen. Zu dieser Jahreszeit verließ er das Haus, bevor es hell wurde, und kam heim, lange nachdem es dunkel geworden war. Das war jedoch für Roger so selbstverständlich geworden, dass er schon lange keinen Gedanken mehr daran verschwendet hatte. Seiner Erfahrung nach waren diejenigen, die sich über die Arbeitszeiten in der City beschwerten, entweder im Begriff zu kündigen oder kurz davor, gefeuert zu werden. Er drehte sich wieder zurück, denn lieber wandte er sich dem Inneren des Gebäudes zu, wo sich das »Parkett« befand, wie es von allen genannt wurde, in Erinnerung an die alten Zeiten des Börsenparketts, wo die Börsianer schrien, kämpften und mit ihren Papieren herumfuchtelten. Man hätte sich jedoch kaum einen größeren Unterschied zu dieser Tradition vorstellen können als die Abteilung für Devisenhandel. Vierzig Angestellte saßen an ihren Bildschirmen, murmelten etwas in ihre Headsets oder zu ihren Nachbarn, schauten aber im Allgemeinen nur selten von dem stetigen Datenfluss in ihren Computern auf. Rogers Büro hatte Wände aus Glas, aber es gab Jalousien, die er schließen konnte, wenn er etwas Privatsphäre brauchte. Er hatte auch ein ganz neues Spielzeug, einen Apparat, der weißes Rauschen erzeugte. Wenn man ihn einschaltete, war es unmöglich, außerhalb des Raumes etwas mitzuhören. Alle Abteilungsleiter hatten so einen Apparat. Er war echt abgefahren. Meistens jedoch zog Roger es vor, die Tür zu seinem Büro offen zu lassen, damit er etwas von der Geschäftigkeit im Nebenraum mitbekam. Er wusste aus Erfahrung, dass es gefährlich war, sich von seiner Abteilung zu isolieren. Je mehr man darüber Bescheid wusste, was unter seinen Untergebenen vor sich ging, desto weniger bestand die Gefahr böser Überraschungen.

Diese Lektion hatte er unter anderem durch die Art und Weise gelernt, wie er an seinen Job gekommen war. Er war stellvertretender Leiter genau dieser Abteilung gewesen, als die Bank plötzlich stichprobenartige Drogentests machte. Vier seiner Kollegen waren getestet worden, und alle vier waren durchgefallen. Roger war keineswegs überrascht gewesen, denn der Test fand an einem Montag statt, und er wusste nur zu gut, dass sich alle jungen Börsianer am Wochenende vollkommen zudröhnten. (Zwei von ihnen hatten Kokain genommen, einer Ecstasy, und einer hatte Gras geraucht – was Roger etwas bedenklich gefunden hatte, denn in seinen Augen war Marihuana eine Verlierer-Droge). Die vier waren streng verwarnt worden; ihr Boss aber wurde gefeuert. Roger hätte ihm sagen können, was vor sich ging, wenn er gefragt worden wäre, aber das war nicht geschehen. Der Boss hatte Roger die ganze Arbeit aufgehalst, war furchtbar arrogant und durch und durch ein Bankier der alten Schule gewesen. Deswegen hatte es Roger, der sich in zwischenmenschlichen Beziehungen nicht die Mühe machte, auf hinterhältige oder intrigante Methoden zurückzugreifen, nicht leid getan, ihn gehen zu sehen.

Im Grunde genommen war Roger persönlich nicht unbedingt ehrgeizig. Am wichtigsten war ihm, dass das Leben nicht allzu viele Forderungen an ihn stellte. Er hatte sich unter anderem deshalb in Arabella verliebt und sie geheiratet, weil sie die Begabung hatte, das Leben vollkommen mühelos aussehen zu lassen. Das war in Rogers Augen eine nicht zu verachtende Fähigkeit.

Er wollte Erfolg haben, und er wollte, dass man sah, dass er Erfolg hatte, und vor allem wollte er seinen Millionenbonus. Er wollte 1 000 000 £, weil ihm diese Summe bisher noch niemand ausgezahlt hatte, weil er fand, dass sie ihm zustand, und weil sie ein Beweis für seinen Wert als Mann war. Aber er wollte sie auch, weil er dringend Geld brauchte. Die Summe von 1 000 000 £ war ursprünglich ein vages, nicht ganz ernst gemeintes Ziel gewesen. Sehr bald aber wurde sie zur unverzichtbaren Notwendigkeit, eine Summe, die er brauchte, um die Rechnungen zu bezahlen und seine Finanzen wieder auf ein festes Fundament zu stellen. Sein Grundgehalt von 150 000 £ reichte gerade mal als »Kleidergeld« – wie Arabella es nannte –, denn es deckte nicht einmal seine beiden Hypotheken ab. Das Haus in der Pepys Road war ein Doppelhaus und hatte 2 500 000 £ gekostet, was er damals für das oberste Ende des Immobilienmarktes gehalten hatte, auch wenn in der Zwischenzeit die Preise noch wesentlich höher gestiegen waren. Sie hatten das Dachgeschoss umgebaut, den Keller ausgehoben, alle Leitungen und Rohre neu verlegt, weil das ohnehin ein Aufwasch war, hatten die Wände im Erdgeschoss durchbrochen, einen Wintergarten angebaut, den seitlichen Anbau erweitert und von oben bis unten alles renoviert (Joshuas Zimmer war voller Cowboy-Motive und das von Conrad voller Astronauten, obwohl er in letzter Zeit Wikinger besser zu finden schien; Arabella dachte bereits über eine Neugestaltung nach). Sie hatten zwei Badezimmer zusätzlich eingebaut und das Hauptbadezimmer erst in ein En-Suite-Bad und dann zu einem Wetroom-Bad umgemodelt, weil letztere gerade schwer in Mode waren. Dann hatten sie es wieder zu einem normalen (wenn auch sehr luxuriösen) Badezimmer zurückgebaut, weil Wetroom-Bäder irgendwie vulgär waren und weil sich die Feuchtigkeit bis ins Schlafzimmer ausbreitete und Arabella fand, dass das ihren Bronchien schadete. Roger hatte ein Büro und Arabella ein Ankleidezimmer. Die Küche war ursprünglich von Smallbone of Devizes, aber Arabella war davon bald nicht mehr so angetan gewesen und hatte stattdessen eine neue deutsche Küche bestellt, mit einer ganz erstaunlichen Dunstabzugshaube und einem riesigen amerikanischen Kühlschrank. Die Wohnung für das Kindermädchen hatte zwei separate Räume und eine eigene Küche, weil Arabella es wichtig fand, dass man das Gefühl hatte, voneinander abgetrennt zu sein, für den Fall, dass sie – wer auch immer sie sein würde – ihren Freund zu Besuch hatte. Es gab darin einen Rauchmelder, der so sensibel war, dass er losging, sobald man sich nur eine Zigarette anzündete. Letztendlich wollten sie dann aber doch kein Kindermädchen, das mit ihnen im Haus wohnte und andauernd unter ihren Füßen herumlief; und einen Untermieter zu haben war total uncool. Das machten nur Leute, die in den Siebzigern steckengeblieben waren. Also stand die Wohnung leer. Das Wohnzimmer war komplett verkabelt (mit CAT-5-Kabel natürlich, wie überall im Haus), und mit dem Bang-&-Olufsen-System konnte man Musik im ganzen Haus hören (mit Ausnahme der Kinderzimmer). Der Fernseher hatte einen Sechzig-Zoll-Plasmabildschirm und gegenüber an der Wand hing eines von Damien Hirsts Spot Paintings, das Arabella in einem Jahr gekauft hatte, als Roger einen recht ordentlichen Bonus erhalten hatte. Betrachtete man den Hirst von einem ästhetischen, kunsthistorischen, inneneinrichtungsrelevanten und psychologischen Standpunkt, so kam man zu dem wohlüberlegten Schluss – fand Roger –, dass er 47 000 £ plus Mehrwertsteuer gekostet hatte. Die Möbel nicht eingerechnet, hatten die Younts, inklusive der Rechnungen des Architekten, des Gutachters und der Bauarbeiter, für die Umbauten an ihrem Haus ungefähr 650 000 £ bezahlt.

Das alte Pfarrhaus in Minchinhampton in Wiltshire war auch nicht ganz billig gewesen. Es war ein wunderschönes Gebäude aus dem Jahr 1780. Leider wurde der Eindruck von Leichtigkeit und ausgewogenen Proportionen, der durch den georgianischen Baustil entstand, etwas dadurch geschmälert, dass die Innenräume eher klein waren und die Fenster erstaunlich wenig Licht durchließen. Ihr Gebot von 900 000 £ war zunächst akzeptiert worden, dann aber wurden sie trotz mündlicher Zusage mit 975 000 £ überboten und waren daraufhin gezwungen, ihrerseits ein noch höheres Gebot einzureichen. Das Haus wurde ihnen schließlich für lockere 1 000 000 £ zugeschlagen. Die Renovierung und generelle Verschönerungsarbeiten hatten 250 000 £ verschlungen. Ein Teil davon war für den Rechtsanwalt draufgegangen, der die Rücknahme der vollkommen sinnlosen Denkmalschutzauflagen erwirkte. Das winzige Cottage am unteren Ende des Gartens hatte ebenfalls zum Verkauf gestanden, und sie fanden es absolut notwendig, es dazuzukaufen, denn wenn man Freunde zu Besuch hatte, wurde das Ganze doch etwas eng. Die Verkäufer, ein schwules Pärchen, das ebenfalls zwei Häuser hatte und von dem einer ein Baugutachter war, wussten nur zu gut, dass sie die Younts in der Zange hatten, und weil die Preise überall in die Höhe schossen, hatten sie für das winzige Cottage 400 000 £ aus ihnen herausgequetscht. Wie sich dann herausstellte, mussten sie weitere 100 000 £ zur Behebung bautechnischer Probleme hinblättern.

Minchinhampton war absolut entzückend – die englische Landschaft ist eben einfach unschlagbar. Da konnte jeder nur zustimmen. Aber immer die Sommerferien dort zu verbringen war dann doch ein wenig schäbig, fand Arabella. Es war ja eigentlich eher ein Wochenendhaus. Also verreisten sie im Sommer zwei Wochen lang woandershin, nahmen ein paar Freunde mit und luden jedes zweite Jahr entweder Rogers oder Arabellas Eltern ein, um eine der zwei Wochen mit ihnen zu verbringen. Der marktübliche Preis für die Art Villa, die sie sich für ihre Ferien vorstellten, lag bei 10 000 £ die Woche. Geflogen wurde natürlich Business Class. Wozu hatte man denn schließlich Geld, fand Roger, wenn nicht dafür – gesetzt den Fall, man wäre gezwungen, es in einem Punkt zusammenzufassen, was natürlich unmöglich war, aber was, wenn doch –, dass man nie wieder mit den anderen Losern in der Billigklasse fliegen musste. In zwei guten Bonusjahren hatten sie einen Privatjet gemietet, ein Komfort, den man schwerlich wieder missen wollte, wenn man sich einmal daran gewöhnt hatte, nicht für seine Koffer anstehen zu müssen … Oft verreisten sie auch noch ein zweites Mal im Jahr, manchmal um Weihnachten herum – aber Gott sei Dank nicht dieses Jahr, dachte Roger –, meistens allerdings Mitte Februar oder während der Osterferien. Der genaue Zeitraum hing von den Schulferien der Westminster Under School ab, auf die Conrad ging und die geradezu fanatisch darauf achtete, dass man sein Kind nur während der offiziellen Ferien aus der Schule nahm, ein wenig zu fanatisch, wie Roger fand, da die Kinder, um die es sich handelte, gerade mal fünf Jahre alt waren, aber dafür zahlte man eben 20 000 £ Schulgeld im Jahr.

Auch andere Kosten summierten sich, wenn man einmal anfing, darüber nachzudenken. Pilar, das Kindermädchen, kostete 20 000 £ im Jahr netto – oder eher 35 000 £ brutto, wenn man die ganze verdammte Lohnsteuer dazuzählte. Sheila, das Wochenend-Kindermädchen, bekam weitere 200 £ pro Wochenende, was sich auf ungefähr 9000 £ summierte (obwohl sie sie in bar bezahlten und in den Ferien gar nicht – es sei denn, sie kam mit, was recht oft der Fall war, oder die Agentur vermittelte ihnen jemand anderen). Arabellas BMW M3 »fürs Einkaufen« hatte 55 000 £ gekostet, und der Lexus S400, das Familienauto, das eigentlich nur vom Kindermädchen benutzt wurde, um die Kinder zur Schule oder zu Spielnachmittagen zu fahren, 75 000 £. Roger hatte darüber hinaus noch einen Mercedes E500, den ihm sein Büro zur Verfügung gestellt hatte und für den er nur die Kraftfahrzeugsteuer bezahlte, die sich auf ungefähr 10 000 £ im Jahr belief. Er benutzte das Auto jedoch so gut wie nie, weil er es demonstrativ vorzog, mit der U-Bahn zu fahren. Das war einigermaßen erträglich; er musste das Haus um Viertel vor sieben verlassen und kam um acht Uhr abends wieder heim. Weitere Posten waren 2000 £ im Monat für Kleidung, ungefähr dieselbe Summe für die anfallenden Betriebskosten (auf beide Häuser aufgeteilt), eine Steuernachzahlung von ungefähr 250 000 £ vom letzten Jahr, Rentenbeiträge »in mindestens sechsstelliger Höhe« – wie sich sein Steuerberater ausgedrückt hatte –, 10 000 £ für ihre alljährliche Sommerparty und dann die unglaublich hohen Summen, die das Leben in London kostete – Restaurants, Schuhe, Parkgebühren, Kinokarten, Gärtner. Man hatte das Gefühl, dass das Geld jedes Mal, wenn man irgendwo hinging oder irgendetwas tat, nur so aus einem herausschmolz. Das alles machte Roger nichts aus, er war durchaus bereit, das Spiel mitzuspielen. Es bedeutete jedoch, dass er, wenn er dieses Jahr nicht einen Bonus von einer Million Pfund bekam, durchaus in Gefahr geriet, bankrott zu gehen.

3

Es war später Nachmittag. Roger saß auf einem der Sofas in seinem Büro, gegenüber hatte auf der einen Seite der Mann Platz genommen, der ihm mehr als jeder andere dabei helfen konnte, seinen Millionenbonus zu verdienen, und auf der anderen Seite der Mann, dem definitiv die wichtigste Rolle bei der Entscheidung zufiel, ob er ihn tatsächlich bekam.

Ersterer war sein Stellvertreter Mark. Er war noch nicht ganz dreißig, mehr als zehn Jahre jünger als Roger und hatte von all der Arbeit in Innenräumen und vor Computerbildschirmen eine ganz blasse Gesichtsfarbe. Mark hatte die Angewohnheit, sich ununterbrochen zu bewegen, aber so, dass man es fast nicht mitbekam. Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, fasste an seine Armbanduhr, prüfte den Inhalt seiner Hosentaschen oder machte kleine Zuckungen mit seinen Gesichtsmuskeln, als wollte er den Sitz seiner Brille korrigieren. Das Ganze hatte eine ähnliche Wirkung wie die Angewohnheit mancher Leute, in Gesprächen andauernd den Vornamen der Person zu benutzen, mit der sie sich gerade unterhielten. Man konnte das jahrelang mitmachen, ohne dass es einem auffiel, aber wenn man es einmal gemerkt hatte, war es fast unmöglich, sich davon nicht ablenken zu lassen – genauer gesagt war es fast unmöglich, nicht das Gefühl zu bekommen, dass dieses Verhalten einzig und allein darauf abzielte, einen in den Wahnsinn zu treiben. Genau das war es, was Marks ewige Zappelei in Roger auslöste. Im Moment spielte er gerade mit seinem Montblanc-Kugelschreiber herum.

In vieler Hinsicht war Mark der perfekte Stellvertreter. Er arbeitete hart, machte nie einen Fehler, war nicht allzu offensichtlich an Rogers Job interessiert, und wenn man mal von seinem ununterbrochenen Herumgezappel absah, schien er nie aus der Fassung zu geraten. Manchmal entstand der vage Eindruck, dass er die Dinge ein bisschen zu fest unter Kontrolle hatte, und er war die Art Mensch, bei der man ein heimliches Laster vermutete. Hätte er sich als pädophil oder als Bondage-Freak herausgestellt, oder wäre unter seinen Bodendielen eine zerstückelte Leiche aufgetaucht, dann wäre Roger zwar überrascht gewesen, aber nicht allzu überrascht. Doch hätte es ihn eindeutig erstaunt, wenn er gewusst hätte, was Mark tatsächlich über ihn dachte und was für ein starkes und persönliches Interesse sein Stellvertreter an seinem Privatleben hatte – wo Roger wohnte, wo er zur Schule gegangen war, wie seine Kinder hießen und wann sie Geburtstag hatten, wofür seine Frau Geld ausgab und wie er seine Freizeit verbrachte. Hätte Roger das gewusst, hätte ihn das vollkommen aus der Fassung gebracht, aber er hatte davon keine Ahnung, und deshalb war das auch nicht der Grund, warum Mark Roger verunsicherte.

Es lag vielmehr daran, dass Roger zu einer Zeit zu Pinker Lloyd gekommen war, als es im Finanzgeschäft noch mehr um persönliche Beziehungen und weniger um Mathematik ging. Er war in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich gewesen und vorangekommen, doch es ließ sich nicht mehr leugnen, dass er mit den grundlegenden Veränderungen, die im Wesen seiner Arbeit vor sich gegangen waren, nicht in jeder Hinsicht Schritt gehalten hatte. Der Devisenhandel basierte auf der Handhabung unendlich komplizierter mathematischer Formeln, die der Bank subtile und lukrative Positionierungsstrategien erlaubten. Im Klartext bedeutete dies, dass die Bank Wetten auf beiden Seiten eines Handelsgeschäfts gleichzeitig abschließen konnte. Solange nicht etwas vollkommen Unvorhergesehenes geschah – etwas außerhalb der Parameter und Prognosen, die in die Wetten eingebaut waren – und solange die Algorithmen stimmten, hatte man eine absolute Gewinngarantie. Es gehörte zu den Gesetzen der Branche, dass man kein Geld verdienen konnte, ohne Risiken einzugehen, aber dank der Wunder der modernen Finanzinstrumente konnte man dieses Risiko fast gänzlich ausschalten. Und natürlich tat die Bank