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Axel Hacke

Der kleine Erziehungsberater

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Mit Bildern von Michael Sowa

Verlag Antje Kunstmann

Inhalt

Erste Vorbemerkung   5

Zweite Vorbemerkung   7

Holmsen   8

Gute Nacht   10

Nervensache   12

Am Familientisch   15

»Du kennst mich nicht!«   17

Ursuppe aus Legosteinen   18

Alles vergeblich   20

Liebesspiele   22

Das UFO-Kid   25

Babysitter   27

Kostverächter   30

Limonade literweise   32

Die Kunst der Lyrik   34

Loslassen, gefälligst!   36

Schnullereien   39

Hexenkummer   41

Heißer Draht   44

Sprachgewalt   48

Entwicklungshilfe   51

Allerhand Gewürm   53

Urlaubsreisen   55

Ekelschleim   58

Genesis   60

Karius & Baktus   62

Tödliche Doris   64

Bittere Semmeln   67

Affe tot   70

Sieben Geld   74

Schöne Tage   76

Autoritätsverluste   78

Meakuhkuh   80

Kriegstreiber   82

Liebesbriefe   85

Aufgelöst   88

Erste Vorbemerkung

Sicher wollen Sie wissen, wie ich Erziehungsberater wurde. Passen Sie auf, das kam so: Eines Morgens wachte ich auf, betrachtete müde meine rot-weiß karierte Bettdecke und dachte: »…und wenn ich Dichter wäre?« Ich könnte einen Roman schreiben, dachte ich, 536 Seiten zu neunzehnneunzig, zehn Prozent für mich, das wären einsneunundneunzig abzüglich Mehrwertsteuer, und für einsneunzig bekommt man in mancher Kantine eine warme Mahlzeit. Ich könnte, wenn ich tausend Exemplare verkaufen würde, tausendmal warm essen und hätte noch Geld übrig. Ich klappte die Augen zu, drehte mich auf die Seite und wartete auf Gedanken.

Nach kurzer Zeit hörte ich eine feine Stimme. »Hallo«, flüsterte ich, »bist du die Inspiration?«

»Ich bin Max!«, sagte die Stimme laut, mit einem Anflug von Empörung. »Ach so«, sagte ich, »komm rein.« Die Stimme krabbelte in mein Bett.

Ein wenig später streifte ein Finger meinen linken Arm, der unter der Decke hervorguckte. »Ooooh«, seufzte ich, »du bist sicher eine gute Idee.«

»Ich bin Anne!«, sagte der Finger und kroch unter die Decke. Ich hörte leises Fußgetrappel auf dem Fußboden.

»Guten Morgen, Marie«, sagte ich. Gleich darauf war das Getrappel auf meinem Bauch, und ich machte: »Mmmmpff.«

So lagen wir da zu viert, drei kleine Kinder und ich, als ein schöner Gedanke daherflog, sich auf die Bettkante setzte und sagte: »Darf ich rein?«

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Ich sagte: »Sie sehen, was hier los ist, wo wollen Sie hin?«

»Aber ich bin ein schöner Gedanke«, sagte der schöne Gedanke, »Sie brauchen mich für den Roman.«

»So schön sind Sie auch nicht«, sagte ich, »kommen Sie morgen!«

»Püh!«, machte der schöne Gedanke, »das hab’ ich nicht nötig. Warum haben Sie so viele Kinder! Schreiben Sie über die!« Er lachte höhnisch und stand wieder auf. An der Tür drehte er sich um und rief: »Auf mich warten viele.«

»Auf mich auch«, antwortete ich leise, und dann standen wir auf und gingen Zähne putzen, und ich schrieb darüber eine Geschichte, und wir gingen Semmeln holen, und ich schrieb eine Geschichte, und dann räumten wir die Kinderzimmer auf, und ich schrieb eine Geschichte.

So wurde ich Erziehungsberater. Das Buch ist nicht 536 Seiten dick geworden, und wir können deshalb nicht 19,90 Euro dafür nehmen, sagt die Verlegerin. Also kaufen Sie zwei, damit ich mir eine warme Mahlzeit erlauben kann, besser noch drei oder vier. Ich habe Kinder zu versorgen, das wissen Sie ja nun!

Zweite Vorbemerkung

Als ich dies alles schrieb, zuerst übrigens für das Magazin der Süddeutschen Zeitung, lebten wir zusammen in einem Reihenhaus am Münchner Stadtrand: Antje, die ich bei der Erziehung unserer Kinder berate, Anne, Max, Marie und ich. Anne war sechs, Max fünf und Marie zwei. Das müssen Sie auch wissen, bevor Sie anfangen zu lesen.

Holmsen

Seit einigen Monaten sitzt morgens ein kleines Kind am Frühstückstisch, welches noch nicht allein essen kann, gelegentlich, insbesondere wenn man drei oder vier Gläschen Erdbeer in Apfelmus in seinen breiten, zahnlosen Mund hineingelöffelt hat, einen schwernassen Rülpser über den Tisch schickt, mit rudernden Armbewegungen Kaffeetassen vom Tisch fegt und karmesinroten Kopfes Windeln füllt, während die anderen Marmeladentoast essen.

»Du bist ekelhaft und bösartig«, sagt Antje leise. »Wie kannst du so widerwärtig über ein kleines Kind schreiben!?«

»Ich liebe alle Kinder. Aber ich liebe auch meinen Schlaf.«

»Schlaf?«, fragt Antje und wendet den Blick ihrer rotgeränderten Augen nach innen. »Was ist Schlaf?«

Ich gehe zum Regal und entnehme ihm ein Lexikon. »Schlaf, Johannes«, lese ich, »dt. Schriftsteller, geboren in Querfurt, 1882, gestorben 1941, auch in Querfurt. Hat mit A. Holz unter dem gemeinsamen Pseudonym Bjarne Peter Holmsen den konsequenten Naturalismus begründet. War nervenkrank, Aufenthalt in verschiedenen Heilanstalten.« Mit letzter Kraft versuche ich, das Lexikon ins Regal zurückzustellen.

»Nervenkrank, Heilanstalt«, wiederholt Antje, »holmsen, eine ganze Nacht lang holmsen, nicht aufwachen, 24 Stunden lang nichts hören und durchholmsen, nicht aufwachen.«

»Warumschläftdaskindnichtschläftnichtschläftnicht?« Schnuller aus dem Mund gefallen? Gier nach Fencheltee? Oder ist es hochintelligent? Hochintelligente Kinder schlafen besonders wenig, bloß zweidreiviertel Stunden pro Nacht, sie brauchen einfach nicht mehr, stand mal in der Zeitung. So machen sie ihre Eltern fertig. Ich bin blöd, ich muss viel schlafen: Antje ist auch blöd, muss auch viel schlafen. Wahrscheinlich weiß das Kind längst, dass es entsetzlich dumme Eltern hat, und quält sie nun in seiner Wut: Menschen immer wieder aufwecken, sobald sie gerade in Tiefschlaf gefallen sind und den ersten Traum träumen. Irgendwann wird man nie mehr schlafen können, es einfach verlernt haben. Oder, falls man schläft, Alpträume haben von ewiger Schlaflosigkeit.

Morgens beim Frühstück Streit mit Antje, wer noch müder ist. Ich: Bin um elf und um Mitternacht und um zwei und um drei aufgestanden, schrecklich. Sie: Ja, aber gehört hast du nicht, was um halb elf, halb zwölf, halb zwei, halb vier war. Noch viel schrecklicher! Ich (manchmal lüge ich und sage, ich hätte überhaupt nicht geschlafen, obwohl ich doch geschlafen habe, bloß um nicht so schlecht dazustehen): Aber ich hatte gestern so viel zu arbeiten und war deshalb schon vorher müde. Sie: Du verwirklichst dich den ganzen Tag selbst, während ich mich um Kinder kümmern muss, das macht noch viel müder. Ich: Selbstverwirklichen macht auch sehr müde, das unterschätzt du. Sie, höhnisch lächelnd: Wollen wir tauschen?

So beginnt der Tag. Mein Schlafdefizit liegt derzeit bei 421 Stunden. Plus drei Prozent Zinsen macht das ein Guthaben von 433,63 Stunden. Das schreibe ich mir auf, denn ich will alles wiederhaben, wenn der kleine süße Fratz im Kinderstühlchen groß ist.

Gute Nacht

Natürlich ist jeder gute Vater aufgerufen, seinen Kindern, vor denen er tagsüber in die Stille seines Büros geflüchtet ist, abends eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Es ist nur so: Sobald ich das Kinderzimmer betrete und mich bequem auf das Bett meiner Tochter lege, bin ich erheblich müder als alle Kinder der Familie zusammen. Die allerschönsten Gutenachtgeschichten verschwimmen vor meinen Augen, und ich könnte herrlich einschlafen.

Vor einigen Tagen haben deshalb die Kinder begonnen, umgekehrt mir etwas zu erzählen, was bei Max darauf hinauslief, dass er gewissenhaft seine auf dem Spielplatz gesammelten Sprüche aufzählte. Etwa: »Happy birthday to you, Marmelade im Schuh, Aprikose in der Hose, Happy birthday to you.« Oder: »Kling Glöckchen, klingelingeling, die Oma sitzt am Fenster, der Opa sieht Gespenster, Dracula und Frankenstein hauen ihm die Fresse ein.« Drittens: »O Tannenbaum, o Tannenbaum, die Oma hängt am Gartenzaun.«

Nach jedem dieser Beiträge ließ der Junge rasselndes Gelächter hören, während ich mich in die Kissen kuschelte und dem Himmel dankte, dass ich wenigstens nicht jene obszönen Sprüche zu hören bekam, die jedem Hamburger Zuhälter Schamröte ins Gesicht treiben würden, indes heute in jedem katholischen Kindergarten kursieren. (Mit Rücksicht auf ältere Leser verzichte ich auf Beispiele.) Meine Bitte, er möge eine schlüssige Geschichte vortragen, beantwortete der Junge mit den Worten, er könne ja vom Skikurs im letzten Urlaub erzählen, hob kurz an, erschlaffte wieder und sagte: »Du weißt doch eh schon alles.«

Es war dann aber so, dass Anne leise sagte, sie wolle jetzt was erzählen, und es folgte eine lange, hochinteressante Geschichte, die in Südtirol und Schottland spielte und in der allerhand Löwen, Räuber und Prinzessinnen vorkamen. Es trat auch eine Hausangestellte auf, die Martha hieß und über die Anne den schönen Satz sagte: »Eine Martha sollte es in jedem Haus geben.«

Wunderbar, dachte ich, wie ich hier die Kinder zu einer selbstverständlichen Kreativität erziehe. So sollten alle Eltern ihre Kleinen fördern, hin zu einer alltäglichen Phantasie, zum Verarbeiten von Kummer und Freude durch Erzählen, so dass sie sich befreit und ruhig in ihre kleinen Betten legen können. Ich schlief selig ein, während sich die Kinder noch ein wenig mit den Bestandteilen der Puppenstube die Schädel einschlugen.

Nervensache

K