ELISABETH HERING

Südseesaga


Mit Zeichnungen von Rudolf Nehmer

Der Tanz des Vogelmannes

Von Osten her wehte ein steifer Wind. Er blies den barhäuptigen, sonnengebräunten Menschen, die auf der Höhe der steilen Küste standen, durch die dunklen, glatten Haare. Jedoch nicht einer von ihnen achtete darauf, denn es war den Bewohnern der weltabgelegenen, sturmgepeitschten Insel ein alltägliches Spiel, das der Gott der Winde mit ihnen trieb.

Es war keine kleine Schar, die sich da oben, bei aufgehender Sonne, auf den Felsvorsprüngen der Küste bewegte. Männer waren es, denen Wind und Wetter und die Anstrengungen und Gefahren kühner Seefahrt tiefe Runen in die verwitterten Gesichter gegraben hatten, und Frauen, denen man die Not und den Kummer eines entbehrungsreichen Lebens ansah. Aber auch Jünglinge waren darunter, denen noch die Abenteuerlust aus den scharfen, braunen Augen sprang, und die Entschlossenheit, allen Gefahren des Lebens zu trotzen — und Mädchen und junge Frauen, die die Schönheit ihrer Körper und die Anmut ihrer Bewegungen noch nicht durch allzu häufige Geburten eingebüßt hatten.

Einige dieser Menschen waren nackt; denn gegen die Kälte brauchten sie sich ja unter ihrem heißen Himmel nicht zu schützen. Die meisten aber hatten um die Hüften ein schmales Tuch geschlungen, das bei manchen aus Tapa bestand, aus dem Stoff, den die Frauen durch Klopfen der zähen Rinde des Papiermaulbeerbaumes gewannen, bei anderen aber aus einem mit Fransen versehenen Bastgeflecht. Und alle blickten sie wie gebannt zum Meere hinab, das den weißen Gischt seiner Brandung hoch aufschäumen und in tausend regenbogenfarben-schimmernde Tröpfchen zerstieben ließ.

Der Felsen lag viele hundert Fuß hoch über dem Wasser, sodass das Tosen der Brandung nur wie gedämpftes Brausen zu den Ohren der Menschen drang. Es hätte ihre Gespräche nicht gestört, auch wenn sie solche hätten führen wollen. Sie taten es aber nicht. Man vernahm kein einziges Wort. Nicht einmal die nackten, braunen Kinder, die mutwillig auf den oft gefährlich weit ins Meer hinausragenden Riffen herumturnten, wagten zu sprechen. Einige von ihnen, fast schon halbwüchsige Burschen, hatten sich rittlings auf eine schmale Felsennase gesetzt, die jäh zum Meere abstürzte. Auch sie hielten die Köpfe gereckt, und während sie sich mit einer Hand am Stein anklammerten, schirmte die andere das grelle Sonnenlicht ab, das durch seine Blendung die Sicht beeinträchtigte.

Es bedurfte freilich auch der scharfen Augen dieser mit dem Meere und seinen Weiten verschwisterten Menschen, um das, wonach sie ausspähten, erkennen zu können. Tief unter dem oberen Rande der hohen Steilküste nämlich, die fast senkrecht zum Meere abfiel, kletterten, geschickt und sicher mit dem Fuß jeden Felsvorsprung ertastend und mit der Hand jeden Spalt ergreifend, vier Gestalten abwärts. Jünglinge waren es, völlig unbekleidet, denen nur ein Federkranz das lange, mitten auf dem Kopfe in einem Knoten zusammengehaltene Haar schmückte und deren jeder eine Pora trug, ein großes Bündel aus Schilf, das sie sich mit einer Bastschnur auf den Rücken gebunden hatten.

Es war ein halsbrecherischer Weg. Endlich aber langte der erste von ihnen auf einem Felsstück an, das, seit Jahrtausenden von der Brandung der See unterwaschen, weit über das schäumende und brodelnde Wasser hinausragte. Und es dauerte nicht lange, da standen auch seine Gefährten neben ihm. Einen Augenblick lang sahen sie stumm in das tosende Meer, dann banden sie die Schilfbündel vom Rücken, in denen die Lebensmittel untergebracht waren, die sie mitnahmen: Bananen, Wurzeln der Yams- und der Taro-Pflanze, und vor allem Kumara, die süßen Kartoffeln, die die Hauptnahrung dieser Menschen bildeten. Und sie prüften noch einmal die Umschnürung, denn die durfte sich nicht lösen auf dem bevorstehenden Weg durch die wilden Wellen.

Was sie miteinander sprachen, konnte man oben nicht hören; denn hier, nur wenige Fuß über dem tosenden Wasser, verschlang die Brandung jedes Wort. Und die Gesänge, die sie nun anhuben, waren auch gar nicht für die Ohren der Menschen bestimmt, sondern für die der Götter. Beschworen wurden Make-Make, der Gott der Seevögel und heiligste Atua der Insel, und Hawa-tu’u-taketake, der Herr der Eier. Aber auch Vi’e-Hoa und Vi’e-Kenata mussten helfen, die großen Göttinnen, denn wie sonst sollten die vier Menschen den Gefahren entrinnen, in die sich zu stürzen sie im Begriffe standen?

Leise und eintönig hatten sie ihr Lied begonnen, dann aber lauter und lauter die Stimmen erhoben, immer in das steigende und fallende Brausen der Brandung hinein, das die Gesänge der Jünglinge in mächtig tönenden Akkorden begleitete. Endlich aber, als die beschwörenden Stimmen so laut angewachsen waren, dass der Wind einige Fetzen der Töne bis hinauf zu den Zuschauern dieses Schauspiels tragen konnte, brachen sie plötzlich ab, und ein Schrei aus Hunderten von Kehlen übergellte die Brandung: Die Jünglinge hatten sich in die Fluten geworfen. Einige Augenblicke blieben sie unsichtbar, und alles hielt den Atem an. Dann aber tauchten sie empor, jeder sein Schilfbündel in der Hand, das er sich unter den linken Arm schob, während er mit den Beinen und mit der Rechten kräftig vorwärts ruderte.

Und nun kam Leben auch in die Zuschauenden. Sie winkten und lachten, riefen sich Worte zu, die ihnen der Wind vom Munde riss, und immer wieder hörte man die Namen der Schwimmer: Vorwärts, Vaha! Nicht hinten bleiben, Otiri! Schneller, Ngaroa! Hol aus, Kainga, hol aus! Denn es war keine kleine Strecke, die sie in der aufgewühlten See zu bewältigen hatten.

Gegenüber der südöstlichen Steilküste der Insel nämlich, für ein scharfes Auge fast noch in Einzelheiten sichtbar, ragte ein riesiger Felsen aus dem Wasser, umbrandet von den Fluten des Meeres, das sich hier ein letztes Mal von einem Stücklein Erde verabschieden zu wollen schien, bevor es sich in seine unendlichen Weiten verlor.

Aber die Gefährlichkeit des Weges lag weniger in seiner Länge, die für einen geübten Schwimmer nicht unüberwindlich war, als viel mehr in der starken Brandung, die sowohl das Hinausschwimmen wie das Anlandgehen so sehr erschwerte. Auch war das Meer hier nicht frei von Haifischen. Kein Wunder also, dass die, die dem Kampf der kühnen Jünglinge mit dem feindlichen Element zusahen, nicht teilnahmslos blieben.

Besonders eine Gruppe von jüngeren Burschen und Männern, sicherlich ebenso vertraut mit Wind und Wellen wie die wagemutigen Schwimmer selbst, verfolgte ihren Weg mit großer Spannung »Vor drei Jahren schwamm auch ich da hinaus«, sagte der eine von ihnen. »Aber wir mussten lange warten, bis die Seeschwalben kamen. Es hatte sich ein Sturm erhoben, der die Vögel davon abhielt, ihren Weg über das Meer zu nehmen, und uns wurde das Essen knapp, da alles, was wir mitgenommen hatten, aufgezehrt war und wir keine neuen Lebensmittel heranbekommen konnten.« — »Da war es nur gut, dass ihr die Taro- und Kumara-Schalen getrocknet hattet, statt sie wegzuwerfen. Sonst wäret ihr wohl verhungert, ehe ihr das Heilige Erste Ei finden konntet!« Der das sagte, war ein kräftiger Mann von etwa dreißig Jahren, der älteste der Gruppe. — »Ja, du hast recht, wir waren schon ganz entkräftet, und zwei meiner Gefährten kamen beim Rückweg sogar ums Leben. Schade um sie, es waren prächtige Burschen!« Und er hob die Augen und blickte rundum in die Weite, als schaue er nach ihnen aus. — »Du aber kamst heil zurück?« fragte ihn ein dritter. — »Mir konnte doch nichts geschehen! Ich trug ja das Ei, das Heilige Ei!«

Während die Gespräche noch lebhaft hin und her gingen, war einer aus der Gruppe, ein junger Bursche, still und von den andern unbemerkt in den Schatten eines Felsens getreten, der mit einem sonderbaren flachen Bildwerk geschmückt war. Hier war in kräftigen, aber groben Umrissen eine Gestalt in den Stein gehauen — eine Gestalt mit dem Leibe eines Menschen und dem Kopfe eines Vogels, die in hockender, etwas vornübergeneigter Haltung behutsam ein Ei trug. Stumm stand der Jüngling davor. Es schien, als ob ihn das Geschehen in den Wellen und das Gespräch der Altersgenossen nicht berühre.

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Da legte sich von hinten eine Hand auf seine Schulter, und er zuckte zusammen wie einer, der sich auf verbotenen Gedanken ertappt sieht. Aber als er sich umwandte, blickte er in ein Paar lachende Augen, und eine fröhliche Stimme sagte: »Warum so allein, Ure-Vaiu? Schau, sie sind drüben angekommen auf Motu-nui! Sie rufen und winken!« — »Lass sie winken, Kirivera, was kümmert es mich?«

Kirivera sah ein trotziges Blinken in des andern Augen, und »Geht dir denn diese Geschichte immer noch zu Herzen?« fragte er missbilligend. — »Würde sie dir nicht auch zu Herzen gehen? Wo es doch so gut wie ausgemacht war, dass auch ich in diesem Jahre ein Hopu werden sollte! ... dass auch ich mit hinausschwimmen sollte nach Motu-nui, das Erste Ei zu suchen! Und ich hätte es gefunden, Kirivera, verlass dich drauf! Nicht Ka-inga, dieser Duckmäuser, und auch nicht Otiri, der über seine eigenen Füße stolpert, wenn er läuft!« — »Und wenn es nun nicht sein konnte? Wenn es Make-Make selbst war, der unseren Ivi-Atua erschienen ist, den heiligen Männern, die in die Zukunft sehen können, und der ihnen gesagt hat, dass Te-Apito, der dich zu seinem Hopu machen wollte, gar kein Vogelmann werden kann?« — »Warum aber nicht, warum?« — »Warum? So darf man nicht fragen!« Und Kirivera nahm den etwas jüngeren Ure-Vaiu bei der Hand und zog ihn zu sich heran. »Sieh, die Ivi-Atua leben im Großen Tabu, und darum sehen und hören sie mehr, als wir sehen und hören können. Und darum wissen sie auch, wer Vogelmann sein kann und wer nicht!« Und, als der Jüngere immer noch trotzig zu Boden blickte: »Sei kein Tor, Ure-Vaiu! Was hast du davon, dich zu grämen? Kannst du wissen, ob du das Ei wirklich gefunden hättest? Aber selbst wenn: Wäre die Ehre nicht teuer bezahlt? Müsstest du nicht Monat um Monat im Tabu leben? Immer allein sein ... mit niemandem sprechen ... keine Frau berühren ... auch nicht heiraten können ... « — »Heiraten? Wer spricht vom Heiraten?« — »Ich, ich spreche davon, Ure-Vaiu! Denn wenn der Tanz zum Rano Raraku vorbei ist, dann tanzt ihr auf meiner Hochzeit! Und ... deine Ana-te-iki ist nicht weniger schön als meine Viriamo!« —

»Schweig mir von Ana-te-iki! Sie ist eines Bildhauers Tochter!« — »Und doch kehrt sie sich um nach dir, dem Fischer, wenn du an ihr vorübergehst, und sieht nach dir!« — »Aber ich, Kirivera ... ich sehe nicht nach ihr!«

Die beiden Burschen schwiegen. Und als sie um sich schauten, standen sie allein auf den Klippen. Von Weitem nur hörten sie das Singen der Mädchen, und ab und zu einen Jubelruf, der aus dem Munde eines jungen Mannes zu kommen schien.

»Nun gehen sie nach Orongo zurück«, sagte Kirivera. »Komm mit ... was willst du noch hier? Atua-Ure-Bangi hat Hunderte von Hühnern schlachten lassen! Bis tief in die Nacht wird das Fest dauern! Und nicht einen Tag nur — nein, viele, viele Tage!« — »Ja ... ich weiß, Kirivera. Viele Tage für die, die Zeit haben, zu singen und zu tanzen, zu schmausen und zu faulenzen! Die Bildhauer haben leicht feiern! Wenn sie ihre Meißel aus der Hand legen, schlafen die steinernen Biesen und stören sie nicht. Und die Rongo-Rongo-Männer können ihre Tafeln in der Ecke ruhen lassen. Aber wir? Meinst du, dass Atua-Ure-Rangi uns lange feiern lässt? Wir sind ja nur Mata-tio — nur hörige Knechte!« — »Eben drum, Ure-Vaiu! Eben weil wir, wie du sagst, Knechte sind — Fischer, die tagaus, tagein aufs Meer hinaus müssen — wollen wir es uns gut gehen lassen, wenn sich uns die Gelegenheit bietet! Heute will ich singen und tanzen! Denn morgen, das weiß ich im Voraus, muss ich hinaus aufs Meer! Wovon auch sonst sollen sie leben, sie alle? Die Rongo-Rongo-Männer ... die Ivi-Atua ... die Bildhauer ... und er, Atua-Ure-Rangi, der fast schon ein Gott ist? Wovon sollen sie leben, wenn wir nicht fischen?« — »Oh, ich möchte sein können wie du, Kirivera! Fröhlich sein, ohne ans Morgen zu denken! Alles in Ordnung finden, was man verlangt! Aber ihre Hühner schmecken mir nicht, und das Mark der heißen Kumara bleibt mir im Halse stecken, wenn ich weiß, dass man uns an die Arbeit jagt, noch ehe alles verzehrt ist! Und dass wir ihnen, so viel wir uns auch mühen, niemals genug heimbringen — niemals genug!«

Er löste die Hand aus der des Freundes und ging langsam den Weg hinab, der zu der Siedlung der Fischer führte. Kirivera sah ihm nach, bis er hinter einem Felsen verschwunden war. Dann straffte er seine sehnige Gestalt und stieg die Höhe hinan — hinauf nach Orongo, der Heiligen Stadt.

*

Auf dem Rano Kao lag Orongo, auf einem der drei höchsten Berge der Insel, die an ihren spitzen Kegeln und ihren tiefen Kratern deutlich erkennen ließen, dass einst die Götter der Unterwelt dort ihre Feuer geschürt hatten. Aber die Feuer waren erloschen, ehe die Menschen die Steine des Rano Kao gebrochen und am Rande seines Kraters Häuser errichtet hatten.

Eine seltsame Stadt war dieses Orongo. Schmal und lang, aus großen, steinernen Platten gefügt, standen die Häuser da. Sie bargen nur einen einzigen, fensterlosen Raum, in den man sich hindurchzwängen musste durch einen engen, niedrigen Eingang. Warum blickten in ihrem Halbdunkel gespenstische Bilder von Decken und Wänden: Vögel aller Art ... Boote mit Mattensegeln ... und seltsame Fratzen, von denen man nicht wusste, sahen sie einem Menschen ähnlicher oder einem Vogel? Und warum lag die Stadt auf so unwirtlicher Höhe, wo sich die Kinder aller Winde ein Stelldichein gaben und wo nicht Baum noch Strauch gedieh, nicht Feld noch Garten angelegt werden konnte? War es ein Wunder, wenn sie leer stand, diese sonderbare Stadt? Zwölfmal füllte sich der Mond, und zwölfmal schwand er dahin, bis nur noch sein Schatten blass am Himmel hing — und fast das ganze, runde Jahr hindurch wurde hier nur das Lied der Einsamkeit gehört, das in großartiger Eintönigkeit über Orongo brauste — und diese zwölf Monde lang war nur das Farbenspiel des Himmels sichtbar, der bei den Auf- und Untergängen der Sonne in hundert verschiedenen gelben und roten Tönen prangte. Bis der dreizehnte Mond das Jahr, das von einem Frühling zum andern über die Erde zog, vollmachte und die Seeschwalben mitbrachte, die ihre Brutplätze auf Motu-nui hatten, dem Felseneiland gegenüber den Klippen des Rano Kao. Und dann kam Leben in die vereinsamten Straßen und die Stämme der Rongo-Rongo-Männer, der Ivi-Atua und der Bildhauer zogen in die steinernen Häuser ein.

Heilig waren die Ivi-Atua, die Freunde der Götter, die Propheten und Seher der Insel. Ihre Häuser waren die schönsten und größten Orongos, aber niemand durfte sie betreten außer ihnen selbst und Atua-Ure-Rangi, dem Haupt ihrer Gilde, dem Priesterkönig. Hier schlossen sie sich ein und befragten Make-Make, den Gott der Seevögel, wer von den Männern sich bewerben durfte um die Würde eines Ao, eines Vogelmannes. Und Make-Make nannte den einen und den andern, aber es waren nur gute Namen aus den herrschenden Stämmen, denn von den Knechten war ihm keiner genehm! Die durften nur die Hopu stellen, die kühnen Schwimmer, die sich in Brandung und Seegang hinauswagten, jeder bemüht, seinem Herrn das Erste Ei zu bringen, das Heilige Ei, das die Seeschwalben auf Motu-nui legten.

Dieses Ei, in dem die Kraft Make-Makes steckte, des Gottes aller Eier und aller Fruchtbarkeit! Des Gottes, der die Hühner gedeihen ließ, aber auch die Früchte des Feldes! Der den Regen schickte, aber auch die Wolken zerstreute! Und der nach dem Tode mit seinem scharfen Schnabel die Seelen der Menschen zerriss, die im Leben nicht nach seinen Weisungen gehandelt hatten!

Wenn dann die Ivi-Atua den Willen Make-Makes verkündet hatten und die Männer bestimmt waren, die nach der hohen Würde eines Ao streben durften, also Aussicht hatten, für ein ganzes Jahr Vogelmann zu werden, dann erfüllte Tanz und Gesang, Lärmen und frohes Lachen die sonst so stillen Straßen der Heiligen Stadt. Denn nun zogen die Hopu aus, die Diener dieser Bewerber, schwammen hinüber nach Motu-nui und erwarteten dort die Seeschwalben. Und währendher wurde ein Fest ums andere gefeiert in den langen, schmalen, bildergeschmückten Sälen der Häuser von Orongo, und nicht nur die Sippen der künftigen Vogelmänner, nein, das ganze Volk nahm Anteil an dem Geschehen am Rano Kao.

Wer auch kann Feste feiern gleich denen der Kinder der Südsee? Feste, an denen die Tänzer unermüdlich scheinen, den Sängern der Atem nicht ausgeht und vor allem die Mägen nie satt zu werden drohen, sodass ein Gericht ums andere, eine Speise nach der andern aufgetragen wird und im Handumdrehen vertilgt ist? Das Feuer, in dem die Steine für die Erdöfen erhitzt werden, geht nicht aus, die Speisen, die auf diesen heißen Steinen gar gemacht werden, dampfen, und ihr Geruch steigt vielversprechend in die Luft. Die älteren Leute hocken auf den Matten, die die gestampften Fußböden der Häuser bedecken, und schmatzen und schwatzen, während die jüngeren draußen ihre Spiele spielen, bei denen sich die Männer durch die Kraft ihrer Körper hervortun und die Frauen durch ihre Anmut und Behändigkeit.

Doch es kam, wie Ure-Vaiu gesagt hatte: Für die Fischer fiel von den üppigen Schmäusen wenig genug ab, und nur allzu bald mussten sie wieder ihre Boote klarmachen und den Fang, den sie abends heimbrachten, an die Feiernden abliefern.

*

Ure-Vaiu und Kirivera besaßen gemeinsam ein Boot. Sie waren nicht nur Freunde, sondern auch nahe miteinander verwandt — zwar nicht Brüder, aber Söhne von Brüdern — und da ihre Väter beide, im selben Boot zusammenarbeitend gleich ihnen, bei einem Sturme ums Leben gekommen waren, hatte der Großvater sie aufgezogen. Er hatte ihnen auch sein Handwerk beigebracht, das er verstand wie kein zweiter: Das Segeln mit dem Wind und das Kreuzen gegen den Wind, das Spießen der großen Fische mit dem Speer und das Fangen der kleineren mit der Angel.

Das Boot, das er ihnen hinterlassen hatte, war eines der besten, das die Insel kannte, seitdem die mächtigen Doppelboote, mit denen Hotu-Matua seine Leute von Mara’e Benga weit über das große Meer hierher gebracht hatte, vor Alter morsch geworden und zerfallen waren; denn die Insel hatte nur spärlichen Baum wuchs, und Stämme, die sich zum Bau seetüchtiger Boote eigneten, waren selten. Und auch das Fahrzeug, das der Großvater ihnen vererbt hatte, war nicht hier entstanden. Er hatte es vielmehr mitgebracht, als er, sich aus den Sippenkämpfen seiner Heimat rettend, als junger Bursche über die weite See kam und nach langer Fahrt dieses einsame Eiland erreichte. Das Boot war zwar nicht groß, aber wendig und seetüchtig; denn der Alte hatte es verstanden, die Bretter so zu fügen, dass kaum Ritzen zwischen ihnen blieben, und auch die wenigen, die er nicht hatte vermeiden können, wurden mit Binsen ausgestopft, die man vom Ufer des Kratersees holte, sodass kaum Wasser eindringen konnte. Er hatte auch die verschiedenen Arten der Knotung beherrscht: wie mit den von den Frauen gedrehten Seilen die Holzteile der Boote miteinander verknüpft wurden — vor allem die Balken, die den Ausleger trugen, mit dem Fahrzeug selbst und das Mattensegel mit dem Mast. Und so klein und zerbrechlich das Boot auch aussah, war es doch widerstandsfähig über alle Maßen. Denn da es ganz aus leichten Hölzern bestand, konnte es überhaupt nicht sinken, und vor dem Umkippen schützte es der Ausleger, der es im Gleichgewicht hielt. Die größte und fast einzige Gefahr, die ihm drohte, war, von der Gewalt des Sturmes und der Wogen an ein Riff geschleudert zu werden, an dem es zerschellen musste. Aber wer die Boote dieser Inselbewohner auf dem freien Meere sah, wie sie bei Windstille über die glatte Wasserfläche hinwegschnellten, wenn die Männer ihre Ruder benützten, oder wie sie bei Sturm, von den erregten Wogen gehoben und gesenkt, auf den Fluten zu tanzen schienen, der wusste nicht, ob das Meer mit den Männern und ihren Booten spielte oder die Männer mit den Booten und dem Meer.

*

So war es auch an dem Tage, an dem die lang erwarteten Seeschwalben endlich eintrafen. Der Morgen war ungewöhnlich hell und fast windstill gewesen. Selbst die Wolken, die ja immer wie schlanke, ragende Türme himmelhoch über der Insel schwebten —sich im Winde wiegend und zerflatternd und sich stets wieder sammelnd und so den auf See befindlichen Männern weithin den Weg weisend — selbst diese Wolken schienen stillzustehen, steiler noch und höher als sonst. Und so waren denn auch Ure-Vaiu und Kirivera ganz früh schon hinausgerudert, um in den kühleren Stunden um Sonnenaufgang bereits einen Teil ihrer Tagesarbeit hinter sich zu bringen und dann in der Mittagsglut im Boote liegend auszuruhen.

Auf der Fahrt war Ure-Vaiu wie ausgewechselt. Aller Unmut, alle bösen, aufsässigen Gedanken waren verflogen. Mochte er an Land immerhin Knecht sein: hier, auf dem Wasser, war er Herr! Sicher lenkte er das Fahrzeug, wohin er wollte — mit jedem Ruderschlag, mit jedem Handgriff am Steuer, mit jeder Drehung der Segelmatte. Und er sang dazu die uralten Lieder, und er sah das Lächeln der göttlichen Meeresjungfrau, sah Hine-Moanas Lächeln in den Weiten der lichtgebadeten See.

Auch Kirivera war froh gestimmt. Obgleich einige Jahre älter als Ure-Vaiu, war er doch abhängiger von seinem Gefährten, als er sich selber eingestand. Gutmütig und etwas langsam im Denken, spürte er die Überlegenheit des von raschen Entschlüssen und einem unbändigen Willen getriebenen Vetters; aber bedrückt hatte ihn das nie.

Als die Burschen eine gute Strecke hinausgefahren waren, so weit, dass das kleine Felseneiland Motu-nui schon längst ihren Blicken entschwunden war und die Berggipfel der Insel nur noch wie fahle Striche am Himmelsrand erschienen, stellten sie das Rudern ein und nahmen das Angelgerät zur Hand: einen plumpen, steinernen Haken, der an einer starken, aus Menschenhaaren geflochtenen Schnur befestigt war, die Ure-Vaiu an eine etwa zwei Männerarme lange, kräftige Rute band. Dann steckte er einen Köder an den Haken und warf die Angel aus. Kirivera aber hatte einen der Fischspeere ergriffen. Er hielt ihn stoßbereit und starrte unentwegt ins klare, durchsichtige Wasser. Doch so viele Fische auch in einer Tiefe, in die kein Speer mehr reichen konnte, unter den spähenden Augen des Mannes dahinhuschten — es kam doch keiner so hoch zur Oberfläche, dass ein Stoß sich gelohnt hätte.

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Auch die Angel war lange Zeit leer geblieben. Endlich aber wurde der Schwimmer ins Wasser gezogen, und Ure-Vaiu fühlte an dem starken Ruck, dass ein großer Fisch angebissen haben musste, ln seinem Gesicht drückte sich Freude und höchste Spannung aus, als er mit einer sicheren Bewegung die Angel aus dem Wasser zog. Was mochte sich gefangen haben? Ein Delfin? Ein Thunfisch? Oder gar ein Bonito? Aber nur eine Spanne hoch über die Wasseroberfläche kam der Fisch, dann machte er eine jähe Bewegung mit dem Schwanz, und es gelang ihm, von der Angel loszukommen. Das Wasser gluckste auf, als er versank, und eine kleine rote Spur wurde von der nächsten Welle fortgeschwemmt.

Ure-Vaius Gesicht verfinsterte sich. Er zog die Angel aus dem Meer, aber er steckte keinen neuen Köder daran. Er nahm den plumpen steinernen Haken in die Hand und betrachtete ihn voller Unwillen. »Monatelang hat sich der Großvater gequält!«, rief er aus, »bis er eine solche Angel fertig hatte! Plagte er sich nicht jeden Tag, an dem die Stürme ihn vom Meere fernhielten, mit der Bearbeitung dieser widerspenstigen Steine? Und wozu taugt sein Gerät? Nur dazu, dass die Fische über uns spotten!«

Kirivera hatte einige beschwichtigende Worte auf der Zunge, kam jedoch nicht dazu, sie auszusprechen. Denn plötzlich hörte man ein durchdringendes Geschrei in den Lüften, und als die Männer aufblickten, sahen sie Scharen von Vögeln, die zu Tausenden über dem Wasser schwebten. »Die Seeschwalben kommen!« rief Kirivera fröhlich. »Sieh nur, Ure-Vaiu, der Himmel ist schwarz von ihnen! Nicht lange mehr, und das Ei ist gefunden!« Da verfinsterten sich Ure-Vaius Mienen noch mehr. »Wir müssen weiter hinaus«, sagte er statt einer Antwort. »Hier scheint ein Aku zu sein, ein böser Geist, der uns die Fische vergrämt. Sahst du nicht den großen Bonito, der unser Boot umkreiste? Oft kam er so nahe, dass ich dachte, du könntest ihn spießen, aber immer wendete er blitzschnell vor deinem Speer. Wer weiß, was für ein Dämon in ihm wohnt!«

Sie brauchten diesmal nicht zu rudern. Ein leichter Wind hatte sich erhoben, und sie wurden mit geschwelltem Segel so weit ins freie Meer hinausgetrieben, dass sie von der Insel nur noch die Wolke sehen konnten. Und hier endlich taten sie einen guten Fang. Zwar von Ure-Vaius Angel war so mancher Fisch, der schon zugebissen hatte, wieder abgerutscht, aber immerhin war auch sie nicht ganz erfolglos gewesen. Um so bessere Arbeit jedoch hatte der Speer getan. Kaum ein Fisch, der in seine Reichweite kam, entging Kiriveras sicherem Stoß.

Die Sonne hatte ihren höchsten Stand längst überschritten, und die Männer bereiteten ihre Heimkehr vor. Sie packten ihre Geräte weg und verstauten die Fische sorgfältig im Boot, bedacht die Last verteilend, damit das Fahrzeug im Gleichgewicht blieb. Ihre Augen leuchteten, als sie das taten; lange schon waren sie nicht mit einem solchen Fang heimgekehrt. Aber plötzlich, als sie noch eben im besten Arbeiten waren, blieb Ure-Vaiu wie versteinert stehen und richtete seine Augen in die Weite. Denn das Blickfeld verengte sich zusehends, die Luft verdunkelte sich, und ein fahlgelber Schein hing um das Segel des Bootes. Ja, selbst die sonnengebräunten Leiber der Männer waren plötzlich wie von gespenstischer Blässe überzogen.

»Sturm!« sagte Ure-Vaiu.

Nicht weniger sicher, nur etwas schneller griffen die beiden zu. Das erste war, dass sie das Segel einholten, denn sie wollten in dem immer heftiger aufkommenden Wind nicht noch weiter ins offene Meer hinaus verschlagen werden. Und kaum hatten sie das getan, als auch schon die ganze Gewalt des Unwetters über sie hereinbrach. Der Himmel hatte sich im Nu mit dichten, schwarzen Wolken überzogen, sodass es fast nachtdunkel war. Der Regen prasselte ins offene Boot, und die Männer hatten nichts, sich vor ihm zu schützen. Das Wasser floss aus ihren Haaren, rann in Strömen an ihrem Körper herab und verfing sich in dem Lendentuch, das freilich nicht imstande war, es festzuhalten, und bald troff wie ein vollgesogener Schwamm. Sie hatten aber nicht Zeit, das Tuch abzustreifen, denn Brecher um Brecher warf die erregte See in das Boot. Sie hatten alle Hände voll zu tun, es auszuschöpfen, und mussten obendrein noch achtgeben, dass sie der Sturm nicht aus dem Fahrzeug drückte. Doch in diesem Wüten der erregten Naturgewalten zeigte das kleine Boot seine ganze Zähigkeit. Bald tanzte es oben auf der Höhe eines Wellenberges, bald stürzte es tief hinab in ein Wellental, immer aber wurde es vom Wasser getragen und ließ sich von keiner Gewalt in die Tiefe ziehen.

Wie lange das Gewitter dauerte, konnten die Männer nicht sagen. Es war so dunkel, der Wolkenvorhang so dicht, dass gar nicht zu erkennen war, ob die Sonne noch am Himmel stand. Als sich aber nach vielen Stunden der Sturm legte — und er legte sich so schnell, wie er gekommen war — und als sich der Wolkenvorhang beiseiteschob, da stand die Nacht bereits in ihrem ersten Viertel.

Sie blickten nach dem Himmel und seinen Gestirnen, nach denen den Weg zu finden sie der Großvater gelehrt hatte. Dann brachten sie das Segel in Ordnung und stellten das Steuerruder. Sie wechselten kaum ein Wort dabei. So gewöhnlich waren derartige Ereignisse in ihrem Leben, und so eingespielt waren sie beide darauf, dass sie zusammen arbeiteten wie die rechte Hand mit der linken. Sie waren aber vom Sturm stärker abgetrieben worden als ihnen lieb war, und da noch immer ein leichter Wind vom Lande her wehte, mussten sie gegen ihn kreuzen und kamen nur langsam vorwärts. Und als die Sterne, die ihnen ihr Ziel gewiesen hatten, endlich verblassten und sie die Wolke, die stetig hoch über der Insel stand, immer noch nicht erspähen konnten, zogen sie das Segel wieder ein, warfen den schweren Ankerstein aus und legten sich todmüde, wie sie nach der großen Anstrengung waren, zum Schlafen nieder.

Erst als der Abend hereinbrach, segelten sie weiter, und wieder fuhren sie die ganze Nacht und kamen endlich am Mittag des nächsten Tages zu Hause an. Einen großen Teil der Fische hatten sie im Sturm eingebüßt. Sie waren ihnen von den eindringenden Wogen aus dem Boot gespült worden. Den Rest brachten sie an Land. Es waren wenig genug. Würden ihre Familien satt werden — die Mütter und die kleinen Geschwister — wenn man bedachte, dass sie immer die größten und besten davon für den König und sein Gefolge abliefern mussten?

*

Ure Vaiu und Kirivera wohnten in einer Fischersiedlung, die an der Südküste der Insel lag. Als sie ihr Boot an den Strand gezogen hatten, so hoch, dass auch die höchste Flutwelle es nicht zu erreichen vermochte, gingen sie ihren Hütten zu, und sie wunderten sich, dass ihnen nicht längst schon ihre Anverwandten entgegenkamen: die kleinen Brüder, die doch sonst immer eine weite Strecke ins Meer hinausschwammen, um ja die ersten zu sein, die sie begrüßten, und ihre beiden Mütter, die jedes Mal in Sorgen schwebten und es nicht wahrhaben wollten, dass ihre Söhne auf dem Wasser so sicher seien wie auf dem Lande. Sah man denn nicht ihr Segel? Sonst pflegte sich doch die ganze Nachbarschaft zum Empfang einzustellen — alles, was nicht gerade selbst draußen war!

Als sie die Siedlung betraten, war sie wie ausgestorben. Und als sie zu ihren Hütten kamen, fanden sie auch diese leer. Da ging ihnen ein Licht auf: Sicherlich war das Ei gefunden, und der Tanz des Vogelmannes hatte begonnen!

»Komm«, sagte Kirivera, »wir stellen uns an der Straße auf! Beim Standbild Po-iki!« Und er zog den etwas widerstrebenden Ure-Vaiu mit sich fort.

Von Orongo führte eine mit großen Steinblöcken gepflasterte Straße zum Bildhauerberg Rano Raraku hinüber, eine Straße, die von überlebensgroßen Standbildern gesäumt war. Alle zweihundert Schritt etwa standen die Moa’i, die steinernen Riesen. Spitz liefen ihre Schädel nach oben zu, eng zusammengekniffen waren ihre Lippen, und die Ohrläppchen hingen tief herab. Ihre Augenhöhlen aber starrten dunkel und fast drohend nach dem Rano Kao, als erwarteten auch sie ungeduldig den Zug des tanzenden Vogelmannes und seines Gefolges.

Die Siedlung der beiden Fischer lag nicht weit ab von dieser Straße. Und als sie das Standbild erreichten, das den Namen Po-iki trug — alle hatten ja ihre Namen! — da hörten sie schon von Weitem ein in scharfem Takte abgehacktes Singen, das immer lauter und lärmender wurde.

Und dann kamen die ersten Tänzer.

Allen voran der neue Vogelmann. In seiner ausgestreckten Rechten trug er das sorgsam in Tapa gewickelte Heilige Ei. Trotz seiner Freudensprünge durfte er es ja nicht etwa fallen lassen, denn das hätte im kommenden Jahre unabsehbares Unheil zur Folge gehabt. Deshalb auch seine etwas gebückte Haltung und eine gewisse Gemessenheit seiner Tanzschritte im Vergleich mit denen seiner Begleiter. Denn diese schrien und tobten, jubelten und juchheiten, sangen und sprangen wie von einer großen Raserei besessen, und der Zug bewegte sich mit einer solchen Schnelligkeit, dass er an den beiden Zuschauern vorübergewirbelt war, ehe sie recht zur Besinnung kamen. Als sie aber eben noch, die Hand über die Augen haltend, dem tobenden Haufen nachblickten, löste sich plötzlich ein Mädchen aus der jubelnden Menge und lief auf sie zu. »Viriamo!« rief Kirivera freudig und tat ein paar Schritte ihr entgegen. Als er aber vor dem Mädchen stand, sagte er enttäuscht: »Du bist es, Ana-te-iki? Und wo ist Viriamo?« — »Die tanzt mit Ka-inga!« antwortete die Gefragte, und da rannte Kirivera auch schon dem Zuge nach, ohne sich nur einmal noch umzusehen. Ana-te-iki aber blieb aufatmend stehen. Und sie senkte ihren Blick in Ure-Vaius Augen, die sich zusehends verdüsterten, bis er langsam zu Boden sah. »Seid ihr heimgekehrt?« fragte sie leise, und in ihrer Stimme lag ein Zittern. »Wir fürchteten schon, ihr wäret geblieben ... im Sturm ... « — »Im Sturm?« lachte er, fast höhnisch. »Das nennst du Sturm? Ein Windstoß war es, sonst nichts!« Und ehe sie noch etwas erwidern konnte, schnitt er ihr jedes weitere Wort ab. »Ana-te-iki!« sagte er rau, »vergiss, was gewesen ist, als ich dich in den Klippen traf!« Sie wollte, aufs Tiefste betroffen, antworten, aber Tränen schnürten ihr die Kehle zu. Und Ure-Vaiu fuhr fort, etwas weniger schroff: »Vergiss, es ist auch für dich am besten — und verzeih mir, dass ich vergaß, dass dein Vater ein Bildhauer ist, dem die Ohren bis auf die Schultern herabhängen, und ich ein niedriger, kurzohriger Fischer bin!« Alle Farbe, die von der Erregung des rasenden Tanzes noch in Ana-te-ikis Wangen glühte, erlosch in ihrem Antlitz.

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Sie wollte sich umdrehen und davonlaufen, konnte es aber nicht, denn ihre Glieder waren wie gelähmt. Wie sie so dastand, einem Steinbild ähnlicher als einem Menschen, brach aus Ure-Vaiu los, was ihn so lange schon bedrückte, und machte sich in heftigen Worten Luft: »Glaubst du denn, dass dein Vater dich mir gutwillig gibt? Meinst du, ich habe Lust, mich seinem Hohn auszusetzen, wenn ich um dich werbe? Und obendrein noch, wenn er die Werbung ausschlägt, dem Spott meiner Gefährten? Oder soll ich dich etwa rauben? Rauben ... und mit dir fliehen ... weit übers Meer? Und meine Mutter und die kleinen Brüder schutzlos der Rache preisgeben? Deine Sippe ist groß und mächtig, Ana-te-iki, und meine gering und klein. Von unsern Männern sterben viele früh, wenn Hine-Moanas Zorn sie trifft — ich habe aber noch nie von einem Bildhauer gehört, den der Grimm eines Steinbildes getötet hätte! Sie bleiben am Leben, und wir und unsere Söhne müssen sie nähren mit unserem Blut!«

Nun erst kam Ana-te-iki die Sprache wieder. »Auch die Bildhauer dienen dem König!« rief sie aus. »Auch sie mühen sich ab tagaus, tagein, auch sie nützen allen! Was wäre es, wenn die steinernen Standbilder den Aku nicht wehrten, den bösen Geistern, die die Seelen der Menschen fangen? Täglich arbeitet mein Vater draußen am Berg, bei Wind und Wetter, bei Begen und Sonnenglut. Vergießt er nicht seinen Schweiß wie du den deinen?«

»Es ist gut, Ana-te-iki«, sagte Ure-Vaiu, fast weich. »Ich wollte deinen Vater nicht schmähen. Wenn du ihn bewegen kannst, mich zu fragen, ob ich sein Schwiegersohn werden will ... aber das ist ja unmöglich!« unterbrach er sich selber. »Darum müssen wir einander aus dem Wege gehen, damit wir zu allem Leid nicht auch noch Spott und Schande haben!« Und er wandte sich ab und schritt davon.

Am Berg der Bildhauer

Die Tanzenden hatten den Rano Raraku erreicht. Immer dichter hatten an ihrer Straße die Steinbilder gestanden, bis sie schließlich auf alle zweihundert Schritt einem der stummen Riesen begegneten; und es war, als ob die starren Blicke aus den tiefen Augenhöhlen der Moa’i die jubelnde Menge zu immer lauteren Ausbrüchen ihrer Freude anfeuerten.

Am Fuße des Rano Raraku stand, aus Steinen gefügt, das Haus, das dem neuen Vogelmann nun für ein ganzes Jahr Unterkunft bieten sollte. Es war umsäumt von einer großen Schar der Riesenbilder, die aus dem Boden zu wachsen schienen wie Pilze aus feuchtem Erdreich. Hier machte der lärmende Menschenhaufen halt. Der Tanzsprünge wurden weniger, und endlich hörten sie ganz auf. Das Singen und Schreien verebbte wie eine ferne Brandung. Und schließlich standen alle die vielen Hunderte brauner Menschen in einem großen Kreis beisammen, in dessen Mitte ein einziger zu sehen war: der Ao, der Vogelmann. Noch einmal hielt er das Ei in der ausgestreckten Rechten. Noch einmal tanzte er im Kreise herum in jener seltsamen, vornübergeneigten, beinahe gebückten Haltung, die ihm vorgeschrieben war. Nun aber nicht in rasendem Lauf, sondern gemessen, feierlich, wie beschwörend. Und dann schritt er durch den Kreis, der sich öffnete, und durch die Gasse der Menschen, die sich gebildet hatte, langsam seinem Hause zu, das er ein ganzes Jahr lang nicht verlassen sollte, und verschwand darin. Niemand durfte ihn begleiten, niemand ein Wort mit ihm reden als der Ariki, der Priesterkönig, allein. Der war ihm in angemessenem Abstand gefolgt, auch er feierlich schreitend und mit den Abzeichen seines hohen Ranges geschmückt, und er hatte die beiden Steinhaufen, die in spitzen Kegeln rechts und links des Hauses auf geschichtet lagen, mit weißer Farbe besprengt. Das war das Zeichen des Großen Tabu. Von nun an durfte kein anderer den Eingang benützen, als er und der Ao allein. Die Speisen, die die Bevölkerung ihrem Vogelmann brachte, wurden ihm wortlos auf die Schwelle gelegt, damit kein Laut ihn störe, wenn er Zwiesprache hielt mit den Göttern.

Denn von ihm hing nun zum großen Teile das Wohlergehen der Insel ab. Ob die Götter den Regen zurzeit spendeten oder ob die Pflanzungen vertrocknen mussten, ob die Hühner viele Eier legten oder ob eine Seuche sie dahinraffte, ob der Fischfang ergiebig war oder ob die Fischer im Sturme umkamen, ob die Ernte an Seevogeleiern ertragreich war oder nicht — alles das hatten die Götter in den Händen, und dem Vogelmann lag es ob, sie günstig zu stimmen. Daher auch hatte der Ariki Zutritt zu ihm. Kein wichtiger Entschluss, zu dem er nicht den Rat des Vogelmannes einholte, der durch sein heiliges Tabu den Göttern näher stand als selbst er, der Mächtigste der Insel.

Atua-Ure-Rangi, der Priesterkönig, war schon alt. Er war der siebzehnte Ariki, der nach Hotu-Matua, dem Entdecker dieses Eilandes, hier herrschte. Und seine Regierungszeit war gesegnet gewesen. Sicherlich darum, weil er den Göttern und den Ahnen Ehre zollte wie kaum ein König vor ihm. Keiner hatte so viele Standbilder aufstellen lassen wie er. Zwar hatte schon sein Großvater das Ahu von Tongariki, den Bestattungsplatz seines Geschlechtes, mit zehn mächtigen Steinfiguren versehen lassen, die den Königsahnen geweiht waren und daher dieselbe Bezeichnung wie die Könige trugen, also Ariki hießen gleich ihnen. Sie bewachten die Körper der hier der Verwesung ausgesetzten Toten gegen die bösen Aku, die furchtbaren Dämonen, und selbst Make-Make würde sich scheuen, einem so behüteten Leichnam die Seele aus der Brust zu reißen. Und so konnten die Seelen der Vorfahren, nachdem ihre Körper verwest und in den Höhlen unterhalb des Ahu beigesetzt waren, segnend die Insel und ihre Bewohner umschweben.

Er aber, Atua-Ure-Rangi, hatte mehr getan als selbst sein Großvater. Er hatte Make-Make, dem mächtigsten unter den Göttern, seinen Zoll entrichtet. Denn ihm und seinen Vogelmännern zu Ehren waren ja die Moa’i aufgestellt, die Standbilder, die den Rano Raraku, den Bildhauerberg, bevölkerten und die Straßen, die zu ihm hinführten, säumten. Auf drei solchen prächtigen, breiten, bildergeschmückten Straßen konnte man zum Hause des Vogelmannes gelangen, von denen die vom Rano Kao, von der Stadt Orongo kommende die längste und breiteste war. Hier hatte Ure-Rangi siebzehn Standbilder aufstellen lassen, und Moa’i wurden sie genannt — nach den Moa, den Hühnern — weil sie dem Gott der Vögel und der Fruchtbarkeit gewidmet waren. Und auch der Rano Raraku selbst war mit solchen Moa’i übersät. So hatte sich der Ariki der Gunst Make-Makes versichert, der ihm dafür half, seine Macht und sein Ansehen von Jahr zu Jahr zu steigern. Und dann hatte er sich »Atua-Ure-Bangi« genannt — Gott Ure-Rangi! War er etwa nicht den Göttern gleich? Hatte jemals einer seiner Vorfahren so viele sprechende Hölzer anfertigen, so viele Standbilder aufstellen lassen wie er? Die Fischer freilich murrten. Aber wie sollten die Bildhauer und die Rongo-Rongo-Männer ihrer Arbeit ungehemmt nachkommen können, wenn ihnen die Sorge für die tägliche Nahrung nicht ferngehalten wurde? Dafür hatten die Knechte aufzukommen, die Hörigen, die Mata-tio!

Sie hatten die Ernte des Meeres einzubringen. Wenn aber die Stürme das Befahren der See unmöglich machten, mussten sie die Steinmauern der Ahu schichten, jener Begräbnisstätten, die den vornehmen Geschlechtern vorbehalten waren. Dann mussten sie auf steinernen Walzen und mit dicken Seilen die riesigen Standbilder vom Rano Raraku zu Tal schaffen und sie über lange, hohe Erdrampen hinweg auf den Ahu aufstellen, oder auch an den Straßen, die aus mehreren Richtungen zum Bildhauerberg heranführten. Das war keine leichte Arbeit, gewiss nicht! Aber man nahm ja auch nur die jüngeren Männer dazu, deren Arme noch kräftig genug waren, auf See das Steuer zu handhaben und an Land die Walzen zu bewegen, auf denen die Standbilder lagen, wenn man sie vom Berge gelöst hatte. Wer aber alt war, wer sich der schweren Arbeit nicht mehr gewachsen fühlte, der konnte immer noch die Gärten bestellen, in denen die Kumara, die Süßkartoffel, wuchs, aber auch Zuckerrohr und Bananen, Taro- und Yamswurzeln, sodass niemand zu hungern brauchte.

Ja, arbeiten mussten alle, dafür sorgte schon der Ariki! Wehe dem Fischer, der keine Fische heimbrachte von der See — wehe aber auch dem Bildhauer, der nichts Brauchbares leistete, oder dem Rongo-Rongo-Mann, der seine Schüler nicht ordentlich anleitete und die heiligen Gesänge nicht fließend von der Tafel zu lesen verstand. Sie wurden ausgestoßen aus ihrem hohen Beruf und hatten Knechtsarbeit zu tun ohne Gnade!

So hielt der Ariki Ordnung unter seinen Leuten, und das Land gedieh. Die Felder waren blühend bestellt, Hühner und Seevögel legten Eier zum Genuss der Menschen, dem Meere wurde die Beute an Fischen entrissen, und Kunst und Wissenschaft standen in hohen Ehren. Denn der Mensch, der Tangata, hatte Einzug gehalten auf der Insel und die Wüste zum Garten gemacht.

Als Atua-Ure-Rangi sich abwandte vom Hause des Vogelmannes und auf seine Leute zuschritt, wurden die Gespräche, die die Menschen miteinander führten, zum Geflüster oder verstummten ganz. Als er aber in der Mitte des Kreises angelangt war, stieß er seinen federumwundenen Herrscherstab auf die Erde, und da sprangen aus seinem Gefolge zwei Burschen auf und liefen auf ihn zu. »Die Tätowierten!« sagte er. »Ich will die Tätowierten prüfen!«