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Originalcopyright © 2019 Südpol Verlag, Grevenbroich

Autorin: Lucie Kolb

Illustration: Corinna Böckmann

E-Book Umsetzung: Leon H. Böckmann, Bergheim

ISBN: 978-3-96594-028-4

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung,

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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www.suedpol-verlag.de

Inhalt

Ein seltsames Gefährt

Erbsensuppe für alle

Der Wetterfrosch

Der gezeichnete Beweis

Ein Wetterbericht für Annie

Wo bleibt das Suppenfahrrad?

Es knallt

Fliegende Kartoffeln

Suppe ohne Fahrrad

Es ist verzwickt

Fahndungsplakate

Annie verplappert sich

Pinkler in Kurts Garten

Die kaputte Wetterstation

Wer ist Wolke?

Wetterfrösche unter sich

Wut im Bauch

Annies Plan

Ein gefährlicher Feind

Die Beschattung

Dem Suppenfahrrad auf der Spur

Kurt will weg

Annies eigene Wetterstation

Die Falle

Der Rettungsanker

Fast wird die Polizei gerufen

Das Geständnis

Ein Festmahl und eine Beerdigung

Über die Autorin

„Hey du! Bleib stehen!“

Annie drehte sich stöhnend um. Sie war so froh, dass die Schule vorbei war. Ihre neuen Mitschüler waren allesamt total behämmert. Am schlimmsten waren Mila und Joy. Und genau die standen jetzt, aneinandergedrängt unter einem quietschgelben Regenschirm, vor ihr.

„Hast du dir diesen komischen Pony selbst geschnitten?“, fragte Mila.

Natürlich. Dumme Frage. Der Igelpony, zwei Zenti­meter kurz und nach vorne abstehend, war Annies Marken­­zeichen. Aber das kapierte an der neuen Schule niemand. Sie fuhr mit dem Finger darüber. Wenn er trocken war, fühlte er sich an wie ein weicher Pinsel. Gerade war er nass. Es regnete nämlich dicke graue Bind­­fäden.

Aber die Kapuze konnte Annie jetzt nicht aufziehen. Sonst würde Mila noch denken, dass sie ihren Pony verstecken wollte. Dabei brauchte sie den doch dringend. Zur Belüftung, weil Annie ein Hitzkopf war.

„Hallo? Ich hab dich was gefragt!“ Mila sprach extra langsam. „Hast du den selbst geschnitten?“

„Ja. Und zwar schon seit der ersten Klasse.“

Mila prustete. „Das sieht man.“

Annie winkte ab und stapfte nach Hause. Sie wohnte in einem Mietshaus, in dem außer ihr und ihrer Mutter nur alte Leute lebten. Vor der Tür gab es ein kleines Rasenstück, das ihre Mutter Vorgarten genannt hatte. Annies Meinung nach hatte es mit einem Garten genauso viel zu tun, wie ein Regenwurm mit einer Boa Constrictor.

Vor der Haustür kramte sie in ihrer Jackentasche nach dem Schlüssel. Dann wühlte sie in ihrem Schulranzen zwischen den nagelneuen Büchern und Heften. Nichts zu machen. Der Schlüssel war nicht da.

Als wäre der Tag nicht schon schlimm genug gewesen.

Weil ihre Mutter arbeiten musste und noch keinen Hortplatz für sie gefunden hatte, sollte sie den ganzen Nachmittag alleine in der halb eingerichteten Wohnung hocken. Aber das ging ja nicht, ohne Schlüssel. Annie zog das Handy aus der Tasche und rief ihre Mutter an.

„Der Teilnehmer ist leider nicht erreichbar“, sagte eine Maschinenstimme.

Na toll.

Im Notfall kannst du zu Frau Bröckelmeier gehen, hatte ihre Mutter gesagt. Jetzt war wahrscheinlich ein Notfall.

Aber Annie wollte nicht zu Frau Bröckelmeier. Dort roch es nach alten Rülpsern und Käsefüßen. Und außerdem kannte sie die Nachbarin fast gar nicht. Da blieb sie lieber pitschnass vor der Tür stehen und fror.

Egal. Gerade hörte es auf zu regnen.

Auf der linken Seite der Kreuzung ging es zur Schule. Geradeaus in ein Wohngebiet. Dort standen nur langweilige graue Häuser. Aber was war eigentlich in der anderen Richtung? Annie beschloss, eine Expedition zu machen. Das war das einzig Gute an einem Umzug. Man konnte Neues erkunden.

Vielleicht konnte sie sich auch verlaufen und nie mehr nach Hause finden. Das wäre praktisch. Dann würde die Polizei nach ihr suchen. Ihre Mutter wäre todtraurig und würde sie nicht mehr alleine lassen.

Die nächste Straße sah genauso grau aus wie die vorherige. Annie kickte einen Stein den Gehweg entlang. Jetzt kam sie an einem besonders hässlichen Gebäude vorbei. Es hatte nicht mal eine richtige Farbe.

„Dümmste Stadt der Welt“, sagte Annie laut und ballte die Fäuste.

Das hässliche Gebäude war ein Supermarkt, vor dem ein kleiner Platz mit Fahrradständern und zwei Bänken lag.

Aus dem Supermarkt roch es nach warmen Brötchen. Annies Magen knurrte. Zu Hause gab es noch Nudelsalat. Aber ohne Schlüssel half ihr das nichts.

Und ohne Geld half ihr auch der Supermarkt nichts. Annie seufzte.

Am Ende der Straße tauchte ein seltsames Gefährt auf. Es schwankte hin und her und dampfte.

Annie setzte sich auf die nasse Bank. Von dort aus konnte sie das Ding gut beobachten. Je näher es kam, desto mehr konnte Annie erkennen.

Es war ein Fahrrad. Oder jedenfalls so etwas Ähnliches. Ein paar Sachen waren anders als bei Annies Rad. Zum Beispiel, dass ihr Fahrrad nicht dampfte. Es machte auch nicht so laute Geräusche. Dieses hier klapperte und klirrte, als würde es gleich auseinanderbrechen.

Auf dem Rad saß ein älterer Mann in einer grau-bräunlichen Regenjacke. Annie konnte sehen, dass sie früher mal leuchtend Gelb gewesen war.

Jetzt hielt er mitten auf dem Platz vor dem Supermarkt, nur drei Meter von Annie entfernt.

So ein Fahrrad hatte Annie wirklich noch nie gesehen: Es hatte vorne zwei Reifen. Dazwischen, ungefähr zehn Zentimeter über dem Boden, war ein Backblech mit hohem Rand befestigt. Und darüber baumelte ein Topf, der an einer Stange vom Lenker hing. Von hier kam auch der ganze Dampf. Am Gepäckträger spannte sich eine Schnur, an der lauter kleine Schüsseln am Henkel aufgefädelt waren. Auf der anderen Seite hing eine Tasche.

Der Mann stieg schnaufend ab. Er klappte den Fahrradständer runter und zog ein Tuch aus der Hosen­tasche, mit dem er sich übers Gesicht wischte. Das Tuch war auf dieselbe Art weiß, wie seine Jacke gelb war. Er nickte Annie kurz zu.

Da, wo an anderen Fahrrädern die Luftpumpe fest­geklemmt ist, steckte ein Schöpflöffel. Den nahm er nun ab und rührte im Topf.

Langsam breitete sich ein leckerer Geruch auf dem Platz aus.

Eine Frau kam aus dem Supermarkt. Sie trug ein Namensschild an ihrem Hemd. Wahrscheinlich arbeitete sie dort und hatte Pause.

„Tach Kurt, ich hab schon gewartet.“

Kurt schaute nach oben. „Ja, ja, heut ist wieder Suppen­­wetter.“ Dann nahm er eine Schüssel vom Gepäckträger und schüttete grüne Suppe hinein. Aus der Tasche zog er einen Löffel und drückte beides der Frau in die Hand.

Die begann, die Suppe zu essen. So lange standen die beiden schweigend nebeneinander.

„Ah! Das war gut“, sagte die Frau, als sie die Schüssel leer gelöffelt hatte. Sie kramte in ihrer Hemdtasche und drückte Kurt ein paar Münzen in die Hand. „Bis zum nächsten Suppenwetter!“ Mit zufriedenem Gesicht ging sie wieder in den Laden.

Annie wunderte sich. Das war nicht nur die hässlichste Stadt der Welt, sondern auch die seltsamste. Wieso fuhr der Mann einen Topf Suppe spazieren?

Immer mehr Leute kamen, sie umringten Kurt und sein Fahrrad.

„Erbsensuppe! Beste Suppe!“, rief ein Bauarbeiter und rieb sich den Bauch, als er seine Schüssel zurückgab.

Nach und nach hatten alle gegessen. Und jeder hatte Kurt ein paar Münzen in die Hand gedrückt. Der Platz leerte sich wieder. Bald war er genauso leer wie Annies Bauch. Außerdem fühlte sie sich halb erfroren. Gegen beides half eine Suppe bestimmt. Aber leider hatte Annie kein Geld dabei.

Ein lautes Knurren dröhnte über den Platz.

Kurt drehte sich um.

„Na sag mal! Was war das?“, fragte er und schaute Annie an. Die Falten um seine Augen sahen aus wie Sonnenstrahlen.

„Das war mein Bauch.“ Annie lief knallrot an.

„Vom Dasitzen und Gucken wird man nicht satt“, rief Kurt. Er nahm sein Fahrrad und schob es neben die Bank. Dann schöpfte er Suppe in eine besonders große Schüssel. Die drückte er Annie in die Hand. Fast wäre sie ihr heruntergefallen, weil ihre Finger ganz steif waren. Aber sie hielt sie gut fest und sog den Dampf in die Nase ein. Es war die erbsigste Erbsensuppe, die sie je gegessen hatte. Sie war grün wie ein Garten im Frühling und schmeckte auch so. Die Wärme floss Annies Hals hinunter und breitete sich in ihrem Magen und ihrem ganzen Körper aus.

Kurt schöpfte sich ebenfalls eine Schüssel voll Suppe und setzte sich neben Annie auf die Bank. Er roch nach Holzfeuer. Und natürlich nach Erbsensuppe.

„Wenn du Salz und Pfeffer magst“, sagte er und deutete auf den Lenker. Dort waren in einer kleinen Halte­rung zwei Streuer angebracht.

Aber die Suppe schmeckte gut, so wie sie war.

Erst als Annie den letzten Rest aus ihrer Schüssel gelöffelt hatte, fiel ihr ein, dass sie ja immer noch keine Münzen hatte.

Sie rutschte auf der Bank hin und her.

„Hast du Hummeln im Hintern?“, fragte Kurt.

Annie schüttelte den Kopf.

„Noch ’ne Schüssel?“

„Nein, ich hab gar kein Geld dabei.“ Sie zog den Kopf ein. Diebstahl war eine schlimme Sache.

Kurt zuckte die Schultern. „Geben tun nur die, die wollen“, sagte er.

Annie verstand nicht ganz, was das bedeutete, aber es hörte sich freundlich an. Kurt war gar nicht sauer.

„Was ist das?“, fragte sie und deutete auf das Fahrrad.

„Das Suppenfahrrad! Hab ich selbst gebaut.“ Kurt stand auf und erklärte Annie alles ganz genau. „Hier drin“, sagte er und zeigte auf das Backblech, „sind heiße Kohlen.“

Das fiel Annie erst jetzt auf. Es glühte wirklich unter dem Suppentopf!

„Sonst wär die Suppe ja kalt, bis ich hier bin. Ist nämlich ein Stück von zu Hause.“

„Aber ist das nicht schwer?“, fragte Annie.

Das Fahrrad sah sehr wuchtig aus.

Kurt nickte. „Schon. Aber mit der Suppe ist es, wie wenn man einem Esel eine Karotte vor die Nase hält.“ Jetzt musste er lachen und Annie auch.

„Kommst du morgen wieder?“, fragte sie.

„Nur wenn Suppenwetter ist“, sagte Kurt.

„Suppenwetter? Was ist das denn?“

Kurt deutete Richtung Himmel. „Heute zum Beispiel ist Suppenwetter. Das spürt man am ganzen Körper. Wenn morgen auch Suppenwetter ist, komm ich wieder.“

Dann stieg er auf sein Rad. Aber er blieb noch kurz stehen. „Wie heißt du eigentlich?“

„Annie.“

„Ich heiße Kurt.“

Schwankend und klirrend fuhr er langsam davon.

Am nächsten Tag in der großen Pause stand Annie auf dem Schulhof und starrte in den Himmel. Dicke graue Wolken hingen dort, aber hinter ihnen leuchtete die Sonne. Ein warmer Wind wehte und die Kinder hatten ihre Jacken ausgezogen.

Auf einmal stand ein Junge neben ihr. „Bist du auch ein Wetterfrosch?“

Annie sah ihn an. Er war aus ihrer Klasse, klein und mit einer Brille auf der Nase. Es dauerte ein bisschen, bis Annie der Name einfiel: Nikita.