Helena P. Blavatsky

Die Stimme der Stille

DIE STIMME
DER STILLE

Auszüge aus dem Buch

der Goldenen Regeln

Übersetzung und Anmerkungungen

von

HELENA PETROVNA BLAVATSKY

Übertragung aus dem Englischen: Hank Troemel

1. Auflage 2020

© 2014 Aquamarin Verlag GmbH

Voglherd 1 • D-85567 Grafing

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Vervielfältigung, der Verbreitung sowie der Übersetzung. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile davon in irgendeiner Form zu reproduzieren.

INHALT

Geleitwort S. H. des XIV. Dalai Lama

Vorwort

Fragment I Die Stimme der Stille

Fragment II Die zwei Pfade

Fragment III Die sieben Pforten

Anmerkungen zu Fragment I

Anmerkungen zu Fragment II

Anmerkungen zu Fragment III

The Dalai Lama

Foreward

I first met the members of the Theosophical Society more than three decades ago, when I visited India to attend the celebrations of the 2500th anniversary of the Buddha. Ever since, I have on many occasions had the pleasure of sharing my thoughts with Theosophists from various parts of the world. I have much admiration for their spiritual pursuits.

I believe that individuals can be good human beings without necessarily being spiritual. I also accept their right in not wanting to be spiritual or to believe in a particular religion. At the same time, I have always believed that inner or spiritual development is necessary for greater human happiness and to increase our capacity to benefit others. I am therefore happy to have this long association with the Theosophists and to learn about the German Edition: THE VOICE OF SILENCE which is being published this year. I believe that this book will help influence many sincere seekers and aspirants to the wisdom and compassion of the Bodhisattva Path. I very much welcome this edition and hope it will benefit many more.

April 22, 1993

GELEITWORT


S. H. DER DALAI LAMA

Ich begegnete Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft zum ersten Mal vor über 30 Jahren, als ich in Indien war, um an den Feierlichkeiten anlässlich der Geburt des Buddha vor 2.500 Jahren teilzunehmen. Seither hatte ich oft die Freude, mit Theosophen aus vielen Teilen der Welt Gedanken auszutauschen. Ihre spirituellen Bestrebungen bewundere ich sehr.

Ich glaube, dass Individuen gute Menschen sein können, auch wenn sie nicht unbedingt ein spirituelles Leben führen. Und ich respektiere das Recht eines jeden Einzelnen, nicht spirituell leben zu wollen oder an eine bestimmte Religion zu glauben. Andererseits war ich aber immer schon der Überzeugung, dass eine innere bzw. spirituelle Entwicklung dazu notwendig ist, größeres Glück für die Menschheit zu erreichen und um besser in der Lage zu sein, anderen zu helfen. Deshalb freue ich mich über meine langjährige Verbindung zu den Theosophen. Ebenso freue ich mich über diese jetzt erscheinende deutsche Ausgabe der STIMME DER STILLE. Ich glaube, dieses Buch wird dazu beitragen, viele ernsthaft Suchende und Strebende hinzuführen zur Weisheit und zum Mitleid des Bodhisattva-Pfades. Ich begrüße das Erscheinen dieser Ausgabe sehr und hoffe, dass sie auch vielen anderen Menschen von Nutzen sein wird.

Den Wenigen gewidmet

VORWORT

Die folgenden Seiten sind dem »Buch der goldenen Regeln« entnommen, einem der Werke, die im Osten den Studierenden der Mystik in die Hand gegeben werden. Die Kenntnis dieser Regeln ist verbindlich in jener Schule, deren Lehren von vielen Theosophen anerkannt werden. Weil ich daher viele dieser Regeln auswendig weiß, war ihre Übersetzung für mich verhältnismäßig leicht.

Es ist bekannt, dass sich in Indien die Methoden für die psychische Entwicklung je nach den Gurus (Lehrern oder Meistern) unterscheiden, nicht nur, weil diese verschiedenen philosophischen Schulen angehören (deren es sechs gibt), sondern auch, weil jeder Guru sein eigenes System hat, das er meistens streng geheimhält. Aber jenseits des Himalayas sind die Methoden in den esoterischen Schulen nicht verschieden, außer wenn der Guru nur ein Lama ist, der wenig mehr gelernt hat als jene, die er unterrichtet.

Das Werk, aus dem ich hier übersetze, gehört zu derselben Gruppe wie das, aus dem die »Stanzen« des Buches des Dzyan entnommen wurden, auf dem Die Geheimlehre beruht. »Das Buch der goldenen Regeln« ist desselben Ursprungs wie das große mystische Werk »Paramārtha«, das, wie uns die Legende von Nāgārjuna erzählt, dem großen Arhat von den Nāgas oder »Schlangen« (in Wahrheit ein Name für die Eingeweihten der Frühzeit) übergeben wurde. Doch seine Grundgedanken und Vorstellungen, so edel und einzigartig sie auch sind, finden sich oft unter verschiedenen Formen in Sanskrit-Werken, so im »Dnyaneshwari«, jener wunderbaren mystischen Abhandlung, in der Krishna dem Arjuna in glühenden Farben den Zustand eines völlig erleuchteten Yogi beschreibt, und auch in bestimmten Upanishaden. Dies ist nur natürlich, da die meisten, wenn nicht alle der größten Arhats, die ersten Anhänger Gautama Buddhas, Hindus und damit Arier und keine Mongolen waren, insbesondere diejenigen, die nach Tibet auswanderten. Allein schon die von Āryāsanga hinterlassenen Werke sind sehr zahlreich.

Der Urtext der »Regeln« ist in dünne rechteckige Tafeln eingeritzt, Kopien davon sehr oft auf Scheiben. Diese Scheiben oder Tafeln werden im Allgemeinen auf den Altären der Tempel aufbewahrt, die zu Zentren der sogenannten »kontemplativen« oder Mahāyāna- (Yogāchārya-) Schulen gehören. Sie sind verschieden beschriftet, bisweilen tibetisch, aber größtenteils in Ideographen. Die Priestersprache (Senzar) kann, außer in einem eigenen Alphabet, in verschiedenen Arten von Schriftzeichen wiedergegeben werden, die mehr den Charakter von Ideographen als von Silben haben. Eine andere Methode (tibetisch »lug«) besteht in der Benutzung von Zahlen und Farben, von denen jede einem Buchstaben des tibetischen Alphabets entspricht (dreißig einfachen und vierundsiebzig zusammengesetzten Buchstaben), sodass ein vollständiges Geheimschrift-Alphabet entsteht. Wenn Ideographen benutzt werden, gibt es eine bestimmte Methode, den Text zu lesen: So stehen in diesem Fall die in der Astrologie benutzten Symbole und Zeichen, nämlich die zwölf Tierkreiszeichen und die sieben Grundfarben, jede in dreifacher Schattierung (hell, Grundton, dunkel), für die dreiunddreißig Buchstaben des einfachen Alphabets sowie für Wörter und Sätze. Denn bei dieser Methode bilden die zwölf »Tierbilder«, fünfmal wiederholt und verbunden mit den fünf Elementen und den sieben Farben, ein ganzes Alphabet aus sechzig heiligen Buchstaben und zwölf Zeichen. Ein Zeichen am Anfang des Textes bestimmt, ob dieser nach indischer Art gelesen werden soll, bei der jedes Wort einfach eine Sanskrit-Ableitung ist, oder nach dem chinesischen Prinzip des Ideographen-Lesens. Der einfachste Weg ist jedoch der, der es dem Leser erlaubt, keine besondere, sondern jede beliebige Sprache zu benutzen, da die Zeichen und Symbole – gleich den arabischen Ziffern – weltweit gemeinsames Eigentum unter eingeweihten Mystikern und ihren Anhängern waren. Dieselbe Eigenart ist für eine der chinesischen Schreibarten charakteristisch, die mit derselben Leichtigkeit von jedem gelesen werden kann, der mit den Schriftzeichen vertraut ist: Ein Japaner z. B. kann sie in seiner Sprache ebenso leicht lesen wie ein Chinese in der seinen.

»Das Buch der goldenen Regeln« – von denen einige vor-buddhistisch, andere späteren Datums sind – umfasst etwa neunzig verschiedene kleine Abhandlungen. Von diesen habe ich vor Jahren neununddreißig auswendig gelernt. Um die Übrigen zu übersetzen, müsste ich auf verstreute Notizen aus einer Unzahl von Papieren zurückgreifen, die sich in den letzten zwanzig Jahren angesammelt haben und nie geordnet wurden, also wahrlich keine leichte Aufgabe. Sie könnten auch keineswegs alle übersetzt und einer Welt übergeben werden, die zu selbstsüchtig und zu sehr an sinnliche Dinge gebunden ist, als dass sie in irgendeiner Weise vorbereitet wäre, eine so erhabene Ethik im richtigen Geist aufzunehmen. Denn wenn ein Mensch nicht ernsthaft und mit Ausdauer nach Selbsterkenntnis strebt, wird er nie Ratschlägen dieser Art ein williges Ohr leihen.

Und doch füllen solche ethischen Lehren viele Bände in der östlichen Literatur, insbesondere in den Upanishaden. »Ertöte Lebensbegierde«, sagt Krishna zu Arjuna. Diese Begierde verweilt nur im Körper, dem Träger des verkörperten Ichs, nicht in dem Selbst, das »ewig, unzerstörbar ist, das nicht tötet noch getötet wird« (Katha Upanishad). »Ertöte die Sinne«, lehrt das Sutta-Nipāta; »sieh Vergnügungen und Schmerz, Gewinn und Verlust, Sieg und Niederlage als gleich an«. Und ferner: »Suche allein im Ewigen Schutz« (ibid,.). »Zerstöre das Gefühl des Getrenntseins«, wiederholt Krishna in jeder Form. »Der Verstand (Manas), der den umherschweifenden Sinnen folgt, macht die Seele (Buddhi) so hilflos wie das Boot, das der Wind auf dem Wasser umhertreibt« (Bhagavadgītā, II, 70).

Deshalb habe ich es für besser gehalten, eine sorgfältige Auswahl nur aus jenen Abhandlungen vorzunehmen, die für die wenigen wirklichen Mystiker in der Theosophischen Gesellschaft geeignet sind und die ihren Bedürfnissen bestimmt entsprechen werden. Nur diese werden die Worte von Krishna-Christos, dem »Höheren Selbst«, zu schützen wissen: »Weise grämen sich weder um die Lebenden noch um die Toten. Niemals war ich nicht, noch du, noch diese Herrscher der Menschen; noch wird einer von uns jemals aufhören zu sein!« (Bhagavadgītā, II, 11, 12).

In dieser Übersetzung habe ich mich bemüht, die poetische Schönheit der Sprache und der Bilder zu erhalten, die das Original auszeichnet. Wieweit ich damit Erfolg gehabt habe, möge der Leser entscheiden.

»H.P.B.«

FRAGMENT I


DIE STIMME DER STILLE

DIESE Unterweisungen sind für jene bestimmt, die die Gefahren der niederen IDDHI1 nicht kennen.

Wer die Stimme des Nāda2, »den tonlosen Ton«, hören und verstehen will, der muss lernen, das Wesen von Dhāranā3 zu erkennen.

Gleichgültig geworden gegenüber den Objekten der Sinneswahrnehmung, muss der Schüler nach dem Rājā der Sinne, dem Gedankenerzeuger, der Täuschungen erweckt, suchen.

Der Verstand ist der große Zerstörer des Wirklichen.

Der Schüler soll den Zerstörer zerstören.

Denn:

Erst wenn ihm seine eigene Gestalt so unwirklich vorkommt wie beim Erwachen alle Formen, die er im Traum gesehen hat;