cover

 

Verfüge nie über Geld, ehe du es hast.

THOMAS JEFFERSON

 

 

Es stimmt nicht, wenn Leute behaupten,

Geld wäre nicht alles.

Geld ist alles!

MOLLY BECKER

Glaubt ihr, das geht? Millionen gewinnen und es niemandem sagen?

Ob ich schon mal davon geträumt habe, reich zu sein?

Klar, habe ich. Hat doch jeder mal. Vermutlich ist das überhaupt die meistgeträumte Phantasie der Welt. Ist also ganz normal, schätze ich.

Was ich dann machen würde?

Also, ganz spontan fällt mir da ein:

  1. Ich würde unsere Firma übernehmen und meine Chefin Clarissa dazu verdonnern, jeden Tag die Klos zu putzen.
  2. Ich würde in meine Bank gehen, mein Konto vom gegenwärtigen Minus in ein sattes Plus bringen und es nur unter der Bedingung weiterführen, dass der Filialleiter hundert Mal »Molly Becker hat ihre Finanzen fest im Griff« auf die Anschlagtafel schreibt.
  3. Ich würde meine sämtlichen falschen Designerklamotten wegschmeißen und mir stattdessen echte kaufen. (Na ja, die meisten jedenfalls – mit Ausnahme des sandfarbenen Prada-Kostüms und der Gucci-Stiefel aus der Türkei, die sehen nämlich fast besser aus als die Originale.)
  4. Ich würde das Haus kaufen, in dem Lissy, Tessa und ich wohnen. (Jetzt gehört es Tessas Vater, aber der will es verkaufen.)
  5. Ich würde mein Auto volltanken. (Und dadurch seinen Wert glatt verdoppeln.)
  6. Ich würde mich auf einer monegassischen Spendengala als äußerst großzügig erweisen und danach sämtliche Titelseiten, auf denen mir Albert die Hand küsst, an Frankie Grossauer schicken, der mich in der siebten Klasse abblitzen ließ.
  7. Ich würde mir das Hydrostar-Wasserbett kaufen, in dem ich letzte Woche im Möbelhaus zwei Stunden lang geschlafen habe, bis mich das Kichern der anderen Kunden weckte.
  8. Ich würde unter Vollnarkose ein paar klitzekleine kosmetische Veränderungen an mir vornehmen lassen.
  9. Nein, keine Brustvergrößerung!
  10. Ich würde ein paar Pflanzen kaufen und sie heimlich in Frederics Penthousewohnung platzieren, wenn er auf Geschäftsreise ist.
  11. Und ein gemütlicher Flokati könnte auch nicht schaden.
  12. Ich würde jeden Tag bis mittags schlafen und kein schlechtes Gewissen deswegen haben.
  13. Ich würde einen Butler mit englischem Akzent engagieren, der mich mit »Mylady« anspricht.
  14. Ich würde mit meinen Freundinnen alle Länder dieser Erde bereisen. (Na ja, zumindest die, wo es schön sonnig und warm ist.)
  15. Bei genauer Überlegung: Punkt drei würde ich wieder streichen. Wenn ich reich bin, glauben nämlich sowieso alle, dass die Sachen echt sind.
  16. Ich würde mir ein neues Auto kaufen. (Womit sich Punkt fünf auch erledigt hätte.)
  17. Auf jeden Fall würde ich alles anders machen als Lissys Onkel Franz, denn der hat echt Mist gebaut.

»Drei Millionen hat dein Onkel in den Wind geschossen, und das in nicht mal einem Jahr?«, fragt Tessa mit ungläubigem Staunen nach.

Lissy nickt.

»Das gibt’s doch gar nicht!« Tessa kann es nicht fassen. »Wie bescheuert muss man denn dafür sein?«

Wir haben es uns auf der riesigen Ledergarnitur gemütlich gemacht und uns bei einer Flasche Prosecco unseren Phantasien über unverhofften Reichtum hingegeben. Lauter wunderschöne Träume – bis Lissy erwähnte, dass ihr Onkel Franz durch einen Lottogewinn zum unglücklichsten Menschen der Welt geworden ist.

»Onkel Franz ist überhaupt nicht bescheuert«, beeilt sich Lissy zu sagen. »Er war nur zu gutmütig, und er hat auf die falschen Leute gehört.«

»Wie meinst du das?«, frage ich.

»Ganz einfach …« Lissy knabbert an einem Keks. »Sobald die Leute erfahren haben, dass er die Millionen gewonnen hat, haben ihn alle angeschnorrt. Er konnte keinen Schritt mehr tun, ohne dass nicht irgendwer was von ihm wollte. Wenn er in die Kneipe ging, erwarteten alle, dass er sie einlädt, und dann kamen sie auch noch mit allen möglichen Geldproblemen daher. Stellt euch vor, die haben ihm sogar ihre offenen Rechnungen nach Hause geschickt. Und gutmütig, wie Onkel Franz war, konnte er einfach nicht nein sagen. Eine Zeit lang hat er praktisch das ganze Dorf finanziert.« Sie zuckt mit den Schultern.

»Trotzdem, drei Millionen wird man doch nicht los, indem man ein paar Runden schmeißt und einigen Leuten aus der Patsche hilft«, wendet Tessa ein.

»Das alleine war es natürlich nicht«, schüttelt Lissy den Kopf. »Aber dann kam ja noch die Scheidung …«

»Er hat sich scheiden lassen?«, unterbreche ich sie. »Nachdem er reich geworden ist? Das ist ja fies.«

»Nicht er hat sich scheiden lassen, sondern meine Tante Gertrud.«

»Warum denn das?«

»Ich glaube, es lag daran, dass Onkel Franz nach seinem Gewinn nicht mehr so richtig nüchtern wurde …«

»Er wurde Alkoholiker?«

»So krass würde ich das jetzt nicht ausdrücken, aber er hat schon ausgiebig gefeiert …«, sucht Lissy nach einer Entschuldigung für Onkel Franz.

»Dann war er also doch Alkoholiker«, bringt Tessa es auf den Punkt.

»Hm, mag sein.« Lissy wirkt einen Moment lang deprimiert. »Trotzdem ist er ein guter Mensch geblieben, und er war immer total nett«, stellt sie dann trotzig fest.

»Das ist ja auch das Wichtigste«, räume ich ein. »Und wie ging es dann weiter mit ihm?«

»Wie gesagt, die Hälfte des Geldes war durch die Scheidung weg, und ein paar Hunderttausend hat er durch seine … übrige Großzügigkeit verloren.«

»Waren auch andere Frauen im Spiel?«, bohrt Tessa neugierig weiter.

»Also, nicht wirklich konkret«, windet sich Lissy. »Da war nur diese eine Assistentin von der Lottogesellschaft, die ihm zur Seite stand …«

»Wie sah die aus?«, hakt Tessa nach.

»Na ja, noch relativ jung für diesen verantwortungsvollen Beruf, und sie hatte so einen Akzent, russisch, glaube ich …«

»Soso, relativ jung mit Akzent«, fällt Tessa ihr ins Wort. »Und sie war nicht zufällig auch noch ein Flittchen, oder?«

»Aber Onkel Franz hat gesagt, dass …«

»Onkel Franz hat gesagt«, äfft Tessa sie nach. »Eine aufgedonnerte Assistentin von der Lottogesellschaft, da lachen ja die Hühner. Dein lieber Onkel Franz hatte eine Freundin«, stellt sie dann unbarmherzig fest.

»Was konnte er denn dafür, dass die Frauen auf einmal …« Lissy fehlen sichtlich die Worte. »Außerdem hat er auch ganz viel gespendet«, fällt ihr dann ein. »An die Kinderkrebshilfe und an ganz viele wohltätige Organisationen in Afrika, und eine neue Kirchenglocke in seiner Heimatgemeinde hat er auch bezahlt, die war ziemlich teuer, und der Pfarrer brauchte dann auch noch ein neues Auto, um seine Schäfchen besser betreuen zu können …«

»Ein neues Auto für den Pfarrer?«, echot Tessa ungläubig.

»Und danach war er pleite?«, frage ich fassungslos.

»Nein, da noch nicht. So richtig bergab ging es erst, als er auf die Idee kam, sein verbliebenes Geld zu investieren.«

»Aber das ist doch nur vernünftig«, wundere ich mich.

»Ja, das dachte Onkel Franz auch.«

»Und?«

»Dann war das Geld weg.«

»Wie, weg? Alles auf einmal?«

»Das meiste jedenfalls«, nickt Lissy.

»In was hat er denn investiert?«, will Tessa wissen.

»In wirtschaftliche Entwicklungsländer.«

»An sich eine clevere Strategie«, sage ich. »Frederic sagt auch immer, dass in aufstrebenden Ländern am meisten zu holen ist, und der muss es schließlich wissen.« Frederic ist nämlich Anlageberater und hat sich erst vor Kurzem mit seiner eigenen Firma selbstständig gemacht.

»Ja, schon, und das hat irgend so ein Typ Onkel Franz damals auch vorgerechnet. Das Problem war nur, dass die aufstrebenden Länder, in die Onkel Franz investierte, die Vereinigten Honduranischen Emirate waren.«

»Die Vereinigten Honduranischen Emirate?«, fragt Tessa ungläubig nach.

»Aber die gibt’s doch gar nicht«, sage ich erstaunt.

»Nein, eben …«

»Dann ist er also einem Betrüger aufgesessen?«, hauche ich atemlos.

Lissy nickt. »Sieht so aus.«

»Wie konnte er denn auf so was reinfallen?« Tessa tippt sich vielsagend an die Stirn.

»Kapier ich ehrlich gesagt auch nicht«, gesteht Lissy. »Aber wahrscheinlich war er da auch nicht ganz nüchtern.«

Okay, ich habe gerade dazugelernt.

18. Ich würde keinen Tropfen Alkohol mehr trinken.

»Und jetzt ist er pleite?«, frage ich.

»So ziemlich. Mit dem Rest machte er dann eine Reise nach Indien, um seine Seele wiederzufinden, wie er sagte, und danach hat er sich einen kleinen Bauernhof zugelegt, wo er jetzt Rinder züchtet.«

»Dann hat er wenigstens wieder eine Existenz«, sage ich erleichtert.

»Na ja, besonders gut funktioniert das auch nicht«, schränkt Lissy ein. »In Indien ist er zum Hinduismus konvertiert, und deswegen kann er die Kühe jetzt nicht schlachten.«

»Aber warum züchtet er dann Kühe und nicht was anderes, Schweine zum Beispiel?«, ruft Tessa aus.

»Schweine stinken ihm zu sehr.«

»Und Hühner?«, biete ich eine andere Alternative an.

»Die gackern ihm zu laut.«

Für ein paar Sekunden schweigen wir. Also, so ein richtiges Finanzgenie scheint der gute Onkel Franz ja nicht zu sein.

»Und wovon lebt er jetzt?«, frage ich dann.

»Er hält Seminare ab. Yoga, Selbstfindung und so’n Zeug. Damit kommt er ganz gut über die Runden, soviel ich weiß.«

»Wow! Daran sieht man mal wieder, wie schnell man ins Verderben rennen kann«, sinniere ich und nehme einen Schluck von meinem Prosecco, der inzwischen warm ist und scheußlich schmeckt.

»Ja, und dass Geld eben doch nicht alles ist«, fügt Tessa weise hinzu, woraufhin Lissy und ich einen schnellen Blick wechseln.

Die Wahrheit ist nämlich die: Tessa hat Geld. Oder besser gesagt, ihr Vater. Der ist Immobilienmakler, und theoretisch arbeitet Tessa bei ihm. Wir dagegen haben den Verdacht, dass sie sich die meiste Zeit in irgendwelchen Schönheitssalons und beim Shopping herumtreibt, wenn sie außer Haus ist.

Was aber jetzt kein Vorwurf sein soll. Tessa ist zwar manchmal ein bisschen überspannt und nervt mit ihrer ständigen Angst vor dem Älterwerden (sie ist fünfundzwanzig!), aber trotzdem können wir sie gut leiden. Und so ganz nebenbei hat die Freundschaft mit ihr den Vorteil, dass wir immer so lange gratis in irgendwelchen Wohnungen oder Häusern wohnen dürfen, bis Tessas Vater einen Käufer dafür gefunden hat. Einzige Bedingung dabei ist, dass wir ein bisschen bei der Renovierung helfen. (In Wirklichkeit scheuchen wir nur die Handwerker rum, und manchmal flirten wir auch mit ihnen. Einmal hat Lissy sogar irrtümlich mit einem Klempner geschlafen – irrtümlich deswegen, weil der sie danach gar nicht heiraten wollte, wie er ihr versprochen hatte.) Und außerdem meint Tessas Vater, dass man die Objekte besser verkaufen kann, wenn sie von modernen jungen Menschen bewohnt werden. So hat er was davon und wir auch. Seit Jahren brauchen wir keine Miete zu zahlen und haben trotzdem immer eine Bleibe. So wie jetzt in dieser Supervilla, für die er aber mysteriöserweise schon seit Monaten keinen Käufer findet.

»Hm«, sage ich nachdenklich. »Ich glaube, es lag weniger am Geld als vielmehr am Alkohol. Immerhin hat er damit Tante Gertrud vertrieben, und seine übrigen Entscheidungen waren ja auch nicht gerade die cleversten.«

»Schon wahr«, stimmt Tessa mir zu. »Apropos Alkohol: Der Prosecco ist ganz warm geworden. Haben wir noch eine Flasche im Kühlschrank?«

Lissy zögert. »Meinst du nicht, wir sollten ein bisschen vorsichtiger damit umgehen? Ich meine, wenn man bedenkt, was sich Onkel Franz mit der Trinkerei eingehandelt hat …«

Tessa guckt sie einen Moment lang erstaunt an, dann macht sie eine wegwerfende Handbewegung. »Das kannst du doch nicht mit uns vergleichen. Etwas trinken oder sich betrinken ist ein Riesenunterschied. Außerdem sind wir ja nicht reich, also kann uns gar nichts passieren.« Sie strahlt, als hätte sie uns gerade an einer ganz enormen Erkenntnis teilhaben lassen.

Nachdem wir unsere Gläser mit frischem Prosecco aufgefüllt haben, beugt sich Tessa auf einmal mit verschwörerischer Miene vor.

»Wisst ihr was? Er hätte es nicht verraten dürfen«, sagt sie.

»Was denn?« Ich habe keine Ahnung, was sie meint.

»Seinen Lottogewinn. Onkel Franz hätte es niemandem sagen dürfen.«

»Niemandem? Auch nicht Tante Gertrud?«, sagt Lissy zweifelnd.

»Kann Tante Gertrud denn ein Geheimnis bewahren?«, fragt Tessa zurück.

Lissy denkt einen Moment lang nach, dann schüttelt sie den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Tante Gertrud ist eher … kommunikativ.«

»Du meinst, sie ist eine Klatschtante.«

Lissy nickt widerstrebend.

»Ich glaube, Tessa hat recht«, sage ich nachdenklich. »Hätte dein Onkel geschwiegen, wäre ihm all das erspart geblieben. Die Leute hätten ihn nicht angebettelt, keiner wäre neidisch gewesen, und die Betrüger wären dann gar nicht erst auf ihn gekommen.« Ich nippe an meinem Glas. »Er hätte einfach die Klappe halten müssen.«

Einen Moment lang hängen wir unseren Gedanken nach.

»Glaubt ihr, das geht?«, sagt Lissy dann plötzlich. »Millionen gewinnen und es niemandem sagen? Ich meine, man kann sich dann auf einmal alles Mögliche leisten, und das würde doch auffallen. Wozu hat man denn das ganze Geld, wenn man es nicht ausgeben kann?«

Gute Frage.

»Seht ihr, mit so einem Gewinn hat man nichts als Scherereien«, verkündet Tessa. »Außerdem: Uns geht’s auch so nicht schlecht, oder?« Sie nickt uns aufmunternd zu.

Lissy und ich wechseln wieder einen Blick.

»Also, ich könnte schon ein bisschen Geld gebrauchen«, meint Lissy dann wehmütig. »Ihr wisst ja, was man als Anwaltsgehilfin verdient, und mein Studium …« Sie seufzt. » …das wird noch Jahre dauern.«

Ich kann Lissy gut verstehen. Sie ist superfleißig und studiert neben ihrem Job auch noch Jura, und dass jemand mit ihrem Arbeitspensum so wenig verdient, ist einfach nicht gerecht.

»Ach was, du wirst deinen Weg schon machen«, meint Tessa fröhlich. »Und wenn du erst mal selbst Anwältin bist, verdienst du dich sowieso dumm und dämlich.«

Lissy ringt sich ein gequältes Lächeln ab und will etwas erwidern, doch Tessa macht gleich bei mir weiter.

»Und Molly hat sogar doppelt ausgesorgt: einen Superjob und einen Traummann, was will man mehr?«

Wie? Was? Ich?

Ah ja, genau. Ich habe doch beides.

Allein mein neuer Job bei Winners only. Endlich, nach sechs oder sieben (auf die Schnelle weiß ich es gar nicht mehr so genau) begonnenen und wieder abgebrochenen Studiengängen, nach gefühlten siebenhundert verschiedenen Jobs (ich habe alles gemacht, wirklich alles: ich war Ticketabreißerin im Theater, Immobilien/Kochgeschirr/Dessous/Staubsauger/Kosmetik/Schuh/

Busenstraffungswunderbalsam-und-was-weiß-ich-noch-alles-Verkäuferin, Dönerbudenaushilfskraft, Lebensberaterin, Bürokraft, Raumkosmetikerin-ist-gleich-Putzfrau und und und …), und nach unzähligen Vorträgen meines Vaters, mir endlich etwas mit Zukunft zu suchen, habe ich nun endlich das Richtige gefunden. Seit drei Monaten bin ich nämlich – halten Sie sich fest – First Image Consulting Executive bei Winners only. Nicht schlecht, was?

Worum es da geht?

Also, ganz kurz: Winners only ist eine international expandierende Kette mit einem absolut umwerfenden zukunftsweisenden Konzept. Wir beraten Menschen in Sachen Image, also wie sie ihr Outfit gestalten sollen und wie sie zur nötigen seelischen und körperlichen Balance finden und sich insgesamt besser präsentieren können, um ihre Ziele zu erreichen und zum gewünschten Erfolg zu kommen.

Wie sie zum Gewinner werden können.

Und jetzt kommt der Clou: Bei Winners only werden die Leute nicht nur beraten, sondern auch gleich mit allem Nötigen versorgt. Bei uns im Haus gibt es nämlich alles, was man für ein besseres Image brauchen kann: Friseur, Modeboutique (ausschließlich Designermode), Schuhsalon, Personal Training, Solarium, Kosmetikerin, Massagen, Rhetorikkurse, autogenes Training, Zahnarzt mit dem Schwerpunkt auf optischer Verbesserung, Schönheitschirurg, ja sogar eine Psychotherapeutin für die leicht Bekloppten haben wir im Haus. Hammer, echt.

Und in diesem Wahnsinnsbetrieb spiele ich eine Schlüsselrolle. Ich bin nämlich die erste Ansprechperson, wenn sich ein neues Mitglied bewirbt. Richtig gehört, zu Winners only geht man nicht einfach und sagt: »Hi, ich möchte bei euch Kunde werden«, bei Winners only bewirbt man sich. Das bedeutet, dass die neuen Bewerber sich bei mir vorstellen müssen und wir dann erst mal einen Bewerbungsbogen durchgehen. Auf dieser Basis erfolgt dann die Erstselektion (der Aspirant muss mindestens zwanzig von dreißig möglichen Punkten erreichen), und zu guter Letzt muss meine Chefin Clarissa endgültig entscheiden, ob der oder die Neue bei uns aufgenommen wird.

Cool, was? Und darum heißen wir auch Winners only, weil jeder, der bei uns aufgenommen wird, damit automatisch schon ein Gewinner ist.

Und mein Einkommen erst. Ich kann da Unsummen verdienen. Es läuft nämlich so: Wenn jemand Mitglied bei uns geworden ist, wird er von mir gecoacht. Das bedeutet, ich arbeite mit ihm sein ganz persönliches Lifestyle-Programm aus. Das wiederum heißt, dass die Leute bei uns im Regelfall ein völlig neues Outfit bekommen und je nach Bedarf verschiedene Trainings und Kurse absolvieren, und das kostet dann natürlich auch ordentlich. Und jetzt kommt’s: Ich bin an allem, was die Leute bei uns konsumieren, prozentual beteiligt.

Clarissa hat es mir bei meinem Bewerbungsgespräch vorgerechnet: Wenn ich es nach einer gewissen Anlaufzeit auf zum Beispiel tausend Kunden bringe, die im Monat jeweils fünfhundert Euro bei Winners only verkonsumieren (das ist der Durchschnitt, wie sie mir versichert hat), dann ergibt das fünfhunderttausend Euro Umsatz. Und wenn ich davon durchschnittlich, sagen wir, fünf Prozent abkriege, dann sind das … also, ganz genau … eine ganz enorme Summe jedenfalls. Ich werde mich bei diesem Job sprichwörtlich dumm und dämlich verdienen, so viel steht jetzt schon fest.

Wobei das natürlich ein bisschen dauern wird. Während der ersten beiden Monate musste ich ja noch eingeschult werden und bekam nur ein kleines Festgehalt, und ich musste mich natürlich auch neu einkleiden und die Sachen ausprobieren, die wir im Angebot haben, was dann später alles mit meinen Provisionen verrechnet wird.

Aber deswegen mache ich mir keine Sorgen. Man muss in seine Zukunft investieren, wenn man es zu etwas bringen will, und ich bin jetzt immerhin schon seit einem ganzen Monat voll im Einsatz. Ich habe viele neue Mitglieder verpflichtet, die bei uns jede Menge Geld ausgeben, und ich kann förmlich hören, wie es auf meinem Konto täglich klingeling macht.

Dabei fällt mir ein: Montag ist es so weit. Dann bekomme ich meine erste Monatsabrechnung.

Augenblicklich hebt sich meine Stimmung. Wie viel es wohl sein wird? Ich habe absichtlich nicht mitgerechnet, weil ich mich überraschen lassen will. Ich werde auf jeden Fall einen fetten Gehaltsscheck kassieren, und wahrscheinlich wird Clarissa mich ausdrücklich loben (was bei ihr übrigens selten der Fall ist). Ja, wer weiß, vielleicht werde ich sogar zur Mitarbeiterin des Monats gewählt?

Und das Beste an der ganzen Sache: es wird mit jedem Monat mehr, weil ja immer neue Kunden dazukommen. Ich will nicht vorgreifen, aber ich glaube, ich habe da echt das große Los gezogen.

Und dazu noch Frederic.

Tessa hat völlig recht: er ist ein Traummann. Groß, gut aussehend, immer wie aus dem Ei gepellt. Er fährt einen schnittigen BMW, und er wohnt in einem Penthouse, ein echter Karrieretyp. Erst vor einem halben Jahr hat er seine eigene Firma gegründet. Anlageberatung. Ich verstehe nicht viel von diesen Dingen (eigentlich erstaunlich – bei einem meiner Millionen Jobs habe ich nämlich auch Lebensversicherungen verkauft; was habe ich den Leuten da überhaupt erzählt?), aber soviel ich mitbekommen habe, geht es da um das ganz große Geschäft.

Es stimmt wirklich: Ich habe doppelt ausgesorgt.

Ich, die kleine Molly Becker. Wer hätte das gedacht, damals, als ich noch diese riesige Zahnspange trug und sich alle Lehrer erschütternd einig darüber waren, dass ich es in meinem ganzen Leben garantiert zu nichts bringen würde?

Aber so kann sich das Blatt wenden. Die Letzten werden die Ersten sein, und die Ärmsten die Reichsten, und die Kleinsten … Okay, klein bin ich immer noch.

Aber dafür gibt es ja hochhackige Pumps, nicht wahr?

Die Tausendjährige Lotusblüte

»Und, wie sehe ich aus?« Tessa vollführt eine gekonnte Drehung und wirft dabei ihr langes blondes Haar zurück. Sie trägt ein hautenges Minikleid und sieht aus wie die personifizierte Versuchung. Muss ja ein heißes Date sein, für das sie sich so aufgedonnert hat.

»Super«, sagt Lissy.

»Perfekt«, sage ich. »Wie immer.«

Tessa stemmt die Hände in die Hüften und mustert uns mit einem skeptischen Blick. »Und das sagt ihr nicht bloß so? Ich habe nämlich neulich in der Cosmopolitan gelesen, dass Frauen unheimlich fies zueinander sein können, sogar die besten Freundinnen. Da kann einem die halbe Klopapierrolle hinten raushängen, und die sagen einem nichts, um selber besser dazustehen.« Sie dreht hastig den Kopf und späht an ihrer Kehrseite hinunter. »Da hängt doch nichts raus, oder?«

»Nein, natürlich nicht, Tessa«, versichere ich ihr.

»Ihr würdet es mir aber sagen, wenn es nicht so wäre, oder?«, fragt sie misstrauisch.

»Ja, würden wir.«

»Und die Falten? Meint ihr, die fallen auf?«

»Was denn für Falten?«, fragt Lissy.

»Na, die um die Augen herum. Und auf der Nasenwurzel.« Sie zerrt einen Handspiegel aus ihrer Tasche und schneidet davor ein paar Grimassen. »Seht ihr, da sind sie! Mist, das kommt vom vielen Nachdenken«, sagt sie bestürzt.

»Vom Nachdenken?«

»Ja, ich denke zu viel nach. Über die Männer und über … das Leben ganz allgemein. Das lässt mich vorzeitig altern.«

Lissy wirft mir einen Tessa-spinnt-mal-wieder-Blick zu.

»Tessa, glaub uns, da sind keine Falten. Du siehst super aus. Mit wem triffst du dich überhaupt?«

»Ach, mit irgend so einem Rechtsanwalt.« Sie macht eine wegwerfende Handbewegung.

»Das klingt ja nicht besonders begeistert.«

»Ich kann den Kerl nicht ausstehen. Ich treffe ihn nur Paps zuliebe, weil der unbedingt ein Geschäft mit ihm abschließen will. Ach ja, bevor ich’s vergesse: Paps hat vorhin angerufen, es kommen noch ein paar Interessenten für das Haus vorbei«, sagt sie beiläufig.

Lissy und ich reißen die Augen auf.

»Interessenten für das Haus? Am Samstagabend?«, fragt Lissy alarmiert.

»Ja, sicher, warum nicht? Ist doch erst sieben, und ihr habt doch heute nichts vor, oder?«, meint Tessa.

»Das nicht«, sage ich mit etwas zu schriller Stimme. »Trotzdem wäre es schön, wenn man uns in Zukunft ein bisschen früher informieren würde, damit wir vorher aufräumen können.«

Tessa sieht sich mit einem verwunderten Blick um.

»Aufräumen? Wozu denn? Ist doch alles okay. Außerdem soll das Haus ja bewohnt aussehen, damit es gemütlicher wirkt. Das ist ja auch der Grund, weshalb Paps uns hier wohnen lässt.«

»Äh, ja, ich weiß. Aber Lissy und ich werden uns schnell noch ein bisschen zurechtmachen, nicht wahr, Lissy? Man kann nie wissen, vielleicht ist dieser Interessent ja zufällig Lissys Märchenprinz. Was meinst du, Lissy?«

Lissy nickt mit einem maskenhaften Lächeln und sieht dabei aus wie eine gespannte Sprungfeder.

»Wohl kaum, es ist ein Paar.« Tessas Augen wandern argwöhnisch zwischen uns beiden hin und her. »Egal, seid jedenfalls nett zu ihnen. Paps ist schon ziemlich sauer, weil er die Bude noch nicht losbekommen hat. Was ich übrigens auch nicht verstehe. Fünfhunderttausend sind doch gar nicht viel für dieses Haus.« Ihr Blick gleitet über die gigantische Wohnlandschaft und den offenen Kamin.

»War wohl einfach noch nicht der richtige Käufer dabei«, meint Lissy achselzuckend.

»Wann kommen diese Interessenten denn?«, frage ich betont desinteressiert, während ich meine Fingernägel betrachte.

»Um sieben«, sagt Tessa und guckt auf ihre Uhr. »Jetzt, um genau zu sein. Also dann, ciao!«

Kaum ist sie aus der Tür, springen Lissy und ich hoch.

»Mist, sie können jeden Moment kommen«, sagt Lissy mit gehetztem Blick.

»Okay.« Ich atme tief durch. »Wir müssen jetzt vor allem Ruhe bewahren. Also, welche Möglichkeiten haben wir?«

»Wir könnten Manfred anrufen«, schlägt Lissy vor.

»Nein«, sage ich nach kurzem Überlegen. »Bis der loslegt, ist es vermutlich schon zu spät. Außerdem hat er uns erst letzte Woche einen Haufen Holz zusammengesägt.«

»Die Schlammpackung für den Whirlpool?«

»Dauert auch zu lange.«

»Die Sprühflasche für die Kellerwände?«

Ich schüttle wieder den Kopf und denke angestrengt nach.

»Tessa hat gesagt, es ist ein Paar«, fällt mir plötzlich ein. »Wir nehmen Rudi.«

»Rudi? Super, den hatten wir schon lange nicht mehr«, sagt Lissy begeistert. »Du oder ich?«

»Du. Du hast den kräftigeren Schlagarm.«

In diesem Moment klingelt es an der Tür.

»Mist, da sind sie schon. Los, hol die Sachen, ich halte sie inzwischen auf.«

»Okay. Gib mir zwei Minuten!« Lissy sprintet los wie eine Olympionikin beim Hundert-Meter-Start.

Als ich die Haustür öffne, steht mir ein Paar in den Fünfzigern gegenüber. Der Mann trägt einen grauen Anzug und eine riesige Brille, die Frau ist klein und rundlich und hat eine voluminöse Hochsteckfrisur. Sie wirken gemütlich und stellen sich als die Kellermanns vor.

Nachdem ich sie ausnehmend freundlich begrüßt habe, frage ich: »Das Exposé zu dem Haus kennen Sie ja vermutlich schon?«, woraufhin beide nicken.

»Ja, und es gefällt uns ziemlich gut«, schwärmt Frau Kellermann gleich drauflos. »Sieben Zimmer, offener Kamin, Whirlpool … Aua!« Ihr Mann hat ihr gerade einen Rammstoß mit dem Ellbogen verpasst.

Schon kapiert. Er will den Preis drücken. Geht natürlich schlecht, wenn man so viel Begeisterung zeigt.

»Was nicht unbedingt entscheidend ist für den Kauf eines Hauses«, sagt er mit einem drohenden Seitenblick auf seine Frau, die sich beleidigt die Seite massiert. »Wie steht es denn mit der baulichen Substanz? Gibt es irgendwelche Mängel?«

»Mängel?« Ich setze mein offenstes Lächeln auf. »Ach wo, keine Rede davon. Das Haus ist in einem Topzustand.«

»Und wieso steht es dann schon seit Monaten zum Verkauf?«, fragt Herr Kellermann lauernd. »Wir haben das nämlich beobachtet. Am Anfang war es uns noch zu teuer, aber nachdem der Preis jetzt neuerlich gesenkt wurde, dachten wir, wir schauen einmal vorbei.«

»Ach, Sie wissen ja, wie das so ist bei Immobilien«, sage ich in einem Tonfall, als wüsste ich, wovon ich da rede. »Mal gehen sie innerhalb weniger Tage weg, und dann dauert es wieder Monate, da kann das Objekt noch so gut in Schuss sein.«

»Soso«, sagt er zweifelnd. »Können wir es uns dann mal ansehen?«

»Ansehen? Ähm … ja, sicher.« Ich lausche angestrengt nach hinten, ob ich schon etwas von Lissy höre. Wie lange braucht die denn noch?

»Bitte, kommen Sie doch herein!«, rufe ich mit erhobener Stimme, ohne mich einen Millimeter aus dem Türrahmen zu bewegen.

»Fein, dann wollen wir mal«, sagt der Mann und prallt im nächsten Moment beinahe gegen mich. »Darf ich dann?«, fragt er befremdet, als ich mich nicht rühre, und aus der Nähe sehe ich, dass ihm ein paar dicke, schwarze Haare aus der Nase sprießen.

»Aber natürlich, nur zu«, stammle ich und merke, wie meine Wangen rot anlaufen. »Lissy, wir kommen dann rein!«, schreie ich. Und mit gesenkter Stimme zu den Kellermanns: »Ich will nur sichergehen, dass meine Mitbewohnerin im Badezimmer fertig ist, weil sie nämlich gerade … im Whirlpool badet … nackt, wissen Sie?«

Herr Kellermann reißt die Augen auf, und seine Frau meint freundlich: »Ach, dann wollen wir nicht stören. Wir können uns ja inzwischen die Außenanlage ansehen, nicht wahr, Johann?«

Ihr Mann wirft ihr einen genervten Blick zu. »Martha, wir wollen in dem Haus wohnen und nicht draußen, und ich habe keine Lust, hier den ganzen Tag herumzustehen …«

Einen Moment lang sieht er aus, als wollte er mich beiseite schubsen und geradewegs ins Haus stürmen, aber dann höre ich endlich Lissys Schritte. Sie huscht die Treppe herunter, in der einen Hand einen Wischmopp, in der anderen eine Plastiktüte.

»Hi!«, ruft sie im Vorbeirennen. »Ich mache nur noch schnell im Wohnzimmer sauber.«

»Schon fertig mit Baden?«, fragt Herr Kellermann mit hochgerecktem Hals, um an mir vorbeisehen zu können.

»Mit Baden?« Lissy wirft mir einen unsicheren Blick zu, und ich verdrehe die Augen. »Äh, ja, alles blitzblank.« Sie rennt weiter Richtung Wohnzimmer, und ich atme erleichtert auf.

»Gut, dann fangen wir mit der Küche an, wenn es Ihnen recht ist«, sage ich und gebe endlich die Tür frei. »Sie ist wie das ganze Haus äußerst großzügig ausgestattet«, erkläre ich mit weitläufiger Geste, als wir in der Küche stehen. »Sie finden hier alles, was Sie brauchen, Ceranfeld, Mikrowelle, Geschirrspüler, eingebaute Friteuse … Ach ja, und dass ich’s nicht vergesse…« Ich klopfe mit den Fingerknöcheln auf die Arbeitsplatte. »… das ist selbstverständlich hochwertiger Granit.«

Frau Kellermann hat ganz große Augen bekommen. Mann, ist die begeistert. Vielleicht sollte ich es doch etwas ruhiger angehen.

»Nicht übel«, meint auch ihr Mann, und obwohl er auf lässig macht, kann ich ihm ansehen, dass er ebenfalls beeindruckt ist.

»Gut, dann folgen Sie mir bitte ins Wohnzimmer.«

»Ach, du meine Güte, ist der schön«, ruft Frau Kellermann aus, als sie den offenen Kamin sieht. »Und erst der Boden …« Sie bückt sich umständlich und berührt ihn ehrfürchtig mit den Fingerspitzen. »Ist das Marmor?«

»Äh, ja. Aus Carrara«, sage ich, und jetzt beginnen auch Johann Kellermanns Augen zu leuchten.

Okay, das hier läuft gerade völlig verkehrt. Wenn wir nicht schnell etwas unternehmen, können wir gleich unsere Koffer packen.

Lissy und ich wechseln einen Blick, und sie nickt kaum merklich. Sie ist jetzt in Position, drei Schritte vom Sofa entfernt, und sie hält den Wischmopp in ihren Händen. Ich spähe unauffällig in Richtung Sofaecke und erkenne sofort, dass sie einen guten Job gemacht hat.

»Kommen Sie mal hierher zu mir«, rufe ich zu den Kellermanns, die mit großen Augen herumstelzen und alles ausgiebig bewundern.

»Was gibt es denn da?«, kommt Frau Kellermann neugierig herangetrippelt. Ihr Mann folgt ihr gehorsam, und als sie neben mir stehen, deute ich auf das große Fenster.

»Ist dieser Ausblick nicht phantastisch?«, sage ich schwärmerisch.

Sie folgen meinem Blick und glotzen auf den Rasen.

»Äh, ja, richtig schön … grün«, bringt Frau Kellermann hervor.

»Ja, nicht wahr?«, sage ich begeistert. »Und Sie müssten erst mal den Sonnenuntergang sehen, wenn – oh, oh!« Ich erstarre zur Salzsäule.

»Was ist denn?«, fragt Frau Kellermann verwirrt.

»Nicht bewegen!«, stoße ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, ohne meinen Blick von der Sofaecke zu nehmen. Und dann, mit gedämpfter Stimme: »Lissy, Alarmstufe grau!«

Lissy zuckt zusammen. »Ach herrje! Wo denn?«, flüstert sie mit weit aufgerissenen Augen.

»Alarmstufe grau? Was soll denn das bedeuten?«, fragt Herr Kellermann mit hochgezogener Augenbraue.

»Scht!«, zische ich. »Sonst läuft sie noch davon!«

»Davonlaufen? Wer denn?«, fragt Frau Kellermann alarmiert.

Ich ignoriere ihre Frage, stattdessen sage ich mit Geheimagentenstimme zu Lissy: »Da, hinter dem Sofa!« und deute gleichzeitig dorthin.

Die Augen der Kellermanns folgen meinem Fingerzeig, und dann sehen sie ihn: lang, dünn, grau und nackt lugt er hinter der Sofaecke hervor.

Der markerschütternde Schrei von Frau Kellermann ist das Stichwort für Lissy. Sie nimmt drei Schritte Anlauf und hechtet wie ein Fallschirmspringer hinter das Sofa. Dann schwingt sie ihren Wischmopp und zieht voll durch. Einmal. Zweimal. Dreimal.

Gebannt verfolgen wir, wie der eklige Rattenschwanz bei jedem Hieb zuckt, dann macht Lissy eine schnelle Bewegung mit dem Mopp, und auf einmal ist der Schwanz verschwunden.

Lissy steht keuchend hinter dem Sofa und starrt mit angewidertem Gesicht zu Boden.

»So, das müsste reichen«, schnauft sie und greift nach der Plastiktüte. Sie bückt sich, es gibt ein Geraschel, dann wuchtet sie den Beutel, in dem sich jetzt etwas von der Größe eines fetten Meerschweinchens befindet, aufs Sofa. Plötzlich ruckt ihr Kopf zu uns herum, als würde sie sich jetzt erst wieder daran erinnern, dass sie gar nicht allein ist.

Sofort streicht sie sich die Haare aus dem Gesicht und setzt ein fröhliches Lächeln auf: »Alles wieder in Ordnung. Wenn Sie dann mit der Besichtigung fortfahren wollen …«

»Oh mein Gott!« Frau Kellermann ist kreidebleich und sieht aus, als würde sie jeden Moment zusammenklappen. »Ist das … war das etwa eine Ratte

»Ach, das …« Lissy zuckt unbekümmert die Schultern. »Also, Ratte würde ich das nicht nennen … Es war eine Maus, ja, genau, eine kleine, vorlaute Maus.«

Jetzt hat auch Herr Kellermann seine Sprache wiedergefunden: »Das darf doch wohl nicht wahr sein«, entrüstet er sich. »In diesem Haus gibt es Ratten? Kein Wunder, dass die Bude keiner kaufen will.«

»Das war doch keine Ratte«, lache ich künstlich. »Wie Lissy schon sagte, das war bloß eine Maus, nichts, weswegen Sie sich Sorgen machen müssten.«

»Eine Maus?« Frau Kellermann zeigt mit bebenden Lippen auf den Beutel. »Dieses Riesenvieh da soll eine Maus sein?«

Lissy und ich taxieren den Beutel mit unseren Blicken. »Also, im Vergleich zu den anderen …«

»Im Vergleich zu den anderen? Heißt das, Sie hatten hier schon öfter solche Monster?«, kreischt Frau Kellermann mit einem hysterischen Flackern in den Augen.

»Na ja, dann und wann taucht mal eine auf.« Lissy nimmt den Wischmopp in die Hand und beginnt die Kerben auf dem Schaft zu zählen. »Mist, Molly, ich brauche einen neuen Wischmopp, auf dem hier ist kein Platz mehr.«

»Gut, kriegst du«, murmle ich. Dann wende ich mich freundlich an die Kellermanns: »So, dann zeige ich Ihnen noch die Schlafzimmer …«

»Die Schlafzimmer? Was erwartet uns denn dort? Godzilla?« Herr Kellermann legt schützend den Arm um seine Frau. »Nein, ich denke, wir haben genug gesehen.«

»Sagen Sie bloß, Sie haben Angst vor einer harmlosen Maus.« Lissy schüttelt verständnislos den Kopf.

»Angst? Ich?« Herr Kellermann feuert einen entrüsteten Blick auf sie ab. »Unsinn! Wir finden das Haus nur allgemein etwas zu … klein. Genau, es ist zu klein, nicht wahr, Martha?«

Seine Frau guckt verwirrt. »Wieso zu klein? Das ist doch mindestens doppelt so groß wie unser Haus. Was sage ich, dreimal so …«

»Egal, es gefällt uns jedenfalls nicht«, fällt Herr Kellermann ihr grob ins Wort. »Guten Abend noch, die Damen.« Damit packt er seine Frau am Arm und schleift sie Richtung Ausgang. Bevor sie jedoch die Tür erreichen, reißt Frau Kellermann sich plötzlich von ihm los und dreht sich zu uns um.

»Eines muss ich euch noch sagen, Mädchen …« Sie sieht uns mit einer Mischung aus Respekt und Stolz an. »In diesem Rattenloch zu leben, das erfordert wirklich Mut. Da könnte sich so mancher Kerl etwas abgucken von euch.«

»Puh, das ist gerade noch mal gutgegangen«, atmet Lissy auf, als sie weg sind.

»Ja, diesmal war es verdammt knapp.« Ich lasse mich neben ihr aufs Sofa plumpsen. »Hat Rudi was abgekriegt? Den hast du ja ordentlich verdroschen, er tat mir richtig leid.«

»Es musste doch überzeugend wirken«, verteidigt sich Lissy, während sie Rudi aus dem Beutel zieht.

Rudi ist eine Plüschratte mit einem ekligen, langen Gummischwanz. Irgendwie sieht er trotzdem cool aus, weil er eine Brille trägt und aus seinem Mundwinkel eine Zigarette hängt.

»Oje, die Brille ist verbogen«, stellt Lissy fest. »Und die Zigarette ist auch abgegangen.«

»Halb so schlimm«, beruhige ich sie. »Die Brille lässt sich wieder geradebiegen, und das Rauchen wollte ich ihm sowieso abgewöhnen.«

Wir kichern, doch dann wird Lissy gleich wieder ernst.

»Molly, ich habe echt Angst, dass das Haus bald verkauft wird. Wer weiß, wo ich dann hinziehen muss. Eine teure Miete kann ich mir bei meinem Gehalt jedenfalls nicht leisten.«

»Ach was, Tessas Vater hat doch noch eine Menge anderer Immobilien, da werden wir sicher irgendwo unterkommen. Außerdem …« Ein freudiges Kribbeln durchläuft mich. »… werde ich wahrscheinlich schon bald genug verdienen, dass wir uns so ein Haus auch selber leisten können«, verkünde ich zuversichtlich.

Lissy sieht mich einen Moment lang aus großen Augen an. »Und dann würdest du wieder mit mir zusammenwohnen wollen?«

Ich nicke überzeugt.

»Ach, Molly, du bist so eine gute Freundin.« Sie umarmt mich spontan, und mir wird ganz warm ums Herz.

Dann rückt sie verlegen wieder von mir ab und streicht sich einen imaginären Fussel von der Hose. »Molly, eines kapier ich nicht. Wieso ziehst du eigentlich nicht bei Frederic ein? Der hat doch genügend Platz in seinem Penthouse, und ihr liebt euch doch, nicht wahr?«

»Ja, sicher …«

Eigentlich hat sie recht. Frederics Penthouse ist wirklich super, echt riesig und … na, ein Penthouse eben. Andererseits sind wir uns in Sachen Einrichtung nicht ganz einig.

Frederic ist nämlich extrem stilbewusst. Bei ihm muss alles zusammenpassen, seine Kleidung, sein Auto, seine Wohnung, einfach alles. Das würde mich nicht weiter stören, wäre seine Lieblingsfarbe nicht ausgerechnet Schwarz. Dementsprechend sind auch die spärlichen Möbel (Frederic nennt das minimalistischen Neoklassizismus) und die Fußböden in seiner Wohnung schwarz. Das ist ziemlich cool, aber irgendwie auch gruselig. Um es mal bildlich auszudrücken: Der kuscheligste Platz in Frederics Wohnung ist die Ladestation seines Handys.

Aber dass wir uns lieben und so, das stimmt natürlich. Ich meine, einen Mann wie Frederic muss man einfach lieben. Er sieht ohne Übertreibung aus wie eines dieser Models auf den Unterwäscheplakaten, und er duscht mindestens dreimal täglich mit der kompletten Pflegeserie von Kouros. Das ist wirklich … atemberaubend.

Und der Sex erst. Ich will nicht zu viel verraten, aber sagt Ihnen der Begriff Tausendjährige Lotusblüte etwas? Die haben wir nämlich bald erreicht. Na bitte, wenn das nicht toll ist …

»Eben. Wieso zieht ihr dann nicht zusammen?«, unterbricht Lissy meine Gedanken.

»Na ja, weil … wenn man zusammenzieht, dann ist das ja so was wie …« Ich mache eine raumgreifende Geste. »… ein ewiges Bündnis, und ich finde, da sollte man nichts überstürzen.«

Lissy guckt mich an, als wäre ich total verblödet. »Aber was könnte es denn Besseres geben als ein ewiges Bündnis mit dem Mann, den man liebt?«

»Ja, stimmt schon, das wäre natürlich das … Allerbeste«, bestätige ich schnell. »Trotzdem will ich noch ein bisschen warten … auf den richtigen Zeitpunkt, verstehst du?«

»Hm.« Sie mustert mich nachdenklich. »Um ehrlich zu sein, nein. Ich an deiner Stelle hätte Angst, dass mir eine andere Frederic wegschnappt. So ein Traumtyp läuft einem schließlich nicht jeden Tag über den Weg.«

»Ich weiß.«

Weiß ich wirklich. Frederic ist ein Traummann. Das sagt nicht nur Lissy, das sagen auch alle anderen. Und ich meine, alle können sich doch nicht irren, oder?

»Übrigens …«, Lissy beginnt verlegen an Rudi Rattes Brillengestell herumzunesteln. »Wie weit seid ihr denn schon?«

»Mit was?«, frage ich beiläufig zurück, obwohl ich ganz genau weiß, was sie meint.

Neulich hatte ich eine Kleinigkeit zu viel intus (insgeheim glaube ich, dass Lissy und Tessa mich absichtlich abgefüllt haben, damit ich ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudere), und da konnte ich dann irgendwie meine Klappe nicht halten.

»Mit dem Buch.«

»Was für ein Buch?«, stelle ich mich blöd.

»Na, dieses indische …«, druckst sie herum.

»Keine Ahnung, was du meinst«, behaupte ich.

»Das Kamasutra«, würgt sie endlich hervor.

»Ach, das Buch meinst du.« Ich betrachte konzentriert meine Fingernägel. »Ich weiß gar nicht so genau … schätze aber, dass wir es bald durchhaben.«

Vor einigen Wochen hatte Frederic die Idee, unser Liebesleben zu perfektionieren. Nicht, dass es vorher schlecht gewesen wäre, aber irgendetwas fehlte anscheinend. Was lag also näher, als das berühmteste Werk in Sachen Liebeskunst heranzuziehen? Frederic hat sich das Ding gleich aus dem Internet heruntergeladen, und jetzt kommt er jeden Tag mit neuen Ausdrücken daher, auf denen die unglaublichsten Liebespositionen dargestellt sind – die wir dann natürlich ausprobieren. (Wozu ich jetzt auch anfügen muss, dass die Behauptung, das Kamasutra beinhalte kunstvolle Darstellungen, überhaupt nicht stimmt. Mich erinnern diese Figuren immer an Mordillo-Zeichnungen, und ich muss mich manchmal zurückhalten, um nicht draufloszukichern.)

»Ehrlich?«, stößt sie überrascht hervor. »Wahnsinn, Molly!« Auf einmal ist ihr die Brille von Rudi Ratte völlig egal. Sie knallt ihn in die Ecke und rückt ein Stückchen näher. »Und, wie ist es?«

»Och, gar nicht so besonders.« Ich wedle lässig mit der Hand. »Das Übliche eigentlich, vielleicht mit ein bisschen mehr Körpereinsatz als normal.«

Was auch stimmt. Vorgestern haben wir den Tanzenden Derwisch ausprobiert, und da habe ich mir, glaube ich, einen Lendenwirbel ausgerenkt.

»Nichts Besonderes?« Lissy guckt mich an, als hätte ich gerade behauptet, Brad Pitt sähe »nicht übel« aus. »Molly, du weißt ja gar nicht, was für ein Glück du hast. Die meisten Frauen können von so viel sexueller Erfüllung nicht mal träumen. Und dazu noch diese tollen Arrangements mit den Kerzen und den Blüten … du bist echt zu beneiden.«

Oh, habe ich das etwa auch erzählt?

Frederic ist nämlich wirklich sehr aufmerksam, was unser Sexleben betrifft. Nicht nur, dass wir das Kamasutra Seite für Seite durchackern – voller Harmonie und Leidenschaft zelebrieren, das meinte ich natürlich –, nein, er sorgt auch noch für das nötige Ambiente.

Beim letzten Mal überraschte er mich mit mindestens tausend Kerzen, die im ganzen Schlafzimmer brannten, und das Bett war über und über mit Rosenblättern bestreut (die ich zuerst gar nicht bemerkte, weil sie ebenso schwarz waren wie die Seidenlaken). Hammerhart war das. Im ersten Moment fiel mir diese eine Szene aus »Draculas Braut« ein, wo der Fürst der Dunkelheit im Blutrausch dreizehn Jungfrauen gründlich leersaugt. Dann probierten wir zu psychedelischen Harfenklängen drei neue Stellungen aus. Bei der Gurrenden Taube bekam ich leider einen Krampf im rechten Bein, und Frederic musste es dann mit Rotlicht bestrahlen, aber bis dahin war es wirklich total … neu für mich. Super, echt.

Das Klingeln meines Handys holt mich wieder in die Gegenwart zurück. Es ist Frederic. Na, wenn das kein Zufall ist.

»Hi, Schätzchen. Wie sieht’s aus, wann kommst du her?«

Allein seine Stimme. Frederic hat zig Rhetorikkurse hinter sich, und das hört man auch. Er kann seine Stimme nach Belieben variieren, vom knallharten Geschäftsmann bis zum schmeichelnden Liebhaber – oder ganz cool klingen, wie gerade jetzt.

Wobei, dieses »Schätzchen« klingt vielleicht ein winziges bisschen herablassend, »Schatz« würde mir eigentlich besser gefallen, oder »Liebes«, oder ganz einfach »Molly«.

Egal, »Schätzchen« klingt auch ganz gut.

Lissy formt mit den Lippen ein »Frederic?«, und ich nicke. Sofort bekommen ihre Augen einen verträumten Glanz.

Ich gucke auf die Uhr. Schon nach acht.

»Hi, Frederic. Ich denke, bald. Hast du was Besonderes vor?«

»Ich will dir ja die Überraschung nicht verderben …«, er legt eine bedeutungsschwangere Pause ein, »… aber so viel kann ich verraten: Der Ausdruck ›was Besonderes‹ ist die Untertreibung des Jahrhunderts für das, was ich geplant habe.«

Wow! Das muss ja was ganz Tolles sein. Er hat gesagt, er hat was geplant. Das heißt, es handelt sich nicht um ein Geschenk.

Hm.

Ah, ich hab’s. Essen. Ein romantisches Dinner wahrscheinlich. Er hat einen spitzenmäßigen Catering-Service engagiert, die bringen uns Hummer und Sekt auf die Terrasse, ungarische Geigenspieler spielen dazu schmalzige Lieder …

»Übrigens, du solltest dir nicht zu viel Zeit lassen«, fügt Frederic mit verheißungsvollem Unterton hinzu.

»Ach, wieso denn?«, frage ich mit gespielter Neugierde. Dabei ist mir schon klar, dass es schade wäre, wenn das Fünf-Sterne-Dinner kalt würde.

Ich kann förmlich hören, wie er nach den richtigen Worten sucht, um nicht alles zu verraten. »Sonst könnte irgendetwas … zusammenfallen, wenn du verstehst, was ich meine«, sagt er dann.

»Zusammenfallen? Soso. Na gut … sagen wir, in einer halben Stunde?«

»Eine halbe Stunde? Okay«, meint er nach einer kurzen Nachdenkpause. »Aber keine Minute später, okay?«

Ich weiß es. Ich weiß es.

Es ist ein Schokoladensoufflé.

Ich bin mir ganz sicher. Ich weiß das, weil es neulich in einer alten Folge von »Die Nanny« eine Szene gab, wo dem Butler Niles ein Soufflé im Backofen zusammenfiel, weil sein Chef Maxwell Sheffield die Ofentür zwischendurch ohne Vorwarnung aufriss. Frederic hat daraufhin gemeint, so empfindlich könne so ein Soufflé doch nicht sein, dass es wegen ein bisschen kühler Luft gleich im Eimer ist, und ich habe ihn dann aufgeklärt. Er hat noch ein paar Fragen dazu gestellt, wie man das zubereitet und alles, und ich konnte ihm alles ganz genau erklären, weil Schokoladensoufflé zufällig mein Lieblingsdessert ist.

Ich habe mich noch gewundert, weil er sich ja sonst nicht fürs Kochen interessiert, doch jetzt ist mir alles klar. Ich vermute sogar, dass er es selbst zubereitet hat, wozu sonst hätte er sich so genau nach dem Rezept erkundigt?

Während der Lift zu seinem Penthouse hochsurrt, wird mir ganz wohlig ums Herz. Es ist kaum zu glauben. Dieser Traum von einem Mann – und jetzt bekocht er mich auch noch.

Lissy hat recht: Ich habe unheimliches Glück, bisher habe ich es nur nicht richtig zu schätzen gewusst. Aber das wird sich ab sofort ändern, weil ich jetzt erkannt habe, was ich an Frederic habe. Er hat es verdient, dass ich ihn liebe und ehre, und ich werde es in Zukunft toll finden, wenn er mich »Schätzchen« nennt, denn immerhin ist das ja auch ein Kosewort (wer weiß, vielleicht ist das im minimalistischen Neoklassizismus sogar das liebevollste Wort überhaupt), und ich werde …

Oh mein Gott!

Plötzlich durchzuckt es mich.

Was, wenn er mir einen Antrag machen will?!

Da spricht doch einiges dafür, dieser ganze Aufwand, und dass er sogar meinen Lieblingsnachtisch für mich kocht. Seine Worte hallen in meinen Ohren nach: Der Ausdruck »was Besonderes« wäre die Untertreibung des Jahrhunderts …