Gabriele Reuter

DER SPIEGEL DES URSPRUNGS

Roman mit philosophischem Hintergrund

Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© 2014 Verlag Kern

Autorin: Gabriele Reuter

© Inhaltliche Rechte beim Autor

Herstellung: Verlag Kern, Bayreuth

Umschlagdesign und Satz: www.winkler-layout.de

Titelfoto: © k.line - Fotolia.com

Lektorat: Sabine Greiner

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783957160 - 034

ISBN E-Book: 9783957160461

www.verlag-kern.de

Ich widme dieses Buch
Lukas, Vanessa, Laura
und allen Kindern dieser Welt

INHALTSVERZEICHNIS

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

Einleitung

TEIL I

Der Ursprung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Der ewige Kreislauf

Kapitel 4

Kapitel 5

Die Unendlichkeit

Kapitel 6

Der Weg

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Faszination Erde

Kapitel 11

Kapitel 12

TEIL II

Das Weltbild

Kapitel 13

Das einheitliche Weltbild

Kapitel 14

Epilog

Literaturverzeichnis

Personen- und Sachregister

Prolog

Es ist nahezu siebenundzwanzig Jahre her, dass ich mich das erste Mal bewusst mit einem Gedanken über die Existenz, das Sein, auseinandersetzte. Ich erinnere mich noch genau an meine erste, damals mit meinem Mann geführte Diskussion darüber, wie die Natur zu verstehen sei, und in welchem Verhältnis sie wohl zu dem Begriff Gott stehe. Eine erschöpfende Antwort auf diese Fragen fanden wir damals nicht.

Auslöser für diese Diskussion war mein Sohn, dem ich schon sehr früh beigebracht hatte, dass man nicht nur andere Menschen, sondern die ganze Natur achten müsse, weil auch sie Empfindungen hätte. An diesem Tag erwischte ich meinen Sohn dabei, als er mit anderen Kindern einen wunderschönen Strauch in der Nachbarschaft regelrecht zerlegte. Aufgestachelt von der Idee, sich ihre eigene Macht in der Gemeinschaft beweisen zu müssen, ließen die Kinder ihren Gefühlen freien Lauf. Alleine wäre wohl keines dieser Kinder imstande gewesen, solch ein sinnloses Unterfangen zu vollbringen. Doch eine in der Gemeinschaft aufkeimende Idee trägt manchmal seltsame Früchte, auch wenn der Einzelne es in seinem innersten Empfinden besser weiß.

Wie gesagt, diese Begebenheit ließ mich das erste Mal bewusst über unser Verhältnis zur Umwelt nachdenken. Im gleichen Atemzug bekam ich eine Ahnung davon, dass wir es mit unserem Denken, mit unserem Handeln in der Hand hatten, wie sich in Zukunft unser Leben gestalten würde.

Damals überblickte ich noch gar nicht die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Zwei Jahre später, nach einem für uns alles verändernden Erlebnis, fing ich langsam an zu begreifen, worauf ich mich eingelassen hatte. Ich hatte mich für ein spannendes, ausgefülltes Leben entschieden, in dem ich sowohl Erfolge als auch Rückschläge verzeichnen konnte. Meine Suche nach Antworten manifestierte sich in Bergen von gelesenen Büchern, deren Spektrum sich von den Ansichten der antiken Philosophen bis hin zu den Philosophien der Renaissance, bewegte. Um einen abschließenden Überblick über das Denken der verschiedenen Kulturen zu bekommen, befasste ich mich auch mit der europäischen, südamerikanischen, nahöstlichen und fernöstlichen Mythologie. Das Resümee aus all diesen Werken zeigte mir eine Gleichheit der Aussagen, die ich so nicht erwartet hatte.

Doch das war noch nicht alles. Gleichzeitig suchte ich nach einem Weg, der es mir erlaubte, eine Verbindung zwischen den alten Weisheiten und unserer heutigen Situation zu ziehen. Dazu gehörten selbstverständlich auch die aktuellen Erkenntnisse in der Physik. Meine anfängliche Scheu, mich eingehender mit transzendenten Ansichten zu befassen, gründete auf meinem naturphilosophischen Verständnis, das eine Selbstverständlichkeit dort sah, wo andere ein Geheimnis machten. Diese Ansicht ist mir bis heute geblieben, mit dem Unterschied zu damals, dass mir nun vieles, auch aus der Logik heraus, erklärbar erscheint.

Die größten Erkenntnisse zog ich aus den Erfahrungen mit dem gelebten Leben, sowohl meines wie auch das anderer Menschen. Ganz zu schweigen von den vielen nächtlichen Stunden der Schlaflosigkeit, in denen ich mich mit den aufgeworfenen Fragen auseinandersetzte. Bereut habe ich es, weiß Gott, nie!

Mit der Zeit lernte ich, bewusst auf die Stimme in mir zu hören, wie es Sokrates vor fast zweieinhalb Jahrtausenden ausgedrückt hatte. Ich erkannte die Bedeutungen der Antworten hierauf, die sich mit unseren Gedanken und Taten sichtbar für alle anderen in diese Welt einbringen. Die Erkenntnis, dass jeder einzelne Mensch diesem und keinem anderen Prinzip folgt, dass wir Menschen hiermit eine immense Verantwortung haben, gab schließlich den Anstoß dafür, der Idee nachzugeben, meine Erfahrungen mit meinen Erkenntnissen niederzuschreiben.

Aus all diesen jahrelang gesammelten und aufgezeichneten Erkenntnissen entstand dann schließlich dieses Buch. Nichts ist so, wie es in der Flüchtigkeit eines Augenblickes wahrgenommen wird. Alles und jedes unterliegt einem tieferen Sinn, den man nur versteht, wenn man den Ursprung erkennt, indem man sich den Spiegel vor Augen hält, um in ihm die Ursache wahrzunehmen.

Gabriele Reuter

Einleitung

„Der Spiegel des Ursprungs“!

Manch einer wird sich fragen, wie ich auf diesen Titel kam? Ich werde es erzählen.

Bis zum 24. Mai 1988 verlief mein Leben wie jedes Leben, mit Höhen und Tiefen, die bewältigt werden wollten. Besonders die Tiefen in meinem Leben gaben mir immer das Gefühl einer gewissen Ohnmacht, aus der herauszukommen es sehr schwierig war. Besonders, weil ich immer das Gefühl hatte, dass ich die Dinge, die verkehrt liefen, nicht kontrollieren konnte und ich sie zudem anders als andere sah. Mit anderen Worten, es schien für mich fast unmöglich, der gefühlten Ohnmacht mit meinem Tatendrang zu begegnen.

So stand ich eines Abends wieder einmal am Fenster. Verzweifelt nach Lösungen suchend, fiel mir nichts anderes ein, als ein Stoßgebet gen Himmel zu senden:

„Lieber Gott, wenn es dich gibt, dann hilf mir!“

Natürlich erwartete ich (postwendend) eine Antwort. Die Antwort kam nicht, zumindest nicht so, wie ich es mir vorstellte. Das einzige, was ich in mir spürte, war ein Nachlassen dieser furchtbaren Verzweiflung. Ich wurde ein wenig ruhiger.

Einige Tage später, lauschten wir, mein Mann und ich, den im Radio gesendeten Tönen der einzelnen Planeten unseres Sonnensystems.

Während die Töne unserer Erde erklangen, hatte ich das Gefühl, die Erde von oben zu sehen, zu sehen, was auf ihr geschah. Ich konnte keine einzelnen Sequenzen ausmachen, jedoch sah ich Zerstörung. Bevor ich überhaupt begriff, was ich da wahrnahm, formte sich das nächste Bild, wesentlich klarer und detaillierter. Ich sah ein kleines Rehkitz aus einem Wald kommend, an einem Bach mit wunderschönem, klarem Wasser vorbeilaufen. Mein Blick fiel auf die Erde und in dieser Erde keimte und wuchs ein zartes Pflänzchen.

So schnell wie mich diese Vision überfallen hatte, war sie wieder vorbei. Beeindruckt von dem soeben Erlebten, erzählte ich meinem Mann davon. Zu meinem Erstaunen hatte er eine ähnliche Vision erlebt.

Während wir uns noch voller Verwunderung darüber austauschten, kam plötzlich Bewegung in den rechten Arm meines Mannes. Nichts dagegen unternehmen könnend, schaute mein Mann auf seinen Arm, stand auf und holte sich einen Bleistift und ein Blatt Papier und fing an, etwas zu „kritzeln“.

Gespannt auf alles starrend, was da vor sich ging, versuchte ich, mir einen logischen Reim auf das Geschehen zu machen. Es gelang mir nicht.

Es war nicht viel, was mein Mann an diesem Abend auf das Papier „kritzelte“, jedoch war es zumindest dazu angetan, meine Neugier zu wecken. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das „Gekritzelte“ ohne Sinn und Zweck dort stehen sollte. Also setzte ich mich noch am gleichen Abend daran, irgendetwas Sinnvolles zu erkennen.

Als ich nachts um zwei Uhr, völlig fertig, in mein Bett fiel, hatte ich das Rätsel gelöst.

Die Aussage am 24. 05. 1988 lautete:

Heinz, alle Menschen werden verstehen.

Zufriedenheit mit euch.

Wir sind bei euch.

PAUSE

Gehet euren Weg, denn er ist der Weg zum Sein.

Tuet Recht und gehet ihn,

Trost zu suchen. Findet zu euch selbst. Ende

In den darauf folgenden Tagen vermieden wir es beide, uns großartig über das Geschehen am Abend des 24.05. auszulassen. Einerseits, weil wir spürten, dass etwas mit uns geschehen war, was wir erst einmal akzeptieren mussten; andererseits hätten wir uns niemals vorstellen können, auf diese Art und Weise mit irgendwem zu kommunizieren. Schlicht gesagt, es war uns fremd. Während ich immer neugieriger wurde, merkte ich immer deutlicher die Ablehnung meines Mannes.

Am 29. 05. 1988 nahm mein Mann plötzlich wieder seinen Bleistift in die Hand und fing an zu schreiben:

Ich werde euch leiten, zu erkennen, was da kommt.

Wenn dir danach ist, schreibe!

Erkenntnis braucht seine Zeit.

Hast du begriffen, werde ich mich zu erkennen geben.

Seid immer wahr.

PAUSE

Unsere Wege werden eure Wege sein,

zu erkennen den Sinn des Lebens.

Habet Vertrauen, euch (er)widerfährt

PAUSE

Liebe.

Verliert die Scheu vor (dem) Selbst,

denn ihr seid das wahre Ich.

Zu denken es gegeben, betrachte es als

Erleuchtung für alle Zeit.

Während mein Mann schrieb, saß ich ihm gegenüber und beobachtete genau, was und wie er schrieb. Seine verkrampfte Haltung, während er den Stift in der nach innen zeigenden Hand hielt, hatte etwas Unnatürliches an sich. Trotz meiner Neugier tat er mir leid, denn ich sah seine Anstrengung, diese paar Zeilen auf das Papier zu bringen.

Schon immer konnte ich sehr gut irgendwelche Texte „von oben“ lesen. Wie sich herausstellen sollte, war es genau dieses Talent, das ich brauchte, um eine reibungslose Kommunikation führen zu können. Ich stellte meine Fragen und mein Mann schrieb die Antworten.

Während am Anfang die Schrift immer noch etwas „krakelig“ war, wurde sie von Tag zu Tag leserlicher, sodass auch ich keine Mühe mehr hatte, das Geschriebene zu lesen und es in meine Schrift zu übertragen.

Nach einer für mich gefühlten Ewigkeit gab sich derjenige zu erkennen, der durch meinen Mann kommunizierte. Er schrieb: „Nennt mich Bruno!“

Bruno? Wer war das?

Mein Mann klärte mich auf. Gemeint war Giordano Bruno.

In den darauffolgenden Monaten übermittelte „Bruno“ ein Bild von dem Zustand unserer Erde und unserer Gesellschaft, immer meine Unwissenheit einkalkulierend, sodass ich, wollte ich verstehen, mich gezwungen sah, mit den Texten zu arbeiten. Aus dieser Arbeit ergaben sich dann meine Fragen und seine Antworten.

In einem „Gespräch“ klärte uns „Bruno“ darüber auf, dass er, solange wir es brauchen würden, diese Form der Kommunikation aufrechterhalten würde.

Im Januar 1989 wurde mir immer klarer, dass es für mich nichts bringen würde, mich weiterhin auf diese Art zu „unterhalten“. Ich wollte alleine meinen weiteren Weg gehen. Das sagte ich auch.

Am 17. Februar 1989 verabschiedete „Bruno“ sich mit den Worten:

Zusammenhänge sind wie reife Früchte die, wenn sie erkannt werden, einem zufallen.

So ist es mit allen Dingen, sie liegen in der Erkenntnis.

So wird ein wundersames Ding zur Reife getragen, sodass sich die Augen öffnen. Kleinigkeiten sind es meist nur, die zu einer riesengroßen Erkenntnis führen.

So wird es immer Dinge geben, die einer Erforschung bedürfen. Ob sie sich nun erforschen lassen, sei dahingestellt. So hilft denn da der Glaube weiter, Dinge zu sehen und ihre Zusammenhänge zu ermitteln, um so in einer Welt zu sein, die sich nicht mehr verschließt, ist die Welt des Wissenden.

Somit erfüllt sich dem Menschen mit dem Drang zu lernen sein Wissen und es wird unerschöpflich sein.

Aber mit dem Wissen hört man nie auf zu lernen, es geht immer weiter auf dem Weg der Erkenntnis.

PAUSE

Es wird immer Menschen geben, die zweifeln und somit einen Pol bilden, der in der Verfahrensweise des Denkens nur von Nutzen sein kann. Denn aus ihnen bildet sich eine Schicht, die auch in ihrem Erkenntnisgehalt für die Lernenden sehr wertvoll ist. Aber die, die nicht lernen wollen, diejenigen, die auf einer Kugel herumlaufen und nie zu einem Ziel finden werden, ruhelos werden sie sein, weil sie nie einen Anhaltspunkt erkennen, hier fängt das Sehen an, auch Dinge zu sehen, die sich im ersten Augenblick nicht anbieten.

Das sind dann halt diejenigen, die später zur Erkenntnis gelangen.

Ihr habt das alles hinter Euch, und vor Euch liegt ein Weg der Erkenntnis. Ihr habet gelernt, diese Dinge alle zu sehen, mit ihnen umzugehen und aus ihnen zu lernen, mit ihnen zu arbeiten, damit sich der Stand erhob.

Ihr habet Dinge erfahren, die sonst keiner erfährt und die für immer zum Geheimnis werden.

So bilden sich zwei Menschen heran, die zu einem Weg bereit waren zu lernen, der ihnen nur Gutes bringt. Somit erfand die Erfüllung ihren nahrhaften Grund, der nie und nimmer an Fruchtbarkeit versieget.

Wir sind an einem Ziele angelangt, um die gesagten Dinge, die es wert waren zu erwähnen, zu erarbeiten und zu erläutern.

Vieles wurde nicht gesagt, es wird aber im Laufe der Gezeiten von Euch erlangt werden; aber das Wichtigste wurde erhört und erarbeitet 

… die Gesetzmäßigkeit der Dinge.

Nun macht, bevor ich mich bei jedem einzelnen verabschiede eine Pause.

So grüßet mir alle, die von mir wussten!

Erkenntnis, du Schein der Sonne,

der Dinge klar im Lichte zeigt.

Zu fruchtbar bist du, dass ich dich nicht

verlieren werde.

Traurigkeit soll nicht gezeigt werden, Freude immer wahr, denn Ihr seid nicht alleine.

Es war nur ein kleiner Kreis, der davon wusste. Mein Mann und ich waren von Anfang an einig darüber, aus dieser Angelegenheit keine große Sache zu machen. Was hätte es auch genutzt? Hätten wir über das Geschriebene Auskunft geben können? Nein! Alles, was wir zu diesem Zeitpunkt wussten, war, dass wir, um wirklich zu verstehen, noch viel zu lernen hatten.

Und, dass ich eines Tages, wenn ich mich selber stark genug fühlen würde, all meine Erkenntnisse niederschreiben wollte.

Dieser Gedanke kam mir während der neun Monate dauernden Begegnung mit „Bruno“. Er sprach es an und ermunterte mich, seine Aussagen in dieses Buch einfließen zu lassen, was letztlich zu dem speziellen Aufbau dieses Buches beitrug.

Eines Abends schoss mir ein Gedanke durch den Kopf.

„Der Spiegel des Ursprungs“

Ich wusste gleich, so sollte das Buch, würde ich es je schreiben, heißen. Am nächsten Tag stand ich auf unserem Dachboden und hing die gewaschene Wäsche zum Trocknen auf. Eine wunderbare Tätigkeit, bei der man großartig über alles nachdenken konnte; und bei der ich zu meinem allergrößten Erstaunen bemerkte, dass ich dichten konnte:

Der Strahl der Sonne sich brechend im Kristall

Den Spiegel des Ursprungs zeugend überall

Schleier der Finsternis sich herniedersenkend

Den Spiegel trübend, sein Leuchten verschenkend

Erahnend das Licht, sich im Dunkel windend

Erinnernd des Glanzes, das Leben verkündend

Im Kristall sich brechend der Strahl der Sonne

Zeugend vom Licht, der alten Wonne!

TEIL I

Der Ursprung

Kapitel 1

Eine junge, zierliche Frau lief den Weg zum Haus hinauf.

„Sokrates! Sokrates!“ rief sie, „Sokratchen, Sokratchen, wo bist du?“, tönte es ungeduldig durch das Atrium.

„Hier Julia, hier! Was ist denn los mein Kind? Du bist ja ganz aufgeregt!“

„Ich habe eben mit Seneca gesprochen und er fragte mich, ob ich die drei Kardinalfragen der Philosophie kenne.“

„Und, Julia, was hast du ihm geantwortet?“

„Nun, dass sie

Woher komme ich?

Wer bin ich?

Wohin gehe ich?

heißen! Dann fragte er mich, ob ich mir schon einmal Gedanken über die Evolution gemacht hätte!“

„Und?“

„Natürlich nicht! Zumindest nicht in der Art und Weise wie es Seneca von einem erwartet. Du weißt ja, wie er ist!“

„Ja, ich weiß wie er ist. Und was sagte Seneca noch?“

„Er fragte mich: Wie erkennst du die Evolution?“

Sokrates schaute Julia mit einem wissenden Lächeln an und sagte: „Sie ist ein Ablauf logischer Dinge, eine Reihenfolge!“

„So ähnlich drückte sich Seneca auch aus!“

Sokrates konnte nur mit Mühe ein Lächeln verbergen. Hatte er doch vor ein paar Tagen mit Seneca vereinbart, Julia ein bisschen mehr in die Philosophie einzuweihen. Sokrates meinte, Julia sei reif dafür. Denn schließlich sei Julia das Kind einer Zeit, die mit Riesenschritten weiter fortschreitet; in der es dringend notwendig sei, ein gewisses Verständnis für Dinge zu erhalten, die vielleicht einmal sehr von Nutzen sein könnten. Nicht nur für Julia, sondern auch für alles andere.

„Übrigens, Seneca war nicht allein. Er stellte mir einen Freund vor. Giordano, oder so ähnlich, heißt er.“

„Giordano Bruno? Mein alter Freund Jordano ist da? Welch eine Freude! Weißt du, Julia, wie lange ich ihn nicht mehr gesehen habe? Es kommt mir vor wie Jahrhunderte! Gleich morgen muss ich nach ihm schauen und hören, wie lange er gedenkt zu bleiben. Vielleicht hat er ja Zeit, und wir können wieder einmal zusammen philosophieren.“

Nun war es Sokrates, dessen Stimme sich vor lauter Aufregung fast überschlug. Doch Julia ließ Sokrates keine Zeit, sich Träumereien hinzugeben. Wenn es darum ging, ihre Neugierde zu befriedigen, stand sie Sokrates in keiner Weise etwas nach.

„Ist dieser Giordano auch Philosoph?“

„Ja, Julia, aber kein Stoiker wie Seneca. Jordanos Schwerpunkt ist die Naturphilosophie, doch auch er hat über Ethik philosophiert. Du siehst, Julia, einen Philosophen, der sich nicht mit allen Dingen des Seins beschäftigt, gibt es nicht. Und wenn es so ist, dann ist er auch kein richtiger Philosoph, sondern nur einer, der es sein möchte. Doch solch einen Menschen kenne ich nicht! Habt ihr, Jordano und du, außer der üblichen Konversation noch über etwas anderes gesprochen?“

„Ja! Er führte Senecas Antwort noch weiter aus:

Die Reihenfolge entsteht aus der Substanz! Von dem Prinzip des Tatsächlichen! Die Logik ist doch ein Aneinanderreihen fortlaufender Gedanken in der richtigen Folge. Sie entspringen aus der Substanz des Gehirns.

Die Ursache, das Was, Wie, Woher!

Es ist das Prinzip, das was da ist von dem Einen!’


Und dann stellte er mir noch eine Aufgabe, die ich lösen solle:

Was sucht der Mensch?

Er sucht nach seiner Existenz!

Das Woher, aus was, warum?

Was hat die Ursache für einen Sinn?

Worin steckt er?

Wohin geht er?’

In Sokrates Augen blitzte es auf. Seine ganze Listigkeit, mit der er gewohnt war, Situationen für sich einzunehmen, legte sich einen Augenblick lang über seine Miene. Er dachte: ‚Daher weht der Wind! Der Seneca ist doch ein Teufelskerl. Ich wusste, dass ich mich auf ihn hundertprozentig verlassen kann!‘

Doch dann hatte er sich wieder gefangen. Sein grobschlächtiges Gesicht bekam plötzlich, als er Julias ratlosen Blick sah, einen sanften Ausdruck.

„Ich weiß, meine Liebe, dass es gar nicht so einfach ist, jetzt darauf eine Antwort zu geben. Aber glaube mir, so schwer, wie du meinst, ist es auch nicht. Aber bevor du dir nun deine Gedanken machst, möchte ich dir noch eine kleine Hilfestellung in Form eines Gedichtes mit auf den Weg geben.

Die Idee verlässt ihr Heim,

trifft den Gedanken und die Logik!

Die Vielfalt schleicht sich in dieses Trio ein

und begleitet sie von nun an mit jedem Schritt!

Die Wirkung, das Resultat nicht lang

auf sich wartend.

Ist’s doch die Logik, die sie dazu bringt!

Die Vielfalt immer noch beharrend,

der Möglichkeiten keine Grenzen sind!


Doch die Erinnerung sie immer begleitet,

wohin ihr Weg sie auch bringt!

Ihr Antlitz wird niemals verbergen,

wo ihr zu Hause sich befind!“

Kapitel 2

Am nächsten Morgen machte Sokrates sich schon früh auf den Weg zu Senecas Haus. Die Sonne war noch ein bisschen durch den Hochnebel verhangen. Doch es schien heute trotzdem ein schöner Tag zu werden.

Sokrates wusste so etwas. Denn erstens verspürte er keinerlei Reißen in seinen alten Gliedern – das war immer so, wenn das Wetter sich änderte – und zweitens roch das Meer nicht so penetrant nach Meer. Eine Erinnerung an das alte Griechenland, die aus Sokrates‘ Gehirn nicht mehr auszulöschen war und dessen Geruch er nicht beschreiben konnte, wie sehr er sich auch darum bemühte. Aber ganz von diesen untrüglichen Zeichen abgesehen, war es ein wirklich schöner Morgen. Nicht zu warm und nicht zu kalt; Frühling eben! Ganz nach dem Geschmack von Sokrates. Die Vögel sangen um die Wette; einer schöner als der andere. Der auf den Blüten liegende Tau funkelte durch die immer intensiver werdenden Sonnenstrahlen wie Diamanten. Ein herrliches Bild.

Sokrates dachte an Julia, und daran, wie glücklich sie gewesen war, als sie an einem wunderschönen Frühlingstag endlich ihren Philologus heiraten konnte. Es war in der Tat ein Tag gewesen, ähnlich wie der heutige. Seneca hatte damals seinem alten Freund Petronius gut zureden müssen, damit dieser überhaupt die Einwilligung zur Heirat gab. Denn schließlich war Julia ein neapolitanisches Nichts. Ein Etwas, wie Petronius es einmal ausdrückte, ohne aristokratischen Stammbaum, und dazu auch noch eine bis ins Mark eingefleischte Christin! Doch Seneca, clever genug, um zu wissen, womit man einen mit allen Wassern gewaschenen Petronius fangen konnte, hielt ihm seine vertuschten Sympathiegebärden mit den Christen vor Augen; und, was wesentlich mehr zog, seine eigene Verbindung mit der Sklavin, der Mutter von Philologus. Da half auch nicht der mehr als lahme Einwand, Phils Mutter sei ja schließlich von königlichem Geblüt. Kurzum, Petronius musste klein beigeben, was ihm zwar zwei Tage satirischen Leerlauf einbrachte. Doch nach diesen zwei Tagen hatte er sich mit dem Unvermeidlichen abgefunden. Und heute war er nicht unglücklich über den Glücksgriff, den sein Sohn tat, als er sich in Julia Santoni verliebte.

Sokrates hätte fast laut los gelacht, als er sich noch einmal die süß-säuerliche Mine in Erinnerung rief, die Petronius bei der Bekanntgabe der Vermählung von Phil und Julia machte. Doch in Anbetracht dessen, dass er nur noch wenige Meter von Senecas Domizil entfernt war, und vor dem Haus ein reges Treiben bemerkte, das ihn neugierig machte, weil er nicht erkennen konnte, wer da mit wem sprach und über was man sprach, verkniff er sich einen derartigen Heiterkeitsausbruch. Vielmehr beeilte er sich, das letzte Hindernis zu überwinden, das ihm die Sicht auf alles nahm. Ein üppig weiß blühender Strauch.

In dem Augenblick, als Sokrates hinter dem Strauch hervortrat, verstummte die Diskussion und alle Augen richteten sich auf ihn. Ein Mönch, gekleidet in der Kutte der Dominikaner, ging mit ausgebreiteten Armen auf Sokrates zu und umarmte ihn herzlich.

„Sokrates, wie geht es dir? Aber was frage ich dich! Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal sahen und du siehst aus, als hätten wir erst gestern ‚Leb wohl’ gesagt!“

„Wie wahr, wie wahr! Du siehst müde aus, Jordano! Wie ist es dir in all den Jahren ergangen? Ich hörte, du seist durch halb Europa gereist? Warst du auch in Frankfurt?“

„Oh ja, ich war auch in Frankoforte und habe dort bei den Keßls viele interessante Menschen kennengelernt, die offenbar nichts gegen meine Lehre hatten.“

„Wie geht es denn Magdalene und Ewald?“

„Maddalene war ja, wie du weißt, immer sehr an meiner Philosophie interessiert. Ich glaube, ihr ist in der Zeit, in der ich bei ihren Eltern lehren durfte, vieles klar geworden, sowohl, was die Philosophie anbelangt, wie auch in ihrem Verhältnis zu ihrem Mann. Sie wusste, dass er rettungslos dem Wein ergeben war; aber sie ist längst nicht mehr so verzweifelt darüber wie am Anfang, als ich sie kennenlernte. Und ihr Brüderlein Ewald ist, als ich Frankoforte verlassen musste, nach Padua gereist und studierte dort an der Universität die Naturwissenschaften. Eigentlich hatte ich in Padua auf die Professur in Mathematik gehofft. Aber man war mir nicht so hold gesonnen, wie ich dachte. Nun gut, genug von mir! Sag mir ehrlich, Sokrates, wie ist es dir denn in der ganzen Zeit ergangen? Seneca meint, du seist ganz vernarrt in die Schwiegertochter seines Freundes Petronius! Wie heißt sie gleich? Julia?“

Giordano Bruno schaute Sokrates schmunzelnd an.

„Ja, Julia heißt sie! Doch wie ich hörte, hast du sie ja bereits kennengelernt und sie, wie könnte es bei dir auch anders sein, mit einer Aufgabe in deine philosophische Richtung gelockt. Deine Frage, wie es mir in der Zeit ergangen ist, werde ich beantworten, sobald du dir ein Bild von Julia machen konntest. Glaub mir, auch für dich, mit deiner Erfahrung, lohnt es sich, sie herauszufordern. Aber du wirst ja sehen, was in ihr steckt! Spätestens dann, wenn sie deine Aufgabe gelöst hat! Bleibst du noch einige Zeit hier oder zieht es dich schon wieder in die Ferne?“

Sokrates beobachtete Giordano, während er mit ihm sprach, in seiner ihm eigenen Art. Ihm entging nichts! Keine noch so kleine Regung konnte man vor ihm verbergen. Und wer Sokrates kannte, legte auch keinen Wert darauf. Denn aus diesen Beobachtungen Sokrates’ waren schon manch interessante Abende entstanden, die stets mit einer Frage von ihm begannen und mit heißen Diskussionen endeten. Auch das wachsende Interesse von Giordano an der Antwort von Julia war Sokrates nicht entgangen. Ebenso machte Giordano keinen Hehl aus seiner Meinung über Sokrates.

„Du Fuchs, du weißt genau, wie du die Menschen an deine Interessen fesselst!“

„Natürlich, sonst wäre ich ja auch nicht Sokrates! Aber lass uns keine Konversationen treiben, dafür kennen wir uns zu gut! Wann kommst du also vorbei?“

Sokrates ließ Giordano gar nicht zu Wort kommen.

„Lass Julia noch zwei Tage! Heute haben wir Donnerstag! Sagen wir am Samstagabend um 19.00 Uhr zum Gastmahl bei Sokrates?! Ich verspreche dir, Plato wird an diesem Abend mit Sicherheit auch auf seine Kosten kommen. Auch wenn er im Moment nicht bei uns sein kann, weil er, wie ich hörte, mit einem Stab Wissenschaftlern hinter den Säulen des Herakles weilt und kurz vor der Lösung des Atlantisrätsels steht!“

Was sollte Giordano dagegen noch einwenden? Sokrates bestimmte, wie üblich, mit seinem rustikalen Charme wohin, wann und wie! Ganz davon abgesehen schien es mal wieder ein vielversprechender Abend zu werden.

„Ich werde pünktlich bei euch sein, Sokrates! Ich freue mich schon!“

Seneca, der die Szene beobachtet hatte, amüsierte sich köstlich, denn er wusste genau, wie verschieden diese beiden Männer waren. Wie Feuer und Wasser; obwohl sie die gleichen Ansichten vertraten und jeder den anderen, so, wie es ihr jeweiliges Temperament gebot, achtete. Giordano Bruno, manchmal etwas hitzig seine Ansichten vertretend, kam häufig nicht gegen die Grundsätze von Sokrates an. Und so hielt er es in solchen Situationen für das kleinere Übel, sich ohne große Widersprüche in das Unvermeidliche zu fügen. Wie eben jetzt auch. Denn Widerspruch wäre sinnlos gewesen. Sokrates hätte nur versucht, ihn in einer endlosen Diskussion vom Gegenteil zu überzeugen. Neben Seneca stand ein weiß gekleideter Mann. Erst jetzt nahm Sokrates die Gestalt bewusst wahr.

„Augustinus, bist du auch wieder einmal im Lande?“, rief Sokrates. „Es passt alles zusammen! Die Götter müssen dich, genau wie Jordano, in dieses schöne Fleckchen Erde gesandt haben, um mir bei der großen und edlen Aufgabe zu helfen, einen wertvollen Geist in die Geheimnisse des Seins einzuweihen!“

„Ich werde dir dabei helfen, Sokrates! Seneca erzählte schon von Julia. Er berichtete mir auch, in welchem Glauben sie aufgewachsen ist. Ich denke, ich werde mich sehr gut mit dieser Frau arrangieren!“

Augustinus bemerkte Sokrates’ skeptischen Blick. Denn Sokrates hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, dass er sich aktiv in dieses Vorhaben einbeziehen ließe. Eher glaubte er wohl, er hätte ihm mit seinem philosophischen und theologischen Denken mehr passiv zur Seite gestanden.

„Keine Angst, Sokrates, auch ich habe meine Erkenntnisse in all den Jahren, in denen wir uns nicht sahen, erhalten. Meine Einstellung zur Gegensätzlichkeit der Geschlechter ist nicht mehr die, die sie einmal war! Vieles, was ich einmal als richtig empfand, sehe ich heute auch ein wenig anders!“

„So seist auch du, genau wie Seneca, recht herzlich für übermorgen bei mir eingeladen!“

„Ich danke dir, Sokrates, für diese freundliche Einladung. Auch freue ich mich schon darauf, nach so langer Zeit mit Gleichgesinnten philosophieren zu können.

Vor einiger Zeit, als ich noch in Südfrankreich weilte, schaute ich bei Maria Magdalena vorbei und wir verabredeten ein gemeinsames Treffen für diese Woche bei Seneca. Leider ist Maria noch nicht eingetroffen. Doch auch du kennst ja ihr Bemühen um Einlösung ihrer Versprechen. Sicherlich hätte sie, wenn sie verhindert wäre, eine Nachricht hinterlassen.

So bin ich zuversichtlich, dass sie morgen oder übermorgen hier sein wird und unsere Runde, wenn du, Sokrates, nichts dagegen hast, bereichert!“

„Mein lieber Augustinus, was sollte ich gegen die Anwesenheit von Maria Magdalena haben? Im Gegenteil, sie wird mit Sicherheit einiges erhellen können! Aber lassen wir alles auf uns zukommen! Ich habe schon lange nicht mehr solch ein gutes Gefühl gehabt, solch eine Zufriedenheit, die aus der Gewissheit entspringt, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden, wenn wir versuchen, unser Wissen, unsere Erfahrung und unsere Erkenntnisse miteinander auszutauschen und dazu noch auf diesem Wege an ein wertvolles Menschenkind weiterzugeben!“

Augustinus’ Augen leuchteten und er nickte zustimmend.

„Genau das Gleiche empfinde ich auch, Sokrates! Ein Menschenkind zum Denken anzuregen, soll uns die höchste Ehre sein. Gott wird uns dabei helfen, die richtigen Worte zu finden! Amen!“

Kapitel 3

Alle waren an dem Abend des 5. Juni Sokrates’ Einladung gefolgt. Maria Magdalena hatte ihr Versprechen eingelöst und war einen Tag zuvor angereist. Auch sie hatte mit Freuden der Einladung zugestimmt, denn es tat auch ihr wohl, wieder einmal alte Bekannte zu treffen, mit denen sie Gedanken austauschen konnte, über die andere nicht nachdachten. Diese Welt hatte sich verändert seit damals. Viele Menschen lebten nur für ihre Arbeit und glaubten auch noch, es gäbe nichts Wichtigeres auf der Welt. Sie arbeiteten, verdienten eine Menge Geld und sahen das höchste Ziel in der Jagd nach immer neuen Vergnügungen, die sie zudem noch teuer bezahlten. Dabei merkten sie gar nicht, wie sehr sie am eigentlichen lebenswerten Leben vorbeigingen.

Maria Magdalena seufzte unbewusst.

„Maria, was bedrückt dich?“ Augustinus sah Maria Magdalena prüfend an. „Es gefällt mir gar nicht, wenn du so sorgenvoll in diesen wunderschönen Abend schaust!“

Maria Magdalena schaute lächelnd in die Runde: „Ich dachte gerade an diese Welt und daran, wie sehr sie sich seit damals verändert hat, wie sehr sich die Menschen geändert haben. Nichts ist mehr im Lot, alles wird maßlos übertrieben, egal was es ist. Die einen hetzen ständig neuen Vergnügungen hinterher, weil sie nicht mehr wissen was sie mit der Zeit anfangen sollen. Eine Sekunde Ruhe empfinden diese Menschen als tödlich. Und dabei bemerken sie gar nicht, dass sie immer ärmer werden. Sie sehen nicht mehr, was um sie herum vor sich geht, sie hören auch nichts mehr und sie spüren noch nicht einmal mehr die kleinen, feinen Signale ihrer Umwelt. Die anderen suchen die Ruhe und können sie nicht finden. Viele begeben sich auf ihrer Suche in Abhängigkeiten, die wiederum nur mit dem Materialismus zu erkaufen sind. Wisst ihr, meine Lieben, ich habe viele Menschen kennengelernt, sowohl die einen als auch die anderen. Keiner von diesen Menschen ist wirklich zufrieden, auch wenn sie nichts anderes kennen. Und so fragte ich mich eben, ob die Menschen es verdient haben, so zu leben, wie sie heute leben! Das war mein Seufzer!“

„Maria Magdalena, du hast ja so recht! Kein Mensch hat es verdient, so zu leben. Aber alle Menschen leben nur so, wie sie das Leben als richtig gelebt verstehen. Doch glaube nicht, du könntest irgendeinen Menschen, der eine von diesen Überzeugungen lebt, davon abhalten, seine eigenen Erfahrungen zu sammeln. Du siehst es an mir. Was tat ich? Auch ich dachte, Nero, in seinem kleinen armseligen Leben, Moral lehren zu können. Ich konnte es nicht, weil er in seinen niedrigen Trieben stärker war, als ich mit all meinen edlen Vorsätzen!“

Seneca schaute einen nach dem anderen an. „Haben wir nicht alle, jeder von uns hier, nach unseren Überzeugungen gelebt und erfahren müssen, dass das eine oder andere sich doch nicht so verhält, wie wir es einmal sahen, als wir davon überzeugt waren, das Richtige zu leben? Und mussten wir nicht auch einsehen, dass das Bild, das wir hatten, mit jedem Schritt, den wir machten, ein anderes Gesicht bekam? Sicherlich, wir alle hatten vielen Menschen etwas voraus. Wir glaubten an uns und daran, dass wir in diesem Moment die Welt verändern können. Haben wir sie verändert? Nein, haben wir nicht! Wir haben höchstens dazu beigetragen, dass diese Ideale, die wir zu leben versuchten, nicht in Vergessenheit gerieten. Und das war gut so!“

Giordano Bruno nickte zustimmend. „Als man damals über mich das Urteil fällte, konnte ich nicht verstehen, warum man so handelte. Sie hatten doch verstanden und wussten auch genau, worum es ging, und sie wussten auch, dass ich für die Wahrheit kämpfte! Ich glaubte und hoffte bis zuletzt. Doch auch ich musste erst akzeptieren, obwohl ich es wusste, dass das Geschick des einzelnen Menschen mit der Menschheit verbunden ist. Und dieses Geschick bezieht sich in Wirklichkeit nicht auf die Endlichkeit, sondern es ist, wie alles in diesem Universum, an die Unendlichkeit gebunden. Nur so erfüllt sich der Lauf der Dinge. Nur so erhält alles die Chance, sich zu entwickeln.“

„Und ich war es, der glaubte, mit beharrlicher Fragerei, den moralischen Niedergang aufhalten zu können, der voraussetzte, dass andere Menschen so dachten wie ich selbst. Auch ich musste einsehen, dass man keinen Menschen zu etwas zwingen kann, wozu er nicht bereit ist. Auch dann nicht, wenn man noch so lautere Absichten hegt. Und damit kann ich nur das bestätigen, was ihr schon sagtet. Jeder Mensch muss selber zu dem Guten, dem Positiven finden. Doch das ist manchmal gar nicht so einfach, weil das Böse, die Negativität ebenso in dieser Welt vorhanden ist. Das Einzige was hier hilft ist die Stimme in uns. Ich versuchte immer auf sie zu hören, denn ich weiß, sie sagt mir immer was richtig und was falsch ist.“ Sokrates lehnte sich zurück und blickte auf Julia. „Nun mein Kind, auch du kämpfst mit all den Dingen mit denen wir kämpfen. Glaube nicht du seist uns, nur weil wir hier so klug daherreden, unterlegen. Auch wir werden von dir lernen, genauso wie du von uns. Denn keiner weiß alles. Das, was wir wissen ist, gemessen an der ganzen Fülle des Seins, verschwindend wenig. Und daran wird sich auch, solange wir leben, nichts ändern. Schon damals erkannte ich, dass dies so ist. Darum behauptete ich auch immer, dass ich gar nichts weiß! Aber nun soll es gut sein mit dem klugen Gerede. Jordano stellte dir eine Aufgabe und wir alle sind sehr begierig zu erfahren wie du, liebe Julia, sie gelöst hast.“

„Ihr alle wisst in welchem Glauben ich aufgewachsen bin. Für mich gibt es nur den einen Gott, der diese Welt, in der wir leben, erschuf. Für mich gibt es nicht die vielen Götter Ägyptens, Griechenlands oder Roms. Nun gut, aus den Reden, die ich von Zeit zu Zeit belauschen durfte, weiß ich, dass keiner von euch heute anders denkt. Also erschuf Gott auch den Menschen, womit die Frage des ‚woher‘ geklärt wäre. Das ‚aus was‘ ist für mich schon der schwierigere Teil. Was meinst du damit, Giordano?“

„Ich meine damit die Substanz! Aus was, liebe Julia, ist denn alles zusammengesetzt, aus was besteht alles, der Mensch, das Tier, die Pflanzen, die Planeten, alles im Universum? Denke an den Physikunterricht!“

„Du meinst die Atome, Moleküle, Gene?“

„Ja, die Atome! Was war denn am Anfang aller Zeiten?“

„Man sagt, ein Ur-Atom, aus dem der Urknall entstand!“

„Richtig, der Punkt! Am Anfang der Ewigkeit war nichts so, wie du es siehst. Außer einem winzig kleinen Punkt, der wie ein Samenkorn alles in sich vereinigte; alles, was schon war, was ist und was sein wird. Irgendwann aber dehnte sich dieser kleine Punkt aus, zeigte aus sich heraus Reaktionen, und bewegte, mit einer unvorstellbaren Kraft, seine für uns unfassbare Vielzahl von Teilen in die Unendlichkeit.

Gott entschied sich dazu sich zu bewegen!“

„Moment mal! Du verwirrst mich! Wie verstehst du Gott? Wo war Gott am Anfang, und was tat er, damit der Punkt reagierte?“

„Langsam, du stellst viele Fragen auf einmal. Aber höre gut zu, dann wirst du schon verstehen. Gott ist die Vollkommenheit, das Ganze, das Eine. Er ist alles! Er ist das, was du nicht siehst und das, was du sehen kannst! Wir Philosophen sprechen von dem Geist und der Materie. Auch die Physiker nennen das, was eine Masse hat Materie. Nur sie suchen immer noch nach dem Geist! Ich sagte, Gott ist alles; also war dieser kleine Punkt, von dem ich sprach, Gott. Und als der Punkt sich bewegte, wurden aus dem Einzelnen viele, unendlich viele Teile, sodass sich mit jedem Teil ein Teil von Gott in die Unendlichkeit begab. Die Vollkommenheit entschloss sich also dazu sich zu bewegen. Das konnte sie aber nur, indem sie aus dem Einzigartigen, dem Vollkommenen, ein Vieles, ein Unvollkommenes machte. Und da dies aus sich selbst heraus geschah, trägt jedes Unvollkommene auch Gott in sich.“

„Das verstehe ich nicht und kann es auch gar nicht glauben. Gott soll der Punkt gewesen sein? Da habe ich aber eine ganz andere Vorstellung von Gott!“

„Welche denn?“

„Nun ja, als ein Wesen, ähnlich wie wir; aber eben Gott! Erklären, wie Gott aussieht, kann ich nicht! Doch das kann wohl keiner!“

„Deine Definition erinnert mich an Michelangelos Werk in der Sixtinischen Kapelle. Auch er hat versucht, mit unserem dreidimensionalen Denken zu erklären, genau, wie wir es jetzt tun. Doch du hast Recht, Gott ganz erfassen und begreifen kann keiner. Und dennoch siehst du ihn in allem, was du mit deinen Augen wahrnimmst.“

„Ich habe Gott noch nie gesehen!“

„Und du spürst ihn in allem, was du empfindest. Du fühlst ihn in deinen ganzen Gedanken, mit jeder Regung deiner Liebe, deinem Mitgefühl, deiner Fürsorge für etwas. Sogar in dem Augenblick, in dem du ein Problem hast, und dir eine Idee kommt, wie du dieses Problem bewältigen kannst. In allen Dingen, selbst in Kleinigkeiten, die dir widerfahren, die zum Leben der Menschen gehören. Und vergesse nicht die Negativität, auch sie gehört dazu. Dies alles nimmst du nicht mit deinem vollen Bewusstsein wahr, nimmst es hin und richtest dich in deinem Sinn danach. Erst wenn für uns Großes geschieht, wenn wir in uns Energien mobilisieren können, die Unmögliches möglich machen, oder wenn etwas passiert, was unseren eigenen Horizont überschreitet, dann kommt den Menschen Gott ins Bewusstsein!“

„Wenn Gott doch, wie du sagst und ich dich richtig verstanden habe, ursprünglich einmal ein Ganzes war, warum teilte er sich dann in diese vielen Teile, und wie ging das überhaupt vor sich? Ich verstehe das Ganze nicht. Was sagst denn du dazu, Augustinus?“

„Sieh, Julia, ich werde versuchen, es dir auf meine Art zu erklären. In der Religion wird Gott immer als die unendliche Liebe definiert; aus diesem Grunde teilte er sich, sodass aus dem Einen, wie Giordano es ausdrückt, dem Ganzen, das Viele oder die Vielfalt werden konnte.“

„Du meinst, Gott schickte sich selber auf die Reise in die Unendlichkeit, um zu sehen, was aus den Teilen wird?“

Augustinus schmunzelte: „So kann man es nennen!“

„Ja, aber war das denn nicht sehr riskant für ihn? Ich käme gar nicht auf die Idee solch ein unsicheres Unterfangen, von dem ich nicht wüsste was daraus wird, zu unternehmen!“

„Du bist ja auch nicht Gott! Er aber weiß es von Anfang an! Er tat es, weil er jedem Teilchen die Freiheit schenken wollte, Erfahrungen zu sammeln und sich in ihnen selbstständig zu entwickeln. Und da Gott ja allem innewohnt, weiß er auch immer was das einzelne Teilchen tut und kann es, wenn es nicht so reagiert wie es soll, wieder auf den richtigen Weg bringen, damit es sich nicht verliert.

So geschieht es mit allem. Die Antwort auf deine Frage, wodurch der Punkt reagierte, gabst du dir eben selbst. Irgendwann hatte Gott die Idee sich zu bewegen. Er machte sich seine Gedanken darüber, legte sich einen genauen Plan für jedes einzelne Teilchen zurecht, wann er es auf den Weg schicken würde, wohin und wie es diesen Weg gehen sollte. Er wog genau ab, welchen Zweck es erfüllen könnte, und gab somit allem seinen Sinn. Aber er dachte auch daran das, wenn er die Teilchen auf die Reise schickte, sie einmal wieder nach Hause kommen, weil es nichts mehr gibt, was sie in unserer dreidimensionalen Welt noch sehen und lernen könnten. Denn lernen mussten sie, Erfahrungen auf ihrer Reise sammeln, sonst hätte das alles ja keinen Sinn gehabt. Sie sollten sich mit anderen treffen, sich mit ihnen verbinden, um gemeinsam auf ihrer Reise wieder zusammenzufügen, was einmal getrennt worden war.

Also gab Gott jedem einzelnen Teilchen seinen vorgeschriebenen Weg mit auf die Reise und unterstellte es damit gleichzeitig einem Zweck. Dem Zweck, aus der Unvollkommenheit der eigenen Nacktheit, die anderen unendlich vielen Teile zu suchen und zu finden, sich mit ihnen zu verbinden, um so der Vollkommenheit mit der Erfahrung und dem erlangten Wissen wieder zuzustreben, ihr gerecht zu werden. Er legte den Weg in der Vollkommenheit seiner eigenen Weisheit so fest, dass, auch wenn die Teilchen einmal vom Weg abkommen würden, sie ihn immer wieder finden.“ Augustinus lehnte sich in seinem Sessel zurück.

„Ich hoffe, dass ich mich für dich verständlich ausgedrückt habe!“

„Wollt ihr damit sagen, Gott hatte eine Idee, Gedanken und aus diesen Gedanken folgte die Tat? Ist eurer Meinung nach die Tat dann das, was wir den Urknall nennen?“

Giordano Bruno nickte zustimmend.

„So ist es! Die erste Ursache!“

„Entschuldige bitte, ich will dir ja nicht zu nahe treten, Giordano. Aber stellst du da nicht eine sehr gewagte Behauptung auf? Glaubst du wirklich du hättest recht mit deiner These?“

„Ich glaube es nicht nur. Ich weiß es!“

„Was weißt du?“

„Gemessen an der ganzen Wahrheit, und da halte ich es mit der Erkenntnis von Sokrates, weiß ich gar nichts! Denn die Erkenntnis hört nie auf! Weder in unserer Dreidimensionalität noch in dem, was in der Unendlichkeit noch folgen wird.

Aber ich bin schon vor 400 Jahren zu einem Schluss gekommen, der die logische Reihenfolge, das Prinzip aller Existenz, erklärt, und den ich hier und heute, vor dir, mit reinem Gewissen vertreten kann, weil meine Erfahrungen in all den Jahren mir nie etwas anderes bestätigten.

Aus diesem Grunde glaube ich nicht nur, nein, ich weiß, dass ich mit meiner Erkenntnis recht habe.

Sieh, Julia, ich spreche nun auch für die anderen hier mit.

Wir alle wissen, was in der Natur vor sich geht. Damit meine ich nicht nur die Natur da draußen. Wir alle haben mit diesen Erkenntnissen das Prinzip bewusst am eigenen Leib erfahren, jene Bewegung, die uns in die Unendlichkeit fortträgt, die uns unermüdlich den Weg weist, den wir zu gehen haben. Damit haben wir aber auch erkannt, dass alle Teilchen, auch wir Menschen, nur ein Werkzeug Gottes sein können.“

Julia war nicht mit dem Sinn in diese Runde gekommen, ohne Widerspruch alles in sich aufzunehmen, was gesagt wurde. Im Gegenteil, sie hatte sich vorgenommen, jeden Einzelnen, wenn sich die Gelegenheit ergab, bis ins Letzte zu befragen. Denn nur so, dachte sie, konnte sie sich ein Bild von den unterschiedlichen Sichtweisen machen. Nur so konnte sie verstehen lernen, worauf es wirklich ankam.