Foto: Mehmet Turgut
Ece Temelkuran, geboren 1973 in Izmir, ist Juristin, Schriftstellerin und Journalistin. Aufgrund ihrer oppositionellen Haltung verlor sie ihre Stelle als Redakteurin. Ihr erster Roman Muz Sesleri (Die Stimme der Bananen) erschien 2010. Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann? ist ihr zweiter Roman und erscheint weltweit in dreiundzwanzig Ländern.
Für Ayşe … Ohne dich ginge es nicht …
Sprich: Ich nehme meine Zuflucht zum Herrn des Morgengrauens,
Vor dem Übel dessen, was Er erschaffen,
Und vor dem Übel der Nacht, wenn sie naht,
Und vor dem Übel der Knotenanbläserinnen
Und vor dem Übel des Neiders, wenn er neidet.
Der Koran
Sure 113, Das Morgengrauen: 1–5
Aber bedeutungsschwere historische Selbstironisierung kommt beim Publikum nicht mehr an. Sie akzeptieren es vielleicht zur Not bei einem Mann, aber nicht bei einer Frau.
J.M. Coetzee, Elizabeth Costello
Sag Wahrheit ganz, doch sag sie schräg.
Emily Dickinson
Wir fliehen. Ich auf der Rückbank einer weißen Limousine, die mit 140 Stundenkilometern durch Tunesien in Richtung Süden fährt. Zu meiner Linken eine zu Stein erstarrte Brünette mit verrutschter blonder Perücke, während die Frau rechts von mir ihren kahl geschorenen Schädel unter einem weißen Kopftuch verborgen hat und unaufhörlich mit einem Bein wippt. Am Steuer ein greiser Mann, dem das linke Auge fehlt. Die weißhaarige, in violette Seide gekleidete Alte auf dem Beifahrersitz ist vollkommen entspannt, hat das Fenster heruntergekurbelt und hält ihr Gesicht in den Fahrtwind.
»Wohin fahren wir eigentlich?«, fragt die Kahlgeschorene.
»Nach Süden«, gibt die Alte zurück.
»Wie weit nach Süden?«, insistiert die Kahlgeschorene gereizt.
»Ziemlich weit«, erwidert die Alte lapidar.
Dabei wollte ich gerade noch nach Istanbul. Stattdessen aber begebe ich mich auf die zugleich faszinierendste und erschreckendste Reise meines Lebens. Ich denke daran zurück, wie alles angefangen hat, und kann es noch immer kaum glauben.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen zu schlafen. Doch dann hörte ich das Schlurfen von Pantoffeln auf den steinernen Hoteltreppen. Ich hörte, wie nackte Füße an Lederpantoffeln kleben blieben und sich mit einem Schmatzen wieder lösten. Und das trotz der Hochzeit, die ganz in der Nähe lautstark gefeiert wurde. Über spitze Freudenschreie und Feuerwerksraketen hinweg. Eine Frau. Leicht und jung. Dann ging noch eine Frau die Treppe hinauf. Ich hörte, wie klein ihre Füße waren. Ich hörte, dass beide Nachthemden trugen, hörte das Rascheln von Stoff: dünne Baumwolle. Ich hörte die Größe ihrer Nachthemden, hörte sogar, dass sie weiß waren. Aber in dieser Nacht war mir nicht nach Gesellschaft zumute. Ich hatte gerade erst meinen Job bei der Zeitung verloren. Ich war am Boden zerstört.
Außerdem hatte ich Hunger. Zu spät war mir klar geworden, dass das Mädchen am Empfang sich für meine unwillige Reaktion auf den Fehler, der ihr beim Einchecken unterlaufen war, postwendend revanchiert hatte. »Aber sicher doch«, hatte sie zu vorgerückter nächtlicher Stunde gesagt, mit einem leeren Ausdruck in den Augen, der sich erst im Nachhinein als teuflisch herausstellen sollte.
»Hat um diese Zeit noch irgendein Restaurant in der Altstadt geöffnet?«, hatte ich sie im Anschluss an unseren kleinen Disput gefragt. »Aber sicher doch!«, hatte sie erwidert, und so hatte ich mich im stockdunklen Labyrinth der Altstadt bald verlaufen. Aus jeder Gasse waren mir Schatten entgegengekrochen. Schatten, wie man sie immer dann sieht, wenn man mitten in der Nacht in eine fremde Stadt kommt und prompt die falsche Richtung einschlägt. Natürlich würde ich am nächsten Morgen merken, dass ich einfach nur in die andere Richtung hätte laufen müssen, um direkt im Zentrum zu landen. Doch das Schicksal einer Nachtreisenden lässt sich so leicht nicht überlisten. Mit Mühe und Not den Schatten entfliehend, rettete ich mich in mein Zimmer im Hotel Dar al-Medina, dessen Fenster eindeutig zur falschen Seite hinausging. Als nach vergeblichem Zappen durch saudische Fernsehkanäle voller Koranlesungen auch noch das Internet streikte und die einsam durchs Zimmer schwirrende Mücke sich nicht erschlagen ließ, nahm ich mir schließlich vor zu schlafen. In diesem Moment aber hörte ich die Pantoffeln.
Dann schallendes Gelächter. Ich hörte, wie eine der Frauen storchengleich einen Fuß gegen ihr Bein drückte. Ich hörte, wie ihr Pantoffel unter dem Fuß wegrutschte. Ich hörte Gesprächsfetzen. Dann griff eine der beiden nach den Jasminranken, die den Hof des Hotels überwucherten. Ich hörte, wie eine der Blüten abgerissen wurde und die Zweige zurückschlugen. So lange lauscht nur in die Nacht hinaus, wer sich davon überzeugen will, dass dort Abenteuerliches vor sich geht. Ich klemmte mir also den Whisky unter den Arm, den ich unterwegs am Flughafen gekauft hatte, und griff mir drei Gläser.
Als sie meine Schritte hörten, verstummten sie. Zwei Frauen, beide an die niedrige weiße Mauer gelehnt, die die Terrasse einfasste. Anlässlich dieser ersten Begegnung hatten wir alle jenes dümmliche Grinsen aufgesetzt, mit dem Touristen sich für ihr Fremdsein entschuldigen.
Ihre Nachthemden waren weiß. Und tatsächlich, die lässigere, kokettere der beiden, die mit den breiteren Hüften, hielt wie ein Storch einen Fuß gegen ihr Bein gedrückt. »Bei dem Lärm da unten kriegt man ja kein Auge zu«, sagte ich auf Englisch. »Wegen der Hochzeit, nicht wahr? Tafaddal – bitte, komm doch zu uns«, sagte die mit den Hüften. »Tafaddali«, echote die andere. Beide auf Arabisch. Dieses eine Wort reichte aus, mir ihre Herkunft zu verraten. Die kleine Fröhliche mit den breiten Hüften: Tunesierin. Die andere, mit dem härteren Akzent: Ägypterin. Die Ägypterin war maskulin, flachbrüstig wie ein Junge, groß, geheimnisvoll, ja, fast ein wenig zwielichtig. Die Tunesierin dagegen viel femininer, viel fraulicher. Dann explodierte eine Feuerwerksrakete und machte alle weiteren Floskeln fürs Erste überflüssig. Um besser sehen zu können, trat ich näher und stellte die Gläser auf die niedrige weiße Mauer. Mein Blick wanderte von einer zur anderen. Ja, wir würden alle Whisky trinken.
»Die Hochzeit ist von hier aus gar nicht richtig zu sehen«, meinte die maskuline Ägypterin.
»Dann schau doch mal da rüber«, erwiderte die fröhliche Tunesierin.
Und ich, die ich noch immer nichts entdecken konnte, stellte fest: »Das ist in Tunis wohl so üblich, dass keine Terrasse von einer anderen aus zu sehen ist, was?«
»Stimmt«, bestätigte die Tunesierin. »Die Architektur hier ist schlichtweg genial. Irgendwie schaffen wir es, alle auf einem Fleck zu wohnen und uns dennoch voreinander zu verstecken.«
Wieder versuchte ich, einen Blick auf die Hochzeit zu erhaschen, und schaute dabei an den beiden vorbei, die mich ausgiebig musterten. Doch erst als ich mich weit über die Brüstung lehnte, war auf einer der vielen rechteckigen Terrassen, auf die wir von oben herabblickten, das Fest zu sehen. In dem von Stromkabeln mit bunten Glühbirnen asymmetrisch durchschnittenen Karree tanzten erwachsene Frauen, während junge Mädchen Freudenschreie ausstießen und sich hinterher jedes Mal verschämt kichernd die mit Henna verzierten Hände vors Gesicht hielten. Die Braut sah mit ihrem ausladenden Satinkleid aus wie ein Fallschirmspringer, nach der Landung von feindlichen Truppen gestellt. Die Tänzerinnen dagegen glichen euphorischen Eingeborenen, denen ein Tier in die Falle gegangen war, das ein Festmahl abzugeben versprach.
»Glücklich wirkt die Braut ja nicht gerade. Wahrscheinlich hat sie Angst vor der Hochzeitsnacht«, sagte ich.
Die Tunesierin brach auf diese Plattitüde hin in schallendes Gelächter aus. Es war das gleiche Lachen, das ich schon von meinem Zimmer aus gehört hatte. »Genau das habe ich vorhin auch gesagt«, erklärte sie. »Sie wird ihr blaues Wunder erleben heute Nacht. Schocktherapie!«
Die Ägypterin lächelte gezwungen. »Möglicherweise dient ja die unter tunesischen Juden verbreitete Tradition, der Braut zwanzig Tage vor der Hochzeitsnacht jegliche Bewegung zu verbieten und sie ordentlich zu mästen, genau diesem Zweck. Um sie für die Strapazen der ersten Nacht zu wappnen.« Und um klarzustellen, dass sie mit der Tunesierin noch lange nicht so vertraut war, wie diese angedeutet hatte, fügte sie hinzu: »Wir haben uns übrigens auch gerade erst kennengelernt.« Anschließend fragte sie ernst: »Und woher kommst du?«
»Stimmt schon«, fiel ihr die andere ins Wort, »wir sind uns gerade erst begegnet, aber gefühlt kennen wir einander schon seit Ewigkeiten.«
Die Ägypterin ließ sich nicht beirren und fragte weiter: »Du bist Journalistin, nehme ich an?«
»Kann man das an meinem Nachthemd ablesen?«, wollte ich wissen.
»Nein, das Einzige, was man daran ablesen kann, ist dein Unterwäschegeschmack«, prustete die Tunesierin.
Ich schwieg. Leicht pikiert. Anzügliche Vertraulichkeiten waren nicht mein Fall. In der Hoffnung auf ein niveauvolleres Gespräch wandte ich mich wieder der Ägypterin zu.
»Ich war Journalistin. Zurzeit bin ich arbeitslos. Vielleicht werde ich ein Buch über den Arabischen Frühling schreiben, deshalb bin ich hier. Und du bist nicht zufälligerweise Wissenschaftlerin?«
In dem Moment schien die Frau mir gegenüber sich in ein kleines Mädchen zu verwandeln, das auf dem Nachhauseweg irgendetwas Lustiges erlebt und darüber kichern muss. Dann sachliches Nicken. »Ich heiße Maryam«, stellte sie sich vor. »Und yes, Ma’am, Amerikanische Universität Kairo, Historische Fakultät.«
Zwar war mein Ärger über die plumpe Vertraulichkeit der Tunesierin noch nicht ganz verflogen, doch beschloss ich, auch ihr noch eine Chance zu geben: »Und was machst du?«
»Ich bin erst heute Nacht hier angekommen«, erwiderte sie schlicht. »Aus New York.« Sie presste ihre Lippen ans Whiskyglas, lächelte und kostete mein gespanntes Schweigen noch eine Weile aus. Anschließend ließ sie blitzlichtartig und in Neonschrift ihren Namen aufflackern: »Ich heiße Amira.«
Am Himmel explodierte eine weitere Rakete. Wir folgten ihrer Bahn. Von dort oben musste die Stadt einem riesigen Kreuzworträtsel gleichen, zusammengesetzt aus hellen und dunklen Terrassenquadraten. In einem der hellen Quadrate war das H von Hochzeit bereits zu lesen, doch hätten, um das Wort zu vollenden, erst noch andere Terrassen beleuchtet werden müssen. Wir drei Frauen befanden uns in einem jener dunklen Quadrate, über die sich niemand je den Kopf zerbricht. In diesem Quadrat, in dem es mittlerweile feuchtfröhlich herging, sahen wir unsere Gesichter immer nur in jenem kurzen Moment aufblitzen, wenn die Raketen ihre größte Strahlkraft erreichten, und während sie wieder zur Erde stürzten und ihr Licht an unseren Gesichtern hinab zu unseren Bäuchen glitt, machten wir uns nach und nach mit den Schultern, Brüsten, Armen und Handgelenken der anderen bekannt. Maryam hätte man tatsächlich, wäre ihr Nachthemd nicht gewesen, für einen Jungen halten können. Mit ihrer tiefen Stimme hinterließ sie in mir den Eindruck von Stärke. Amira dagegen zappelte in ihrem Nachthemd wie ein Fisch im Netz. Bei jedem Windstoß erschauerte sie, als wäre sie geküsst worden. Zwischen den beiden hatte sich, noch bevor ich dazugestoßen war, bereits eine klare Rollenverteilung ergeben: Maryam war der Mann und Amira die Frau. Ihre Gegensätzlichkeit ließ die jeweiligen Charaktereigenschaften umso stärker hervortreten. So standen wir draußen auf dem dunklen Dach und beobachteten unsere Umgebung, ohne selbst gesehen zu werden, versteckt im schwarzen Quadrat eines riesigen Kreuzworträtsels.
Als das Feuerwerk zu Ende war, fragte ich Amira neugierig: »Sag mal, warum übernachtest du eigentlich im Hotel, bist du nicht aus Tunis?«
Sie lächelte bitter und wandte ihren Blick der Hochzeit zu. Nach einer Weile sagte sie mit tonloser Stimme, die nicht mehr jener Frau zu gehören schien, die kurz zuvor noch so herzlich gelacht hatte: »Mein Vater ist gestorben, und es gab eine Revolution. Ich habe einfach keine Lust, nach Hause zu gehen.«
»Mein herzliches Beileid«, sagte Maryam auf Arabisch. Ich sagte nichts. Amira hob das Kinn, um sich für die Anteilnahme zu bedanken. Dann aber nahm sie das betretene Schweigen auf wie einen Kreisel und setzte einen Wirbelwind an Beredsamkeit in Gang.
»Komisch ist es schon. Ich fühle mich wie eine Touristin. Man wird zu einer anderen Person, wenn man ins Hotel geht statt nach Hause. Als würde man das eigene Leben durch die Hintertür betreten. Aber es ist schon besser so …« Sie nickte einige Male vor sich hin. »Ja, es ist besser so.« Und während sie ein paar hastige Schlucke von ihrem Whisky nahm, sagte Maryam: »Als wäre man in einem Film gelandet: The Purple Rose of Tunis!«
Oh, dachte ich mir, die Nacht scheint unterhaltsam zu werden. Denn während es mir immer Angst einjagt, interessante Männer kennenzulernen, weil ich mich dann fühle wie in Paris kurz vor einem Bombenangriff, erfüllen Begegnungen mit interessanten Frauen mich stets mit einem Gefühl der Dankbarkeit, wie wenn sich in der Mailänder Scala der Vorhang hebt.
»Und was treibt dich hierher?«, wandte Amira sich an Maryam, in deren Augen eine Miniaturhochzeit aus farbigen Glühbirnen funkelte.
»Ich forsche über Königin Dido, die Gründerin Karthagos. Aber ehrlich gesagt, musste ich auch nur irgendwie meinem eigenen Film in Kairo entfliehen.«
Ich weiß ja nicht, ob Araberinnen sich das bei Scheherazade abschauen, aber beide hatten es hinbekommen, ihre Erzählung ausgerechnet dann zu unterbrechen, als es spannend wurde.
So zogen wir uns also an den schmiedeeisernen Tisch zurück, der an der dunkelsten Stelle des dunklen Quadrats stand. Wir lachten, dass die Träger unserer weißen Nachthemden auf und ab hüpften, und jedes Mal beleuchtete das Licht des Mondes andere Bereiche unserer Gesichter. Wir klagten über Orangenhaut und wurden zusehends betrunkener. Wir lachten über das Mädchen am Empfang, über die zellenartigen Hotelzimmer und über die Tänzerinnen unten auf der Hochzeit. Amira ahmte tunesische Männer nach, und auch darüber lachten wir. Später kamen dann Ägypter und Türken an die Reihe. Hätte sich jemand die Mühe gemacht, unser süßes Stimmengewirr zu dechiffrieren und zu Papier zu bringen, es hätte eine amüsante kleine Enzyklopädie des nahöstlichen Mannes dabei herauskommen können. Dann schwiegen wir eine Weile. Amira hatte während der ganzen Zeit noch kein Wort über sich selbst verloren. Ich wurde zusehends neugieriger.
»Jetzt sag doch mal«, wandte Amira sich an Maryam, »warum bist du aus Kairo abgehauen?« Und mit einem Mal schien Maryam entschlossen zu erzählen. Darum bemüht, sich Amiras lässigem Ton anzupassen, nestelte sie unbeholfen an Wörtern herum, die sie erst vor kurzem kennengelernt zu haben schien: »Ich hab was ausgefressen, Süße. Hab mit einem Typen gevögelt. Deshalb bin ich abgehauen!«
»Respekt!« Amira gackerte wie eine Legehenne.
Während Maryam sprach, schien sich ihr Körper mal in den eines Mannes, mal in den einer Frau zu verwandeln, mitunter ging es wie beim Schluckauf zwischen beiden hin und her. Wenn Amira ihre Brüste auf den Tisch legte, beugte auch Maryam sich vor, lehnte Amira sich wieder zurück, tat sie dasselbe. Dieses Wechselspiel schien Maryam Kraft zu geben, und sie wurde immer gesprächiger.
»Bis vor kurzem habe ich ja noch streng über meine Unschuld gewacht. Hat lange gedauert, bis irgendein Glückspilz den Jackpot endlich geknackt hatte, wenn ihr versteht, was ich meine! Ha, ha, ha …«
Doch der flapsige Ton, mit dem sie ihren Kummer zu überspielen versuchte, wollte nicht so recht zu ihr passen und löste eher Unbehagen aus. Amira vertrieb den schalen Nachgeschmack. »Oha! Wir haben also auch eine Braut!«
Und während sie mit einer Hand ihren Mundwinkel hochzog bis ans Ohr, erhob sie mit der anderen ihr Glas. Wir stießen geräuschvoll an, und so verflüchtigte sich Maryams Kummer, den sie, weil sie ihn nicht in Worte zu fassen vermochte, ins Lächerliche zu ziehen versucht hatte. Offensichtlich stand sie zwar mit beiden Beinen im Leben, war in Herzensangelegenheiten jedoch womöglich überfordert.
»Ich bin sechsunddreißig, Schätzchen! Studium in Cambridge, Master und Promotion in Princeton. Und ich bin Muslima. Eine von der betenden Fraktion. Was ich dir damit sagen will, Süße: Ich hatte einfach keine Zeit für solche Sachen. Und außerdem … Ägypten ist ziemlich konservativ, wie du sicher weißt. Nicht wie Tunesien.«
Amira lachte. »Jetzt komm mir nicht damit!«, sagte sie. Doch ihr Lachen klang künstlich. Ihr Spielchen, alles auf die leichte Schulter zu nehmen, schien schwieriger zu werden. Mit einem Mal rückte Maryam vom Tisch ab und setzte eine ernste Miene auf. »Und dann, auf dem Tahrir-Platz …« Sie zog eine Zigarettenschachtel aus der Nachthemdtasche und fuhr fort: »Auf dem Tahrir-Platz … wie soll ich das sagen? Irgendwas war anders. Es lag so ein Zauber in der Luft.«
Auch Amira hatte sich zurückgelehnt, als wolle sie lieber nicht hören, was Maryam über den Zauber des Tahrir-Platzes zu erzählen hatte. Ich aber, die ich seit jeher Angst habe, dass Menschen, denen man keine Beachtung schenkt, wenn sie zum ersten Mal ihre Geschichte erzählen, plötzlich sterben könnten, fragte: »Meinst du dieses Gemeinschaftsgefühl?«
»Ja, genau. Wir wurden eins miteinander. Gingen aus uns selbst hinaus. Frauen und Männer, alle zusammen, wie beim gemeinsamen Gebet. Ich fühlte mich so geborgen.« Während Maryam sprach, wölbte sich über ihrem Kopf eine magische Glocke der Verklärung. »Niemand hatte mehr Angst oder Schuldgefühle. Und so kam es eben, dass ich eines Nachts auf dem Tahrir-Platz …«
»Nein, oder?«, rief Amira, die sofort wieder Feuer gefangen hatte, nun, da es schlüpfrig zu werden versprach.
»Oh doch«, sagte Maryam und nickte einige Male versonnen.
»Im Zelt, oder was?«, entfuhr es mir, als hätte ich selbst bereits einschlägige Erfahrungen in dieser Hinsicht gesammelt. So eine Verrücktheit hätte ich Maryam niemals zugetraut – ihr, die selbst splitternackt noch aussehen musste wie ein Junge.
Amira gab sich betont ahnungslos. »Und, war’s gut?«
So viel Indiskretion ging Maryam nun doch zu weit, und sie antwortete mit einem gequälten Lachen.
Diesmal schwang ich mich zur Florence Nightingale auf. »Wisst ihr, was? Vor ein paar Jahren habe ich mal für einige Zeit in Beirut gelebt. Meine Mutter macht sich immer alle möglichen Sorgen, und neugierig ist sie auch. Irgendwann besuche ich sie, und wir unterhalten uns in der Küche. Da stellt sie mir Fragen wie: ›Was machst du eigentlich bei denen? Ich meine, wie sind die Araber so? Sind die nicht furchtbar religiös?‹ Wenn es um Araber geht, denken Türken nämlich immer gleich an Saudis oder Schwarzafrikaner.«
»Wieso denn das?«, wunderte sich Maryam.
»Ist halt so. Na ja, jedenfalls sage ich zu meiner Mutter: ›Weißt du, Mama, in Beirut ist es eigentlich ganz ähnlich wie hier. Die Araber sind gar nicht so. Auf Arabisch betet man nicht nur, man liebt sich auch, macht Politik und so weiter.‹ Ich schildere ihr die politische Lage, umreiße die Geschichte der Arabischen Linken seit den Sechzigerjahren et cetera, da kommt mein Vater rein, Sonnenblumenkerne knabbernd, und sagt: ›Klar, Schatz, es gibt auch moderne Araber!‹«
Da fingen sie an zu lachen. Und als ich hinzufügte: »Ihr seid mir auch zwei ziemlich moderne Araberinnen!«, lachten beide noch mehr. Trotz aller aufgesetzten Härte und Lässigkeit sehnten sich die beiden im Grunde genommen wohl doch nach Harmonie.
Plötzlich streckte Amira ihren Kopf in die Luft wie ein in Habtachtstellung gehendes Erdmännchen. »He! Wartet mal! Was ist denn das?!«
Wir hielten den Atem an. Die Hochzeit war zu Ende, und alles schien still, da lauschte Amira, als habe sie ein Geräusch vernommen. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, woher es kam, trugen ihre Schlappen sie jedoch nicht etwa zu der Seite, wo die Hochzeit stattgefunden hatte, sondern in genau die entgegengesetzte Richtung. Wir auf Pantoffelspitzen hinterher. Sie beugte sich über die Brüstung zur Terrasse eines Hauses hinab, das links an das Hotel angrenzte. »Ja, da ist es.«
Wir sahen die Hand einer alten Frau, einen schweren Rubinring am Finger, wie sie nach einem Glas Wein griff. Daneben spielte ein Grammophon Sirat al Hob von der ägyptischen Sängerin Umm Kulthum. Nach jedem Schluck ließ die Hand das Glas langsam und zitternd auf die Tischplatte zurücksinken, wo sie es umklammert hielt und mit dem Ring schwerfällig den Rhythmus gegen das Glas klopfte.
Amira übersetzte den Liedtext ins Englische, als zergingen ihr die Worte wie Marzipan auf der Zunge.
»Ich habe viele Liebende gesehen … Sie klagten und litten Qualen … Sie taten mir leid … Ich fürchtete die Liebe, wollte mein Herz vor ihren Qualen schützen … Doch dann kamst du …«
Durch den Spalt war allein diese Hand zu sehen, einschließlich der rot lackierten Fingernägel. Bei jedem »Doch dann kamst du« verharrte der rubingeschmückte Finger am Glas. So schauten wir von einem schwarzen Quadrat des Altstadtkreuzworträtsels ins andere, während Amira weiter übersetzte:
»Viele Augen flirteten mit mir, doch sie ließen mich kalt … Nur deine Augen, nur sie hielten mich fest … Und ich liebte zum ersten Mal …«
Mit einem Mal unterbrach sich Amira und seufzte aus tiefstem Herzen. »Ach ja, Umm Kulthum … Wen hat die Frau nicht alles zugrunde gerichtet. Am meisten Mitleid habe ich mit Asmahan. Was für eine Frau! Zu schön, um respektiert zu werden. Zu zerbrechlich, um gegen dieses Mannweib von Umm Kulthum anzukommen.«
Maryam beobachtete die Hochzeitsgäste, die nun allmählich auseinandergingen. Während sie den Frauen dabei zuschaute, wie sie theatralisch voneinander Abschied nahmen und wie die Hühner durcheinander wuselten, entgegnete sie: »Umm Kulthum hatte doch keine andere Wahl. Sie wurde ja fast dazu gezwungen, sich wie ein Mann zu benehmen.«
»Ich hasse Umm Kulthum!«, stieß Amira hervor, doch irgendwie hatte ich den Eindruck, dass sie eigentlich jemand ganz anderen meinte.
Maryam aber nahm keinerlei Rücksicht darauf, dass Amira so plötzlich ihr Herz geöffnet hatte, und lachte: »In Ägypten gab es mal einen Imam, der Umm Kulthum allen Ernstes dafür verantwortlich machen wollte, dass Ägypten den Sechstagekrieg verloren hatte. ›Wie soll man einen Krieg gewinnen, wenn sie mit ihren Liedern unsere Männer verweichlicht!‹ Als könnte Umm Kulthums tiefe Stimme irgendjemanden verweichlichen!«
Jetzt lachte auch ich, und Amiras Stimme wechselte die Tonlage – an die Stelle der vom Schicksal gebeutelten Frau trat das missachtete Kleinkind. »Also ich bin auf der Seite von Asmahan … ich meine, ich finde sie toll. Wieso sollten immer alle für die Gewinnerin sein?«
Maryam setzte ein gezwungenes Lächeln auf. »Glaubst du etwa, Mannweiber wären die Gewinnerinnen, Süße?«
Das Lied und unsere Unterhaltung waren verklungen, und wir hörten die Wolken am Mond vorüberziehen. So hätte die Nacht enden können, denn auch der Whisky war alle. Da fasste sich Maryam plötzlich ein Herz und rief über die Mauer hinweg: »He, Madame! Ich wünsche einen guten Abend! Wohl bekomm’s!«
Die Hand griff irritiert nach dem Glas. Sie dachte nach, die Hand, wunderte sich, sah sich um. Dann neigte sich das Gesicht zur Hand hinab, um nachzusehen, was das für eine Stimme war, die die Hand von weitem gehört hatte. Und endlich sah sie uns. Die Oberkörper dreier Frauen in weißen Nachthemden, in den Händen drei leere Gläser. Sie richtete sich auf, so langsam, als hätte sie noch drei Leben. Möglich, dass sie lächelte, aber ihr Gesicht war so voller Runzeln, dass man es nicht mit Bestimmtheit sagen konnte. Sie erhob ihr Glas in unsere Richtung. Wir prosteten zurück. Winkend grüßten wir die alte Frau mit der ganzen Herzlichkeit betrunkener Menschen. Auf La Strada-Art. Dann bedeutete sie uns mit zitternder Hand: »Einen Moment. Einen Moment bitte …«, und legte eine Platte auf. Wir ahnten, worauf sie hinauswollte. Wir ahnten, dass ihr der Gedanke zu einem ebenso schwermütigen wie subtilen Scherz gekommen war, den nur Eingeweihte würden verstehen können. Das Lied begann, und wir hörten Warda singen:
Ach ja, die Zeit … So lang ist die Liebe schon fort!
Wir lachten. Um ihr klarzumachen, dass wir ihren Scherz verstanden hatten, lachten wir aus vollem Halse.
So also fing alles an. Vier Frauen waren wir. Vier Frauen, die sich langsam aneinander herantasteten und die nirgendwo Zuflucht suchen konnten als in dieser Geschichte. Vier Frauen, die sich für drei Frauen hielten. Wir wussten weder, dass wir die Lösung für unsere Probleme in uns selbst trugen, noch, dass wir gemeinsam jenes Heilmittel entdecken sollten, mit dem sich die Menschheit vom Bösen kurieren ließe. Die seltsamen Ereignisse, von denen im Folgenden berichtet werden soll, liefen genau so ab, wie ich sie schildern werde. Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich manchmal sogar selbst Mühe habe, das alles zu glauben.
Mechmoum: Jasminsträußchen
Ein zerrissener Engelsflügel aus Tüll in der einen Hand, ein mit weiß-rosa Federn geschmückter Zauberstab in der anderen. Ich fuchtele mit dem Stab in der Luft herum und brülle die schwarz verschleierte Frau an: »Sag mal, hast du sie noch alle! Was fällt dir ein, dein eigenes Kind zu schlagen?!«
Dann wende ich mich Amira und Maryam zu und deute mit dem Zauberstab auf die Stacheldrahtbarrikade. »Hat in diesem Land etwa keine Revolution stattgefunden? Kein Arabischer Frühling? Wozu der Stacheldraht! Wer wird hier eigentlich vor wem geschützt?«
Amira und Maryam bemühen sich um ernste Gesichter. Die Ladenbesitzer dagegen und die Soldaten, die hinter der Barrikade stehen und den Regierungspalast bewachen, sind längst in schallendes Gelächter ausgebrochen. Und während das einflügelige Mädchen an meinem Bein zerrt und heult, keift seine Mutter mich in tunesischem Dialekt an, wovon ich kein Wort verstehe. Die Lage ist heikel. Mir bleibt keine andere Wahl, als auf meinem Standpunkt zu beharren.
»Die Frage war ernst gemeint, Amira! Gab es hier eine Revolution oder nicht?!«
Noch reichlich verschlafen und in der Hoffnung auf eine Tasse Kaffee waren Amira, Maryam und ich an den Platz gekommen, wo das Gassengewirr der Altstadt seinen Ausgang nimmt. An den Kasbah-Platz, wo die berühmte Revolution stattgefunden hatte. Der Regierungspalast war von einer Stacheldrahtbarrikade umgeben. Doch während wir eben noch verträumt dort entlangschlenderten, fanden wir uns schon wenig später in folgender Situation wieder:
»Moment, wir versuchen es so«, sagte ich und drehte das kleine Mädchen, dessen Engelsflügel sich im Stacheldraht verfangen hatten, auf die andere Seite. Doch kaum hatte sich das Mädchen bewegt, verhedderten sich die Flügel weiter im Drahtgeflecht. Ich warf einen Blick zu seiner Mutter hinüber: Die Frau wirkte völlig überfordert. Sie war so sehr damit beschäftigt, ihr eigenes Gewand zu ordnen und dafür zu sorgen, dass sich ihr Kopftuch nicht löste, dass sie sich um die Flügel ihrer Tochter nicht kümmern konnte. Die Flügel rissen, das Mädchen weinte. Je mehr sie weinte, desto tiefer rutschte ihr der silbern schimmernde, gefiederte Heiligenschein in die Stirn, die Federn stachen ihr in die Augen, und sie schluchzte immer heftiger. Dann fing sie an, mir mit dem Zauberstab auf den Rücken zu schlagen. Der Stab war eher ein Stäbchen – unmöglich, damit jemandem wehzutun. Die Mutter aber wurde von erzieherischem Ehrgeiz gepackt und gab ihrer Tochter eine schallende Ohrfeige. Inzwischen hatte sich auch mein Halstuch im Stacheldraht verhakt, sodass der Knoten mir die Kehle zuzuschnüren drohte. Zu guter Letzt verfing sich auch der Saum des mütterlichen Ganzkörpergewands noch im Draht, und so saßen wir – zwei Frauen und ein Engel – kreischend um uns schlagend alle miteinander in der Falle. Als Maryam und Amira endlich durch die Dunstwolke morgendlicher Verschlafenheit hindurchgefunden hatten und uns zu Hilfe eilten, war ich längst so wütend geworden, dass ich die Mutter anbrüllte: »Sag mal, hast du sie noch alle! Was fällt dir ein, dein eigenes Kind zu schlagen?!«
Wir mussten aussehen wie drei im Fischernetz zappelnde Seeigel. Die Händler jedenfalls und die Soldaten vor dem Regierungspalast amüsierten sich köstlich über das Spektakel, das ihnen da geboten wurde.
In diesem Augenblick griff ich mir den Zauberstab des Mädchens, fuchtelte damit in der Luft herum und schrie: »Hat in diesem Land etwa keine Revolution stattgefunden? Kein Arabischer Frühling?«
Während Maryam vorsichtig an meinem Arm herumzupfte, redete Amira auf die Mutter ein und bekam dafür einige schnippische Antworten zu hören. Die Soldaten hielten sich die Bäuche vor Lachen. Maryam nahm mir eilig den Zauberstab ab und gab ihn dem einflügeligen Mädchen zurück. Die Mutter schrie uns etwas hinterher, doch Amira brüllte noch lauter zurück. So tauchten wir schlecht gelaunt in die Altstadtgassen ein. Game over stand auf den T-Shirts, die die amüsierten Ladenbesitzer als Revolutionsandenken verkauften.
Amira reckte einen Arm gen Himmel und rief aus vollem Halse: »Man sollte Patrouillen bilden, die sich um solche Leute kümmern! Dann würde nicht lange gefackelt, wenn jemand sein Kind so behandelt! ›Vielen Dank für alles, was Sie bisher getan haben. Ab jetzt übernehmen wir‹, hieße es dann, und weg wäre das Kind! Zu irgendwas muss die Revolution doch gut sein!«
Maryam nuschelte nur etwas wie: »Es war der Frau eben peinlich, als die Leute plötzlich alle gelacht haben …«
Ich – noch immer auf Konfrontationskurs – wickelte mir meinen zerrissenen Schal um den Hals und sagte: »Ich kapiere wirklich nicht, wofür der Stacheldraht gut ist. Das ist doch der Kasbah-Platz! Hier hat doch die Revolution stattgefunden! Wovor muss sich der Staat denn jetzt noch schützen?«
»Ist halt so«, erwiderte Amira schicksalsergeben. Das war’s an frühmorgendlicher Analyse.
Im Gänsemarsch, den Blick stets auf Amiras Füße gerichtet, drängelten wir uns durch das Gassengewirr der Altstadt, bis wir bei einem Café ankamen. Immer noch erregt über das, was ich kurz zuvor erlebt hatte, kam mir die Bestellung vielleicht etwas zu schroff über die Lippen: »Drei Kaffee!«
»Lavazza oder normal?«, fragte der Kellner so gelassen zurück, als könne ihn selbst ein Weltuntergang nicht aus der Ruhe bringen.
»Normal«, erwiderte ich, was auch immer das bedeuten mochte. Er aber, der offenbar keine Ahnung davon hatte, was es heißt, sich kurz zu fassen, fragte weiter: »Express? American?«
Allmählich bekam ich den Eindruck, dass der Kerl sich über mich lustig machen wollte. »Express!«, entgegnete ich ungeduldig und konnte mir nicht verkneifen, hinzuzufügen: »Und zwar Orient-Express, Habibi!«
Amira musste lachen, fasste mich am Arm und flüsterte mir ins Ohr: »Wir sind hier nicht in Beirut, Fräulein. Sag bitte nicht Habibi zu den Männern!«
Jetzt lachte auch Maryam, und unser Ärger legte sich ein wenig. Wobei der »Express« selbstredend auf sich warten ließ und der Kellner nur argwöhnisch zu uns herüberschielte.
Das Café hatte etwas Höhlenartiges. Aber es war das einzige hier, in dem auch Frauen saßen. »Dieser Kellner kann einem ganz schön auf die Nerven gehen«, sagte ich. Woraufhin Amira einen zuckersüßen Seufzer ausstieß, sich Luft zufächelte, eine kerzengerade Haltung annahm, die Brust herausstreckte und den Kellner mit einem sanften Lächeln bedachte. Maryam war Amiras Getue sichtlich unangenehm. Sie putzte sich demonstrativ die Nase, lehnte sich zurück, zog die Hosenbeine hoch und wippte nervös mit dem Fuß. Doch dank Amiras Lächeln traf der Orient-Express jetzt umgehend ein. Mit dem ersten Schluck Kaffee begann endlich auch mein Gehirn wieder zu funktionieren. Erstens: Wie bereits vermutet, hätte ich nachts bloß in die entgegengesetzte Richtung laufen müssen, um direkt ins Stadtzentrum zu kommen. Zweitens: Nicht nur Amira und Maryam, die ich vergangene Nacht im Schein der Feuerwerkskörper nur bruchstückhaft zu Gesicht bekommen hatte, waren bei Tageslicht deutlicher zu erkennen – auch ihr Verhältnis zueinander erschien mir jetzt viel klarer.
Amiras Körper hatte schwer an ihren vollen Brüsten zu tragen. Ihr Gesicht, das fortwährend lächelte, wurde fast komplett von ihren schwarzen Augen ausgefüllt. Die schmalen Augenbrauen, wie von einem Künstler mit raschem Pinselstrich hingeworfen, hoben sich klar von ihrer makellosen, milchschokoladigen Haut ab. Die rätselhafte Koketterie kleiner Frauen verwandelte ihren Körper in ein einziges quirliges Energiebündel – als könnte sie jeden Moment aufspringen und loslaufen. So zwang sie ihre Umwelt, ständig auf der Hut zu sein.
Maryams Körper dagegen war lang und flach. Engmaschig und hart wie Beton. Ihr Gesicht war ebenmäßig, doch lag ein Ausdruck darin, als hinge ein »Geschlossen«-Schild an ihrer Stirn, das sie niemals herunternahm. Es war mir ein Rätsel, ob sie deshalb so wenig weiblich wirkte, weil sie in diesem Körper zur Welt gekommen war, oder ob ihr Körper sich nach ihrem Selbstbild geformt hatte. Wenn sie einen anschaute, dann meist mit zusammengekniffenen Augen. Dabei hoben sich jedes Mal Nase und Kinn. Aber sie strahlte auch etwas Zärtliches aus und hatte eine fürsorgliche Ader, die meist völlig unerwartet zutage trat und weniger mir als vielmehr Amira galt. Jetzt zum Beispiel, wo sie gerade einen der großen Zuckerwürfel, die mit dem Kaffee gekommen waren, in Stücke brach, eines davon in Amiras Tasse gleiten ließ und umrührte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es waren Kleinigkeiten wie diese, die mir ihre Beziehung zueinander offenbarten. Sie zelebrierten ihr Wechselspiel vor meinen Augen: Als Amira etwa den Löffel aus ihrem Kaffee zog, ihn in Maryams Tasse steckte und fragte: »Soll ich deinen auch umrühren?« Oder als Maryam Amiras Zigarette anstecken wollte, und Amira sagte: »Zünd dir ruhig erst deine an.« Als Maryam sich vergewisserte, dass Amiras Handtasche sicher verstaut war, und Amira sie aufforderte: »Stell sie doch da hinten hin«, als wären sie seit Jahren aufeinander eingespielt. Oder als der Kellner unter dem Vorwand, den Aschenbecher leeren zu wollen, Amira so nahe kam, dass Maryam ihm den Aschenbecher brüsk entgegenstreckte und bemerkte: »Von hier aus geht’s besser!«
So bestärkten sie sich gegenseitig in den Rollen, in denen sie sich wohlfühlten. Zwei, die sich nacheinander in der schwankenden Gondel eines Riesenrads niederließen, wobei die eine jede Bewegung der anderen kopierte. Bevor das Riesenrad sich zu drehen begann, versuchten sie mit kleinen Gewichtsverlagerungen die Balance zu halten. Normalerweise ertrage ich es nicht, etwas länger zu beobachten: weder das Weltgeschehen noch den Arabischen Frühling, und die Politik meines Heimatlandes schon gar nicht – diesen beiden Frauen aber hätte ich stundenlang dabei zuschauen mögen, wie sie sich immer weiter ineinander verflochten.
Geraume Zeit später dann – wir saßen noch lange dort – hielt mir ein weiß gewandeter Blumenverkäufer seine Jasminsträußchen unter die Nase. »Mechmoum! Mechmoum!« Selbst Amira gelang es nicht, ihn abzuwimmeln. Immer wieder stupste er mich an, um eines seiner Sträußchen loszuwerden, die in einem riesigen grünen Kürbis steckten, und machte dazu sein Verkäufergesicht – so vertrauenerweckend, mitleiderregend und freundlich wie möglich. »Dann gib ihm halt einen Dinar«, seufzte Amira. Ich tat es und war ihn los.
Als ich mir das Sträußchen hinters Ohr steckte, so wie ich es bei dem Verkäufer gesehen hatte, lachte Amira. »Das machen nur Männer. Bei Frauen bedeutet es, dass sie leicht zu haben sind.«
»Ojemine!«, sagte ich und legte das Sträußchen auf den Tisch. Maryam griff danach, drehte es zwischen den Fingern hin und her und blickte Amira an. Dann steckte sie es sich hinters Ohr – kein leichtes Mädchen, nein, ein ganzer Kerl. Sie warf uns ein verführerisches Lächeln zu.
Der Jasminverkäufer – offenbar war er Stammkunde des Cafés – setzte unterdessen seinen Fes ab, den er ohnehin nur für Touristen trug, warf seine Sandalen vor die Tür und setzte sich, wobei er seine breiten, schwieligen Füße auf die Straße streckte. Sein Kaffee kam auf der Stelle. Weder Amira noch Maryam konnten das sehen, eine Säule in der Mitte des Raums nahm ihnen die Sicht. Mit dem Fes war auch der heiter-folkloristische Ausdruck aus seinem Gesicht verschwunden, das jetzt nur noch griesgrämig vor sich hin schaute.
Zwei Kinder machten vor ihm halt. Beide hatten ihre Hände in den Taschen vergraben. Der Junge sah aus wie zehn, seine ältere Schwester hinter ihm war höchstens zwölf. Zwei Tagelöhner mit knurrenden Mägen. Hatten sie gestern noch Arbeit gehabt, so war sie heute weg, aber Geld musste trotzdem ins Haus. Sie tuschelten kurz miteinander. Dann setzte der Junge seinem Kindergesicht die ernste Miene eines Erwachsenen auf und schritt auf den Jasminverkäufer zu. Der wollte mit diesen beiden Fliegengewichten des freien Marktes nichts zu tun haben, und um sie loszuwerden, richtete er seinen Blick in die Ferne. »Für wie viel verkaufst du die?«, fragte der Junge in beeindruckend geschäftsmäßigem Ton. Der Alte würdigte ihn keines Blickes. Der Junge schaute sich zu seiner Schwester um. Die erinnerte ihn mit eindringlicher Miene an ihre prekäre Lage. Also warf sich der Junge in die Brust und machte ein grimmiges Gesicht, so wie er es von seinem Vater gelernt hatte, von dem er wusste, dass er ein ganzer Mann war.
»Für wie viel du die verkaufst!«
Nach langem Schweigen ließ sich der Verkäufer zu einer Antwort herab: »Für einen Dinar.« Wie ein Funker, der an der Front die richtige Frequenz erwischt hat, schob der Junge, ohne Atem zu holen, seine zweite Frage hinterher: »Und wie viel bezahlst du?«
Aber der Verkäufer wollte keinen zusätzlichen Konkurrenten, denn nichts anderes war der Junge für ihn. Wenn auch einer, vor dem er keine Angst zu haben brauchte. An dem er schamlos seine Wut auf so viele andere auslassen konnte. Die Zurückweisung hatte das Gesicht des Jungen noch erwachsener gemacht. »Kaufst du sie bei den Blumenhändlern am Bahnhof?«
Plötzlich versetzte der Verkäufer dem Jungen einen Tritt. Mitten in den Bauch. Doch niemand sah sich genötigt einzuschreiten. »Der Typ hat das Kind getreten!«, sagte ich zu Maryam und Amira. Maryam sprang sofort auf, Amira drehte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf ihrem Sitz herum. Sie hatten es nicht gesehen, noch immer war ihnen die Säule im Weg. Der Alte wirkte so gelassen wie eine Kuh, die ein paar Fliegen verscheucht hat. Dem Jungen stieg die Zornesröte ins Gesicht. Seine Schwester half ihm auf, bevor noch jemand über ihn stolperte. Dann suchten sie das Weite. Der Verkäufer ordnete kopfschüttelnd die Sträußchen auf dem Kürbis. In diesem Kopfschütteln war der kleine Junge zu erkennen, der früher selbst geschlagen worden war und jetzt mit Recht zurückschlug. So verzieh er sich selbst sein brutales Verhalten, wie alle brutalen Menschen es tun.
Maryam, Amira und ich sahen einander nicht an. Schlecht gelaunt blickten wir in unterschiedliche Richtungen und zogen heftig an unseren Zigaretten. »Was ist das heute bloß für ein Tag?«, fragte ich.
Maryam hatte die passende Antwort schon parat: »Der Nationalfeiertag zur Qual des tunesischen Kindes!«
»Mir ist hier zu dicke Luft. Lasst uns zahlen«, sagte ich. Während Amira aufstand, hatte Maryam sich um alles schon gekümmert. Die Rechnung kam sofort – Express! Ich stopfte meinen Mechmoum demonstrativ zurück in den Kürbis des Jasminverkäufers. Wie nicht anders zu erwarten, brach damit für ihn nicht die Welt zusammen. Maryam und Amira funkelten ihn – in synchronisierter Kameradschaft – böse an und zischten: »Schäm dich!« In einiger Entfernung gewahrte ich den Jungen, der uns bei unserer kleinen Racheaktion beobachtet hatte. Er schaute noch eine Sekunde zu uns herüber, dann rannte er los und verschwand in der Menge.
Von Platzangst gequält, quetschten wir uns durch die Menschenmenge in den Gassen, bis wir das Bab El Bhar erreichten, das Tor am anderen Ende der Altstadt. Unter seinem Bogen, am Anfang der breiten und übermäßig sonnenbeschienenen Avenue Habib Bourguiba, die ins Zentrum der Neustadt führt, blieben wir stehen. Vor dem Tor ein Meer von Menschen, gleißendes Licht, Streit. »Ich habe noch etwas zu erledigen«, sagte Maryam mit Unbehagen in der Stimme. »Wir sehen uns dann wohl heute Abend im Hotel.« Und Amira setzte hinzu: »Ich auch. Bis später dann.« Ich hatte nichts zu erledigen, deswegen war ich ja hier, also sagte ich nichts. Die beiden verschwanden in unterschiedlichen Richtungen in der Menge, während ich wieder in die Gassen der Altstadt eintauchte, um zum Hotel zurückzukehren.
Wie ich mich so im Zeitlupentempo durch einen Film im Schnellvorlauf bewegte, sah ich mich plötzlich den beiden Geschwistern von vorhin gegenüber. Sie hüpften direkt vor mir auf und ab wie zwei Mandarinen in den Rocktaschen einer jungen Frau, die einen Abhang hinunterrennt. Mir musste die Barmherzigkeit wohl ins Gesicht geschrieben stehen. Das Mädchen streckte mir drei Fatimahände entgegen. Offenbar hatten sich die beiden, nachdem aus dem Jasmingeschäft nichts geworden war, nun auf den Verkauf von Glücksbringern verlegt. Ich kaufte alle drei. Bei meiner Rückkehr nach Istanbul, so ging es mir durch den Kopf, würde ich sie Ayșe, Aylin und Çiğdem schenken. Geistesabwesend drückte ich dem Mädchen einen aberwitzig hohen Betrag in die Hand. Offenbar war es so viel, dass der Junge das Gefühl hatte, mir etwas schuldig zu sein. »Was machst du in Tunis?«, fragte er mich. »Bist du Journalistin?«
»Nein«, sagte ich.
»Warum bist du dann hier?«
»Weil das Land, aus dem ich komme, auch kein Herz für Kinder hat.«
Seine Schwester zupfte ihn am Ärmel, und so schnell, wie sie gekommen waren, verschwanden sie wieder in den düsteren Gassen des Basars.
Ich wollte gerade das Hotel betreten, da machten sich zwei Straßenhunde direkt vor mir bereit, aufeinander loszugehen: Sie knurrten und fletschten die Zähne. Doch noch ehe einer dem anderen an die Kehle springen konnte, ließen sie ganz unvermittelt wieder voneinander ab. Als wäre ihnen plötzlich die ganze Sinnlosigkeit ihres Tuns bewusst geworden, gingen sie in unterschiedliche Richtungen auseinander. Ich blieb noch ein wenig stehen, sah ihnen nach und spürte dabei die tiefe Erleichterung einer vermiedenen Konfrontation. Schließlich war ich hierhergekommen, um mich der politischen Schlammschlacht zu entziehen, die mich den Job gekostet hatte, und hatte mich in meinem Schneckenhaus verkrochen. So zog ich mich in diesem Land, das ich kaum kannte und das mich eigentlich auch gar nicht interessierte, in mein Hotelzimmer zurück. Gedächtnislos wie ein Straßenhund, der einem Kampf noch einmal aus dem Weg gegangen ist.
Als ich in mein Zimmer kam, entdeckte ich auf dem Fußboden einen intensiv nach Jasmin duftenden Briefumschlag. Ich öffnete ihn und sah hinein: eine Einladung. Noch konnte ich nicht wissen, dass diese Einladung nicht allein mir, sondern uns allen dreien die Möglichkeit eröffnen würde, einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen und ins Unbekannte aufzubrechen. Dabei hätte der Jasminduft mir zumindest eine Ahnung davon geben sollen, auf welches Abenteuer wir uns einließen. Aber wenn ich Ihnen jetzt davon erzähle, werden Sie mir recht geben, dass die Dinge sich nicht unbedingt so entwickelten, dass wir sie hätten vorhersehen können.
»Es ist Nacht. Überall Bäume, ein Wald oder so. Man sieht die Füße einer rennenden Frau. Einer Frau in den besten Jahren – meine Füße also. Die Frau flieht. Man hört ihren keuchenden Atem. Neben ihr läuft jemand anderes, ohne dass man wüsste, wer es ist. Gemeinsam sind sie auf der Flucht. Ab und zu blickt die Frau sich um. Hinter ihr johlendes Geschrei. Eine Menschenmenge ist ihr auf den Fersen. Die Frau rennt weiter. Sie rennt und rennt. Dann – wieder ihre Füße – bleibt sie plötzlich stehen. Keuchen. Die Kamera fährt ein wenig zurück … eine Mauer! Die Kamera gleitet langsam höher. Die Frau sitzt in der Falle. Es gibt kein Entkommen. Man sieht, wie sie sich langsam zu ihren Verfolgern umdreht. Die Kamera ist jetzt hoch über ihr. Sie zeigt die Frau von hinten. Die Menschen kommen näher und immer näher. Dann bleiben sie stehen. Während die Kamera hochfährt: metallische Geräusche. Klack, klack, klack … Die Menschen haben die Frau eingekreist und entsichern ihre Waffen. Sie zielen. Langsam fährt die Kamera weiter nach oben. Immer noch sieht man die Frau von hinten, jetzt aber kommen auch ihre beiden Begleiter ins Bild: ein Bärenjunges und ein Pelikan!
Man sieht das Gesicht der Frau. Sie schwitzt, keucht, blickt gehetzt um sich. Während sie langsam die Hände in die Luft nimmt, hört man eine Stimme aus dem Off:
›Ich bin mir sicher: Ihre Geschichte ist interessanter als meine. Aber jetzt bin ich dran mit Erzählen!‹«
Madame Lilla hält kurz inne, reißt die Augen auf, als wäre sie mindestens fünfzig Jahre jünger, und fragt: »Und? Spannend?«
Maryam, Amira und ich sitzen mit weit aufgesperrten Mündern um den Tisch herum, und unsere schockierten Gesichter könnten noch stundenlang im gleichen Zustand verharren.
Madame Lilla bricht in schepperndes Gelächter aus. Sie lacht, solange uns die Münder offen stehen, und die stehen offen, solange sie lacht. So ist das, als wir – Amira, Maryam und ich – die grandiose und unvergleichliche Madame Lilla kennenlernen.
Die Besitzerin jener Hand, die in der Nacht zuvor alleine Wein getrunken und Umm Kulthum gehört hat – jene geschätzte Madame Lilla eben –, hat uns dermaßen verblüfft, dass wir der irrigen Vorstellung erliegen, sie könnte uns nicht noch mehr in Erstaunen versetzen. Zwar haben die nach Jasmin duftenden Einladungskarten, die wir alle drei in unseren Hotelzimmern vorfanden, unser Interesse geweckt, aber dass wir es mit einem so schillernden Wunderland in Menschengestalt zu tun bekämen, damit hat keine von uns gerechnet.
»Ich gehe nirgendwohin«, sagte Amira, die Einladung in der Hand. Wir hatten uns gegen Abend auf der Terrasse, auf der wir uns eine Nacht zuvor erstmals begegnet waren, wiedergetroffen und zusammengesetzt. Amiras Augen waren verquollen, angeblich von der hohen Luftfeuchtigkeit. Ich hakte nicht weiter nach. Irgendwann würde sie schon von sich aus erzählen. »Was ist das eigentlich für eine Einladung?«, fragte ich. »Kapierst du das?«
Ich wäre überglücklich, wenn die reizenden Damen mich heute Abend in meiner Residenz beehrten.
Menü:
In Jasminextrakt marinierter Minztruthahn
In Mandarinenjus gegartes Mandelrisotto mit Pflaumen
Thymiansalat mit Äpfeln und Sumach
Als Dessert Grießhalva mit Harz und Korinthen
Zum Essen wird hausgemachter Rosenwein gereicht.
»Vor allem frage ich mich, wie in Mandarinenjus gegartes Risotto schmeckt.«
»Ja, das ist auch so ziemlich das Einzige, worauf ich gespannt bin«, feixte Amira.
Da sie wieder lachen konnte, meinte ich einwerfen zu dürfen: »Du warst nicht zufälligerweise zu Hause?«
Sogleich vergrub sie ihr Gesicht in ihren Händen.
»Soll ich uns ein Bier bestellen?«, fragte ich. Ihr Gesicht war nicht zu sehen, aber ihre Haare nickten. Bis das Bier kam, war die Sonne noch ein wenig tiefer gesunken. Der Himmel spielte ins Neonfarbene. Das Weiß der Terrasse, das den ganzen Tag über in die Sonne geblinzelt hatte, schlug langsam die Augen auf. Mit schwankendem Tablett und gut gelauntem Grinsen erschien Kamal, eine Art Mädchen für alles im Hotel, doch als er die melancholische Stimmung spürte, verschwand er wieder von der Bildfläche. Während ich uns einschenkte, war Amira offenbar gerade am wichtigsten Punkt eines inneren Monologs angekommen.
»Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann!«
»Ah! Emma Goldman!«
»Hä?«
»Das ist doch ein Zitat von Emma Goldman. Amerikanische Anarchistin. Zwanziger Jahre …«
»Die kenne ich nicht. Ich rede mit dir. Ich meine, ich sage das! Ich spreche von Respekt. Verstehst du? Ich werde nicht respektiert. Dabei dachte ich, dass …«
»Dass sich nach der Revolution etwas ändert?«
»Ach was, Revolution! Als mein Vater starb … na ja, da dachte ich eben, es ist endlich Schluss mit dem Familienterror.«
Sie war wütend. Auch auf mich. Ich verstand zwar nicht, wieso, aber sie platzte geradezu vor Wut, und es war ihr bitterernst. Jetzt fing sie auch noch an zu weinen. Als sie sich wieder im Griff hatte, fuhr sie fort: »Ich konnte es euch gestern noch nicht sagen, aber ich bin Tänzerin.«
»Echt? Das ist doch toll!«
»Von wegen toll! Außerdem bin ich Journalistin. So eine Art jedenfalls. Bloggerin eben.«
»Ist das dein Ernst?«
»Bis unser Diktator Ben Ali endlich zurückgetreten ist, zu einer Zeit, als überall noch Zensur herrschte und so, haben ein paar Tunesier im Ausland jede Menge Arbeit geleistet. Ich habe auch meinen Teil dazu beigetragen. Wir haben halt staatliche Websites gehackt, und was weiß ich. Und dann …«
»He, Moment mal! Ihr habt was getan?«
Sie warf mir einen unwilligen Blick zu.