Hans Stolp

Die Sterbestunde

Bewusstes Abschiednehmen

Hans Stolp

Die Sterbestunde

Bewusstes Abschiednehmen

Aquamarin Verlag

1. Auflage 2013 © der deutschen Ausgabe:

Aquamarin Verlag GmbH • Voglherd 1 • 85567 Grafing

Umschlaggestaltung Annette Wagner

ISBN 978-3-96861-025-2

Für Ria Zandberg

Wie eine stille Kraft im Boden trägst du

Mit der Kraft deines Wissens die Menschen,
die dir lieb sind – Und trägst auch mich.

Was dich motiviert, ist die Liebe zu Christus.

Sie schenkt dir Kraft, sie weist dir den Weg

Und macht dich so ergreifend geist-erfüllt.

Dein Herz ist am Leben gereift, Es ist dadurch weise geworden – und mit Liebe erfüllt.

Danke für die stille Kraft,

Die von dir ausgeht – Danke!

Inhalt

1.So viele Fragen

2.Wenn der Schleier sich lüftet

3.Nicht nur Sterbebegleitung, sondern auch Geburtshilfe

4.Wenn der Tod ganz plötzlich einen unserer Lieben ereilt

5.Aufbau und Struktur des Menschen

6.Was der Sterbende an der Schwelle des Todes erlebt

7.Die Sterbearbeit

8.Die Sensibilität des Sterbenden steigt immer mehr

9.Denkanstöße für Pflegepersonal und Familienangehörige

10.Die Sterbestunde

11.Die Frage der Euthanasie

Anmerkungen

1.

So viele Fragen …

Je größer die Liebe, desto tiefer der Kummer

Der Tod eines Menschen, den wir lieben, ist eines der tiefgreifendsten Erlebnisse, die uns in diesem Leben widerfahren können. Es bedeutet, von einem geliebten Menschen Abschied nehmen und diesen loslassen zu müssen. Was gibt es in diesem Leben Schwereres, als den schmerzhaften Verlust des Loslassens zu ertragen?

Insbesondere der Tod eines Kindes ist für die Eltern – und andere Betroffene, wie Geschwister und Großeltern – unsäglich schwer. Abschied von einem Kind nehmen zu müssen, dem all unsere Herzensliebe gilt, ist vielleicht die allerschwierigste Aufgabe, die es gibt.1 Dabei gilt: Je stärker das Band der Liebe, das uns an den Sterbenden bindet, desto schwieriger ist es, unser geliebtes Kind auch wirklich loszulassen.2

So erkennen wir, dass die Kehrseite der Liebe ein immenser Schmerz sein kann – der Schmerz des Loslassens, des Abschiednehmens und des Vermissens in den Monaten und Jahren danach. Je größer die Liebe, desto tiefer der Kummer.

Es stirbt immer ein Teil von uns mit dem anderen mit

Wenn ein geliebter Mensch nach einer langen Krankheit stirbt, bedeutet das meist, dass wir vor dem Tod das ganze Wechselspiel der Gefühle, das der Sterbende durchlebt, mit ihm teilen und innerlich mittragen dürfen. Man denke nur an all die Gefühle von Angst, Ohnmacht und Kummer, aber auch an jene einzigartigen Momente der Hingabe und Dankbarkeit: Wir tragen und teilen diese so oft gemeinsam. Dabei wird uns klar, dass uns der Sterbende im gleichen Maße hilft, wie wir ihm helfen können. Wir tragen und begleiten einander in dieser dunklen Zeit. So stellen wir fest: Sterbebegleitung ist ein wechselseitiger Prozess.3

Gemeinsam mit unserem geliebten Freund beschreiten wir Schritt für Schritt den Weg in den Tod – einen Weg voller Windungen, mit hellen und dunklen Tagen, mit Stunden der Verzweiflung, doch manchmal auch mit Stunden, in welchen uns ein stilles, unerklärliches Licht des Friedens umhüllt. Haben wir jedoch die Schwelle unmittelbar erreicht, so ist der Moment gekommen, an dem wir den anderen loslassen müssen – weiter als bis an diese äußerste Grenze können wir nicht mitgehen.

Wir haben das Gefühl, als würden wir ein stückweit selbst mitsterben: Ein Teil von uns stirbt mit dem anderen mit. Und manchmal sehnt sich unser Innerstes auch danach noch so sehr nach unserem geliebten Mitmenschen, dass wir ihm bei seinen ersten Schritten auf dem Weg in das Land auf der anderen Seite intuitiv mit unserem geistigen Auge nachfolgen. Nicht wenige Hinterbliebene lösen sich in dieser ersten Zeit nach dem Verlust ein wenig von ihrem Körper und leben gleichsam im Niemandsland – zwischen Himmel und Erde. Daher mein Rat an die Trauernden: Versuchen Sie, stets regelmäßig etwas zu essen, auch wenn Ihnen der Sinn überhaupt nicht nach Essen stehen mag. Der Verzehr von Nahrungsmitteln verstärkt die Bindung an die Erde und ruft Sie wieder zurück in Ihren Körper.4

Selten haben wir uns so allein gefühlt

Die Tage danach, wenn unser geliebter Freund aufgebahrt ist, der Abschied vorbereitet wird und der endgültige Abschied beim Begräbnis oder bei der Einäscherung stattfindet, ziehen meist wie in Trance an uns vorüber. Erst später, wenn die Besuche und Anrufe weniger werden, finden wir zu uns selbst zurück und werden mit all diesen düsteren Gefühlen von Schmerz, Verlust und Alleinsein konfrontiert, die unaufhaltsam wie ein wilder Wirbelwind durch unser Herz stürmen und wieder weiterziehen. Es sind Gefühle, die wir überhaupt nicht unter Kontrolle haben, und wir glauben, diese mit niemandem wirklich teilen zu können. Selten haben wir uns so allein gefühlt wie während der ersten Zeit nach dem Tod eines geliebten Menschen. Dies ist eine Zeit, in der sich viele bewusst werden, wie wahr die Worte des Dichters Vasalis sind:

»Nicht das eigentliche Abgeschnitten-Werden verursacht den großen Schmerz, sondern das Abgeschnitten-Sein5

Loslassen ist eine heilige Handlung

Für ganz lange Zeit hatten wir unsere Aufmerksamkeit auf unseren geliebten Mitmenschen konzentriert – auf das, was er durchlebt und was er auf dem Weg in den Tod benötigt hat. Doch nun schwenkt unser Blick langsam in die andere Richtung, und wir werden gezwungen, den Gefühlen, die in unserem Inneren arbeiten, ins Auge zu schauen. Vielen fällt diese Konfrontation noch schwerer, als es der Weg bis zum Tod war: Damals waren wir zumindest noch zusammen, und nun stehen wir ganz allein da. Dann beginnt das stille, aber heilige Werk des Verarbeitens – die Aufgabe, Schritt für Schritt die Empfindungen von Kummer, Entbehrung und Schmerz zuzulassen, zu erfühlen, zu durchleben und loszulassen.

Eine wahrhaft heilige Handlung: Wenn jemand letztendlich loszulassen gelernt hat, schenkt er damit dem Verstorbenen den Raum und die Freiheit, seinen eigenen Weg in die geistige Welt auf der anderen Seite des Todes zu gehen. Spürt der Verstorbene, dass wir ihn in Gedanken zurückrufen oder zurückwünschen, wird ihn das auf diesem neuen Weg behindern. In diesem Fall ist es wirklich so, dass er schwerer vorwärtskommt. Begreift der Verstorbene jedoch, dass wir ihm – trotz des Verlustschmerzes – diesen Weg gönnen, wird er dies als großes Geschenk erleben, das ihm auf seinem neuen Weg in die geistige Welt einen freudvollen Impuls gibt.

So viele Fragen…

Der Tod eines geliebten Menschen stellt uns vor viele Fragen – Fragen, die so eindringlich sind, dass wir intensiv darüber nachdenken müssen. Denken wir beispielsweise an die Frage nach der Euthanasie: »Dürfen wir das Leben unseres lieben Mitmenschen verkürzen?« Zu diesem Thema stellen sich viele Fragen, darunter auch folgende: »Entspringt die Forderung nach Euthanasie vielleicht unserer Ohnmacht, das Leiden unseres geliebten Mitmenschen noch länger mitansehen und ertragen zu müssen? Wie müssen wir reagieren, wenn unser geliebter Freund selbst um Sterbehilfe bittet?«

Doch können wir auf derlei Fragen überhaupt eine Antwort geben, wenn wir nicht einmal wissen, was der Tod denn nun eigentlich ist, und ob das Leben auf der anderen Seite des Lebens weitergeht oder nicht? Falls das Leben auf der anderen Seite weitergeht – hat die Euthanasie dann eine Auswirkung auf dieses neue Leben in der geistigen Welt?

Es drängen sich auch noch andere Fragen auf: »Welches sind eigentlich die inneren Prozesse, die ein Sterbender durchlebt? Welches sind die Fragen und Gefühle, mit denen sich der Sterbende auseinandersetzt, und über die er meist nicht sprechen kann, weil es im Grunde unmöglich ist, die richtigen Worte dafür zu finden? Wie können wir unserem lieben Freund beistehen, wenn er mit diesen Gefühlen und Prozessen konfrontiert ist?«

Als ich noch Krankenhauspfarrer war, stellte ich fest, dass Menschen sich auch folgende Fragen stellten: »Wie sollte man sich eigentlich in der Nähe eines Sterbenden verhalten? Wie kann man ihm so beistehen, dass man für den Sterbenden eine wirkliche Stütze ist und es ihm nicht noch schwerer macht, als es ohnehin schon ist?«

Wenn der Tod dann näher rückt – und ganz gewiss spätestens dann, wenn unser geliebter Mitmensch verstorben ist – tauchen wieder weitere Fragen auf: »Gibt es eigentlich ein Leben auf der anderen Seite des Todes, und falls ja – wie sieht dieses Leben möglicherweise aus? Falls es wirklich ein Leben nach dem Tod und eine geistige Welt gibt, die uns nach dem Tod erwartet: Welchen Weg wird unser geliebter Freund dann wohl gehen – in diesem neuen Land auf der anderen Seite des Todes?«

Es sind Fragen, die uns natürlich auch früher schon durch den Kopf gegangen sind, die nun jedoch ganz beklemmend wirken. Wir möchten so gern wissen, wie es unserem geliebten Freund in jener neuen Welt ergehen wird. »Was wird er dort erleben? Welche Erfahrungen wird er dort machen?« Immer wieder tauchen Fragen wie diese auf – zumindest bei denjenigen, für die es nicht selbstverständlich ist, dass der Tod das definitive Ende ist, weil es kein Leben nach dem Tod gibt. Ziemlich viele Menschen in unserer heutigen Zeit glauben dies ja.

Fragen über Fragen. Um Antworten auf diese Fragen zu finden, müssen wir zunächst einmal einen tieferen Einblick in den Sterbeprozess erlangen.

Dem Tod kann keiner entrinnen

Jeder von uns kommt früher oder später einmal mit dem Tod in Berührung, sowohl über jemanden, der uns etwas weiter entfernt ist, als auch über jemanden, der uns nahesteht. Denken Sie beispielsweise an den Tod eines Bekannten, eines Kollegen oder einer engen Freundin bzw. eines Freundes. Doch denken Sie auch an den Tod eines Familienmitgliedes oder an den Tod eines geliebten Angehörigen – eines Kindes, eines Partners, eines Bruders, einer Schwester oder eines Elternteiles. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass alle diese Fragen erst dann auftauchen, wenn der Tod unmittelbar bevorsteht, und sie lassen sich in diesem Augenblick auch nicht mehr verdrängen. Aber genau dann haben viele erfahrungsgemäß zu ihrem großen Erschrecken keine richtige, keine überzeugende Antwort auf alle diese Fragen. Gerade die Tatsache, dass sie keine Antwort haben, macht den Abschied noch schwerer, und erst recht die Entscheidungen, die gefällt werden müssen. Daher ist es gut, die vielen Fragen, die mit unserem eigenen Lebensende und dem unserer Lieben zusammenhängen, in aller Ruhe schon einmal vorab zu überdenken. Aus diesem Grund habe ich dieses Buch geschrieben.

Ich behaupte selbstverständlich nicht, die Antwort schlechthin zu kennen. Ich kann nur berichten, welche Antworten und Erfahrungen ich im Laufe der Jahre gewonnen habe – in der Hoffnung, dass diese Gedanken Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, ein wenig dabei helfen mögen, Ihre eigenen Antworten zu entdecken.

2.

Wenn der Schleier sich lüftet

An der Grenze zwischen zwei Welten

Es gibt Menschen, die beim Tod eines lieben Freundes eine besondere Erfahrung machen: Sie beginnen, etwas von dem Ausblick zu erspüren, den ihr geliebter Freund an der Schwelle des Todes erfährt. Wer sich mit all der Feinsinnigkeit seines Herzens auf das konzentriert, was im Sterbenden vor sich geht, darf unter Umständen gleichsam einen kurzen Blick über die Schulter des Sterbenden werfen und einen Hauch von dem erhaschen, was dieser sehen darf. Einfacher ausgedrückt: Er darf dank seines Einfühlungsvermögens miterleben, was der Sterbende erlebt.

Solche Erfahrungen werden dadurch möglich, dass wir durch den tiefen Schmerz und Kummer gleichsam aus unserem Alltagstrott gerissen werden. Außerdem erkennen wir, dass wir selbst das Schicksal unseres lieben Freundes in keiner Weise verändern können. Durch die zunehmende Ohnmacht, die uns überkommt, stellt sich mit der Zeit in uns eine innere Stille ein, und es wird uns möglich, andere Realitäten wahrzunehmen, die im normalen Alltagsleben vor uns verborgen bleiben.

Um solche Erfahrungen machen zu können, müssen wir freilich für den anderen offen und empfänglich sein und dürfen nicht nur auf den eigenen Kummer und Schmerz fixiert sein. Es ist schon eine besondere Kunst, neben dem Erleben des eigenen Schmerzes und der eigenen Ohnmacht noch für das empfänglich bleiben zu können, was der Andere durchmacht und durchlebt. Doch wer das leisten kann, vermag kraft seines Einfühlungsvermögens sehr wahrscheinlich durchaus einen Hauch der stillen Kräfte zu erspüren, die aus der geistigen Welt auf den Sterbenden einwirken und ihn tragen. Sollte das jedoch nicht der Fall sein, so fühlen Sie sich bitte vor allem nicht schuldig – solche Erfahrungen werden nicht jedem zuteil. Es gibt jedoch schon erstaunlich viele Berichte über derlei Erfahrungen. Dies zeugt sowohl von der Hilfe, die es für die Sterbenden gibt, als auch davon, dass die geistige Welt wirklich existiert. Daher gebe ich in diesem Kapitel einige dieser Erfahrungen weiter.

Den meisten von uns werden wohl keine offensichtlichen Erlebnisse zuteil werden. Viele werden sich jedoch vielleicht im folgenden Erfahrungsbericht wiederfinden, der von einer älteren Dame stammt: »In vielerlei Hinsicht sind sich Geburt und Tod recht ähnlich. Sowohl bei der Geburt meines Kindes als auch beim Tod meines Mannes hatte ich das Gefühl, an der Schwelle zwischen zwei Welten zu stehen – und ich wusste mich mit beiden Welten verbunden. Diese Erfahrung kann man nur bei der Geburt und beim Tod machen. Im normalen Leben erfährt man ja nur eine einzige Wirklichkeit. Doch bei der Geburt und beim Tod wird der Himmel in gewisser Weise zur spürbaren Wirklichkeit.«

Das Sterbezimmer als Tempel

Es gibt Familienmitglieder, die in den letzten Tagen und Stunden vor dem Tod die Anwesenheit von heiligen Kräften und Wesen spüren. »In den letzten Tagen vor dem Tod meiner Frau«, so erzählte ein alter Mann, »betrat ich ihr Zimmer unwillkürlich auf Zehenspitzen. Ich merkte auch, dass ich automatisch zu flüstern begann, und das nicht nur gegenüber meiner Frau, sondern auch gegenüber den Menschen, die an ihrem Bett saßen. Als ich mich später fragte, weshalb ich das eigentlich tat, wurde mir klar, dass sich ihr Zimmer für mich wie ein Tempel, wie ein heiliger Raum anfühlte. Später wurde mir bewusst, dass in jenen Tagen Engel in ihrem Zimmer gewesen sein müssen, um ihr zu helfen und sie zu unterstützen. Wenn ich sie damals auch nicht gesehen habe, so habe ich sie dennoch sehr wohl gespürt – und diese Erfahrung ist heute noch ein Trost für mich.«

Hilfe von bereits verstorbenen Familienmitgliedern

Eine alte Dame, die schon weit über neunzig Jahre alt war, lag still da und wartete auf den Tod. Ihre Augen waren geschlossen, und sie gab tiefe, sägende Atemzüge von sich. Dazwischen lagen lange Intervalle vollkommener Stille. Schon seit einigen Stunden hatte sie nichts mehr gesagt und lag nahezu reglos im Bett. Dann schlug sie plötzlich die Augen auf, schaute mit weit aufgerissenen Augen Richtung Fußende ihres Bettes und sagte mit verwunderter Kinderstimme, – als sei sie wieder ganz das Kind von damals: »Da steht ja Mama!«

Die umstehenden Besucher denken oder sagen in derartigen Situationen manchmal: »Jetzt stimmt es also doch.« Doch jedem, der es gelernt hat, mit den kombinierten Kräften seiner Intuition und seines Einfühlungsvermögens auf das zu lauschen, was Sterbende durchleben, erschließt es sich deutlich, dass das, was diese alte Dame wahrgenommen hat, mit Sicherheit keine Halluzination, sondern eine konkrete Wahrnehmung war – jedoch eine Wahrnehmung auf der geistigen Ebene und nicht auf der Stufe der irdischen, materiellen Welt. Die Sterbende durfte ganz konkret erfahren, wie ihre Mutter kam, um sie abzuholen und auf dem letzten Schritt aus der irdischen Welt in das Leben auf der anderen Seite des Todes zu begleiten.

Elisabeth Kübler-Ross – die uns in der heutigen Zeit erstmals auf derartige Erlebnisse von Sterbenden aufmerksam gemacht hat – sagt über eine solche Situation: »Die Askese ist nun vollkommen, und der Kranke hat sich von seinen Verwandten in dieser Welt abgewandt und ist bereit zu sterben.«6

Wenn der Schleier sich lüftet

Eine Frau – sie war Mitte Vierzig – erzählte einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes:

»Als mein Mann starb, sah ich plötzlich eine schemenhafte Gestalt neben seinem Bett stehen, eine Frau. Sie war leicht durchsichtig, doch sonst sah sie aus wie ein normaler Mensch. Langsam beugte sie sich über das Bett meines Mannes. An ihrer ganzen Art, sich zu bewegen, sowie an ihrer Körperhaltung spürte ich ihre Liebe. Ich wusste in diesem Moment – mit einer tiefen inneren Gewissheit – dass diese Frau seine Mutter war, die in jungen Jahren verstorben war und nun kam, um ihm zu helfen. Ich war ihr niemals begegnet, denn sie war schon verstorben, als ich meinen Mann kennenlernte. Sie streichelte auch das Gesicht meines Mannes. Sie tat das mit einer Zärtlichkeit, die mich heute noch tief berührt. Dann war sie weg. Das heißt, ich denke, dass sie sehr wohl noch dort war, ich sie jedoch nicht mehr sehen konnte. Nur für diesen einen, so intensiven Augenblick wurde der Schleier kurz gelüftet.«

Es war insbesondere jene Erfahrung, die dieser Frau später die so notwendige innere Kraft und das Durchhaltevermögen schenkte, um den Tod ihres Mannes zu verarbeiten. Obgleich sie mit Erfahrungen wie dieser an sich überhaupt nicht vertraut war, war dieses Erlebnis so überzeugend und zugleich auch so selbstverständlich, dass sie auch später nie an dessen Echtheit gezweifelt hat.

Liebe macht sehend

Ein Vater erzählt vom Todestag seiner sechsjährigen Tochter:

»Keine Angst, nur Stille und Hingabe. Es muss an diesem Samstag etwas zu ihr hinabgekommen sein, worüber sie sich gefreut hat, etwas oder jemand, das ihr so viel Geborgenheit und Sicherheit gab, dass sie ihre Angst loslassen konnte.«7

Dieser Vater hatte nichts gesehen – keinen Engel und kein bereits verstorbenes Familienmitglied, das gekommen wäre, um seine Tochter abzuholen. Doch sein Respekt für und seine Liebe zu seiner Tochter führten ihn zu dieser Erkenntnis, ja emotionalen Gewissheit, dass jemand aus einer anderen, höheren Welt zu seiner Tochter gekommen sein musste, um ihr bei den letzten Schritten durch das Tor des Todes in das neue Leben auf der anderen Seite des Seins zu helfen. Es war die Liebe zu seiner Tochter, die ihn dies sehen und mit seinem Herzen wissen ließ. Das ist die Kraft der wahren Liebe. Diese Erfahrung veranlasste ihn auch, zu schreiben: »Es ist möglich, den Kampf um das Leben seines Kindes zu verlieren und dennoch kein Verlierer zu sein.«8

Hilfe von Engeln und Verstorbenen

Schwerkranke und sterbende Kinder erzählten mir im Krankenhaus mit großer Regelmäßigkeit von Besuchen durch einen Engel: Sie spürten offensichtlich intuitiv, dass ich eine solche Erfahrung nicht befremdlich finden und ihre Geschichte nicht als Fantasie abtun würde. Daher sprachen sie ganz offen über Erfahrungen, über die sie mit anderen nicht so schnell redeten. Sie erzählten beispielsweise, wie eines Abends plötzlich eine »Lichtgestalt« neben ihrem Bett stand, die ihnen allein durch ihre Anwesenheit Trost und Mut schenkte. Auch ging von dieser Gestalt eine solche Wärme aus, dass sie sich nicht mehr so allein fühlten. Sie bezeichneten sie ganz unbefangen als »Herrn des Lichtes«, als »Jesus« oder auch als »einen Engel«. Je nachdem, welche religiöse Vorbildung sie von zu Hause mitbrachten oder auch nicht. Doch wie sie diese Erscheinung auch nannten – sie machten alle die gleiche Erfahrung von Trost und Ermutigung und erfuhren dank dieses Engels tiefen inneren Frieden und Ruhe, obwohl sie sich vorher noch so ängstlich, einsam und panisch gefühlt hatten.

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