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ISBN 978-3-417-22659-1 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book:

© 2013 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG Bodenborn 43 • 58452 Witten
Internet: www.scm-brockhaus.de; E-Mail: info@scm-brockhaus.de

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen: Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten sowie Neues Leben. Die Bibel, © Copyright der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 by SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung: Susanne Wittemeier, Düsseldorf
Titelbild: © dtimiraos/iStockphoto.com
Satz: Burkhard Lieverkus, Wuppertal | www.lieverkus.de

Inhalt

Einführung

1. Woche:
»Vater, vergib ihnen! Denn sie wissen nicht, was sie tun.«

Mittwoch: Entlastung

Donnerstag: Beten ist mehr als vergeben

Freitag: Grenzen anerkennen

Samstag: In welcher Geschichte spiele ich mit?

2. Woche:
»Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.«

Sonntag: Das Wichtigste ist nicht machbar

Montag: Die Zeit ist reif

Dienstag: Wenn man Jesus unterschätzt

Mittwoch: In der falschen Kurve sitzen

Donnerstag: Das Geschenk der Nähe

Freitag: Dieser nimmt die Sünder an und stirbt mit ihnen

Samstag: Das umgehängte Schild

3. Woche:
»Frau, siehe, dein Sohn!« – »Siehe, deine Mutter!«

Sonntag: Die verwaiste Mutter bleibt nicht allein

Montag: Trösten heißt: die Realität zeigen

Dienstag: Gottes rätselhafte Zeitplanung

Mittwoch: Die neue Familie

Donnerstag: Falsche Gemeinsamkeiten

Freitag: Menschen mit Vorsprung

Samstag: Christus für den anderen sein

4. Woche:
»Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?«

Sonntag: Abgrundtief verloren

Montag: Das geliehene Gebet

Dienstag: Zerrissen

Mittwoch: Warum nur?

Donnerstag: Hat Gott mich bestraft?

Freitag: Wenn Gott sich nicht meldet

Samstag: Hartnäckig beten

5. Woche:
»Ich habe Durst.«

Sonntag: »Meine Zunge klebt mir am Gaumen«

Montag: Er betet nicht gegen die Gegner

Dienstag: Lebensdurst

Mittwoch: Was Jesus satt macht

Donnerstag: Hat Gott Durst?

Freitag: Jesus zu trinken geben

Samstag: Falsche Sattheit

6. Woche:
»Es ist vollbracht!«

Sonntag: Jesus’ Werk und Gottes Beitrag

Montag: Was muss ich bringen?

Dienstag: Das war schon alles?

Mittwoch: Vollkommenheit erreichen

Donnerstag: Durch Loslassen alles gewonnen

Freitag: Ambitionen

Samstag: Das Zentrum der Geschichte

7. Woche:
»Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist.«

Sonntag: In Gottes Hand

Montag: Vertrauen vor der Wand

Dienstag: Das Gespräch meines Herzens

Mittwoch: Ich komme nach Hause

Gründonnerstag: Was war nun sein letztes Wort?

Karfreitag: Unter dem Kreuz

Karsamstag: »Hinabgestiegen in das Reich des Todes«

Ostersonntag: Das Land der Lebendigen

Anmerkungen

Einführung

Du musst nach außen gehen, um zur Mitte zu kommen

Samstagnachmittag: Familieneinkauf. Weil jeder von uns vieren etwas anderes braucht, sind wir in die Einkaufsgalerie gefahren: Hunderte von Geschäften auf drei Etagen, Rolltreppen, Glasfassaden innen und außen, überdachte Gänge, wenig frische Luft, Musikfetzen von überall her. Ach ja, und wir sind nicht die Einzigen, die heute einkaufen wollen.

Alle schwärmen aus. Treffpunkt in neunzig Minuten. Schuhe für die Große, eine Jeans für Kerstin, ich brauche eine Tasche und zu allem Überfluss hat unser Elfjähriger seine Spardose geplündert und muss ein Mobiltelefon haben.

Ich bin nach fünf Viertelstunden schon als Erster am Treffpunkt und warte. Ich lehne mich an eine Wand, verschnaufe, der Atem beruhigt sich. Mein Blick geht umher. Nach wenigen Momenten sehe ich Menschen und Dinge, die ich vorher gar nicht wahrnahm. Vorher suchten meine Augen immer nur das nächste Preisschild. Jetzt beobachte ich, wie eine Mutter sich zum Kinderwagen beugt und dem Baby die Flasche gibt. Wie ein Rentner schon zehn Minuten vor diesem Schaufenster steht. Wie eine Verkäuferin immer wieder denselben kurzen Weg zurücklegt, hin und her, wahrscheinlich tausend Mal am Tag. Drei Teenager streifen vorbei, mit großen Wasserflaschen in der Hand.

Ich spüre dem allen nach und merke: Das jetzt hier, das ist das Leben. Jede Szene ist die Momentaufnahme aus einer persönlichen Geschichte. Jeder hier bringt seine kleine Welt mit in die Galerie. Während ich meine Taschen verglich, immer mit dem Seitenblick auf die Armbanduhr, war ich zwar mittendrin, aber gesehen habe ich nichts davon. Erst als ich mich an den Rand stellte, sah ich mehr.

Mir fällt ein, wie ich vor Monaten sonntagmittags auf einen Bus wartete. Die Hauptverkehrsstraße war weniger befahren als in der Woche. Ich stand an einer Hauswand, blickte mich um und entdeckte auf einmal wunderschöne Hausfassaden, Dachgauben und Erker an den Gründerzeithäusern. Immer schon wohnte jemand da. Mehrere Male in der Woche bin ich mit Bus oder Fahrrad hier entlanggefahren. Doch wie schön auch graue Häuserreihen sein können, hatte ich nie entdeckt. Nicht von der Fahrbahn aus. Erst, als ich am Rand stand.

Ist es nicht oft so? Auch in ernsteren Situationen? Berichten nicht immer wieder Menschen, die schwer erkrankt sind, dass sie zwar an den Rand ihrer Kraft kamen, aber dass dabei plötzlich klar wurde, was eigentlich im Leben zählt? Viele sortieren ihre Prioritäten neu, vertiefen Beziehungen, geben bisherige Ambitionen auf.

Es scheint eine Grunderfahrung zu sein: Du musst nach außen gehen, um zur Mitte zu gelangen.

Am Rand des Lebens

Jesus Christus hat als Mensch mit Fleisch und Blut, mit Haut und Haaren, mit Leib und Seele gelebt. Allen möglichen Menschen ist er begegnet und hat sich mit ihnen verständigt: mit einflussreichen, gebildeten, auch mit benachteiligten und verzweifelten. Als er dann starb, war das kein runder Abschluss eines bis zur Neige ausgekosteten Lebens, sondern er wurde gewaltsam umgebracht. In den letzten Stunden seines Lebens war er buchstäblich am Rand: am Rande außerhalb der Stadt, am Rande seiner Kraft, am Rande wohl auch seiner Vertrauensbeziehung zu Gott.

Die biblischen Berichte überliefern, dass er in diesen letzten Stunden noch sieben Mal gesprochen hat. Diese »Sieben letzten Worte Jesu am Kreuz« sind im Laufe der Jahrhunderte immer wieder bedacht, meditiert, ausgelegt und auch vertont worden. Was Jesus ganz zum Schluss sagte, darin hat man immer eine besonders tiefe Bedeutung gefunden.

Wenn man diese letzten Worte aus den vier Evangelien zusammenstellt, ergibt sich eine große Überraschung: Sie handeln vom Leben. Der Sterbende hat mitten ins Leben hineingesprochen. Darüber, wie man miteinander auskommt. Welche Sehnsüchte uns antreiben. Wie man einander beistehen kann. Ob man sein Recht allein durchkämpfen muss. Wann man Lebensziele erreicht – und wann man sie fallen lassen muss. Wie man Hunger, Armut und Verletzungen ertragen kann. Was passiert, wenn einem der Glaube wegbricht. Welche Schönheit darin liegt, einem Menschen überraschend neu zu begegnen. Dass Gott nie zu spät kommt. Wie heilsam es ist, andere in ihren Grenzen stehen zu lassen. Wie man über den Abgrund des Todes hinweg nach Hause kommen kann.

Jesus hat vom Rand seines Lebens aus gesprochen, doch seine Worte enthalten die ganze Fülle des Lebens. Es sind keine bloßen Jenseitsgedanken eines Todgeweihten. Deshalb sind sie sehr gut geeignet, das eigene Leben darin spiegeln zu lassen.

Wenn etwas stirbt

Vierzehn Jahre meines Lebens habe ich als Gemeindepastor gear­beitet, als Beruf und aus Berufung, mit allen Höhen und Tiefen. In den letzten eineinhalb Jahren dieser Zeit hatten sich viele Fragen noch einmal verdichtet. Als Leitungsteam hatten wir den Eindruck, dass unserer Gemeinde eine Tür geöffnet war, im Stadtviertel ihre sozialdiakonische Arbeit zu verstärken. Wir versuchten also, die Gemeinde einen großen Schritt weiter auf dieses Ziel hin zu führen. Wir hatten Knospen gesehen, die schon vor Jahrzehnten entstanden waren. Nun schien die Zeit gekommen zu sein, sie zur Blüte zu bringen. Es würden viele Veränderungen nötig sein, um diese neue Möglichkeit in den Mittelpunkt der Gemeindearbeit zu ­rücken. Aber wir wollten die Chance gerne nutzen. Es schien uns zur Geschichte der Gemeinde und zugleich zum Auftrag von Jesus zu passen.

Es waren spannende und spannungsreiche Monate, als wir für diese Hoffnung warben. Für einige war es überhaupt zur Lebensfrage der Gemeinde geworden. Andere fanden unrealistisch, was die Leitung vorschlug, und hielten es für leichtfertig. Alle sorgten sich um den künftigen Weg der Gemeinde und wollten verantwortungsvoll, mit Weitblick für die Zukunft, entscheiden. Die Schlussfolgerungen waren jedoch unterschiedlich. Die Entscheidung, die es zu treffen galt, lag bei der Gesamtgemeinde, nicht bei der Leitung. Schlussendlich entschied man sich, die Ausrichtung der Gemeinde zu lassen, wie sie war. Das Risiko für eine solch tief greifende Kursänderung schien zu groß.

Wir als Leitung waren gründlich gescheitert. Und in mir selbst war etwas gestorben: die Hoffnung auf einen Aufbruch. Die Freude an einer Gemeinde, die sich in ihren Entscheidungen von Jesus’ Auftrag inspirieren ließ. Die Gebete, dass Gott doch Ängste – sie waren verständlich und nicht aus der Luft gegriffen – überwinden könnte. Vieles starb ab in mir.

In der kommenden Zeit sah ich mich vielen Lebensfragen gegenübergestellt. In zahlreichen Gesprächen, in einsamen Einkehrtagen und in seelsorglicher Begleitung kamen Fragen an die Oberfläche: Habe ich wirklich verantwortlich gehandelt? Wie gehe ich jetzt mit den Menschen um, die mir wehgetan haben und die ich enttäuscht habe? Werde ich vergeben können? An wem habe ich etwas versäumt? Welche Ambitionen haben mich eigentlich angetrieben? Welche Beziehungen werden jetzt bleiben, wenn uns eine gemeinsame Hoffnung weggebrochen ist? Was habe ich falsch gemacht? Warum hat Gott – der doch meine Schwächen kennt – mich da nicht stärker hindurchgetragen? Warum blieb mir die Erfahrung von Paulus verwehrt, dass an meinen Grenzen die Kraft von Christus für andere sichtbar wurde?

Am Rande der Hoffnung, an den Grenzen des Scheiterns musste ich mich mit Themen auseinandersetzen, die mitten aus dem Leben kamen. Und sehr viele dieser Fragen hätte ich in die Worte kleiden können, die Jesus am Kreuz ausgesprochen hat: »Warum hast du mich hängen lassen, Gott?« »Ich hatte solchen Durst« nach einem Aufbruch, nach Leidenschaft für Gott und, ja, in dritter Linie vielleicht auch danach, Früchte unserer Arbeit zu sehen. Wie kann ich »denen vergeben«, die mir falsche Motive unterstellten? »Wussten sie« etwa »gar nicht, was sie taten?« Was von meiner Arbeit ist gescheitert und wo kann ich dennoch sagen: »Es ist vollbracht«?

Zugleich habe ich die Schönheit der Beziehungen erlebt, die Gott schenkt. Menschen waren väterlich oder mütterlich zu mir, als ob Gott gesagt hätte: »Frau, das ist jetzt dein Sohn.« Es tat gut, Dinge aus der Hand zu geben, für die ich nun keine Verantwortung mehr tragen musste. »Vater, das lege ich in deine Hände.« Und das Beste: Jeden Zweifel, jede Frage, jede Dankbarkeit zu Gott hin auszusprechen, so wie Jesus »Vater« und »mein Gott« auch dann sagte, als er sich ihm fern fühlte.

Es gibt quälendere Zeiten und schlimmere Tode, die gestorben ­werden. Doch für mich waren es in diesen Monaten durchaus Momente, in denen etwas starb. Gerade an ihnen sind die Fragen nach dem Leben aufgebrochen, und ich nehme etwas davon für mein weiteres Leben mit.

Passionszeit: sich dem Leben stellen

Die sieben Wochen der Passionszeit sind seit jeher genutzt worden, um sich neu auszurichten. Das tun auch Menschen abseits von Gott, wenn sie diese Wochen als Fastenzeit gestalten. Glaubende nehmen außerdem das Sterben ihres Retters in den Blick. Dieses Buch entfaltet durch die sieben Wochen der Passionszeit hindurch die Sieben letzten Worte von Jesus am Kreuz – aber der Blick richtet sich dabei nicht vorrangig auf den Tod Jesu. Es sind keine Betrachtungen für Trauernde. Sondern diese Sieben Worte helfen, sich dem Leben zu stellen. Sie beleuchten die unterschiedlichsten Lebensfelder. Dass das gerade in der Passionszeit geschieht, ist eine Hilfe, sich zu konzentrieren und einmal für längere Zeit bei der Sache zu bleiben.

Sieben Wochen mit den Sieben Worten von Jesus leben – auf diese Weise gewinnt die Passionszeit außerordentliche Tiefe. Es sind dann keine Wochen des Verzichtens, auch nicht nur Zeiten, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Es sind nicht Wochen ohne dies oder jenes, sondern Wochen mit: mit Jesus Christus. Sieben Wochen, die mitten ins Leben hinein fragen und das Leben um Jesus als Mitte ordnen.

Jesus’ Sieben Worte gingen in drei verschiedene Richtungen. Er betete zu Gott, er sprach Menschen unter dem Kreuz an und er redete zu sich selbst. Damit ist der ganze Kreis des Lebens umgriffen. Auch an diesen Rede-Richtungen wird sichtbar: Der Gekreuzigte zeigt, wie man leben kann, leben soll.

Tagesrationen

Dieses Buch enthält Betrachtungen für jeden Tag der Passionszeit. Nehmen Sie sich dann, wenn Sie eine Viertelstunde für sich allein haben, Zeit zum Lesen. Jede Betrachtung schließt mit einem Impuls, einer Frage oder einem Gebet.

Den Beginn finden Sie heraus, indem Sie im Losungsbuch der Herrnhuter Brüdergemeine den Mittwoch heraussuchen, der auf den Sonntag mit dem Namen »Estomihi« folgt. Er ist mit »Beginn der Passionszeit« überschrieben. Oder Sie schauen einfach im Kalender nach dem »Aschermittwoch«. Er wird – je nach Datum des Osterfestes im jeweiligen Jahr – zwischen dem 3. Februar und dem 11. März liegen. Durch den Beginn am Mittwoch umfasst die erste Woche mit dem ersten Wort am Kreuz keine sieben Tage. Aber das passt gerade zu diesem ersten Jesuswort, das eine Art Auftakt bildet.1

Dieses Buch erfüllt seinen Zweck nicht ganz, wenn Sie sich von ihm durch die Passionszeit begleiten lassen. Es erfüllt seinen Zweck erst dann, wenn Sie Jesus Christus als ihren Begleiter erfahren.

Dass das geschieht, wünscht Ihnen von Herzen

Ulrich Wendel

»Vater, vergib ihnen! Denn sie wissen nicht, was sie tun.« Lukas 23,34 1. Woche
»Vater, vergib ihnen! Denn sie wissen nicht, was sie tun.« Lukas 23,34 1. Woche

1. Woche, Mittwoch

Entlastung

Draußen steht die Luft sehr heiß an diesem späten Sommernachmittag, aber hier in der Dorfkirche ist es kühl. Ich bin allein. In der ersten Stuhlreihe liegen Zettel. Auf kariertes Papier habe ich einige Namen geschrieben. Ein schlichtes Holzkreuz mit dem Körper des Gekreuzigten steht im Altarraum. Es ist etwas größer als ich, sodass ich mich daneben und auch ein wenig darunter stellen kann. Ich nehme die Zettel, einen nach dem anderen, lege sie unters Kreuz und bete für jeden der Menschen, dessen Namen notiert ist.

Zur selben Zeit, zwölf Kilometer entfernt, läuft meine Frau zu Hause an Hunderten von Umzugskartons vorbei. Sie packt ein, was noch nicht verstaut ist. Der Umzug wird nächste Woche sein. Die letzten Dinge, die wir nicht mehr brauchen werden, stellt sie zum Müll. In den vergangenen Monaten haben wir das immer wieder gemacht: aussortiert. Entschieden, was wir noch brauchen werden und was den Umzug bloß belasten würde, was im neuen Haus nur im Weg stehen würde. Bevor der neue Lebens- und Berufsabschnitt beginnt, ist Entlastung dringend nötig.

Nichts anderes ist es, was ich in der Dorfkirche tue. Dafür hat meine Frau mich für ein paar Tage freigestellt, trotz des bevorstehenden Umzugs. Ich habe Jahre hinter mir, in denen ich mit vielen Menschen meiner Gemeinde gearbeitet, gebetet, gehofft, gelitten, gekämpft und auch gestritten habe. Ich möchte das nun vor Gott abschließen. Das Gelungene und das Missratene an ihn zurückgeben. Unter dem Kreuz liegen jetzt Namen von Menschen, die mir Mühe gemacht haben, mich verletzt oder enttäuscht haben. Ich möchte keine dunklen Gedanken und keine Anklagen in den neuen Abschnitt mitnehmen, der bald beginnen wird. Ich möchte loslassen und vergeben. In meinem Quartier, in das ich mich für einige Tage zurückgezogen habe, liegt der karierte Block und trägt eine Liste mit anderen Namen: Menschen, denen ich etwas schuldig geblieben bin. Ich werde sie vor einer weisen Seelsorgerin nennen, beichten und Gott um Vergebung bitten. Ich möchte Lasten abgeben.

Eine Gabe an sich selbst

Vater, vergib ihnen! Denn sie wissen nicht, was sie tun. Das erste Wort von Jesus am Kreuz. Jesus ist nun in der letzten und entscheidenden Phase seines Lebens. Er hat den letzten Kampf durchzustehen, von dem alles abhängt. Und er geht in diesen Kampf als freier Mensch hinein. Ihm wurde Unerträgliches zugefügt und weitere harte Erfahrungen werden in den nächsten Stunden hinzukommen. Jetzt macht Jesus sich frei von aller Anklage und jedem möglichen Hass.

Denen vergeben, die ihn verletzen – es sieht so aus, als wäre das ein Geschenk an die, die das tun: an die Verurteiler, den Verräter, den Verleugner, die Gleichgültigen, die Neugierigen, die Selbstgerechten, die Hinrichter. Und so ist es auch: Sie bekommen unverdient den Freispruch geschenkt. Doch zugleich ist es eine Gabe an sich selbst, wenn Jesus vergibt. Er wirft die Last ab, um sich ganz frei seinem kommenden Kampf stellen zu können.

Wie ist es möglich, seinen Gegnern zu vergeben? Seinen Mördern sogar? Wie kann jemand etwas so Übermenschliches tun?

Ein Schlüssel liegt in der Anrede: »Vater!« Jesus ruft seinen Vater im Himmel herbei und betet sich zu seinem Vater hin.

Wer vergibt, also jemanden freispricht, entlässt ihn aus der Anklage. Er schafft seine berechtigten Vorwürfe aus seinem Haus – quasi zur Abholung an den Straßenrand. Sie stehen nun nicht mehr zu seiner Verfügung, er hat sie unbrauchbar gemacht. Etwas weggeben hinterlässt eine Leerstelle. Da ist erst einmal nichts, auf das jemand zurückgreifen kann, wenn ihm diejenigen wieder einfallen, die ihn geschädigt haben.

Den Vater herbeirufen

In diese Leerstelle hinein ruft Jesus seinen Vater im Himmel herbei. Er füllt aus, er versorgt. Er ersetzt die Momente, die Jesus abgegeben hat. In der Nähe des Vaters im Himmel kann man Lasten abgeben, um befreit den nächsten Schritt zu gehen.

Jahre zuvor hat Jesus seinen Schülern beigebracht: Bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel (Matthäus 5,44b-45 lut). Schon damals hat er also vom Vater und vom Gebet für die Gegner gleichzeitig gesprochen. Die innere Verknüpfung allerdings war auffälligerweise eine andere; die Reihenfolge war genau umgekehrt: Wer segnet und für Verfolger betet, wird so zum Kind Gottes (damit ihr …). Der Vergebende gewinnt den Vater im Himmel. Jetzt, am Kreuz, ruft Jesus seinen Vater an, damit er vergeben kann. Es ist ein Kreislauf, in dem das Erste vom Zweiten abhängt und das Zweite vom Ersten. Das ist unlogisch, aber genau sachgemäß. Jesus braucht den Vater, um seine Verletzer freizusprechen, und indem er das tut, wird er umso mehr Sohn seines Vaters und Gott wird umso mehr zu seinem Vater.

Und Jesus wird – wie jeder, der die Kraft findet zu vergeben, – frei für die Zukunft.

Für heute:

Wie schätzen Sie sich momentan eher ein: Tragen Sie Verletzungen von anderen mit sich herum oder sind sie jemand anderen etwas schuldig geblieben?

1. Woche, Donnerstag

Beten ist mehr als vergeben

Blitzende 500-Volt-Energieblicke: In solche Augen habe ich manches Mal geschaut. Teenager und auch Ältere waren es, die mich so grimmig anfunkelten. Menschen, die von einem anderen beleidigt oder verletzt worden waren. Wenn sie mir davon erzählten, knisterte die Luft.

Oft waren diese Menschen im Recht. Man hatte sie übergangen, ausgenutzt oder in ein falsches Licht gestellt. Oder jemand, den sie liebten, war entwürdigend behandelt worden. Das tut sehr weh. Ich konnte sie verstehen. Aber hätte ihnen mein Verständnis allein schon geholfen?

Einige Male bin ich einen Schritt weiter gegangen. Ich habe meinen Gesprächspartner mit einer Zumutung konfrontiert. »Bete in den nächsten Tagen oder Wochen für den, der dir da so übel mitgespielt hat!« Schlagartig sind da die scharf funkelnden Energieblicke auf 1000 Volt hochgefahren! Zu allem Überfluss auch noch beten für … für … für so einen? Doch ich blieb bei meinem Vorschlag. Man soll nicht klein beigeben und seinen Zorn nicht mit oberflächlichen, scheinbar frommen, milden Gedanken zukleistern. Aber in seinem Zorn soll mein Gesprächspartner nun für die beten, die sich ungerecht verhalten.

Doppelt verankert

Ihnen vergeben? Das wäre hier fehl am Platz gewesen – zumindest jetzt noch. Für Vergebung ist noch nicht die Zeit gekommen. Aber Fürbitte – das könnte möglich sein. Zugleich ist beten mehr als vergeben. Verzeihen, jemandem die Schuld erlassen ist ein Vorgang, der sich allein innerhalb eines Menschen abspielt, innerhalb der Seele. Aber beten für den, der Schaden zufügte – das geht über die Grenzen eines Einzelnen hinaus. Es spannt einen Zweiten mit ein: Gott. Wer »nur« vergibt, hat sein Vorhaben an einer einzigen Stelle festgemacht. Wer für den betet, dem zu vergeben ist, hat sich an zwei Stellen verankert.

Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Jesus hat für diesen schweren Schritt der Vergebung den Weg der Fürbitte gewählt. Die Täter haben ihre mörderische Tat noch gar nicht bis zu Ende durchgeführt, die Spötter haben sich gerade erst warmgelaufen und sind noch längst nicht fertig mit ihrem Hohn, da spricht Jesus sie schon frei und betet für sie. Eine übermenschliche Anstrengung, eine Überwindung ohnegleichen. Kann man so etwas von Menschen erwarten? Kann Gott es von seinen Geschöpfen erwarten? Der Sohn Gottes hatte vielleicht noch alle Voraussetzungen zu solch einer Tat. Aber wir anderen?

Gottes Handeln auslösen

Denen zu vergeben, die einem geschadet haben, ist eine beträchtliche Leistung. Für sie zu beten, nicht so sehr. Vergeben verlangt dem alles ab, dem etwas zugefügt wurde. Wenn er aber für den Gegner betet, verlangt er nicht sich alles ab, sondern Gott. Die Tat besteht einzig darin, zu wünschen, dass Gott jetzt etwas tun soll. Die Fürbitte löst Gottes Tatkraft aus. Deshalb ist beten mehr als vergeben – und erleichtert das Vergeben zugleich. Vergebung allein wäre eine menschliche Tat – eine Tat, die in vielen Situationen unersetzlich und notwendig ist. Fürbitte dagegen ist nicht einfach Menschenwerk, individuelle Leistung. Sie geht über Werke hinaus und bringt deshalb Gnade ins Spiel, Gnade auch für denjenigen, der betet. Denn er ist nun über seine eigenen Werke und Möglichkeiten hinausgegangen. Gott ist es ja, der aktiv werden soll.

Wenn allerdings das Gebet nun auch kein Menschenwerk ist, so hat es doch erhebliche Rückwirkung auf den, der betet. Kann ich denjenigen, für den ich bete, wirklich hassen? Dauerhaft? Anfangs wohl schon. Anfangs müssen der Groll und der Zorn wahrscheinlich durchlebt und ausgekostet werden. Doch auf die Länge der Zeit werde ich eine andere Haltung zu demjenigen gewinnen, der mir übel mitspielte und für den ich dennoch bete. Nicht, dass ich ihm nachträglich Recht geben würde oder das, was er tat, herunterspielen würde. Nein, Vergebung setzt ja Verfehlung voraus und erkennt sie an, und wenn ich für den Übeltäter bete, dann deshalb, weil er es wirklich nötig hat! Aber ich selbst werde nicht unverändert bleiben. Beten hat also immer eine doppelte Wirkung: Es löst eine Reaktion bei Gott aus (zu einem bestimmten Zeitpunkt, in einer bestimmten Weise und in einem bestimmten Maß) und es bringt mich selbst in eine andere Position. Sei es, dass ich hoffnungsvoller werde, sei es, dass ich mich von blindem Hass allmählich löse.

Gott tritt dazwischen

Warum fällt es uns schwer, für Gegner zu beten? Vermutlich deshalb, weil wir sie aus unserem Leben am liebsten verbannen würden. Jede Brücke zu ihnen soll abgebrochen sein. Wenn wir nun aber auch noch für sie beten, knüpfen wir ja sogar noch eine weitere Beziehung zu ihnen an. Außer dass wir direkt im Clinch liegen, läuft noch eine weitere Verbindung von uns über Gott zu ihnen. Das ist dann doch wirklich zu viel.

Dabei sollten wir aber nicht übersehen, dass diese neue, zweite Beziehung eine Entlastung für die erste, unmittelbare Beziehung sein kann. Wer für jemanden betet, stellt Gott zwischen sich und den, dem die Fürbitte gilt. Aus der unmittelbaren Beziehung, dem engen Clinch-Verhältnis, können wir uns auf diese Weise entflechten. Für jemanden beten heißt auch: abgeben. Die Sorge abgeben oder das In-die-Sache-verwickelt-sein abgeben. Den Gegner abgeben – oder zumindest unser Bild von ihm aufgeben.

Die Zukunft des anderen neu sehen lernen

Einige Stunden, bevor Jesus verurteilt und gekreuzigt wurde, war er mit all den Ambitionen und Abgründen seiner Schüler konfrontiert (Lukas 22,24-34). Während des Passahmahls diskutierten sie, wer in ihrer vermeintlichen Rangordnung ganz oben zu platzieren wäre. Und dass der Wortführer Petrus im Begriff stand, sich von seinem Meister loszusagen, das war Jesus sehr bewusst in diesem Moment. Angesichts dieser menschlichen Abgründe hatte Jesus bereits das Notwendige getan: Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht aufhöre (Lukas 22,32). Von dieser Fürbitte ausgehend, sah Jesus neue Möglichkeiten für den unbeständigen Petrus. Er würde später umkehren können und seine »Brüder« stärken können. Der Labile wird stabil. Ob es nicht auch die Fürbitte war, die Jesus in die Lage versetzte, diese Zukunft bei Petrus zu sehen?

Was Jesus im Laufe seines öffentlichen Lebens und dann besonders am Ende im Angesicht des Todes durchmachte, das ist im »Ersten Testament« schon vorgezeichnet, und zwar im prophetischen Gedicht vom Knecht Gottes (Jesaja 53). Dieses Prophetenwort ist dermaßen aufgeladen mit Einzelheiten, die über die Zeit von Jesaja hinausweisen, dass es kaum sinnvoll zu deuten ist, ohne dass man an Christus denkt. Jesus selbst hat in diesen Worten die Deutung für sein Leben gefunden (Markus 10,45).

Neben vielen anderen Lasten und Kämpfen zeichnet sich dieser Knecht Gottes auch dadurch aus: Er hat für die Übertreter gebeten (Jesaja 53,12). Darin gipfelt diese Prophetie. Dies ist das abschließende Wort, das Jesaja über diesen Knecht zu sagen weiß.

So hat Jesus es am Kreuz getan. Er hat vergeben – und mehr als das: Er hat für die Feinde gebetet.

Für heute:

Danken Sie Gott, wenn Sie im Moment keine Gegner haben. Und falls Ihnen doch jemand feindlich gegenübersteht, versuchen Sie, Gott um etwas für ihn zu bitten.

1. Woche, Freitag

Grenzen anerkennen

»Ich habe es nicht böse gemeint!« Das ist nicht gerade die überzeugendste Entschuldigung. Entscheidend ist doch, was jemand getan hat, auch wenn er es nicht böse gemeint hat.

»Ich habe es nicht besser gewusst.« Das klingt nach einer noch lahmeren Erklärung. Unwissenheit schützt vor Strafe nicht – zu Recht ist das eine verbreitete Redensart. Vor einigen Jahren fanden meine Frau und ich uns unerwartet in der Situation vor, dass wir ein Haus kaufen mussten. Wir waren darauf weder finanziell noch von der Sachkenntnis her vorbereitet. Wir wussten schlicht nicht, wie man so was macht. Natürlich hatten wir dann einen Berater zur Seite, der uns durch die verschiedenen Vorgänge wie Kreditanträge und Grundbucheintragungen lotste. Wenige Tage vor dem Umzug – der Berater war im Urlaub – stellte sich allerdings heraus, dass noch eine entscheidende Unterschrift auf einem Kredit-Dokument fehlte. Ohne die war, während wir uns in Sicherheit wiegten, der Kaufpreis noch gar nicht an den Verkäufer geflossen, und ohne Geld sollten wir natürlich auch keinen Hausschlüssel bekommen.

Unwissenheit schützt vor Strafe nicht …

Der Umzug war längst bestellt. Übers Wochenende war in der Bank niemand erreichbar. Also setzte ich mich ins Auto und fuhr nach Karlsruhe. Montag früh gleich zu Geschäftsbeginn präsentierte ich die fehlende Unterschrift und bekam daraufhin die verbindliche Auszahlungszusicherung. Währenddessen luden zu Hause schon die Möbelpacker den Hausrat ein. An den Verkäufer ging das Fax mit der Zusicherung raus. Ich fuhr die 250 Kilometer wieder nach Hause, von wo es dann gleich weiter an den neuen Ort, ins neue Haus ging.

Der Verkäufer hatte den Kopf geschüttelt: Wie kann man denn nur so fahrlässig sein und sich nicht um die nötigen Dokumente kümmern? Die Antwort war ganz einfach: Wir hatten es nicht besser gewusst. Bloß: Genützt hätte es uns nichts. Wenn das Dokument nicht in den letzten Minuten noch gekommen wäre, hätten wir den Möbelwagen wieder ausladen lassen müssen. Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Jetzt sitzen wir in unserem neuen Zuhause, fühlen uns wohl, denken mit Schrecken an diese Tage zurück und sind froh, dass wir unser Versäumnis nicht schmerzlich ausbaden mussten.

Hat Jesus die Sache mit der Unwissenheit anders gesehen? Hat er denen, die ihn hinrichteten, mehr durchgehen lassen? Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Kommen die so einfach an ihre Entschuldigung? Sie haben es einfach nicht besser gewusst? Wie kann Jesus so eine lahme Erklärung in den Mund nehmen?

Erwartungen, die Gott nicht hatte

Es ist ziemlich überraschend, dass es bei Gott offenbar doch eine Rolle spielt, was man wissen konnte und was nicht. Als die Botschaft von Jesus’ Auferweckung öffentlich bekannt gemacht wurde und als die ersten Christen zum Glauben einluden, da richtete sich diese Nachricht zuerst an die Jerusalemer Juden. An diejenigen, die Jesus’ Kreuzigung gebilligt oder unterstützt hatten. Warum bekamen sie die Chance zum Glauben an Jesus, obwohl sie doch kurz vorher eingestimmt hatten, man solle ihn kreuzigen? Ihr habt Jesus aus Unwissenheit so behandelt, und dasselbe gilt für die führenden Männer unter euch, predigte Petrus (Apostelgeschichte 3,17). Sie waren sich der Dimensionen ihrer Tat gar nicht bewusst. Später ist die Unwissenheit auch für Paulus ein wichtiger Gesichtspunkt. Die Barmherzigkeit, die Gott ihm selbst erwiesen hat, führte er auch auf seine Unwissenheit zurück (1. Timotheus 1,13). Ebenso bescheinigt er denen, die Jesus hingerichtet hatten: Die Mächtigen dieser Welt haben Gottes Weisheit nicht verstanden, denn hätten sie das getan, dann hätten sie den Herrn der Herrlichkeit niemals gekreuzigt (1. Korinther 2,8). Und auch die, die nie vom Gott der Bibel und von seinem Sohn gehört haben, bekommen nun die Chance zum Glauben, denn bis jetzt hat Gott über die Unwissenheit der Menschen hinweggesehen (Apostelgeschichte 17,30).

Gott scheint ein klares Empfinden dafür zu haben, was er von seinen Menschen erwarten kann. Manches hat er gar nicht erst erwartet, weil die Voraussetzungen nicht vorlagen – zum Beispiel dass jemand wusste, was er eigentlich tat. Von Gott im Himmel können wir uns solch ein gerechtes Urteil noch vorstellen. Aber Jesus am Kreuz, gequält von rasendem Schmerz? Hatte er denn Kopf und Herz dafür frei, noch gerecht abwägend in Rechnung zu stellen, wie viel Verantwortung seine Gegner hatten und ab wann nicht mehr?

In die Begrenzungen entlassen

Die Begründung von Jesus dafür, dass sein Vater vergeben möge, hat weniger mit Abwägen und mit Gerechtigkeit zu tun. Vielmehr spricht eine große Weisheit daraus und eine große Freiheit. Weise nämlich ist es, andere Menschen in ihre Grenzen hinein zu entlassen. Sie leben nun einmal innerhalb ihrer Begrenzungen. Das können durchaus schädliche Begrenzungen sein – Barrieren, die ihnen selbst nicht guttun und mit denen sie andere auch einzwängen. Es kann Schuld bedeuten, nicht in größerer Freiheit zu leben. Aber Menschen leben nun einmal innerhalb ihrer mehr oder weniger engen Grenzen. Wer sich nicht ständig daran reibt und mehr erwartet, sondern wer »ja« zu den Grenzen anderer sagt, der hat selbst einen weisen Weg in die eigene Freiheit gefunden.

Indem Jesus die Unwissenheit anerkennt, entlässt er seine Gegner in ihre Grenzen und verzichtet auf weitergehende Erwartungen. Sie wussten nicht, was sie eigentlich taten. Einige von ihnen hätten es eigentlich wissen müssen: die jüdischen Ältesten, obersten Priester und Schriftlehrer. Wenn schon viele aus dem Volk in den vergangenen Jahren Jesus als den Messias Gottes erkannt hatten – hätten es die geistlichen Führer und die Schriftkundigen nicht erst recht erkennen können?

Sicherlich sind sie schuldig geworden. Sonst hätte Jesus den Vater ja nicht um Vergebung zu bitten brauchen. Vergebung setzt voraus, dass Schuld vorliegt. Aber was sie im Tiefsten taten – den Sohn Gottes in den Tod schicken –, das blieb ihnen verborgen. Ob sie es hätten wissen können oder gar müssen – sie wussten es jedenfalls nicht.

Jesus erkennt das an und zerreibt sich nicht in den Kreisläufen des »Ach, hätten sie doch!« und »Wie konnten sie nur?«. Er erkennt die Grenzen seiner Gegner an und entlässt sie dort hinein – auch wenn es triste Grenzen sind und die Fülle von Gottes Leben darin nicht enthalten ist. Er gibt sie frei und ist so selbst frei für die Menschen, die ihn jetzt noch, in den letzten Stunden, brauchen, und frei für den Auftrag, den er zu Ende zu führen hat.

Hätten sie anders gekonnt?

Nicht nur am Rande des Lebens – wie bei Jesus hier – ist diese Weisheit heilsam. Sondern ebenso überall dort, wo ich enttäuscht werde. Wo ich von anderen etwas erwarte und diese Erwartungen nach meinen eigenen Bedürfnissen abmesse und nicht nach den Möglichkeiten der anderen. Es führt mich auf den Weg des Friedens, wenn ich sie in ihre eigenen Grenzen hinein entlasse. Mein Vater hat mir wenig Nähe gezeigt? Ja, das war so. Aber hätte er es selbst besser gekonnt? Wohl nicht – wenn ich mir klar mache, welche Ablehnung ihm selbst schon vor seiner Geburt und dann auch danach entgegengeschlagen war. Das ist nur ein Beispiel von vielen möglichen anderen.

Im 55. Psalm betet der bedrängte Glaubende einmal: Sie ändern sich nicht! (Vers 20 sch). Das kann sehr frustriert klingen – oder auch wie ein gnadenloses Urteil. Sie ändern sich nicht, bei denen ist nichts mehr zu hoffen, die kannst du vergessen! Man kann dieses Gebet aber auch anders sprechen: Sie ändern sich nicht, ich werde