Der Krimi in Literatur, Film und Serie

Inhalt

1. Einleitung

1.1 Ein spannendes und vielfältiges Genre

Ein Blick in die Programme von Verlagen, Fernsehsendern und Filmanbietern legt die Vermutung nahe, dass es kein populäreres Genre gibt als den Krimi. Stellvertretend für viele sei auf zwei Superlative hingewiesen: „Nur von ShakespeareShakespeare, Williams Werken und von der Bibel sind mehr Exemplare verkauft worden als von [Agatha] ChristieChristie, Agathas Romanen, inzwischen über zwei Milliarden“ (Hamann 2016, 26). Nach den Romanen und Erzählungen setzten Filme und Serien die Erfolgsgeschichte fort. Für die Erstausstrahlung der Francis-DurbridgeDurbridge, Francis-Verfilmung Das HalstuchDas Halstuch als sechsteiliges Fernsehspiel im Januar 1962 wurde die sensationelle Einschaltquote von 89 Prozent ermittelt.

Einführungen in die Kriminalliteratur gibt es bereits (v.a. Vogt 1971; Vogt 1998; Nusser 2009), ein Handbuch von 2018 dokumentiert den Forschungsstand (Düwell u.a. 2018). Ebenso hat der Kriminalfilm in seinen verschiedenen Ausprägungen immer wieder Beachtung erfahren (Hickethier 2005; Grob 2012; Koebner/Wulff 2013). Dazu kommen Studien zu Subgenres und besonderen Themen (z.B. Föcking/Böger 2012; Hißnauer u.a. 2014). Allerdings ist das Feld der grundlegenden Handreichungen immer noch übersichtlich, wenn man sie mit dem Erfolg des Genres vergleicht.

Der wichtigste Grund dürfte sein, dass die Popularität des Genres als Zeichen schneller Konsumierbarkeit und somit als Beleg für seine Trivialität gewertet wird (vgl. z.B. Alewyn 1998, 52; Wörtche 2007, 344; Nusser 2009, 11; Worthington 2011, 1). Mit anderen Worten: Wenn etwas so einfach gestrickt ist wie ein Krimi, dann lohnt sich keine (literatur- oder kultur-)wissenschaftliche Auseinandersetzung (es sei denn, man blickt auf das Genre als Kulturbetriebsphänomen). Dieses Urteil ist allerdings ein Vor-Urteil. So hat beispielsweise Josef HoffmannHoffmann, Josef in seiner Studie Philosophien der KriminalliteraturPhilosophien der Kriminalliteratur versucht, die „Entstehung der Kriminalliteratur aus dem Geist der westlichen Philosophie“ zu erklären (Hoffmann 2013, 41). Auch andere Genres waren oder sind populär und auch hier ist der größere Teil stets eher der Unterhaltung gewidmet. Das heißt aber nicht, dass es nicht einen Anteil an herausragenden, innovativen und im Wortsinn bemerkenswerten Beispielen gibt, die eine genauere Betrachtung geradezu herausfordern. GoethesGoethe, Johann Wolfgang von Die Leiden des jungen WertherDie Leiden des jungen Werther und Die WahlverwandtschaftenDie Wahlverwandtschaften sind frühe Beispiele für Liebesromane – aber doch wohl keineswegs trivial.

Die bisherigen Studien, Sammelbände und Nachschlagewerke können keinen historischen Überblick über den ‚ganzen‘ Krimi geben, obwohl beeindruckende Versuche vorliegen (vgl. z.B. Arnold/Schmidt 1978 u. Walter 2002). Der vorliegenden Einführung kann und wird es ebenfalls nicht gelingen, alle Medien und Aspekte abzudecken und das allein für den „Kriminalroman“ festgestellte „erhebliche[s] Forschungsdesiderat“ zu beheben (Wörtche 2007, 345). Dennoch soll erstmals der Versuch gewagt werden, den Krimi in Literatur, Film und Serie gemeinsam beispielhaft zu beleuchten. Auch das kann natürlich nur sehr selektiv geschehen, und dies bereits, wenn es um die Einbeziehung anderer kultureller Traditionen geht. Die im deutschsprachigen Raum besonders populäre US-amerikanische und britische Krimi-Tradition soll in die Darstellung mit einbezogen werden.

Die Ausdifferenzierung des Genres hat zu einer segmentierten Betrachtung verschiedener Subgenres geführt, die allerdings in ihrer idealtypischen Ausprägung nur selten vorkommen. Wie soll man sinnvoll eine Kriminalerzählung von einer Detektivgeschichte oder einem Thriller abgrenzen? Die Handlung entwickelt sich äußerst selten entweder retrospektiv-analytisch oder in die Zukunft gerichtet, in den meisten Fällen findet man eine Mischung von beidem vor. Und wohin gehören beispielsweise die Spionageerzählung oder der Spionagefilm? James BondJames Bond jagt in der Regel nicht politisch motivierte Verbrecher, sondern Kriminelle, die den Globus in Geiselhaft nehmen.

Kriminelle Handlungen sind in Literatur und Film ohnehin an der Tagesordnung. Letztlich kann nur das gewählte Analyseraster offengelegt und dann am Einzelbeispiel diskutiert werden, welches Thema überwiegt: Die Krimihandlung oder die Liebe zwischen den Protagonisten, selbst wenn gewalttätiges Verhalten eine große Rolle spielt, oder ein politisches Thema wie Rassismus, auch wenn Polizei und Gerichtsverfahren einen breiten Raum einnehmen. Ist also Harper LeeLee, Harpers To Kill a MockingbirdTo Kill a Mockingbird (Wer die Nachtigall stört) von 1960, ein moderner Klassiker der US-amerikanischen Literatur, nun ein Krimi? Wie steht es mit der Verfilmung von 1962 unter der Regie von Robert MulliganMulligan, Robert, die drei Oscars bekam und als einer der besten amerikanischen Filme überhaupt gilt? (AFI’S 100 Years 2019). Gregory PeckPeck, Gregory spielt die Hauptrolle, einen Anwalt, der einen Farbigen verteidigt, wobei der Plot als allegorische Anklage des alltäglichen Rassismus in den USA angelegt ist. Handelt es sich nun bei Buch und Film um Krimis?

Offenbar ja, denn es sind gleich mehrere Merkmale des Krimis zu finden – ein (angebliches) Verbrechen, Polizeiarbeit, eine Gerichtsverhandlung und am Ende noch versuchter Mord mit Notwehr. Andererseits zögert man, auch weil der Begriff des Krimis in der Praxis seiner Verwendung so weit herabgesunken ist, dass er vor allem die populären Ausprägungen des Genres meint. Deshalb ist beispielsweise Tatort-Kommissar Felix Murot, gespielt von Ulrich Tukur, so umstritten. Vor allem jene, die Entspannung durch Spannung suchen und erwarten, dass gängige Muster des Genres bedient werden, fühlen sich überfordert. Angriff auf Wache 08Angriff auf Wache 08 von 2019 beispielsweise (Regie Thomas StuberStuber, Thomas, mit ihm gemeinsam schrieb Schriftsteller Clemens MeyerMeyer, Clemens das Drehbuch) hatte am 24.08.2019 Premiere auf dem Festival des deutschen Films – unüblich für eine Fernsehproduktion (Angriff auf Wache 08 2019).

Die grundlegenden Fragen danach, was das Genre ausmacht, sind alles andere als neu. Ein Beispiel für die Wirkmacht von Tradierungen: Für die Forschung steht offenbar fest, dass das Genre mit Edgar Allan PoePoe, Edgar Allans Murders in The Rue MorgueMurders in The Rue Morgue (Die Morde in der Rue Morgue) beginnt (vgl. z.B. Scaggs 2005, 7; Düwell 2018, 286), obwohl in der deutschsprachigen Literatur bereits mit Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre eine bahnbrechende und zentrale Kriminalerzählung vorliegt und mit E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A.s Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi wenige Jahrzehnte später eine Detektiverzählung (vgl. Bloch 1998, 40), die modern genug ist, um beispielsweise von ihr eine Brücke zu den Romanen um den Detektiv Brenner von Wolf HaasHaas, Wolf zu schlagen (zu möglichen weiteren Beispielen vgl. die Auswahl in Hamann 2016).

Dass es sich um eine international konventionalisierte Genregeschichte handelt, macht die, wenn auch in jüngerer Zeit monierte (z.B. Beck 2014, 33), Brüchigkeit der Argumentation nicht plausibler. So beginnt Richard Bradfords außerordentlich kundige Einführung in das Genre mit dem Hinweis auf Vorläufer wie SophoklesSophoklesKönig ÖdipusKönig Ödipus, HerodotHerodots Rhampsinit und der MeisterdiebRhampsinit und der Meisterdieb oder ShakespeareShakespeare, Williams HamletHamlet (Bradford 2015, 1), wobei es sich hier auch um Dramen handelt.

Reclams Kriminalromanführer verortet „die anscheinend erste Detektivgeschichte der Weltliteratur“ 1679 in China und spart die englische gothic novel des 18. Jahrhunderts nicht aus (vgl. Arnold/Schmidt 1978, 43). In einer Liste der ‚hundert lesenswerten Krimis‘ kommen allerdings weder Schillers noch HoffmannHoffmann, E.T.A.s Erzählungen vor, ebenso fehlt FontaneFontane, Theodors Unterm BirnbaumUnterm Birnbaum. Dafür finden sich ganze neun Titel von Sir Arthur Conan DoyleConan Doyle, Arthur, aber nur zwei von Agatha ChristieChristie, Agatha (vgl. Arnold/Schmidt 1978, 403ff.), die (wie eingangs festgestellt) mehr Kriminalromane verkauft hat als jede*r andere Krimiautor*in. Folgende Schlussfolgerung liegt nahe: Jede Auswahl in einer Einführung kann nur eine sehr subjektive sein.

Bradford erwähnt SchillerSchiller, Friedrichs Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre und E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A.s Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi (Bradford 2015, 70f.), er betont sogar die wegweisenden Merkmale einer Psychologie des Verbrechens einerseits und der Entstehung der Figur einer Amateurdetektivin andererseits. Dennoch ist für ihn Edgar Allan PoePoe, Edgar Allans Figur Auguste Dupin der Prototyp des Detektivs, er ist sogar ‚Patriarch einer Nachkommenschaft von Holmes, Poirot, Miss Marple, Maigret‘ und den anderen bekannten Detektivfiguren (Bradford 2015, 7), und dies lediglich aufgrund eines Merkmals – der schlüssigen, auf Logik basierenden Detektion.

Dieses Merkmal wird aber nur für die schematisch ablaufenden Detektiverzählungen gelten. Es wird zu einem Merkmal trivialer Literatur. HoffmannHoffmann, E.T.A.s Das Fräulein von ScuderiDas Fräulein von Scuderi konterkariert es bereits, bevor es entsteht, und dies nicht zufällig als Reaktion auf die Defizite des Rationalismus der Aufklärung. Auch spätere Autoren wie Wolf HaasHaas, Wolf mit seiner Figur des Detektivs Simon Brenner werden sich nicht daran halten. Sogar PoePoe, Edgar Allans Erzählung bekommt durch die Figur des Täters – einen Affen – eine sehr untypische Note (Bradford 2015, 9).

Wie konnte es so weit kommen, weitgehend unwidersprochen PoePoe, Edgar Allan zum „,father‘ of the detective genre“ (Scaggs 2005, 7) zu erklären und ihn als Vater der rationalistischen Kriminalerzählung zu feiern? Auch darüber gibt Bradfords Einführung Auskunft, wenn er auf den Systematisierungsversuch von Tzvetan TodorovTodorov, Tzvetan verweist (die von 1966 stammende Typologie des Kriminalromans ist auch abgedruckt in Vogt 1998, 208-215). Doch bereits mit der Feststellung „Der Kriminalroman hat seine Normen“ und mit der Zuordnung des Krimis zur „Massenliteratur“ (ebd., S. 209) markiert Todorov deutlich, dass er eine bestimmte Ausprägung dessen meint, was allgemein in der Literaturwissenschaft unter Krimi verstanden wird.

Einige Systematisierungsversuche – Todorovs zählt zu den besonders populär gewordenen – haben das Bild eines Genres gezeichnet, das bei näherem Hinsehen deutlich an Kontur verliert. Einige wichtige Ansätze für mögliche Weiterungen gibt es bereits, etwa den Versuch, eine Geschichte der „Kriminalfallgeschichten“ an Beispielen aus den letzten vier Jahrhunderten zu schreiben (Košenina 2014). Mit der vorliegenden Einführung soll nun ein weiterer Versuch einer solchen Ausweitung des Blicks gewagt werden, und das hoffentlich, ohne den Fokus zu verlieren.

1.2 Vorgehensweise

Die bisherigen Versuche der Genrebeschreibung zeigen, dass man der heterogenen Thematisierung von Verbrechen in der fiktionalen Prosa-Literatur (auf die sich so gut wie alle Genrebeschreibungen beschränken) eine Systematik aufgezwungen hat, die deutliche Limitierungen hat und nur funktioniert, wenn man sich auf einige wenige stereotype Merkmale konzentriert – die dann vor allem zu Merkmalen trivialer Literatur über Verbrechen werden. Von prototypischen, bereits in den Anfängen hybriden Beispielen ausgehend soll daher überlegt werden, welche Themen und Merkmale jeweils welche Geltung beanspruchen, um so zu einer stärker auf die literarische und filmische Praxis bezogenen Beschreibung des Genres zu gelangen.

Dabei wird die Frage nicht unwichtig sein, welche Krimis aus welchen Gründen zu den herausragenden Beispielen ihres Genres gezählt werden können. Um beurteilen zu können, ob ein Text, ein Film oder eine Serie als besonders gelungen angesehen werden kann, sind aber zunächst die genrespezifischen Merkmale zu ermitteln: Welche Diskurse von Gerechtigkeit werden so präsentiert, dass sie beispielsweise als (sozialgeschichtlich bzw. gegenwärtig) relevant angesehen werden können? Wie ist das Verhältnis der außertextuellen Auffassung von Gerechtigkeit und der poetischen Gerechtigkeit des Texts? Welche Rolle spielen Emotionen textintern wie textextern, also einerseits für das Verhalten der Figuren und andererseits für die Rezeptionssituation? In welcher Weise und aus welchen Gründen werden bestimmte Figuren oder Handlungen als ‚gut‘ oder ‚böse‘ markiert?

Ob es sich bei Krimis um – nach einer Unterscheidung des Soziologen Niklas LuhmannLuhmann, Niklas – Kitsch, Kunsthandwerk oder Kunst handelt (Luhmann 1997, 300ff.), lässt sich so zwar ermitteln, aber natürlich nicht verbindlich festschreiben. Erstens sind die Kriterien der Beurteilung historisch und kulturell variabel und zweitens ist es jeder und jedem selbst überlassen, was sie oder er aus welchen Gründen rezipiert. Allerdings kann es niemandem, die oder der sich für das Genre interessiert, schaden, sich darüber zu informieren, welche besonderen Qualitäten Krimis aus Sicht einer fachwissenschaftlichen Beurteilung haben oder eben nicht haben. Immerhin sind Bücher geistige Nahrung und der Nahrungsaufnahme sollte zumindest eine Einschätzung der Qualität des Essens und vielleicht sogar seiner Risiken und Nebenwirkungen vorausgehen. Ein wichtiges Ziel dieser Einführung ist es daher auch, den professionelleren Blick auf Krimis zu schulen, so dass die Leserinnen und Leser nach der Lektüre dieses Buches besser dazu in der Lage sind zu entscheiden, welche Krimis sich für sie persönlich lohnen – zur Unterhaltung wie zur Vermittlung etwa in der Schule.

Bei aller Kritik an der bisherigen Systematik wird es schwierig sein, aus dem Stand eine neue Systematik zu entwickeln, die geeigneter ist als die alte, erst recht in einer Einführung. Daher soll die Grobstruktur die bisher üblichen Begriffe zwar zum Teil übernehmen, es soll in der Argumentation aber auch immer diskutiert werden, welche Limitierungen die Einordnung der jeweiligen Beispiele in eine solche ‚Schublade‘ hat.

Der Begriff der ‚Erzählung‘ soll nicht nur literarische Texte, sondern auch Filme und Serienfolgen umfassen. Die Kriminalerzählungen sind die allgemeinste Kategorie – also ohne eines der Merkmale, die für die folgenden Kategoriebildungen zentral sind (und wohl am nächsten an der oft so genannten ‚Verbrechensliteratur‘). In den Detektiverzählungen steht, wenig überraschend, eine Detektivfigur im Mittelpunkt, allerdings kann dies ein Polizei- oder ein Privatdetektiv sein – oder beides. Oftmals werden dann beide, Privatdetektiv und Polizist, als antagonistische Ermittlerfiguren eingeführt – man denke an Inspector Lestrade in den Sherlock-Holmes-Erzählungen und deren Adaptionen. Es gibt aber auch genügend Beispiele für Helferfiguren – so hat Detektiv Jim Rockford in den Rockford FilesRockford Files (Detektiv Rockford – Anruf genügt), 1974-80 gespielt von James GarnerGarner, James, einen Freund bei der Polizei. Ebenfalls kann ein Anwalt oder ein Richter oder ein Gerichtsmediziner Ermittler*in sein – solche Sonderfälle können hier nur erwähnt werden.

Thriller ist zu einem Sammelbegriff geworden für alle Erzählungen, die vorrangig auf Handlungsspannung setzen – daher werden Eingrenzungen unvermeidlich sein. Auf den Sonderfall Spionageerzählungen soll an dem prototypischen Beispiel James BondJames Bond kurz eingegangen werden. Spione sind im Auftrag von Regierungen international handelnde Figuren, die Verbrechen aufzuklären oder zu verhindern suchen oder auch selbst begehen. Komödien und Parodien nutzen Merkmale der genannten Subgenres, auch hier ist das Spektrum viel größer, als dies zu zeigen möglich sein wird. Es reicht von mit Humor erzählten Krimis über Genreparodien bis hin zu satirisch-kritischen Funktionalisierungen von Krimimerkmalen.

Zu Serien müsste eigentlich (mindestens) eine eigene Einführung geschrieben werden. Sie sind außerordentlich populär und auch wenn sie seit der Etablierung von Streaming-Kanälen in den 2010er Jahren noch einmal mehr zu boomen scheinen, so haben sie schon viel früher ein breites Publikum angezogen. Dies betrifft sowohl Miniserien wie scheinbar endlose Fortsetzungen in Staffeln mit zahlreichen Folgen, etwa von 1972-77 die erfolgreichen The Streets of San FranciscoThe Streets of San Francisco (Die Straßen von San Francisco) mit 120 Folgen in fünf Staffeln; durch sie wurde Michael DouglasDouglas, Michael zum Star. Auch Beispiele aus Deutschland ließen sich hier nennen, so wurden von Der KommissarDer Kommissar mit Erik OdeOde, Erik in den Jahren 1968-75 immerhin 97 Folgen produziert. Der internationale Verkaufsschlager DerrickDerrick mit Horst TappertTappert, Horst in der Titelrolle brachte es sogar von 1974-98 auf 281 Folgen in 25 Staffeln. Die österreichische Serie Kottan ermitteltKottan ermittelt, die von 1976-84 in sechs Staffeln auf 19 Folgen kam, gilt als eine der besten deutschsprachigen Genreparodien.

Nur angesprochen werden kann, dass es wichtige Überschneidungen zu anderen Genres und Gattungen gibt, etwa zum Drama und zur Lyrik. Das Spektrum reicht von hochkanonisierten Texten wie Heinrich von KleistKleist, Heinrich vons Gerichtsdrama und Komödie Der zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug (1828) oder populären Gerichtsdramen wie HokuspokusHokuspokus von Curt GoetzGoetz, Curt (Urfassung 1828) mit den entsprechenden Verfilmungen bis hin zu Kriminalhandlungen auf der Bühne wie in dem wohl größten Bühnenerfolg aller Zeiten, Agatha ChristiesChristie, Agatha Mouse TrapMouse Trap (dt. Die Mausefalle), ein Stück, das seit dem Uraufführungsjahr 1952 bis zur durch das Corona-Virus bedingten Schließung der Theater 2020 täglich im Londoner West-End aufgeführt wurde. Auch in der Ballade finden sich oft Kriminalhandlungen. In Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Die Kraniche des IbykusDie Kraniche des Ibykus (1797) beispielsweise geht es um die Ermordung des Dichters Ibykus (Ibykos) durch Räuber, die sich später selbst entlarven. Frank WedekindWedekind, Franks satirisches Gedicht Der TantenmörderDer Tantenmörder (1902) handelt von einem jungen Mann, der sich für den Mord an seiner Tante aus Habgier vor einem Gericht rechtfertigt, und in Erich KästnerKästner, Erichs Die Ballade vom NachahmungstriebDie Ballade vom Nachahmungstrieb (1931/32) wird aus Spiel Ernst, wenn ein Kind von anderen verurteilt und hingerichtet wird.

Texte wie die beiden letztgenannten stehen in der Tradition der Moritat, einer Variante des Bänkelsangs, die vor allem im ausgehenden Mittelalter und in der Frühen Neuzeit von fahrenden Sängern gepflegt wurde. Bertolt BrechtBrecht, Bertolts DreigroschenopeDreigroschenoperr (1928) handelt nicht nur von Verbrechern und ihren Untaten; aus dem Drama stammt auch die berühmte Moritat von Mackie MesserMoritat von Mackie Messer, die von zahlreichen berühmten Sänger*innen adaptiert wurde (Louis ArmstrongArmstrong, Louis, Hildegard KnefKnef, Hildegard, Frank SinatraSinatra, Frank, Eartha KittKitt, Eartha, Robbie WilliamsWilliams, Robbie u.v.m.).

Auch innerhalb der fiktionalen Prosa-Literatur gibt es zahlreiche Überschneidungen, als Beispiel sei nur auf das Horror-Genre hingewiesen. Horrorerzählungen und -filme haben in der Regel mit Straftaten zu tun, so handelt Stephen KingKing, Stephens Roman ItIt (dt. Es) von 1986, ebenso wie seine nicht weniger populären Verfilmungen, von einem als Clown auftretenden Monster, das Kinder ermordet. Der sage und schreibe bereits 22. Roman des Autors hat zugleich Fantasy-Elemente; anders als andere Horrorproduktionen wie etwa, um ein Filmbeispiel zu nennen, Alfred HitchcockHitchcock, Alfreds PsychoPsycho von 1960. Darin geht es eigentlich um einen jungen Mann, der aus einem ödipalen Persönlichkeitskonflikt zum Mörder wird. Komödien wie Hot FuzzHot Fuzz (2007; Regie Edgar WrightWright, Edgar) arbeiten mit Krimi-, Thriller- und Horrorelementen.

Die Konzentration auf Prosaliteratur und Film (Spielfilme, Serien) und auf einige wenige Merkmale, die sich vor allem an der ‚Profession‘ – Ermittler oder Täter – der im Mittelpunkt stehenden Figur(en) orientieren, soll nicht als einziges, sondern als ein mögliches Raster verstanden werden, um die Hybridität und die Breite der Produktionen exemplarisch besser darstellen zu können. Die Notwendigkeit zu weiteren Beschränkungen liegt in der Natur der Sache einer solchen Einführung, etwa die Konzentration auf Texte der fiktionalen Literatur, auf fiktionale Filme und Serien fast ausschließlich deutsch- oder englischsprachiger Produktion. Eine Abgrenzung zu (halb-)dokumentarischen Formaten (etwa Aktenzeichen XY ungelöstAktenzeichen XY ungelöst oder den CSICSI-Serien) kann ebenso wenig erfolgen wie eine grundlegende Diskussion darüber, was unter Film oder Serie zu verstehen ist. Als Film wird hier der Regelfall des Spiel- oder Fernsehfilms gesehen mit seiner durchschnittlichen Länge von 90 Minuten; unter Serie wird alles verstanden von der abgeschlossenen Miniserie bis zu über viele Staffeln gehenden Serienformaten mit mehr oder weniger abgeschlossenen Handlungen je Episode oder Staffel.

Ein hier nur kurz zu erwähnendes Problem ist die Übersetzung oder Synchronisation von Kriminalerzählungen. Wohl wegen der vermuteten Trivialität des Genres lassen sich selbst bei den bekanntesten Werken Eingriffe beobachten, die philologisch nicht zu rechtfertigen sind. So stellt Monika Gripenberg zu einer Übersetzung von Agatha ChristieChristie, Agathas The Murder of Roger AckroydThe Murder of Roger Ackroyd (1926; dt. üblicherweise Alibi) fest, dass in „der deutschen Ausgabe des Romans“ eine „etwa vier Seiten lange Konversation einfach weggelassen“ wurde, und fügt hinzu: „[…] bei den deutschen Ausgaben Agatha Christies scheint es leider ein gebräuchliches Vorgehen zu sein, alles zu streichen, was nicht zum unmittelbaren Verständnis der Handlung notwendig ist“ (Gripenberg 2005, 52f.). Yaak KarsunkeKarsunke, Yaak hat vergleichbare Verstümmelungen an den Übersetzungen der Romane Raymond ChandlerChandler, Raymonds beobachtet (Karsunke 1978, 118). Bei englischsprachigen Texten und Filmen wird daher stets auf das Original zurückgegriffen.

1.3 Gratifikationen für Krimi-Leser*innen

Lesezeit ist Lebenszeit, auch wenn sie nicht gewaltsam verkürzt wird. Von solchen gewaltsamen Verkürzungen handelt dieser Band Gott sei Dank nur in Theorie und Fiktion. Gibt es in der Realität überhaupt Fälle, in denen Bücher getötet haben? Umberto EcoEco, Umbertos Roman Der Name der RoseDer Name der Rose (1980) schildert einen solchen Fall, dort ist es bekanntlich ein an den Seiten vergiftetes Buch, das lesehungrige Mönche ihr Leben kostet. Der im Mittelalter spielende Kriminalfall – die augenzwinkernden Verweise auf Conan DoyleConan Doyle, Arthurs Figuren Sherlock Holmes und Doktor Watson sind offensichtlich – würde auch in die Reihe der zu behandelnden Bücher gehören, wenn genug Raum für alles wäre, was wichtig ist. Ebenso die Verfilmung von 1986, eine der überzeugenderen Literaturverfilmungen mit deutscher Beteiligung. Regie führte Jean-Jacques AnnaudAnnaud, Jean-Jacques und die Hauptrolle spielte Ex-James-BondJames Bond Sean ConneryConnery, Sean. Das Beispiel zeigt, dass Tragik und Komik nah beieinander liegen: AristotelesAristoteles’ Buch über die Komödie ist es, das als verschollen gilt und aus dem die Mönche ihre verbotenen Lesefrüchte kosten. Dass das Buch mit der Bibliothek des Klosters verbrennt, ist ein wunderbarer Roman- und Film-Trick. So liefert Eco eine fiktionale Erklärung für das faktuale Fehlen eines der (vermutlich) einst realen Bücher, die grundlegend für unsere Kultur waren oder gewesen wären.

Ecos metafiktionaler Roman zeigt deutlich: Fiktionen modellieren mögliche Wirklichkeiten. Es wird zu diskutieren sein, wie sie dies tun und weshalb. „Nichts entspannt so sehr wie Mord und Totschlag“, titelte der Tagesspiegel (Huber 2016). Die besondere Konjunktur des Genres erklärt Joachim HuberHuber, Joachim wie folgt:

Das Publikum sucht über die Klammer aus Verbrechen und Entertainment ja seiner Alltagserschlaffung zu entkommen. Alltag, das ist zwar die gemeinhin gewollte Lebensform, gerne abgesichert über ein Kordon aus Versicherungen gegen das Nicht-Alltägliche, aber dieser Alltag hat eben seinen sehr niedrigen Thrill-Horizont. Da kommt der Fernsehkrimi gerade recht: Teilhabe und Teilnahme an fremder Gefahr bis hin zum Mord, das Schlimmste, was passieren kann, sind Schweißausbruch und Angst vorm Gang in den Keller. Spannung wird Entspannung, Entspannung wird Spannung, das klingt nach Paradox und ist doch nur die Klammer, die Krimi und Krimifan umfasst. (ebd.)

Antje StrubelStrubel, Antje kommt im Deutschlandfunk zu einem etwas anderen Befund: „Die Konjunktur von Krimis in einer Gesellschaft, heißt es, weise auf steigende soziale Spannungen hin“ (Strubel 2007). Bedeutet dies aber nun, dass Krimis das Animalische im Menschen verarbeiten helfen oder befördern, dass sie soziale Spannungen reduzieren oder verstärken? Wenn Strubel, die selbst Schriftstellerin ist, die Lektüre des von ihr besprochenen Bandes mit Kriminalerzählungen von Håkan NesserNesser, Håkan als „Zeitverschwendung“ abtut (ebd.), dann wird offensichtlich, dass sie andere Maßstäbe an die Lektüre anlegt als jene nach Entspannung suchenden Rezipient*innen.

Nicht zu vergessen ist, dass Krimis Waren sind. Es ist daher kein Zufall, dass sich etwa auch das Börsenblatt des deutschen Buchhandels mit der Frage der Krimi-Konjunktur beschäftigt hat. Michael Roesler-GraichenRoesler-Graichen, Michael nennt Zahlen aus dem Jahr 2011, an denen sich grundsätzlich wenig geändert haben dürfte:

Spannungsliteratur hat Konjunktur: mehr als ein Viertel der gesamten Belletristikproduktion der deutschen Verlage sind Krimis, Thriller oder Mischformen, die auch Elemente aus Science-Fiction und Fantasy enthalten können. Die Tendenz ist insgesamt gleichbleibend, auch wenn es laut ‚Buch und Buchhandel in Zahlen‘ für das vergangene Jahr einen leichten prozentualen Rückgang zu verzeichnen gibt (2010: 27 Prozent; 2009: 28,3 Prozent). […] Während die Zahl der Novitäten auf hohem Niveau bleibt, wird das Spektrum der Krimireihen breiter und die Genredifferenzierung immer größer. Beispiele sind die neue Reihe Polaris von Rowohlt, die Internationalisierung des Regionalkrimis (Luxemburg, Bretagne, Mallorca etc.) und die immer ausgefallenere Spezialisierung (Wein-, Kaffeehaus-, Schrebergarten-, Wilhelm-Busch-, Gänse-Krimi). (Roesler-Graichen 2011)

Es gilt das Gesetz von Angebot und Nachfrage: Wenn sich Krimis nicht so gut verkaufen würden, gäbe es viel weniger davon. Die genannten Subgenres deuten an, dass Gewalt dabei nicht nur auf Menschen beschränkt bleibt. Zu den besonders originellen Beispielen gehören die millionenfach verkauften Schafskrimis (Glenkill. Ein SchafskrimiGlenkill. Ein Schafskrimi, 2005; Garou. Ein Schaf-ThrillerGarou. Ein Schaf-Thriller, 2010) und der Papageienkrimi (GrayGray, 2017) von Leonie SwannSwann, Leonie, einer in Dachau geborenen Autorin, die unter Pseudonym schreibt.

Umso dringender gestaltet sich nach der Frage, was ein Krimi überhaupt ist oder sein kann, die Frage, welche Gratifikationen Krimis bereitstellen, um so erfolgreich sein zu können. Die in den letzten Jahrzehnten boomenden Regionalkrimis beispielsweise punkten mit ihrem Bezug zu einem Ort oder einer Landschaft, wobei das Bedürfnis nach Identifikation mit einer Herkunftsregion ebenso eine Rolle spielen dürfte wie das nach lokalen Sensationen, auch wenn sie nur fiktiv sind. Besonders bekannte Orte und Landschaften bieten darüber hinaus Leser*innen Anknüpfungspunkte, die diese Gegenden vielleicht nur von Urlauben kennen. Allein die Topographie sorgt für eine erhöhte Aufmerksamkeit, vergleichbar etwa mit der früher so populären Heimatliteratur.

Wenn nachfolgend bestimmte Erzähltexte, Filme und Serienfolgen ausgewählt werden und der Vorschlag gemacht wird, die Geschichte der modernen Kriminalliteratur bereits im 18. Jahrhundert und hier vor allem mit Friedrich SchillerSchiller, Friedrichs Der Verbrecher aus verlorener EhreDer Verbrecher aus verlorener Ehre und Der GeisterseherDer Geisterseher zu beginnen, dann wird dies bei einem so populären und bekannten Genre vielleicht bei einigen zögerliche Zustimmung, bei anderen aber prinzipiellen Protest hervorrufen. Nun kann ein solches Büchlein – wie jede Publikation – nur ein Diskursbeitrag sein, der im besten Falle weitere Diskursbeiträge provoziert. Wenn diese Einführung Interesse genug wecken sollte, dass das für die Produktion und Rezeption von Literatur und Film zentrale Genre weniger stiefmütterlich behandelt wird, dann ist schon viel gewonnen.

 

*****

 

Mein Dank gebührt allen, die mit mir über das Thema diskutiert und mir Anregungen gegeben haben, dazu zählen Helga Arend, Renate Giacomuzzi, Klaus Kanzog, Nicole Mattern, Kirsten Reimers, Helmut Schmiedt und andere, die bitte nicht böse sind, wenn sie hier nicht namentlich genannt werden.

Außerdem danke ich Kathrin Heyng von der Verlagsgruppe Narr Francke Attempto sehr herzlich für Ihre Unterstützung von Anfang an und für die wie stets umsichtige und freundliche Betreuung des Projekts.

Fragen zu diesem Kapitel:

 

Weshalb ist der Krimi ein so populäres Genre?

Welches sind die wichtigsten Merkmale eines Krimis?

Weshalb ist es ein Problem, die Geschichte des Genres mit Poes Erzählung über die Morde in der Rue Morgue beginnen zu lassen?

Wie lässt sich der Krimi unterteilen?

Weshalb sind Abgrenzungen zwischen Genrebezeichnungen mit Kriminalhandlung schwierig?

Inwiefern ist die Bewertung von Kriminalerzählungen historisch und kulturell variabel?

Welche Überschneidungen gibt es zu Drama und Lyrik?

Welche Überschneidungen gibt es zu anderen Genres?

2. Merkmale

2.1 Was ist ein ‚Krimi‘?

Es gibt, wie wir noch sehen werden, viele Genredefinitionen und verschiedene Begriffe, die hier unter ‚Krimi‘ als Oberbegriff zusammengefasst werden sollen. So finden sich etwa im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft unter der Überschrift „Kriminalroman“ Unterkategorien wie „Detektivgeschichte“ und „Thriller“ (Wörtche 2007, 342). Das Lemma ‚Kriminalroman‘ wurde gewählt, obwohl der Autor des Artikels zugesteht: „Einen konsensfähigen Begriff des Kriminalromans gibt es nicht“ (Wörtche 2007, 343). Das ältere Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte verwendet dagegen „Kriminalgeschichte“ als strukturbildenden Begriff und erläutert, es handele sich um „eine Sammelbezeichnung für erzählende Werke, in deren Mittelpunkt Verbrechen und Verbrecher und deren gerichtliche Verfolgung und Bestrafung stehen“ (Frenzel 1984, 895). Dieser Begriff kursiert immerhin bereits, wie Edgar MarschMarsch, Edgar gezeigt hat, seit dem Ende des 18. Jahrhunderts (Marsch 1983, 7). Richard AlewynAlewyn, Richard stellt in seinem einflussreichen Beitrag zum Thema fest, „Krimi“ sei nur die „Koseform“ für „Kriminalroman“ und es komme oft zu einer Verwechslung mit dem „Detektivroman“, den er nun seinerseits in den Mittelpunkt rückt (Alewyn 1998, 52).

Die einschlägigen Definitionen konzentrieren sich auf Prosa und vor allem auf den Roman. Was aber ist mit anderen Gattungen der Prosa (unabhängig von Dramen und Balladen, auf die hier nicht eingegangen werden kann), in denen Verbrechen geschildert werden, also beispielsweise mit Märchen? Volker LadenthinLadenthin, Volker hat, mit jedem Recht, eine Anthologie der „Märchen von Mördern und Meisterdieben“ erstellt (Ladenthin 1992) – wären das keine Krimis? Und wie ist es mit jenen Texten, die das Verbrechen, aber nicht die polizeiliche oder gerichtliche Verfolgung schildern und in denen vielleicht sogar keine Bestraftung des Täters erfolgt? Das ältere Reallexikon sieht die vorgestellte Genredefinition der Kriminalgeschichte jedenfalls als „weitmaschig“ an (Frenzel 1984, 895).

Peter NusserNusser, Peter wählt für seine grundlegende Einführung zunächst eine Unterscheidung in Verbrechens- und Kriminalliteratur (Nusser 2009, 1). Wenn die Verbrechensliteratur „nach den Motivationen des Verbrechers“ fragt und die Kriminalliteratur die „Anstrengungen, die zur Aufdeckung des Verbrechens und zur Überführung und Bestrafung des Täters notwendig sind“, in den Mittelpunkt stellt (ebd.), dann wird man bei der Suche nach Beispielen feststellen, dass sich auch die Kriminalliteratur in der Regel für die „Motivationen des Verbrechers“ interessiert, eben um ihm auf die Spur zu kommen. Wie würde man beispielsweise eine der erfolgreichsten Krimiserien aller Zeiten einordnen – ColumboColumbo mit Peter FalkFalk, Peter. Die legendäre US-amerikanische Serie wurde in den USA von 1968 bis 1978 und dann wieder von 1989 bis 2003 in insgesamt 69 spielfilmlangen Folgen ausgestrahlt. Als Vorbild für die Filmfigur gilt eine literarische Figur: der Untersuchungsrichter Porfirij Petrowitsch aus Fjodor DostojewskijsDostojewskij, Fjodor Michailowitschs Roman Schuld und SühneSchuld und Sühne (1866).

Lieutenant (Inspektor) Columbo, der für die Mordkommission des Los Angeles Police Department arbeitet, wird in jeder Folge mit einem Mordfall konfrontiert, bei dem ihm sehr bald klar wird, wer der Täter ist. Seine Aufgabe ist es nun, die Tat auch zu beweisen – dafür beschäftigt er sich intensiv mit dem Motiv des Täters und dem Hintergrund der Tat. Die Rollen der Täter*innen wurden oft prominent besetzt, u.a. mit Faye DunawayDunaway, Faye, Martin LandauLandau, Martin, Janet LeighLeigh, Janet, Vera MilesMiles, Vera, Leonard NimoyNimoy, Leonard, Donald PleasencePleasence, Donald, Vincent PricePrice, Vincent oder Robert VaughnVaughn, Robert. Zu Mördern wurden auch Sympathieträger wie der Sänger Johnny Cash oder der frühe Musicalstar (Mary PoppinsMary Poppins; 1964) und spätere Krimi-Ermittler Dick van Dykevan Dyke, Dick (Diagnosis MurderDiagnosis Murder, dt. Diagnose: Mord; 1993 bis 2001 in 178 Folgen).

Dies nur als Beispiel für die Schwierigkeiten, denen man sich ausgesetzt sieht, wenn man sich mit Begriffsdefinitionen des Krimis beschäftigt, auch wenn Definitionen ja eigentlich in der Lage sein sollten, halt- und überprüfbare Kurzcharakterisierungen zu liefern.

Wer Interesse an der bisherigen ‚idealtypischen‘ (Nusser 2009, 2) Begriffsbildung hat, der sei auf die älteren gängigen Einführungen verwiesen. Wer jedoch das Unbehagen über die geringe Trefferquote solcher Definitionen nachvollziehen kann, der möge mit auf die Reise gehen, den Krimi weniger aus Definitionen abzuleiten und stattdessen mehr auf die konzeptionellen Hintergründe und auf die Realisierungen in Literatur, Film und Serie zu achten – um zu einem (hoffentlich) ganzheitlicheren Verständnis des Genres zu gelangen.

Es gibt einige wenige grundlegende Merkmale des Krimis, die sich in einer Minimaldefinition so zusammenfassen lassen:

Ein Krimi handelt von einer im Rahmen der für die fiktionale Realität geltenden Normen strafbaren Tat (oder von mehreren solcher Taten), um die herum Figuren und Handlung organisiert sind, und von deren Aufdeckung mit Hilfe von Indizien (‚clues‘), erschwert durch falsche Fährten (,red herrings‘). Zentral für den Krimi ist Spannung, vor allem Handlungs- und Rätselspannung, die auf die Frage nach dem Täter, nach den Motiven oder nach den Folgen der Tat zielen kann.

Die Bedeutung der (Handlungs-)Spannung und der Indizien bei der Aufklärung des Falles hat beispielsweise bereits der Philosoph Ernst BlochBloch, Ernst hervorgehoben (Bloch 1998, 41). Oft falle, so stellt er weiter fest, der Krimi „mit der Leiche ins Haus“ (Bloch 1998, 45). Die Leiche könne aber auch etwas „anderes“ sein. Bloch verweist beispielsweise auf Heinrich von KleistKleist, Heinrich vons Lustspiel Der zerbrochne KrugDer zerbrochne Krug (1808), in dem es neben der Frage, wer den Krug zerbrochen hat, vor allem darum geht, wer die junge Eve nachts besucht und damit ihre Jungfräulichkeit bedroht hat.

Dennoch dürfte, außer in der Kinder- und Jugendliteratur (hier ist es, wie in Erich KästnerKästner, Erichs Emil und die DetektiveEmil und die Detektive von 1929, eher der Diebstahl), der Mord den Regelfall darstellen. Die Figuren, die im Mittelpunkt stehen, sind Opfer und (Straf-)Täter und solche, die die Täter verfolgen. Dabei handelt es sich vor allem um Polizist*innen oder (Privat-)Detektiv*innen, aber auch um Anwält*innen, an der Verbrechensaufklärung interessierte Bürger*innen oder Zeug*innen des Verbrechens, ebenso auf anderem Wege am Geschehen Beteiligte – wobei die Rollen wechseln und beispielsweise Ermittler*innen oder auch Täter*innen zu Opfern werden können.

Breiten Raum der Handlung nimmt die Schilderung oder die Erörterung des Verbrechens bzw. der Verbrechen ein. Zum üblichen Spannungsaufbau des Detektivromans hat beispielsweise Richard AlewynAlewyn, Richard festgestellt: „Die zentrale Frage im Detektivroman ist die Frage: Wer ist der Täter? Oder: Whodunit?, wie der englische Slang die Gattung treffend bezeichnet“ (Alewyn 1998, 57). Auf der Suche nach den Täter*innen kommen dann die Indizien oder ‚clues‘ ins Spiel (Alewyn 1998, 61), dies betont auch den rätsellösenden Spielcharakter der Gattung. Nicht zufällig gibt es seit 1948 ein populäres Brettspiel namens Cluedo, bei dem ein Mordfall aufgeklärt werden muss. Denn es gilt: „Die Kunst der Detektion besteht darin, Clues zu sehen und zu lesen“ (Alewyn 1998, 62).

Zu fragen ist, was mit einer Kategorie „Verbrechensliteratur“ gewonnen ist. Welcher Krimi handelt nicht von Verbrechen, welche/r Polizist*in oder welche/r (Hobby-)Detektiv*in untersucht es nicht, welche Gerichtsverhandlung dreht sich nicht genau darum, welche Verfolgungsjagden im Thriller haben es nicht zum Anlass oder zur Wirkung? So handelt zwar der US-amerikanische Spielfilm Bonnie und ClydeBonnie und Clyde von 1967 (Regie: Arthur PennPenn, Arthur; mit Faye DunawayDunaway, Faye und Warren BeattyBeatty, Warren) wie andere Verfilmungen dieser ‚wahren Geschichte‘ von einem Pärchen, das raubend und mordend Anfang der 1930er Jahre durch den Süden der Vereinigten Staaten zieht. Abgesehen davon, dass die „Motivationen des Verbrechers“ (Nusser 2009, 1) in den Verfilmungen ganz unterschiedlich beleuchtet werden, ist diese eine Verfilmung wohl vor allem deshalb so bekannt, weil sie das Verbrechen als Road Movie inszeniert und an der Verfassung einer von der Jugend als erstarrt und einengend empfundenen Gesellschaft der späten 1960er Jahre starke Zweifel anmeldet.

Gattungsunterscheidungen wie jene zwischen Detektivgeschichte und Thriller sind selbst zum Stereotyp geronnen: „Dominiere die Zukunftsspannung in ‚Thrillern‘, so die Geheimnis- oder Rätselspannung im Detektivroman, der darin dem ‚analytischen Drama‘ gleiche“ (Anz 1998, 157; vgl. u.a. auch Wörtche 2007, 342). Wenn allerdings Gattungsdefinitionen und -unterscheidungen davon abhängig gemacht werden, ob die Handlung auf die Rekonstruktion eines Geschehens in der Vergangenheit oder auf ein Geschehen in der Zukunft gerichtet ist, dann wird vernachlässigt, dass selbst die eine Rekonstruktion unternehmende Handlung eine auf die Zukunft gerichtete sein muss, weil es ja darum geht, eine*n Täter*in dingfest zu machen – dies ist nicht selten mit Momenten der Gefahr oder sogar weiteren kriminellen Handlungen bis hin zum Mord verbunden.

Ähnlich schwierig ist die Abgrenzung von Thriller und Spionageroman. Nusser ordnet letzteren zwar ersterem unter: „Der Spionageroman ist thematisch, aber nicht strukturell von anderen Erscheinungsformen des Thrillers unterschieden“ (Nusser 2009, 116). Es gebe eine „wesentliche thematische Variation“ in der Behandlung von „politischen Strukturen und Machtverhältnissen, die der Leser normalerweise nicht durchschaut“ (Nusser 2009, 117). Beim paradigmatischen Beispiel des Genres – Ian FlemingFleming, Ians Figur James BondJames Bond – sind die Strukturen und Machtverhältnisse eigentlich nur am Anfang unklar und es dauert nicht lange, bis ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen James Bond und seinem Gegenspieler beginnt, der sich auch gern von Auftragskillern und vergleichbar ‚gewöhnlichen‘ Verbrechern helfen lässt. Dabei fällt auf, dass die Rolle des Gegenspielers oft prominent mit Schauspielern besetzt ist, die durch frühere Rollen bekannte Sympathieträger sind, in jüngerer Zeit etwa mit Oscar-Preisträger Christoph WaltzWaltz, Christoph, so dass ein reines Gut-Böse-Schema nur noch für jene funktioniert, die das Spielerische und Ironische des Konzepts ignorieren.

Abgesehen davon, dass die Grenzziehung zwischen Politik und Verbrechen bei vielen Krimis nicht funktioniert, gibt es auch genügend Beispiele für eine Mischung von Ermittlern und Spionen, selbst in Vorabendkrimis wie SOKO WienSOKO Wien. Die Folge Im Paradies

thematischen Ausrichtung HomerHomerOdysseeOdysseeHamannHamann, ChristofSophoklesSophoklesKönig OidipusKönig ÖdipusBrechtBrecht, BertoltDreigroschenoperDreigroschenoperThe Beggar’s OperaThe Beggar’s Opera

Tausendundeine NachtTausendundeine Nacht mit Wurzeln in Indien und den arabischen Ländern, sie setzt bereits in der Rahmenhandlung mit Mord und Totschlag ein. Ein genauerer Blick würde zeigen, dass hier zum Teil sehr andere Auffassungen von Recht und Gerechtigkeit vorausgesetzt werden. Den Anfang des Zyklus von etwa bildet BruderDie Erzählung von König Schehrijar und seinem Bruder

Bekanntlich ist es Schehrezad, die buchstäblich um ihr Leben (und das ihrer Schwester) erzählt und den König durch ihre Erzählungen nicht nur zu besänftigen, sondern zudem als Ehemann zu gewinnen weiß. Auch das Nibelungenlied, ein Epos (also ein Langgedicht), in mittelhochdeutscher Sprache tradiert, handelt von Mord und Totschlag, ebenso der Bänkelsang – Lieder, die von fahrenden Sängern etwa auf Märkten gegen Entgelt vorgetragen wurden und die grausame Geschehen farbenfroh ausmalten, von denen (es gab noch keine Zeitungen) die Zuhörer*innen annahmen, dass zumindest die zugrunde liegende Handlung in der Realität stattgefunden hatte.

KafkaKafka, FranzDer ProzeßDer ProzeßIn der StrafkolonieIn der Strafkolonie

kritisches Verständnis jedes Genres

Alle Gattungen der Moderne sind Produkte des 18.-20. Jahrhunderts. Selbst die aus der Antike stammenden Begriffe wie Tragödie und Komödie wurden immer wieder neu gefasst und an die jeweiligen theoretischen wie praktischen Referenzrahmen angepasst. Bestenfalls können historische Gattungen vergleichsweise genau beschrieben werden (etwa der Minnesang), weil es sie seit Beginn der Moderne nicht mehr gibt.

autonom-ästhetischen Paradigma von Literatur als KunstGelfertGelfert, Hans-DieterWas ist gute Literatur?