Falk Fischer

Ganzheitliche Pflanzenheilkunde

Falk Fischer


Ganzheitliche Pflanzenheilkunde

Auf der Suche nach der ursprünglichen Lebenskraft

1. Auflage 2020

© Crotona Verlag GmbH

Kammer 11 • D-83123 Amerang • www.crotona.de

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

unter Verwendung von © Elena Rostunova 231472480 – shutterstock.com

ISBN 978-3-86191-160-9

Inhalt

Einführung – worum geht es?

Was ist Leben?

Lebewesen – eine Frage der Bindungsstärken

Beispiele für kollektive Lebewesen

Der Lebensbegriff

Intermezzo: Heilpflanzen für die Lebertätigkeit – Löwenzahn und Wegwarte

Der Teil und das Ganze

Komplexität und Kompliziertheit

Erkenntniswege und Heilung

Licht und Bewusstsein

Biophotonen

Intermezzo: Blutreiniger und Ordnungsmacher – Brennnessel und Bärlauch

Evolution als Klärungsprozess und Sinngeschehen

Die Bedeutung des Rhythmischen

Der Beginn des biologischen Lebens auf der Erde

Stabilisierung von Metastabilität

Eine kleine Theorie des Fühlens

Körper, Geist und Seele

Die bedeutungsschöpferische Kraft des Todes

Der Prozess der Artbildung

Der Evolution nachhelfen: Optimieren unter

der Perspektive der Ganzheitlichkeit

Der Gesundheitsbegriff

Intermezzo: Heilpflanzen der Wärmeorganisation – Holunder und Gundermann

Mensch und Pflanze

Die Kunst geeigneter Kategorisierungen

Erde, Wasser, Luft und Feuer

Planeten-Ordnungen

Das Ätherische und das Astralische

Pflanzenfamilien

Wirkstoffgruppen

Intermezzo: Heilpflanzen für die Haut – Ringelblume und Stiefmütterchen

Eine kleine Philosophie des Wirkens

Wirkprinzipien in biologischen Systemen

Wirkstoffe

Information

Lebenskraft

Qualia

Der Heilungsraum

Zubereitungsformen

Tees und Extrakte

Bachblüten

Homöopathie

Besondere Zubereitungsverfahren

Alchemistische Wandlungsprozesse

Intermezzo: Hustenheilpflanzen – Efeu und Spitzwegerich

Semantische Chemie

Wasserstoff

Sauerstoff

Kohlenstoff

Stickstoff

Kalium und Natrium

Magnesium und Calcium

Phosphor und Schwefel

Selbstähnlichkeit

Intermezzo: Universalheilpflanzen – Kamille und Schafgarbe

Schlusswort

Danksagung

Literaturverzeichnis

      Für Anne

Einführung – worum geht es?

Das vorliegende Buch entspringt einem jahrzehntelangen eigenen Ringen um die Frage, was Leben eigentlich ist. Wie lässt sich Leben von Grund auf verstehen und was macht es so anders als alles, was man sich ausdenken und bauen kann. Wie kann man sich diesem Wunder annähern, von der Pike auf, von den Gesetzen der Quantenphysik aus, ohne dabei gleich das Kind mit dem Bade auszuschütten und den Kern des Lebendigen dabei zu entzaubern und zu banalisieren. Das Leben ist ja gar nicht banal. Es strebt nach Sinnerfüllung, nach Ganzheit, nach einer grundlegenden Form von Verbindung. Unter einem bestimmten Blickwinkel lässt sich der gesamte Lebensweg als Heilungsweg begreifen, denn Heilung – wie auch das Heilige – leitet sich ja ab von holon = das Ganze. So gesehen geht um eine Form von Klärung zum Ganzen hin. Wie kann ich als Mensch wesentlich werden? Und was heißt das überhaupt? Spaß zu haben ist ja auch schön, nur fehlt beim Spaß so etwas wie innerer Klang oder seelische Klangfülle. Es gibt genügend, vor allem junge Menschen, die sich Todesgefahren aussetzen, die Bungee-jumpen, auf fahrende Züge aufspringen, gefährliche Klettertouren unternehmen, um jene Klangfülle in sich größer werden zu lassen, also intuitiv an das Wesentliche heranzukommen, dass ihr Leben etwas zählt und sie das fühlen können. Die Nähe zum Tod macht wesentlich.

Krankheit ist die kleine Schwester des Todes. Indem sie die eigene Integrität gefährdet und ans Existenzielle rührt – das kann sie in beliebigen Graden – birgt sie erstaunlicherweise das Potenzial zu seelischer Belebung und Sinnerfahrung. Sie erinnert in sehr eindringlicher Weise daran, das Wesentliche nicht aus dem Blick zu verlieren, denn Gesundheit ist gewissermaßen unsichtbar. Der 1. Weltkrieg ist ja sogar mit dem Argument der seelisch-sittlichen Erneuerung einer ganzen Nation mitbegründet worden.

Ich will damit Krankheit und Leid keinesfalls romantisieren. Trotzdem gilt, dass Krankheit heute relativ banal geworden ist und keinen rechten Spaß mehr macht. Hat sie noch nie, aber die meisten Menschen gehen aus Krankheit gewissermaßen leer aus, wo sie doch eine Stärkung zur Verbindung mit dem Leben hätten erfahren können. Das hat natürlich mit unserem modernen Krankheitsverständnis zu tun, welches in hohem Maße vom wissenschaftlichen Denken geprägt ist. Es gibt ein ziemlich genaues Krankheitsverständnis, jedoch kein Grund-legendes Heilungsverständnis. Wirklich heiler und vitaler werden die Menschen aktuell ja auch nicht. Sie leben länger, gewiss, wobei man freilich ein bisschen frech auch sagen könnte, dass ganz viele bereits mit vierzig schon sterben, jedoch mit achtzig erst begraben werden.

Schaut man sich den Stand der modernen Medizin an, dann stehen zwar viele Verheißungen im Raum, in Wirklichkeit zeichnet sich aber eher eine Krise ab. Multiresistenzen, Zivilisationskrankheiten, Allergien und anderes mehr nehmen tendenziell zu, und die bewährten ‚Waffen‘ werden teilweise stumpf, was ja allein schon ihrem überhäufigen Gebrauch geschuldet ist. Gleichzeitig stagniert die Entwicklung neuer Wirkstoffe. Sie werden nicht mehr stetig besser, sondern ändern nurmehr ihr Nebenwirkungsprofil. Das sieht nach Sackgasse aus.

Die Vision der naturwissenschaftlichen Medizin war es ja ursprünglich, irgendwann einmal eine Art externes, kollektives Immunsystem aufzubauen, um gegen fast alle Krankheiten früher oder später standardisiert vorgehen zu können. Dazu bedarf es einer guten Diagnostik, die ja inzwischen wirklich bis zur Meisterschaft entwickelt ist. Die braucht es auch, nicht unbedingt um besser heilen zu können – viele verschiedene Krankheiten werden exakt gleich behandelt, mit Antibiotika, Kortison oder Virostatika – sondern aus systematischen Gründen. Denn die Diagnose verwandelt den kranken Mensch in einen Menschen, der eine Krankheit hat. Sie macht aus ihm einen Krankheitsbesitzer; und das erlaubt nun, anstelle des kranken Menschen die Krankheit zu behandeln – ohne wirkliches Ansehen des individuell leidenden Menschen. Die Diagnose objektiviert, wodurch jetzt das wissenschaftliche Instrumentarium greifen kann. Das Kranksein zerfällt in benennbare Krankheit(en), es wird herunterprojiziert auf ein bestimmtes, der Objektivität verschriebenes Methodenverständnis, obwohl eigentlich genau umgekehrt die Methode dem kranken Menschen angepasst werden müsste. Letzteres ist nicht standardisierbar und, schlimmer noch, auch nicht kontrollierbar, sondern ein schöpferischer Prozess, was Heilung im Grunde auch sein muss.

Aktuell ist es so, dass die Menschen der wissenschaftsbasierten Medizin viel Autorität zuschreiben und jede Menge Respekt entgegenbringen, sich aber nicht besonders wohl mit ihr fühlen. Sie erscheint ihnen nicht lebensgemäß, zu technisch – und das gilt auch für die übliche Verordnungspraxis. Pillen einzuwerfen, ist so ähnlich, wie einen technischen Apparat zu reparieren.

Tatsächlich orientiert sich ja das führende Menschenbild schon seit vielen Jahrhunderten an der jeweils führenden Maschine. Es ist geradezu lustig, dies einmal kurz zu überfliegen.

Im 12. Jahrhundert war die Erfindung des Uhrwerks die revolutionärste Erfindung überhaupt und die komplizierteste Maschine, die sich damals denken ließ. Zahnräder und Pendel griffen auf raffinierteste Weise ineinander, wie es beim Menschen ganz ähnlich mit seinen ganzen Organen zu sein schien. Umgehend passte sich der Sprachgebrauch daran an, dass ein Mensch nicht mehr richtig tickte oder ausrastete und einem anderen auf den Zeiger ging. Und das Herz war die Unruhe.

Als dann die Dampfmaschine ihren Siegeszug antrat, erschienen die ganzen inneren Wärme- und Aktivitätsprozesse des Menschen in neuem Licht. Das Essen ließ sich als Brennstoff deuten, der Magen als Verbrennungskessel, das Herz, einst Sitz der Seele, als Pumpe. Deshalb fand man, dass Menschen manchmal Dampf ablassen oder unter Druck stünden und Arbeitskräfte teilweise einfach verheizt werden.

Mit Beginn der Elektrifizierung erwachte ein neues psychisches Verständnis des Menschen. Das sonst nur Erahnte konnte nun in anschauliche Bilder gefasst werden, dass beispielsweise zwei Menschen einen guten Draht zueinander hatten oder auf gleicher Wellenlänge kommunizierten. Zwischen den Verliebten funkte es jetzt und Gestresste standen unter Strom. In den Nervenbahnen sah man die eigentlichen Kabel.

Heute ist der Mensch eine Art Computer. Die Organe stellen die Hardware dar, das Hirn und das Erbgut die Software. Selbst die gesamte Hormon- und Säfteorganisation ist genau betrachtet nichts anderes als ein komplexer Informationsverarbeitungsprozess. Das eröffnet natürlich neue Zugriffsmöglichkeiten auf den Menschen. Frankensteins Nachfolger denken bereits über Kopftransplantationen nach oder in der leichteren Variante daran, sich Chips ins Hirn verpflanzen zu lassen.

So sehr die Eingriffsmöglichkeiten in den menschlichen Organismus gewachsen sind, am Lebensverständnis selbst hat sich seit dem 12. Jahrhundert nichts Wesentliches verändert. Naturwissenschaftlich gesehen, sind Lebewesen mehr oder weniger komplexe biochemische Apparate; das daraus abgeleitete Heilungsverständnis ist dementsprechend ein Reparaturverständnis. Aber der Kern des Lebens ist dabei in keiner Weise erfasst.

Also ist es Zeit, bevor überhaupt an Heilungskonzepte gedacht werden kann, einen tragfähigen Lebensbegriff zu entwickeln, der nicht auf biochemischem Geklapper gründet und trotzdem naturwissenschaftlich anschlussfähig ist. Das führt unweigerlich auf den Begriff des Ganzen, der bislang auch nur als wabernde Vorstellung in den Köpfen herumgeistert. Fragt man konkret nach, was Menschen, auch Ärzte oder Therapeuten, die sich eine ganzheitliche Methodik auf die Fahnen, sprich auf ihr Praxisschild geschrieben haben, kommt in aller Regel nur Ungefähres heraus. Solange das aber nicht geklärt ist, kann auch ganzheitliche Naturheilkunde nur einen Bruchteil jener Kraft entfalten, über die sie potenziell verfügt.

Es fehlt eine lebensgemäße, wärmere Sprache, die das Wesentliche fraglos mit einpreist und trotzdem nicht vom Boden des naturwissenschaftlichen Weltverständnisses abhebt. Unser Lebensverständnis und unsere Handlungsorientierung darin hängt immer davon ab, dass wir die dafür hinreichend geklärten Begriffe und Metaphern verfügbar haben. Ansonsten ist die Gefahr, sich im Spekulativen und Ideologischen zu verlieren, einfach groß.

Der Weg lebensgemäßen und schöpferischen Heilens verlangt selbstredend nach Heilmitteln, die selber dem Lebensprozess entstammen. Das sind in erster Linie Heilpflanzen, freilich auch Minerale, eben das, was sich in der Natur finden lässt. Es geht mir in diesem Buch nicht um Anleitungen und Methoden, wie ganzheitliches, schöpferisches Heilen zu praktizieren ist, denn das lässt sich nun einmal nicht schematisieren. Sehr wohl aber lässt sich das Grundverständnis dafür ebnen und ein Weg aufzeigen, wie vor allem bei den ältesten Heilmitteln der Menschheit, den Pflanzen, Heilung als Klärungs- bzw. Erkenntnisweg begriffen und beschritten werden kann und sich die Möglichkeit zu einer tieferen Verbindung mit dem Leben selbst und einem größeren Sinnverständnis eröffnet.

Ein paar Worte möchte ich noch über mich selber sagen. Der Umstand, dass ich dieses Buch schreiben konnte, hat mit einer Reihe von Zufällen zu tun. Studiert habe ich Physik und nach der Promotion lange als Feature-Autor beispielsweise Wissenschaftsjournalist für das Radio gearbeitet. Als freier Autor hatte ich immer die Möglichkeit, allen Themen nachzugehen, die mich jeweils interessierten. Das waren immer zeitlose Themen, deren Auftakt eine Serie über die ‚Geschichte des Lichtes‘ bildete – ausgerechnet. Das Thema Licht hat mich seither nie mehr ganz losgelassen. In den Neunzigerjahren beschäftigte ich mich viel mit Bewusstseinsforschung, im Grunde getrieben von der Vorstellung, dass die Hirnforscher irgendwann einmal so etwas wie den Schaltplan der Seele nachzeichnen könnten. Das hatte auch etwas für mich persönlich Ernüchtendes in sich, denn wo bliebe dann das Kreative und Wesentliche, das Sinnhafte? So wurde auch Kreativität ein Thema, dem ich nachging, und lebendige Pädagogik. Wie schafft man es, aufgeweckt durchs Leben zu gehen und nicht eingeweckt zu werden. Was macht das Schöpferische aus? Das führte zu einem Nachdenken über das Verhältnis von Wissenschaft und Weisheit, zu erkenntnistheoretischen Fragen und damit auch zu grenzwissenschaftlichen Themen wie Homöopathie und geistigem Heilen. Als mir im Zuge dessen Uri Geller einmal in einer Pressekonferenz einen Löffel – meinen Löffel – verbog und dieser sich auch noch gegen die Schwerkraft nach oben bog, war das für mich erst einmal ein erkenntnistheoretisches Desaster – nicht ins eigene Weltbild integrierbar. Wie damit umgehen? Hinnehmen und weitermachen, als hätte es das nicht gegeben? Vielleicht war es ein Trick, vielleicht auch wirklich ein geistiges Phänomen. Und dann kam die Frage, wie sich geistige Phänomene überhaupt als solche erkennen ließen, falls sie real existierten, aber nicht streng und unter festgezurrten kontrollierten Bedingungen wiederholbar sind. Was ist dann Geist? Was ist Materie? Wie wirkt das eine ins andere? Was ist Wirklichkeit? Was ist Seele? Was ist das Sein?

Bald danach lernte ich meine Frau kennen – eine Heilpraktikerin, die sich von der praktischen Seite her sehr ähnlichen Themen verschrieben hatte – dem lebens- und wesensgemäßen Heilen mit Pflanzen. Sie arbeitete neben ihrer Praxis in einer Heilpflanzenfirma, die sich darauf spezialisiert hatte, Heilpflanzen zu ganzheitlichen Arzneien weiterzuverarbeiten. Irgendwann ergab es sich, dass ich für diese Firma als Wissenschaftsautor arbeiten und mich so viele Jahre sehr intensiv mit Heilpflanzen und ganzheitlichem Heilen auseinandersetzen konnte. Immer ging es mir dabei darum, lebendiges oder schöpferisches Heilen mehr zu durchdringen; und irgendwann schloss sich dabei sogar der Kreis zur Quantenphysik.

Dieser große Bogen hat mein Lebensverständnis und den Blick auf die Schöpfung fundamental verändert. Ich glaube sogar, dass dieses Verständnis grundlegend dafür ist, das wissenschaftliche Weltbild mit Spiritualität zusammendenken zu können und in Einklang zu bringen. Ich halte so ein Verständnis für notwendiger denn je, weil die Welt aktuell so achtlos vernutzt wird und die Lebenskraft des ganzen Planeten rapide abnimmt. Dies schlägt natürlich durch auf den Menschen, der sich schlecht ernährt, der dumpfer wird und damit selbstverstärkend noch einmal achtloser umgeht mit dem Leben, mit der Mitwelt, wodurch sich das eigene Leben tendenziell banalisiert. Daraus resultiert ein allgemeiner Vitalitätsverlust, eine Neigung zur schnelleren Erschöpfung und im ungünstigen Fall zu Krankheit beziehungsweise erhöhter Erkrankungsbereitschaft. Man kann zwar vieles auffangen, Fitness betreiben und anderes mehr, doch letztlich bleibt das Geklimper und erzeugt nicht den tiefen, wohltuenden Klang in der Seele, nicht das Erleben von Fülle, wonach alles Leben letztendlich strebt.

Also geht es in einem viel umfassenderen Sinn um Heilung, eine authentische, unverstellte Ehrfurcht vor dem Leben, den Rückbezug zu natürlicher Achtsamkeit, ein tieferes Gewahrsein und reicheres Erleben von Fülle. Darin können uns die Pflanzen die besten Lehrer sein, die ja in der Fülle schwelgen. Der Weg über die Pflanze ist möglicherweise der Heilungsweg schlechthin, weil wir ja in den Bezug zur Flora hineingeboren sind und davon leben. Die besten Lehrer sind dabei die Heilpflanzen. Sie begegnen uns – wenn wir ihnen begegnen wollen – vor allem in den existenziellen Momenten unseres Lebens, in Krisenzeiten. Zumindest treten sie da an uns heran und bieten sich an, uns auch über die Krisenzeiten hinaus zu begleiten. Wir müssen uns nur begleiten lassen und das Tor finden, um in diesen Bezug eintreten zu können.

Dieses Buch will dafür ein Torfinder oder Türöffner sein.

Das Leben tiefer begreifen zu wollen, verlangt einige Abstraktionen ab, die ungewohnt sind. Das Buch führt durch die philosophischen Urgründe der Quantenphysik. Es lässt sich gar nicht vermeiden, denn das philosophische Nachdenken über das Verhältnis von Teil und Ganzem gelangt völlig von selbst in die Begriffswelt der Quantentheorie, ohne es recht zu merken. Weil diese Theorie schon existiert und in die kristalline Sprache der Mathematik gebannt ist, fällt es viel leichter, Ganzheit und das Wesen von Materie zu verstehen und in Umrissen wenigstens erkennen zu können, wo die Ursprünge des Fühlens und eben des Lebendigen zu verorten sind und wie sich der Begriff des Bewusstseins fassen lässt.

Damit das Theoretische nicht überdosiert daher kommt, sind zwischendrin immer wieder Heilpflanzenporträts eingestreut als Unterbrechung, als Rückbesinnung auf das Anschauliche, Sinnliche, Reale. Es sind Erkundungen des Pflanzenausdrucks, wie sie in der Anthroposophie vor allem von Wilhelm Pelikan entwickelt und in jüngerer Zeit durch das Ehepaar Hildegard und Roger Kalbermatten zu Wesensbeschreibungen weiterentwickelt wurden. Mir persönlich erscheint dieser Zugang zu Heilpflanzen nicht nur als der natürlichste, sinnlichste und warmherzigste, sondern auch als der einzig gangbare, wenn man wirklich ganzheitlich mit Pflanzen arbeiten will. An sich dürften die Porträts alle erst im letzten Drittel des Buches stehen, weil es mir gerade darum geht, den Wesensbegriff zuerst naturwissenschaftlich anschluss- und hoffähig zu machen oder, genauer formuliert, naturwissenschaftliches Denken anschlussfähig zu machen an das Lebendige. Wenn man Physikern, klassischen Heilpflanzen-Pharmafirmen oder Ärzten mit dem Wesen-Begriff kommt, sträuben sich dort die Nackenhaare. Die meisten finden das zu blumig im wahrsten Sinne des Wortes und letztlich zu unseriös und spekulativ, um daraus Heilwirkungen ableiten zu können. Naturwissenschaftliche Herangehensweisen erscheinen den meisten glaubhafter und verlässlicher, und sie entfalten einen Denksog, aus dem viele nicht mehr herausfinden, weil ihnen eine erkenntnistheoretische Durchdringung fehlt. Letztlich geht es, wie es schon einmal Václav Havel ausdrückte, um eine Rehabilitation der Seele.

Mit diesem Buch will ich eine Brücke schlagen. Es soll einen anderen Blick auf das Leben und das Lebendige eröffnen, soll inspirieren, Lust machen, sich in philosophische Tiefen zu bewegen und sich den Pflanzen zuzuwenden, um sie als mögliche Lebensbegleiter wahrzunehmen, insbesondere in Krankheits- oder Krisenzeiten. Vor allem soll es zu einem anderen Umgang mit der Welt einladen: Aus Achtung vor dem Leben.

Was ist Leben?

Augustinus sinnierte einmal über die Zeit: „Wenn mich niemand darüber fragt [was Zeit ist], so weiß ich es; wenn ich es aber jemandem auf seine Frage erklären möchte, so weiß ich es nicht.“ Mit dem Leben verhält es sich ebenso. Jeder meint zu wissen, was es ist, je genauer man aber hinschaut, um so geheimnisvoller und unklarer wird es. Das zeigt sich insbesondere daran, dass es bislang keinen ursprünglichen Lebensbegriff gibt, also einen Lebensbegriff, der sich aus ersten, fundamentalen Prinzipien herleiten lässt und keine Anleihen nehmen muss aus irgendeinem Vorwissen.

Tatsächlich geschieht es aber genau umgekehrt. Anstelle der Frage, was Leben ist, wird immer nur die Ausweichfrage beantwortet, was der gemeinsame Nenner aller Lebewesen ist, die wir als solche anerkennen. Im ‚Anerkennen‘ wird bereits die ganze Beliebigkeit deutlich, die in einen solchen Definitionsversuch einfließt. Unterschiedliche Kulturen definieren deshalb Leben zum Teil sehr anders. Manche indigene Völker betrachten die Landschaft, in der sie leben, oder den Wald als eigenständiges Lebewesen – was für eine wunderbare Vorstellung. Sie hat ihren eigenen Geist, ihre eigene Ausstrahlung und Selbstregulation und erscheint den Sinnen, wenn man ganz darin eingelassen ist, als beseelt. Der englische Biophysiker und Mediziner James Lovelock begreift die ganze Erde als Lebewesen und hat dafür viele sehr gute Argumente geliefert (Gaia-Hypothese).

Umgekehrt fällt es manchen Pflanzenforschern, die tagein tagaus ihren Untersuchungsobjekten rein wissenschaftsorientiert begegnen, schwer, Pflanzen wirklich noch als Lebewesen zu sehen. So sagte mir ein führender Heilpflanzenforscher einmal wörtlich, dass Pflanzen natürlich keine Maschinen seinen, sondern biochemische Apparate, die auf äußere Reize in zwar sehr vielfältiger, aber dennoch programmierter Weise reagieren müssen. Offenbar spielt die Art der Fragestellung oder Begegnung eine wichtige Rolle, inwieweit uns etwas als Lebewesen erscheint oder nicht.

Bei Viren, die hauptsächlich aus eingekapselter DNS bestehen, gingen die Meinungen schon immer auseinander. Auf der einen Seite können sie sich ähnlich rasch und gut vermehren wie Bakterien und treten auch nur in Lebenszusammenhängen auf, aber einen eigenen Stoffwechsel betreiben sie nicht. Ähnlich heikel verhält es sich mit Bienenstöcken oder Ameisenkolonien, die ja zum Beispiel kollektiv ihre Temperatur regulieren können und wie ein großer Organismus funktionieren, aufgrund der Spezialisierung der Tierchen sogar mit verschiedenen Organen. Manche Menschen halten sogar den gesamten Kosmos für ein Lebewesen, dem sie eine Intelligenz und ein kosmisches Bewusstsein zusprechen. Selbst dafür gibt es durchaus Argumente.

Es ist schon erstaunlich, wie tief in die verschiedensten Lebensprozesse inzwischen technisch eingegriffen wird, ohne Basis und Klarheit darüber, womit man es tatsächlich zu tun hat. Wo wissenschaftliche Neugier der Schau des Schönen dient, ist sie einfach wunderbar, und das ist auch der ursprüngliche Antrieb aller Wissenschaft – erkennen zu wollen. Die Schönheit der Schöpfung soll nicht ungesehen bleiben, will in gewissem Sinne vielleicht sogar erkannt sein. Nur erwachsen aus dieser Neugierde zu viele Zauberlehrlinge, die dann in seltsamer Naivität einfach achtlos und letztlich ahnungslos mit etwas im Grunde Heiligem umgehen, nicht wissend, was sie da tun.

Bislang findet sich in den gängigen Lexika unter dem Begriff ‚Leben‘ nur, wie es unter wissenschaftlichen Ansprüchen sein muss, eine Liste von vermuteten Eigenschaften, die nach Gutdünken erweiterbar ist. Wikipedia zählt auf, dass Lebewesen Stoffsysteme seien, die

       einen Energie- und Stoffwechsel haben,

       mit der Umwelt interagieren und reizbar sind,

       sich selbst organisieren und regulieren,

       sich fortpflanzen und reproduzieren können,

       wachsen und entwicklungsfähig sind und physikalische oder chemische Änderungen ihrer Umgebung registrieren können.

Vieles davon trifft auch auf Autos zu, wobei sie sich zur Reproduktion und Interaktion mit der Umwelt in hohem Maße des Zwischenwirts Mensch bedienen. Wenn sich in naher Zukunft die Autos auch noch selbst steuern und betanken, stehen sie laut dieser Liste dem Leben näher als Viren.

Das Faszinierende des Lebens ist, dass es sein Geheimnis zu bewahren vermag, obgleich es auf das Engste, wenn nicht sogar vollständig eingewoben ist in die Gesetze der Physik. Bislang gibt es keine nachweislichen Lecks, wo das Leben oder die Lebensdynamik die Gesetze der Physik außer Kraft setzen würde.

Trotzdem unterscheidet sich Leben fundamental von allem, was technisch gebaut werden kann, egal wie raffiniert und kompliziert jene Technik auch sei. In der Schöpfungsgeschichte tritt Gott auch zuerst einmal als Techniker auf, der den Menschen aus Lehm baut(!). Dann aber haucht er ihm den Lebensatem ein, den Odem (lat. Spiritus). Und dieser Odem macht den Unterschied. Ihn gilt es, zu begreifen. Mit Begreifen meine ich nicht Entzauberung, sondern eher das Gegenteil: Nämlich die Ahnung aufsteigen zu lassen und die Augen wieder dafür zu öffnen, in welche unglaublichen Zusammenhänge wir hineingeboren sind, was Leben und Ganzheit tatsächlich bedeuten und an welchem allumfassenden Abenteuer wir teilhaben. Anders als von René Descartes vermutet und hartnäckig behauptet, zerfällt die Welt im tiefsten Schauen und Begreifen gerade nicht in schnöde Mechanik und Molekülstöße, sondern führt an die Ufer des natürlicherweise Unbenennbaren und Abstrakten, wodurch das Geheimnis gewahrt bleibt.

Sich diese größere, unbenennbare WIRKLICKEIT hinter der Wirklichkeit vor Augen zu führen, ist die Grundlage ganzheitlichen Denkens. Aus ihr steigt von selbst ein Grund-legender Lebensbegriff auf, und genau daraus schöpft letztlich auch alle Kunst. Heilen steht der Kunst daher sehr viel näher als der Wissenschaft.

Um zu einem fundamentalen Lebensbegriff zu gelangen, ist es tatsächlich am einfachsten, bei dem zu beginnen, was wir ganz sicher für Lebewesen halten – bei uns selbst. Von uns selbst haben wir das Gefühl, ein autonomes und vollständiges Lebewesen zu sein; und für den Umgang im Alltag und die Kommunikation mit Behörden ist das eine ganz gute Beschreibung. Schaut man aber genauer hin, schleichen sich Unsicherheiten ein. Normalerweise definiere ich mich mit der Hautgrenze. Was aber ist mit der Darmflora? Aus der Perspektive des Verdauungstraktes ist der Mensch ein Schlauch, um den herum sich alle möglichen Organe, Filtersysteme und anderes ranken. Die Darmwände gehören so gesehen zur Außenwelt. Bei einem Schlauch rechnet man ja den eingeschlossenen Hohlraum auch nicht zum Schlauch selbst, dessen Luftfüllung beim Einkauf mitbezahlt werden müsste. Indem die Darmwände nun von Bakterien besiedelt sind, siedeln diese gewissermaßen auf der eingehöhlten Außenseite des Körpers. Gleichzeitig erfüllen sie aber die Funktion eines eigenständigen Organs – ohne Darmflora ist der Mensch nicht überlebensfähig. Dieses ‚Organ‘ ist ein Fließorgan und kann sich somit schneller als alle anderen Organe in seinem Charakter verwandeln und an den vorbeifließenden Nahrungsbrei sehr schnell anpassen. Die Darmflora zählt ähnliche viele Zellen wie der gesamte beherbergende Körper (Bakterien sind viel kleiner als Körperzellen). Die einzelnen Bakterien könnten auch in anderen Umgebungen überleben, sind also nicht wie die übrigen Organe an einen lebenden Körper gebunden.

Gehört nun die Darmflora essenziell zum Lebewesen Mensch dazu oder nicht? Wenn wir ohne sie nicht überleben können, müssen wir die Frage mit Ja beantworten; aber dann ist die Hautgrenze keine absolute Grenze mehr. Die Grenze verschwimmt.

Sie verschwimmt auch, wenn genau umgekehrt diverse Organe des Menschen entfernt und durch technische Apparate ersetzt werden: Die Nieren etwa durch Dialyseapparate, das Herz durch eine Pumpe und so weiter. Das sind dann lebensnotwendige Apparate jeweils vom Rang eines Organs und müssten dementsprechend auch in die Definition des Lebewesens Mensch mit aufgenommen werden. Auch hier ist die Hautgrenze keine verlässliche Grenze mehr. Im Extremfall ließe sich ein Organ nach dem anderen durch einen Apparat ersetzen, bis nur noch der Kopf im Original erhalten bliebe, vielleicht von einigen Chip-Implantaten abgesehen. Wie würde dann die Definition des Lebewesens Mensch ausfallen? Hielte man sein Herz, sein Bauchhirn oder ein anderes Organ künstlich funktionsfähig, würde man diese Teile nicht als Lebewesen Mensch anerkennen, anders als beim Kopf.

Man kann die Überlegungen ins Skurrile und Groteske treiben. Deutlich werden soll nur, dass der Begriff des geeinzelten, autonomen Lebewesens nahezu beliebig verunsichert und aufgeweicht werden kann. Es macht also letztlich keinen wirklichen Sinn, Lebewesen als losgelöste Entitäten begreifen zu wollen. Alles, was lebt, lebt nur in Zusammenhang mit allem, was lebt, und es ist lediglich eine Frage der Bindungsstärken und des zeitlichen Ausschnitts, was wir als einzelnes Lebewesen begreifen wollen!

Lebewesen – eine Frage der Bindungsstärken

Dies ist das Grundmerkmal ganzheitlichen Denkens, dass es nichts wirklich Geeinzeltes gibt. Um sich inmitten dieser unüberschaubaren Ganzheit irgendwie orientieren zu können, müssen Gestaltzusammenhänge herausgelöst werden, die einen gewissen Grad an Autonomie aufweisen und in Beziehung gesetzt werden können zu anderen herausgelösten Gestaltzusammenhängen. Manchmal heben sich Gestaltzusammenhänge durch ihre starken räumlichen und zeitlichen Bindungen sehr deutlich als eigenständige Gestalt vom Umraum oder Hintergrund ab und manchmal weniger deutlich. Es ist einzig eine Frage der Bindungsstärken.

Ein Ameisenvolk wird zweifellos durch schwächere Bindungskräfte zusammengehalten als eine einzelne Ameise. Aber genau so, wie im inneren die Organe einer Ameise völlig kohärent (abgestimmt) zusammenarbeiten, arbeiten auch die einzelnen Ameisen als Gesamtstaat kohärent zusammen. Es ist also mehr als berechtigt, einen Ameisenstaat als eigenständiges Lebewesen zu begreifen, denn der Begriff des Lebewesens sollte ja nicht davon abhängen, mit welcher ‚Technik‘ die Kohärenz organisiert wird.

Beim Menschen werden Informationsströme über Hormone oder Nervenbahnen gesteuert, bei Insektenvölkern über Düfte, Duftspuren oder Vibrationen, gewissermaßen eine Art Luftpost oder WLAN. Diese Informationskanäle funktionieren fast genauso zuverlässig wie Nervenbahnen; denn die einzelnen Ameisen können nicht einfach gemäß individueller Willensentscheidung aus dem Kohärenzgefüge austreten. Sie sind instinktgebunden. Die Instinktbindung lässt zweifellos mehr Freiheitsgrade zu als etwa eine molekulare Bindung, aber keine Beliebigkeit. Schopenhauer formulierte auf den Menschen bezogen einmal so schön, dass der Mensch zwar tun kann, was er will, aber nicht wollen, was er will. Die Bindung über Duftstoffe ist für Ameisen verpflichtend. Frei ist sie nur in der Ausgestaltung ihrer Aufgabe. Auch wir Menschen kennen die Macht solcher Verpflichtung. Übergewichtige wissen davon ein Lied zu singen oder auch Schwangere. Die Zyklen der Hormonausschüttungen über den Tag oder Monat generieren bestimmte Handlungsbereitschaften, von denen wir trotz aller Bewusstseinskräfte nur sehr schlecht zurücktreten können.

Mir persönlich ist der Gesamtzusammenhang des Lebens am deutlichsten geworden in einem Interview mit einem berühmten Biologen. Damals ging es um das Thema Klonen und das erste Klonschaf Dolly. Er bezweifelte, dass die Technik problemlos auch auf den Menschen zu übertragen sei. Bei höheren Lebewesen sei die Keimbahn das bestgeschützte Gut. Da gebe es eine Reihe von fantastischen Erbgut-Reparaturmechanismen, die alle dazu dienten, das Erbgut heil in die nächste Generation zu bringen. Aus biologischer Sicht seien sogar alle Organe einschließlich des Gehirns letztlich nur schmückendes Beiwerk für diesen einen Zweck. Pointiert ausgedrückt, meint das: Die Henne ist nur die Zwischenstufe von einem Ei zum nächsten.

Der Gedanke amüsierte mich und animierte mich, den Gedankenfaden einfach weiterzuspinnen. Letztlich sind unter dieser Perspektive nicht nur meine Organe schmückendes Beiwerk für die Keimbahnambitionen, sondern schlicht alles, was mich am Leben erhält. Dazu gehören nicht zuletzt auch die Pflanzen sowie überhaupt alles Essbare. Sogar die soziale Mitwelt gehört mit dazu, denn genauso wie bei Nahrungsentzug können Menschen ohne mitmenschliche Zuwendung nicht leben (das Extrembeispiel bietet der sogenannte Hospitalismus). Das hieße aber, dass auch die soziale Mitwelt als eine Art Exo-Organ begriffen werden müsste.

Konsequent zu Ende gedacht, ist alles, was lebt, stets schmückendes Beiwerk für alles, was lebt. Das Leben selbst ist sein eigener Schmuck.

Interessant ist noch eines beim Blick auf die Bindungskräfte-Perpektive. Je lockerer die führenden Kräfte, umso höher entwickelt und ‚geistiger’ die Lebewesen. Die lebenserhaltenden Prozesse innerhalb einer Zelle verlaufen noch vergleichsweise mechanisch. Die Säfteregulation in einem Körper ist dem gegenüber schon von emotionalen Eindrücken mit beeinflusst. Ein Bienen- oder Ameisenvolk kann auf äußere Anfechtungen bereits sehr vielfältig und intelligent reagieren (Bienen- und Ameisenvölker zählen zu den zehn intelligentesten ‚Lebewesen’). Auf der Stufe der emotional-sozialen Bindungen können sich schließlich kulturfähige Lebewesen entwickeln, wobei die Gesamtheit eines Kulturraumes, der nach allem zuvor gesagten auch als Lebewesen gelten darf, die Intelligenz eines jeden anderen Lebewesens noch einmal bei weitem überschreitet.

Beispiele für kollektive Lebewesen

Bevor ich zu einem allgemeinen Lebensbegriff komme, lohnt vielleicht noch ein kurzer Blick in die Runde, was unter der Perspektive der Bindungsstärken alles als Lebewesen aufgefasst werden kann. Lebewesen sind alle Gestaltbildungen, die einen mehr oder weniger klar abgrenzbaren Kohärenz-Zusammenhang aufweisen und diesen über einen Mindestzeitraum gegenüber normalen Zufallsprozessen und Zerfallstendenzen aktiv aufrechterhalten können.

Eine jede Zelle ist zum Beispiel ein solches System. Die Reaktionen im Zellinneren verlaufen hochgradig aufeinander abgestimmt, und sie kann ihre Autonomie eine Zeit lang behaupten, auch wenn sie einmal ihr Nährmilieu verlässt. Ist eine Zelle allerdings eingebettet in einen größeren kohärent organisierten Zellverband, verliert sie ein Stück weit ihren Charakter als eigenständiges Lebewesen.

Extrem eindrucksvoll lässt sich das bei Amöben bestaunen (z.B. auf Youtube-Videos). Da schließen sich kleine Einzeller plötzlich zu einem wurmartigen Gebilde zusammen, das dann auch tatsächlich als abgestimmte Gesamtheit agiert, ähnlich wie ein Fischschwarm, nur viel kompakter. Man hat es hier mit dem Wunder eines Wurms zu tun, der sich wie aus dem Nichts heraus aus lauter Einzelteilen zusammensetzen und auch wieder in diese Einzelteile auflösen kann.

Viren sind ein besonders komplizierter Fall. Einzelne Viren sind keine Lebewesen, da in ihnen selbst keinerlei innere Prozesse ablaufen. Nur in Verbindung mit einem lebendigen Milieu entwickeln sie eine Lebensdynamik. In gewissem Sinne leihen sie sich Kohärenz aus bestehenden lebenden Systemen und klinken sich perfekt in diesen Kohärenz-Zusammenhang ein – freilich mit dem häufigen Effekt, am Ende das Kohärenzgefüge zu zerstören zugunsten eigener Vermehrung. Somit erfüllt auch die Einheit von Virus plus Zelle nicht die geforderten Bedingungen, um Lebewesen genannt zu werden. Dies ist aber erst die halbe Geschichte. Ein Virus kann auch als Kollektiv aufgefasst werden, als die Gesamtheit aller Viren gleichen Typs (z.B. das Grippevirus). Überlebensfähig ist es nur im Gesamtverbund mit immer wieder gesund nachwachsenden Wirtszellen. Wäre ein Virus binnen kurzer Zeit zu 100% tödlich für einen Wirt, würde es sich selbst ausrotten. Überleben kann es paradoxerweise nur, wenn der Wirt ein Immunsystem hervorbringt, das ihn gegen die zellzerstörerischen Angriffe dennoch am Leben erhält. Nur so kann sich ein Gesamtgleichgewicht einstellen. Viren stabilisieren in diesem Sinne das Leben, machen es robust und wehrfähig. Sie sind in ihrer Gesamtheit eine Art verteiltes Kollektivorgan einer Spezies, die es befallen kann und die sich dagegen behaupten muss zugunsten einer insgesamt größeren Wehrfähigkeit. Damit sind sie zugleich bedeutsamer Motor der evolutionären Entwicklungsdynamik.

Ameisen- und Bienenvölker erfüllen ganz klar die Bedingungen eines lose gebundenen Lebewesens. Ähnlich wie Pflanzen oder auch Regenwürmer kann man sie durch Teilung vermehren. Sie werden nicht ganz so selbstverständlich als Lebewesen gesehen und anerkannt, weil sie über eine ungewohnt unscharfe und bewegliche Grenze verfügen.

Besonders interessant wird der Lebewesenbegriff im Pflanzenreich. Eine einzelne Pflanze ist ein klar umgrenztes kohärentes Gebilde, das sich autonom den Selbsterhalt sichert. Sie kann sogar isoliert in einen Blumentopf gestellt werden und trotzdem überdauern.

In der freien Natur tritt allerdings die einzelne Pflanze in ihrem Lebewesencharakter ein wenig zurück gegenüber der gesamten Pflanzengemeinschaft, mit der sie sich vergesellschaftet hat. Das gilt weniger für vom Menschen bepflanzte Gärten oder Parkanlagen, mehr für wild wachsende Pflanzengesellschaften. Über das Bodenleben wie auch über Düfte kommuniziert die einzelne Pflanze mit all ihren Nachbarpflanzen. Jeder Quadratmeter Boden ist mit abertausenden Samen besetzt, aber nur die wenigsten beginnen im Frühjahr zu keimen. Im Folgejahr oder wenn hinreichend lange eine bestimmte Pflanzenart den Standort dominiert hat, gehen auf einmal andere Pflanzensamen auf. Lässt man Pflanzengesellschaften über längere Zeiträume mitsamt ihrer zugehörigen Fauna ungestört wachsen, nehmen sie nach einigen Jahren zunehmend den Charakter eines eigenen Kohärenzgebildes an, werden also zu einem eigenständigen Lebewesen. Der Dschungel ist das beste Beispiel dafür. Er ist groß genug, dass er sich sogar seinen eigenen Niederschlag erzeugen kann, indem er gigantische Mengen an Wasser verdunstet, sie wieder über sich selbst abregnen lässt und so den mineralischen Nachschub aus dem Boden sowie die gesamte Stoffwechsel-Zirkulation sichert. Das herabfallende Laub versorgt und prägt das Bodenleben und passt sich an, genauso wie umgekehrt die Vegetation sich dem Bodenleben anpasst. So zirkuliert er in sich selbst und sprudelt dabei eine größtmögliche Vielfalt an Lebewesen hervor und in ihrer Gesamtheit eine unübertroffene Vitalität, sprich Lebensfähigkeit. Das Leben feiert sich hier selber, und die Artenvielfalt ist die Feier. Sie ist das stärkste Pfund für eine unglaublich flexible Ausgleichsfähigkeit gegenüber äußeren Schwankungen. Verschwinden Arten, so schwindet auch die Ausgleichsfähigkeit und somit die Vitalität und Lebenskraft.

Natürlich ist, wie der Dschungel, auch die gesamte Biosphäre ein Lebewesen, und alle Arten, die von diesem Planeten verschwinden, erschöpfen ein wenig seine Lebenskraft, Ausgleichs- und Wehrfähigkeit. Die Biosphäre als Lebewesen wird damit dumpfer und müder, kann sich nicht mehr so gut gegen den Klimawandel erwehren, bekommt Fieber und ihre Ausgleichs- und Wehrfähigkeit nimmt ab. Das ist das eigentliche Drama des Artenschwundes.

Ein bemerkenswertes Lebewesen, das von den meisten Menschen nicht als solches erkannt wird, ist der Boden. In einer Handvoll Erde wuseln rund sechs Milliarden Einzellebewesen, die allesamt perfekt aufeinander abgestimmt eine organisierte Umbau- und Abbaugemeinschaft bilden. Jedes Kleinstlebewesen reagiert auf das umgebende Milieu, deren konstituierender Teil sie selber sind. Das Umsetzungs- und Verwandlungsvermögen des Bodens, wie er Nährstoffe löst, transportiert und umarbeitet, welche Pflanzen er ‚bestellt‘, sind alles Zeichen eines hoch lebendigen Systems, das sich auch direkt in der Veritabilität und Vitalität der für uns Menschen viel sichtbareren und ansprechenderen Pflanzen widerspiegelt.

Der bewachsene Boden ist so viel mehr als nur ein Haltesubstrat und Mineralvorrat für die auf ihm lebenden Pflanzen. Zwar können Pflanzen bei entsprechender Düngung auch auf Haltesubstrat wachsen, mit so viel Autonomie sind sie evolutionär ausgestattet, aber ihre messbare Struktur- oder Selbstorganisationskraft ist um ein Vielfaches geringer als bei Pflanzen, die auf gesunden, intakten Böden aufgewachsen sind. Rein äußerlich kann man es den Pflanzen oft nicht direkt ansehen. Die Früchte sind dank intensiver Züchtung und Düngung groß und glänzend, auch die Gehalte an Vitaminen fallen nicht völlig aus der Norm. Aber rührt man einige Tropfen ihres Pflanzensaftes in eine Kupferchloridlösung und lässt sie eintrocknen, bilden sich charakteristische Trocknungsmuster, die eine eindeutige und selbst für Laien unmittelbar verständliche Sprache sprechen. Der Grund, weshalb viele Menschen heute oft erschöpft sind, keine vitale Ausstrahlung haben, sondern eher dumpf wirken, hat neben vielen kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren sicherlich auch mit einer besonderen Art der Mangelernährung zu tun, indem zu wenig Strukturkräfte zugeführt werden.

Zum Abschluss dieses kleinen Überblicks, was alles als Lebewesen verstanden werden kann, soll die Weitwinkelperspektive nicht fehlen. Sie reicht über den Rand der Erde, über Gaia, hinaus, denn die Biosphäre der Erde lebt ja nicht aus sich selbst heraus, sondern wird gespeist vom Sonnenlicht und ‚gepulst‘ von kosmischen Rhythmen (Tag/Nacht, Jahreszeiten, Ebbe/Flut etc.). Wenn man die obige Definition für Lebewesen ernst nimmt, kommt durchaus in Betracht, auch das Sonnensystem als Lebewesen anzusehen. Dagegen spricht, dass es ein sehr gut isoliertes System ist, weit weit entfernt von anderen Sternensystemen und ohne besondere gegenseitige Einflussnahme. Jedenfalls für den Augenblick. Auf sehr langer Zeitskala stimmt das nicht mehr. Da verhält sich sogar der gesamte Kosmos wie ein Lebewesen, indem er in ständigem Umbau begriffen ist – ein gigantisches alchemistisches Geschehen aus Verdichtungs-, Reinigungs- und Lösungsprozessen. Die aus den Fusionsprozessen im Inneren der Sterne hinterbliebenen Aschen sind durch gewaltige Supernovae wieder ins All gespuckt worden als Ausgangsmaterial für neue Sterne und irgendwann auch Staubwolken. Die Erde selbst ist ein verdichtetes und ‚gereinigtes‘ Ascheprodukt aus den Fusionsprozessen vieler Sterne. Würde man die kosmische Evolution im Zeitraffer betrachten, wäre das ein sehr lebendiges Treiben, ein fortdauerndes Gebären und Vergehen von Sternen und Planetensystemen, den Prozessen auf der Erde nicht völlig unähnlich, nur hochskaliert auf ungleich größere Räume und Zeiten, als wie wir sie uns hier auf der Erde vertraut machen könnten. Zeit bemessen wir an den für uns relevanten Lebensrhythmen. Sie sind nicht natürlicher oder unnatürlicher als die kosmischen Rhythmen, nur anders. So, wie der Dschungel ein in sich selbst sprudelnder Quell der Artenvielfalt ist, ist auch der Kosmos als Ganzes ein lebendiger Quell der Möglichkeitsräume, die dieselbe Tendenz nach stetig wachsender Differenzierung in sich tragen. Von daher lässt sich mit einiger Wahrscheinlichkeit vorhersagen, dass sich an vielen Orten im Kosmos weitere Stufen der Ausdifferenzierung herausgebildet haben werden, ähnlich wie auf der Erde. Die große und teuer beforschte Frage vieler Astronomen, ob wir allein im Weltall sind, stellt sich unter der hier vorgestellten Perspektive nicht. Wir sind Teil eines belebten Ganzen mit einem besonders hohen Grad an Ausdifferenzierung.

Der Lebensbegriff

Nach all den Vorüberlegungen ist es nicht mehr so schwierig, einen ursprünglichen Lebensbegriff zu bilden. Leben gibt es demnach nur einmal, und es ist letztendlich die Ausdrucksform eines dynamischen, vollständig aufeinander bezogenen Gesamtzusammenhangs. Leben beginnt nicht mit der Geburt eines Lebewesens, sondern jede Geburt ist ein Akt des Erwachens des Lebens zu sich selbst.

Wenn nun alles samt und sonders als lebendig erklärt wird, könnte das ja heißen, dass der Lebensbegriff überflüssig wird, da er keine Unterscheidung mehr zu unbelebter Materie erlauben würde. Aber so ist es nicht. Was Leben im Kern ausmacht, lässt sich in vier Worten zusammenfassen: Leben ist bedeutungsschöpferische Aktivität. Die Frage, wie Bedeutung in die Welt kommt, hat mich seit meiner Promotion umgetrieben. Damals ergab es sich, dass ich in meiner Arbeit den tiefsten Punkt einer gewölbten Fläche berechnen musste, einer fünfdimensionalen Fläche. Bei dem zu berechnenden System gab es fünf Stellschrauben, die alle so eingestellt werden mussten, dass sich eben der optimale Wert ergab. Bei einer zweidimensionalen Fläche ist das für einen Menschen eine der leichtesten Übungen. Sieht man sofort. Aber wie bringt man dem Computer ‚sehen‘ bei? Der Computer hat die gleichen Daten, aber er kann sich kein Bild daraus machen. Weil das ‚Hinschauen‘ für Menschen so einfach und gewöhnlich ist, dachte ich, es müsse ein Kinderspiel sein, diesen Vorgang des Hinschauens auf den Computer zu übertragen. Aber das geht nicht. Dazu müssten sich die Bits untereinander kennen. Bei einem Bild sind alle Bildpunkte aufeinander bezogen, sonst wäre das Bild kein Bild. Ein Computer hat aber einfach Zeichenketten in seinen Registern stehen, und die eine Zeichenkette ‚weiß‘ nichts von der anderen. Zwar lässt sich die Differenz der beiden Zeichenketten, die ja Zahlen darstellen, bilden, und abhängig vom Vorzeichen kann er dann alternative Rechenwege einschlagen. Das klingt ein wenig umständlich, und in Alltagssprache übersetzt hieße das, der Computer würde einfach nachschauen, welche Zeichenkette den größeren Wert hätte, und auf diese Weise nach und nach Konturen im Bild erkennen. Aber Computer können eben nicht schauen oder erkennen. Sie sind bedeutungsunfähig, verfügen also über keinerlei Sinnverständnis, und niemand weiß bislang, wie man ihnen Sinn beibringen könnte. Übersetzungsprogramme mühen sich ab, die hereinpolternden Zeichenketten, die Texte darstellen, mit anderen Zeichenketten zu korrelieren, die Textbausteine in einer anderen Sprache darstellen, und mit sehr vielen Vergleichen und Wahrscheinlichkeitsberechnungen werden dann Zeichenfolgen ausgegeben, die für den menschlichen Leser möglicherweise Sinn ergeben. Meist funktioniert das mehr schlecht als recht, und auf Zeichenketten-Vergleichsbasis ist da auch nicht viel zu löten.

Dasselbe Problem tritt bei allen technischen Apparaten auf: Mikrophone hören nicht, sie detektieren lediglich Luftdichteschwankungen, was etwas völlig anderes ist als Klang oder Krach. Kameras sehen nicht, sondern transponieren elektromagnetische Wellenlängen in elektrische Signale. Drucksensoren empfinden keinen Schmerz. Alle gebauten Apparate haben keinerlei Anteil an der bedeutungsschöpferischen Aktivität, die das Lebendige ausmacht.