Die Autorin

Yvy Kazi – Foto © privat

Frei nach dem Motto „Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag in deinem Leben mehr zu arbeiten“ studierte Yvy Kazi Grafikdesign und Illustration. Sie liebt Spaziergänge durch grüne Wälder und an stürmischer See. Die dabei gesammelten Eindrücke bestäubt sie mit einer Prise Augenzwinkern und einer Portion Kreativität, um die Leser*innen für einen Moment aus dem Alltag zu entführen.

Das Buch

Nach ihrem bestandenen Abitur möchte Anabelle einfach nur den Hamburger Spätsommer zusammen mit ihrem Hund Smoothie genießen. Die Frage was, wann oder ob sie studieren möchte, hat für sie gerade keine Priorität. Doch Anabelles Vater hat andere Vorstellungen für seine Tochter. Ein Jahr gibt er ihr Zeit, dann will er ihr das großzügige Taschengeld streichen. Deshalb kommt der Job in einer Werbeagentur für Anabelle gerade recht. Besonders mit ihrem Teampartner Adrian versteht sie sich super und das auch außerhalb des Büros. Aber eine Beziehung zwischen Kollegen, das kann nicht gut gehen! Und als dann auch noch herauskommt, dass Adrian der Sohn des Agenturchefs ist, fangen die Probleme erst so richtig an.

Yvy Kazi

Crazy Kind of Love

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
November 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat

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ISBN 978-3-95818-531-9

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Widmung

Für JEDEN,
der heute ein EICHHÖRNCHEN
Und ein ERDBEEREIS brauchen könnte.

1. August / Mittwoch


Einatmen. Ausatmen. Ich stehe an der großen Fensterfront, lasse den Blick zum Wasser hinausschweifen und beobachte, wie die goldenen Sonnenstrahlen über die bleifarbenen Wellen der Elbe tanzen. Ich liebe diese Aussicht. Sie lässt mich aufatmen und mein Herz schneller schlagen. Sie schreit nach Freiheit und Unendlichkeit – und trotzdem werde ich sie freiwillig durch den Anblick eines tristen Parkplatzes ersetzen.

Tausche: weitläufige Penthouse-Wohnung in der HafenCity gegen winziges WG-Zimmer an der Schanze.

Grund: vollkommen irrationaler Anfall von Hilfsbereitschaft.

Es klingt vermutlich ebenso absurd, wie es sich in diesem Moment anfühlt.

Ich zucke zusammen, als es an der Haustür klingelt. Endlich. Schnellen Schrittes gehe ich zur Wohnungstür hinüber, bestätige mit einem Fingerdruck die Anfrage der Eingangstür und gebe den Fahrstuhl frei, ehe ich die schwere Feuerschutztür öffne, die die Wohnung vom Fahrstuhl trennt. Fahrstühle, die in Wohnungen enden, sind eine nette Idee, allerdings nicht in einem Land, in dem es für alles Regeln, Gesetze und Verordnungen gibt. Sprich: Keine im Wohnzimmer endenden Fahrstühle in Deutschland. Nehmt das, ihr hippen Architekten! Brandschutzbestimmungen! So endet der Fahrstuhl in einem Vorflur, direkt vor einer ebenso undekorativen wie massiven Metalltür.

Ungeduldig warte ich auf den Wohnungsinteressenten, für den Zeit offensichtlich keine Bedeutung hat. Er kommt fast eine halbe Stunde zu spät. Als sich die Fahrstuhltüren öffnen, beschließe ich, auf meinen Vortrag über die Existenz von Armbanduhren zu verzichten. Ich bin mir sicher, dass er sinnlos wäre. Dem goldenen Wecker am Handgelenk des Fremden nach besitzt er durchaus eine Uhr und ist trotzdem nicht gewillt, pünktlich zu sein.

»Wow«, ist das erste Wort, das er hervorbringt. Da er an mir vorbeistarrt, gilt es wohl eher der Aussicht als meiner Erscheinung.

Ich deute ihm einzutreten, dabei lädt er sich ohnehin gerade selbst ein.

Er schreitet an mir vorbei und schließlich durch die offene Küche. An der Fensterfront bleibt er stehen.

»Guten Abend«, entgegne ich provokativ höflich und lasse die schwere Tür ins Schloss fallen.

Der Fremde zuckt nicht einmal zusammen, schiebt sich lässig eine Sonnenbrille in die platinblonden Haare und dreht sich halb zu mir herum. Er sieht sehr viel jünger aus, als ich erwartet hätte. Nicht einmal wie Mitte zwanzig.

Wir mustern uns einen Moment lang gegenseitig, wie zwei Hunde, die sich zum ersten Mal im Park begegnen: Auf der Lauer und noch nicht ganz sicher, ob Zähne zeigen oder mit dem Schwanz wedeln, das Signal der Wahl ist. Das Auffälligste an dem Fremden sind definitiv seine eisblauen Augen. Wenn wir zwei Hunde sind, ist er eindeutig der Typ Husky. Der Rest von ihm ist eine Mischung aus Gucci und Lacoste. Seine Schuhe sind ebenso sorgfältig poliert, wie sein Gesicht glattrasiert ist. Ohne zu fragen, legt er eine lederne Dokumentenmappe auf dem Esstisch ab, als wäre er hier bereits zuhause. Anfang zwanzig scheint mir recht jung für jemanden zu sein, der eine Wohnung mieten möchte, die pro Monat 2.400 Euro kalt kosten soll. Andererseits hat ihm gerade eine Zwanzigjährige die Tür geöffnet. Wir sind in Hamburg. Vielleicht hat er wie ich einen reichen Papi, vielleicht ist er Mitbegründer eines erfolgreichen Start-ups. Wer weiß das schon? In dieser Stadt ist alles möglich.

»Sie sind A.B.?«, fragt er und versucht sichtlich angestrengt, mir in die Augen zu sehen, statt sich von meinem kurzen Sommerkleid ablenken zu lassen. Da mein Körper keine nennenswerten Rundungen zu bieten hat, sind meine langen Beine alles, was sich zu zeigen lohnt. Davon abgesehen ist es nicht nur für hamburgische Verhältnisse recht warm heute.

»Anabelle Birnbach«, bestätige ich und mache eine ausladende Geste. »Was Sie hier sehen, ist der Eingang zu einem lichtdurchfluteten Traum auf 165 Quadratmetern mit beeindruckender Aussicht, Balkon und eigener Dachterrasse. Wie Sie vielleicht merken, ist das gesamte Gebäude klimatisiert.«

Er sieht mich einen Moment irritiert an, ehe er seine Lippen zu einem gelangweilten Lächeln verzieht. »Ganz die Tochter Ihres Vaters?«

Ich zucke mit einer Schulter. Irgendetwas muss ich ja von ihm geerbt haben, sein Charisma ist es in jedem Fall nicht. Mein Vater hat diese Fähigkeit, einen ganzen Raum mit seiner Präsenz zu erfüllen. Er kann einem Millionär einen Schuhkarton als Luxusimmobilie verkaufen, wenn er will.

»Wenn Sie mir folgen würden«, bitte ich und umrunde eine Küchenzeile, um in das offene Wohnzimmer hinüberzugehen. Meine Sandalen verursachen unangenehme Geräusche, die auf dem Steinboden wie eine Mischung aus Flipflops und Pferdehufen klingen. Flipp-Klock. Flipp-Klock. Es sind eindeutig die falschen Schuhe für eine Wohnungsführung. Hamburg hingegen zeigt sich von seiner besten Seite, schafft es tatsächlich, kurz den Vorhang aus grauen Wolken beiseitezuschieben, um der Glasfront zu ihrem Starauftritt zu verhelfen. Goldenes Sonnenlicht flutet in den Wohnraum, lässt den steinernen Boden glänzen und verleiht den modernen Möbeln einen weichen Glanz. Graue Betonwände treffen auf ein schwarzes Ledersofa in U-Form.

»Wie in der Anzeige geschrieben, wird die Wohnung möbliert vermietet«, setze ich meinen Vortrag fort und lasse den Fremden nicht aus den Augen, der sich von der Wohnung bisher wenig beeindruckt zeigt.

Er lässt den Blick durch die bodentiefen Fenster hinausschweifen, gönnt dem Balkon zwei Sekunden seiner Aufmerksamkeit, ehe er zu einer Treppe hinübersieht, die vom Wohnzimmer zu einer Galerie hinaufführt.

»Sie können von dort oben auf eine Dachterrasse hinausgehen. 60 Quadratmeter, die zu Ihrer alleinigen Verfügung stehen«, ergänze ich. Auch davon zeigt er sich nicht fasziniert, stattdessen streicht er mit einer Hand über das schwarze Leder des mitten im Raum stehenden Sofas.

»Ich nehme an, Sie gehören nicht mit zur Ausstattung?«, fragt er in einem provozierenden Tonfall, der mir einzig und allein ein Seufzen entlockt.

»Ich fürchte, Frauen müssen Sie sich anderweitig kaufen. Die sind leider nicht in der Ausstattung inbegriffen. Haustiere sind erlaubt, zumindest solange sie sich benehmen und nicht die Tapeten von den Wänden reißen.« Das war ein Witz, es gibt in dieser Wohnung keine Tapeten.

»Mein Bruder hat es nicht sonderlich mit Tieren.« Er lässt vom Sofa ab, schlendert langsam zu mir herüber und schiebt sich lässig die Hände in die Taschen seiner dunkelblauen Stoffhose. »Wir hatten mal ein Aquarium. Es endete eher unerfreulich – für alle Beteiligten.«

»Diese Wohnung ist nicht WG-geeignet«, werfe ich ein. Es gibt nur ein richtiges Schlafzimmer, der Rest der Wohnung besteht aus offenem Wohnraum und der ebenso offenen Galerie.

»Mein Bruder wird alleine einziehen«, verspricht er. Ein flüchtiges Lächeln huscht über sein Gesicht. »Es sei denn, er hat sich in Berlin einen Goldhamster zugelegt, von dem ich noch nichts weiß.«

Als er nur eine Armlänge von mir entfernt stehen bleibt, sehe ich zweifelnd zu ihm auf. Was soll das werden?

»Möchten Sie das Badezimmer sehen?«, biete ich hilfsbereit an und kann mich nur mühsam zusammenreißen nicht zurückzutreten. Er hat hier offensichtlich etwas falsch verstanden, denn statt der Wohnung begutachtet er nun mein Sommerkleid, dann meine Sandalen. Seine Nähe macht mich zunehmend nervös. Ich weiß nicht, warum.

»Ich denke, ich habe genug gesehen«, lehnt er ab, als seine Augen die Rundreise beenden. »Ich nehme sie.«

Ich ziehe zweifelnd eine Augenbraue hoch. Ist das sein Ernst? Er hat nicht einmal die Hälfte der Wohnung besichtigt. Was ist mit dem Schlafzimmer? Dem Badezimmer? Der Terrasse?

»Meinem Bruder wird gefallen, was ich sehe«, versichert er, doch statt sich umzusehen, gilt sein Blick einzig und allein den Sommersprossen auf meinem Nasenrücken. »Unser Geschmack ist ziemlich ähnlich.«

»Versuchen Sie gerade, mit mir zu flirten?«, frage ich zweifelnd und blinzele ihn sehr unelegant an. Es dauert zwei Sekunden, bis er zu lachen beginnt. Sehr laut, sehr lange und sehr falsch. Das ist seine Antwort? Er lacht mich aus? Diese Besichtigung wird sekündlich unangenehmer.

Er räuspert sich, fährt mit einer Hand durch seine Haare, streicht sich dabei seine Sonnenbrille vom Kopf und fängt sie höchst unelegant aus der Luft. Vermutlich ist das die Stelle, an der ich über ihn lachen sollte, aber ich verzichte.

»Wenn ich das nächste Mal versuche, mit dir zu flirten, werde ich es weniger subtil machen«, versichert er und zwinkert. Dazu fällt mir nichts mehr ein. Er schiebt sich die Sonnenbrille wieder in die Haare und begutachtet sein Spiegelbild in der Glasscheibe einer Vitrine. »Habe ich Konkurrenz?«, fragt er und zupft seine seidigen Haare zurecht.

Was für ein Idiot.

»Wie bitte?« Ich sehe genervt zu ihm auf. Erst kommt er zu spät, dann reißt er dumme Sprüche. Meine Geduld neigt sich dem Ende entgegen.

»Die Wohnung. Gibt es weitere Interessenten?« Er lässt endlich von seinen Haaren ab, um mich mit seinen eisblauen Augen zu fixieren.

Es gibt tatsächlich weitere Interessenten, allerdings habe ich kein Bedürfnis die auch noch kennenzulernen, wenn er bereit ist die Wohnung zu nehmen – und artig seine Miete zu zahlen. Pünktlich.


Als er kurze Zeit später am Küchentisch sitzt, schwebt der silberne Kugelschreiber in seiner Hand über der Zeile für seine Unterschrift. Er blättert noch einmal durch den Mietvertrag. Es ist ein simpler Standardvertrag aus dem Internet, mit dem man angeblich nichts falsch machen kann.

»Und die Miete geht tatsächlich an eine Stiftung?«, vergewissert er sich, während er den Vertrag ein zweites Mal liest. Ist das der Grund für sein Zögern? Dass ich das Geld für die Miete nicht will, sondern es der Charming-Angel-Stiftung überlasse?

»Wenn Sie es richtig anstellen, können Sie einen Teil der Miete vielleicht als Spende ausweisen«, schlage ich vor, obwohl ich von derlei Dingen keine Ahnung habe.

Er legt den Kugelschreiber beiseite und sieht mich an. Sein Blick wandert abermals über mein Gesicht, als suche er etwas. Ich kann ihm versichern, dass es dort außer Sommersprossen nichts zu finden gibt.

»Gehört diese Wohnung deinem Vater?«, fragt er.

»Sie gehört mir«, widerspreche ich. Davor gehörte sie meinem Vater. Er besitzt mehrere Immobilien in der Stadt. Er baut sie, er verkauft sie. Manche behält er, um sie zu vermieten. Ich verstehe wenig von seinem Geschäft. Es interessiert mich nicht, so wie er sich nicht für mich interessiert. »Mein Vater wird den Vertrag weder sehen noch unterzeichnen«, fahre ich fort, beobachte wie der Interessent sich sichtlich entspannt. Ich blättere noch einmal flüchtig durch seine Unterlagen, aber mir bleibt nichts übrig, als diesen Zetteln zu vertrauen. Unter anderen Umständen hätte ich seine Papiere und Nachweise eventuell von einem Anwalt prüfen lassen, aber ich habe kein Interesse daran, dass der meinen Vater informiert. Was soll der Fremde schon tun? Meine Möbel zerlegen? Es kümmert mich nicht.

Er unterschreibt schließlich mit zwei Schnörkeln, die alles und nichts bedeuten können.

»Und du gehst ins Ausland, um zu studieren?«, vermutet er und legt den Stift beiseite.

Ich schüttele den Kopf. Ich werde nicht ins Ausland gehen. Ich werde nicht einmal diese Stadt verlassen. Ich tausche diese Zweizimmerwohnung gegen eine andere. Ich erwarte nicht, dass irgendjemand auf dieser Welt meine Entscheidung versteht. Manchmal verstehe ich mich selbst nicht. Aber ich weiß, dass es die richtige Wahl ist. Für diesen Moment ist es das Richtige, denn jemand braucht meine Hilfe. Und das ist mir wichtiger als der atemberaubende Ausblick auf die Elbe.

Mein schlechtes Gewissen meldet an, dass ich dafür gleich zweimal den Pfad der Wahrheit verlassen muss. Ich versuche, es damit zum Schweigen zu bringen, dass mein neuer Untermieter jeden Monat einen nicht allzu kleinen Betrag für wohltätige Zwecke spendet. So kann ich mir zumindest einreden, dass mein Gebilde aus Lügen etwas Gutes in sich trägt. Solange es niemand anrührt, wird dieses Kartenhaus zusammenhalten.

Nach nicht einmal einer halben Stunde trennen sich unsere Wege. Ich bekomme eine Kopie des unterschriebenen Mietvertrags, er die Schlüssel, danach versuche ich den jungen Mann zu verdrängen.

Ihn und die Tatsache, dass mein Vater vermutlich nicht allzu begeistert davon sein wird, dass ich meine Wohnung einem Wildfremden überlassen habe. Einem Wildfremden, dessen Unterlagen ich so huschig gelesen habe, dass ich mich nicht einmal an seinen Namen erinnern kann.

29. September / Samstag


Es ist wohl falsch zu schreiben, dass ich mein Leben den sozialen Medien verdanke, aber in dem Moment, in dem ich die letzten Schlagworte unter das neueste YouTube-Video setze, fühlt es sich an, als würde ein Teil davon enden. Als würde ich einen kleinen Teil meines Lebens zu Grabe tragen. Ist das absurd? Klingt das sehr dramatisch? Ich meine: Wie seltsam ist es, dass ich es tröstlich finde, dass ich mir weiterhin die Zeit für Instagram nehmen werde, als wäre es eine Art von Rettungsanker? Mein Rettungsanker. Mein Zufluchtsort. Eine Verbindung zu meinem alten Leben, für das ich in naher Zukunft kaum noch Zeit haben werde.

Ich schrecke auf, als ich Schritte auf den knarzenden Holzdielen im Flur höre, klappe rasch das MacBook zu und schiebe es beiseite, als wäre es eine Tatwaffe. Tief durchatmend lehne ich meinen Rücken gegen das Kopfteil meines Bettes. Das Klopfen an der Zimmertür lässt die französische Bulldogge an meinen Füßen kurz den Kopf heben, ehe sie ihn mit einem Schnaufen wieder auf meinen Knöcheln ablegt. Smoothie (die eben erwähnte Bulldogge) ist eher faul veranlagt. Sein silbernes Fell passt hervorragend zu dem grauen Lammfell am Fußende meines Bettes. Böse Zungen behaupten, ich hätte mir den Hund passend zur Einrichtung ausgesucht, aber das ist absurd. Wenn überhaupt, dann ist es anders herum: Ich kaufe die Einrichtung passend zu meinem Hund. Dass wir die gleiche blau-graue Augenfarbe haben, hält ohnehin niemand für einen Zufall. Würde ich für jedes Mal, wenn mich jemand oberflächlich nennt, einen Euro bekommen, könnte ich das ganze verfluchte Wohnhaus hier kaufen. In bar. Ich weiß, das sind nur Klischees und trotzdem verletzt mich, was die Leute von mir denken.

»Herein«, rufe ich halbherzig, da Sarah ohnehin bereits dabei ist die Zimmertür zu öffnen. Sie hält nicht besonders viel von Privatsphäre. Mein Blick schweift über ihr Outfit: eine Mischung aus curryfarbenen Leggings, weinrotem Kapuzenpulli und olivgrünen Kuschelsocken. In ihrer Hand hält sie einen sandfarbenen Becher, der aussieht, als hätte ihn ein Grundschüler getöpfert. Ich spare mir den Vortrag darüber, dass er mir gehört und sie eigene Becher besitzt. Wegen bereits erwähnter Missachtung von Persönlichkeitsgrenzen ist es ohnehin sinnlos. Skandinavisches Designerstück hin oder her, es interessiert sie nicht. Während Sarah sich gegen den Türrahmen lehnt, rutscht der Haarknoten auf ihrem Kopf zur Seite. Vermutlich wird das Haargummi demnächst den Geist aufgeben und vor ihrer kaum zu bändigenden Lockenpracht kapitulieren. Ihre dunkelbraunen Haare haben ohnehin nur zwei Zustände: zusammengeknotet oder Wischmopp. Genauso wie Sarah. Zuhause läuft sie meistens mit einem Buch vor der Nase herum, hat eine gefühlt drei Zentimeter dicke Dreckschicht auf der Brille und trägt Kleidung, die man nicht einmal zum Sport anziehen sollte. Vor allem nicht in diesen farblichen Kombinationen. Vielleicht sieht sie durch den Schleier ihrer verschmierten Brille auch nicht richtig? Das erklärt allerdings immer noch nicht, warum sie neulich ein Harry-Potter-Sweatshirt mit Mickey-Mouse-Leggings kombiniert hat. Es muss irgendein Trend sein, der an der restlichen Welt vorbeigegangen ist. Aber sobald Sarah das Haus verlässt, schafft sie es irgendwie, aus dem Chaos in ihrem Zimmer eine zweite Persönlichkeit hervorzuzaubern, die ich manchmal gerne um Modeberatung bitten würde.

»So«, ist alles, was sie sagt. Sie visiert mich über den Rand des Bechers hinweg an, als erwarte sie eine Antwort.

»Wie wortgewandt«, stichele ich und sehe sie auffordernd an. Was auch immer sie sagen will, sie wird es eh tun.

Sie schnaubt zur Antwort so unelegant, dass ihr ein Rinnsal des Milchkaffees am Kinn hinab läuft. Sie wischt es mit dem Handrücken ab und kommt zum Bett herübergeschwebt, um sich ungefragt auf die Bettkante zu setzen.

Smoothie zögert einen Moment, ehe er zu ihr herüberkriecht. Er wirft sich neben ihr auf den Rücken und präsentiert seinen Bauch, den sie mit einer Hand streichelt. Das Hecheln des Hundes ist das einzige Geräusch im Raum. Keine von uns sagt ein Wort. Wir starren uns schweigend an. Wer zuerst blinzelt, hat verloren.

»Du hörst mit deinem YouTube-Kanal auf?« Ihr Blick gleitet kurz zu Smoothie, ehe sie mich wieder vorwurfsvoll ansieht. Sie hat das Video also schon gesehen.

Ich zucke halbherzig mit einer Schulter, als wäre es keine große Sache. Im Grunde ist es das auch nicht. Braucht die Welt meine Beiträge über Fair Fashion und Biokosmetik? Über lokales Einkaufen, Fahrradfahren und die Vermeidung von Plastikmüll? Eher nicht. Die meisten Leute folgen mir ohnehin entweder für die lustigen Texte oder hübschen Fotos. Die lustigen Kommentare und hübschen Bilder wird es weiterhin geben – nur eben an anderer Stelle. Wie gesagt: #KeinegroßeSache.

»Ich habe keine Zeit mehr für …«, beginne ich und werde prompt unterbrochen.

»Ja«, fällt mir Sarah so vehement ins Wort, dass Smoothie erschrocken aufsieht. »Ich kann es auch nicht fassen! Es ist Samstag und du bist tatsächlich hier statt in der Agentur. Ich wollte dich gestern schon fragen, wie das Gespräch gelaufen ist, aber jemand hat unser Pizza-Date abgesagt, um … Was genau musstest du bis Mitternacht tun?«

Ich kann mir nicht helfen, aber manchmal klingt sie mehr wie meine Ehefrau als meine Mitbewohnerin, dabei kennen wir uns gerade mal zwei Monate. Seit acht Wochen leben wir nun zusammen auf knapp 60 Quadratmetern Altbau-Albtraum. Wenn Sarah nicht gerade meine Sachen in das Meer ihres Chaos entführt (Ihr Zimmer ist das Bermudadreieck für Becher. Ernsthaft!), läuft es eigentlich ganz gut. Besser als mit vielen Mitbewohnerinnen des Internats, in dem ich zur Schule gegangen bin.

Das Mitarbeitergespräch ist der Hauptgrund dafür, meine Social-Media-Präsens zu reduzieren. Mein vierwöchiges Praktikum in der Trend-Werbeagentur des Landes (Solberg Society) ist seit gestern vorüber. Man hat mir einen Job als Junior-Texterin angeboten. Eine Stelle, die ich vor allem einem eifrigen Headhunter und einigen Instagram-Followern zu verdanken habe. (Einige ist in diesem Fall eine Zahl, die der Einwohnerzahl einer deutschen Großstadt ähnelt.) Es ist nicht so, dass sich mit den richtigen Kooperationen nicht genug Geld verdienen ließe … Beziehungsweise mit Fleiß und dem Aussehen, das ich von meiner Mutter geerbt habe, und Smoothies fledermausohriger Hilfe. Wir haben neben der Schule tatsächlich einiges an Geld verdient, aber meine Schulzeit ist seit fast vier Monaten vorbei und ein Dasein als Influencerin ist nichts, was mein Vater als Arbeit durchgehen lässt. (Obwohl er mittlerweile eingesehen hat, dass es Geld einbringt und Durchhaltevermögen braucht – also zwei Sachen, die er wertschätzt.) Könnte ich noch ein paar Jahre von Fotos und Videos leben? Vielleicht. Macht es sich gut im Lebenslauf? Ungewiss. Ist es die Sache wert, mich dafür mit meinem Vater zu zerstreiten? Eher nicht. Er will, dass ich etwas aus meinem Leben mache. Ich will … Ich weiß es nicht. Es gibt diese Kinder, die schon in der Grundschule eine konkrete Zukunftsvision haben. Ihr innerer Kompass deutet in Richtung Feuerwehrmann, Tierärztin, Prinz oder Astronautin. Ich habe vermutlich den Tag verpasst, an dem man Wegweiser und Navigationssysteme ausgeteilt hat. Vielleicht habe ich nach dem Tod meiner Mutter schlicht und ergreifend versäumt, Updates zu installieren, und bin auf dem Stand einer 17-Jährigen stehen geblieben.

Ein Jahr hat mir mein Vater gegeben, bevor er »mir das Taschengeld streicht« (seine Worte). Ein Jahr lang habe ich Zeit, um meine Kreativität auszuleben und mir zu überlegen, wohin mein Lebensweg führen soll. Mein Vater ist sicherlich froh, wenn das Ortseingangsschild die Worte Jura oder Betriebswirtschaft in Kombination mit der Zauberformel Studium enthält. Noch froher, wenn ich meine Vorliebe für Schönes auf Immobilien fokussiere. Manchmal bin ich versucht nachzugeben und das zu tun, was er sich erhofft. Aber jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke, höre ich die Stimme meiner Mutter. Ich sehe, wie sie vor meinem geistigen Auge den Kopf schüttelt und mit ihrem unbeirrbaren Lächeln murmelt: »Das Leben ist eine Reise. Das Ziel kennst nur du. Lass dir von niemandem einen Fahrschein geben, den du nicht willst.« Wahrscheinlich hat sie den Spruch zu oft gesagt, denn mein Vater ist nicht erst seit ihrem Tod permanent auf der Reise.

»Hast du Smoothie wenigstens danach gefragt, ob er damit einverstanden ist, sein Dasein als Star zu beenden?« Sarah streichelt weiterhin über Smoothies Bauch, bis er zufrieden seinen Hinterkopf an der Bettdecke reibt und wohlig grunzt. Dieses Mal bin ich es, die schnaubt. Ich werde versuchen bANAna-Smoothie irgendwie weiterzuführen, aber für die aufwendigen Videos habe ich keine Zeit mehr. Auch der Blog wird pausieren, bis ich weiß, wie mein neuer Alltag verläuft.

Wie gesagt: Die Solberg Society ist zurzeit die Trendagentur. Als junger, kreativer Mensch sucht man sich entweder ein hippes Start-up oder versucht bei Solberg zu landen, um den Lebenslauf ein wenig aufzuhübschen. Ich sehe es als Chance, um auszuprobieren, ob mein Hobby für mich auch als Beruf geeignet ist. Bisher weiß ich vor allem, was ich nicht will. Unter anderem Architektur, Jura oder BWL studieren.

Smoothie ist das alles mit Sicherheit herzlich egal, solange ich seinen Napf regelmäßig fülle. Im Gegensatz zu mir interessiert sich Mr. Knautschnase nämlich herzlich wenig für Ernährung. Der Anti-Gourmet würde sich auch von Schokolade ernähren, wenn er dürfte.

»Ich versteh dich nicht«, gesteht Sarah und nippt sichtlich nachdenklich an ihrem Kaffee. Sie starrt einen Moment ins Nichts, ehe sie mich wieder ansieht. Ihre hellbraunen Augen wandern über mein Gesicht, als wäre es eine ihrer Buchseiten. Als könnte sie daraus irgendeine Antwort ablesen. »Ana, tausende kleine Mädchen sehen zu dir auf, weil sie hoffen so wie du zu werden. Du hast neben der Schule eine eigene Marke aufgebaut. Seit Jahren plädierst du für einen bewussten Lebensstil. Ich habe nur deinetwegen angefangen, Mandelmilch zu trinken. Und jetzt wirfst du das hin, um für einen Laden zu arbeiten, der deine Ideale mit Füßen tritt?«

Ich werfe gar nichts hin. Und es ist schwer zu sagen, ob die Solberg Society meine Ideale mit Füßen tritt. Ich weiß nicht einmal, ob sie Ideale hat, die sie vertritt.

»Das da«, ich deute auf mein MacBook, »ist eine Scheinwelt, die vielleicht schon morgen ihre Pforten schließt. Dann stehe ich mit einer Bulldogge an der Leine auf der Straße und …«

»Vielleicht geht morgen die Welt unter«, wirft Sarah ein. In ihren Augen blitzt es herausfordernd auf. Sie hat gut reden. Sie studiert Medizin in einem Land, in dem es akuten Ärztemangel gibt – und sie liebt es. Die Menschen, das Lernen und sogar all die Geschichten, die mir schon bei ihren Erzählungen Übelkeit bereiten. Sie braucht sich über ihre berufliche Zukunft in jedem Fall keine Sorgen zu machen. Alles, was ich habe, ist ein mittelmäßiges internationales Abitur, viele Follower und permanente Ratlosigkeit darüber, wo ich mich in fünf Jahren sehe.

»Smoothie muss raus«, höre ich mich verkünden und springe aus dem Bett, als wäre ich auf der Flucht.

»Renn ruhig weg«, bestätigt Sarah meine Gedanken. »Vielleicht findest du auf dem Weg zufällig den Mut, zu dir selbst zu stehen. Lade ihn ruhig ein. Er ist ein gern gesehener Gast.«

»Du kannst mich mal!« Ich greife meinen rosafarbenen Mantel vom Hocker vor dem Schminktisch und verschwinde in den Flur, ohne meine Mitbewohnerin noch eines Blickes zu würdigen. Ich nehme Smoothies Halsband von der Flurgarderobe, schlüpfe in meine grauen Wildlederstiefel und wickle einen Schal um meinen Hals. Ein dumpfes Geräusch erklingt, als Smoothies Körper auf dem Holzboden vor dem Bett landet. Ich brauche ihn nicht zu rufen. Er folgt mir. Auch ohne Smartphone.


Im Schanzenpark ist für einen Samstagmittag erstaunlich wenig los. Nebel und ein leichter Nieselregen halten die meisten Stadtbewohner in ihren Wohnungen gefangen – oder zumindest die Studenten und Studentinnen von den Wiesen fern. Die Hunde aus den nahen Vierteln wissen es zu schätzen und nutzen den Platz zum Fangen spielen. Smoothie hingegen muss an der Leine bleiben. Seine Vorliebe für alles Essbare hat mich schon zu oft in peinliche Situationen gebracht. Manchmal reicht ihm eine Sekunde, um wie durch Zauberei zu verschwinden und am anderen Ende des Parks wieder aufzutauchen, um dort anderen Hunden oder kleinen Kindern ihren Snack zu klauen. Eigentlich ist der Sternschanzenpark keiner meiner Lieblingsorte. Angeblich ist er ein beliebter Treffpunkt für Dealer aller Art. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Bisher hat mich keiner angesprochen und dennoch verbreitet allein das Gerücht eine eigenartige Atmosphäre.

Immer noch wütend über Sarahs Worte marschiere ich über einen knirschenden Sandweg, der irgendwann in Pflastersteine übergeht. Ich halte etwas unwillig an, als Smoothie eine Bremsung einlegt, um seine platte Schnauze in ein Grasbüschel am Wegesrand zu stecken. Missmutig ziehe ich den Kragen meines grauen Rollkragenpullis höher und bemerke irgendwo am Rande meines Bewusstseins wie gut meine Stiefel und Smoothies Fell zu den grauen Steinen unter uns passen. Also ziehe ich mein iPhone aus der Manteltasche und lasse Smoothie neben meinen Füßen sitzen. Nach meiner Rückzugsankündigung kann ein Beschwichtigungsbild sicher nicht schaden. So etwas nach dem Motto: Smoothie und ich leben noch und werden auch in Zukunft aktiv sein – nur eben nicht mehr so oft. Als ich die Kamera des Handys öffne, rümpfe ich die Nase. Der Bildausschnitt stimmt nicht. Ich habe einen Streifen des Grases im Bild. Das Grün stört die Harmonie der Gesamtkomposition ungemein. Unzufrieden trete ich einen Schritt zurück – und bereue es augenblicklich.

Ich habe mich kaum bewegt und halte den Blick noch immer auf das Display des Handys gerichtet, als mich irgendetwas so unsanft zu Boden stößt, dass ich es nicht mehr schaffe, mich abzufangen. Nur geschützt durch den Mantel schlage ich mit dem Ellenbogen zuerst auf dem Boden auf. Mir rutscht das Handy aus der Hand, während ich so ruckartig an der Hundeleine ziehe, dass Smoothie erschrocken aufjault. Mein Kopf küsst den Steinboden und dankt es mir augenblicklich mit einem dumpfen Schmerz, der durch meinen Schädel dröhnt. Ich spüre, dass jemand auf mich fällt. Er stützt sich gerade noch mit den Händen neben meinem Kopf ab, bevor meine Nase Bekanntschaft mit seinem Schlüsselbein machen kann.

Mit tanzenden Sternchen vor den Augen schaue ich zu einem nach Luft ringenden, jungen Mann auf. Er ist mir so nahe, dass ich nur seine eisblauen Augen sehe. Sein Blick gleitet zwischen seinen Händen, meinem Kopf und einem Smoothie, der gerade Anstalten macht, mein Gesicht abzulecken, hin und her. Der Fremde schiebt meinen Hund unsanft beiseite und schenkt ihm ein angewidertes Naserümpfen. Etwas Nasses tropft aus seinen Haaren auf mein Gesicht. Ich hoffe sehr, dass es nur Regen ist. Für einen kurzen Augenblick sehen wir uns an. Irgendwie kommt er mir bekannt vor, ich weiß nur nicht woher. Ehe ich in meinem Gedächtnis nach einem Eintrag namens »eisblaue Augen« suchen kann, löst sich ein weiterer Tropfen aus seinen Haaren, um auf meiner Stirn zu landen. Das ist so viel widerlicher als Hundespeichel.

»Runter von mir«, fauche ich und versuche den Fremden von mir zu schieben. Als meine Hand sein feuchtes Shirt berührt, ziehe ich sie angeekelt zurück. Kein Regen.

Der Fremde erhebt sich elegant (so elegant man in Sportkleidung aussehen kann) und reicht mir eine Hand.

Sie ignorierend setze ich mich auf und schaue mich nach meinem Handy um. Es liegt nur eine Armlänge entfernt neben mir auf dem Weg.

»Alles in Ordnung mit dir?«, fragt der Jogger.

Mit zitternden Fingern greife ich nach meinem Handy, nur um genervt zu stöhnen. Das Display hat den Sturz nicht überlebt. Ein Spinnennetz feiner Risse zieht sich über seine gesamte Oberfläche. Was für ein Tag!

»Du hast da …«

»Mein Handy ist kaputt!« Ich halte demonstrativ das Telefon hoch, während Smoothie sich neben mich setzt und mich mit seiner breiten Schnauze anstupst. Als der Fremde nicht reagiert, wackele ich mit dem iPhone in der Luft herum, damit er sein Werk bestaunen kann.

Der junge Mann zögert einen Moment, ehe er sich neben mich kniet. Sein Blick gleitet nur flüchtig zum Handy, dann zu meinem Kopf. »Du blutest.« Er deutet auf meine Schläfe, als wäre das irgendwie hilfreich.

Ich sehe ihn überfordert an. In einer Hand halte ich mein Telefon, als wäre es ein Beweismittel, in der anderen die Hundeleine.

»Darf ich?«, fragt er und wartet erst gar nicht auf eine Antwort. Er streckt eine seiner Hände aus. Vollkommen perplex beobachte ich, wie er sich nähert, um meinen Kopf zu begutachten. Seine Finger streichen vorsichtig meine Haare hinter das Ohr, bevor sie über meine Schläfe fahren. Sein prüfender Blick gleitet zwischen meinem Ohr und meinem Haaransatz hin und her.

Die Situation ist mir unangenehm. Ich sitze in meinem rosa Mantel auf dem feuchten Weg, umklammere mein Handy, während mir ein Fremder ziemlich nahe kommt. Zu nahe für meinen Geschmack. Als er erneut meine Schläfe berührt, ziehe ich scharf die Luft ein. Autsch.

»Du solltest dein hübsches Gesicht einem Arzt zeigen. Das muss eventuell genäht werden.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch und bereue es augenblicklich, als ein stechender Schmerz an meiner Schläfe pocht. »Sind Sie Arzt?«, frage ich irritiert, als der Fremde noch zweimal an meinem Kopf herumdrückt, ehe er unvermittelt aufsteht.

»Nein, aber für Doktorspiele stehe ich dennoch zur Verfügung«, erwidert er mit einem seltsamen Zwinkern.

Mein Kopf ist zu durcheinander, um mit dieser Antwort etwas anfangen zu können. Ich mustere Smoothie noch einmal, aber ihm scheint es gut zu gehen. Vorsichtig rappele ich mich auf, ignoriere einen leichten Schwindel, wische mit einer Hand den dreckigen Mantel ab und lasse das Handy in der Manteltasche verschwinden.

»Braucht Fräulein Guck-auf-den-Boden eine Eskorte?«

Die Zähne zusammenbeißend sehe ich trotzig zu ihm auf. Hätte mich dieser Volltrottel nicht umgerannt, dann … »Mein Handy ist kaputt«, wiederhole ich.

Der Jogger mustert mich, fährt sich mit einer Hand durch die silberblonden Haare. Die sind sicherlich gefärbt – und genauso affektiert, wie die hochgekrempelte Jogginghose, die seine nackten Knöchel offenbart. »Handy geht vor Kopf, verstehe«, antwortet er und zögert, ehe er eine zerknickte Visitenkarte aus seiner Hosentasche hervorzieht, die er vor mein Gesicht hält. Was für ein Mensch nimmt denn Visitenkarten zum Laufen mit? »Falls du eines von beidem ersetzen lässt, schick mir die Rechnung.«

Da ich nicht reagiere, drückt er mir das Papierstück in die Hand. Er sieht mich noch ein letztes Mal abschätzend an, ehe er seine Laufrunde fortsetzt, als wäre nichts gewesen.

Ich knülle die Karte zusammen und stecke sie ein, um sie im nächsten Mülleimer zu entsorgen. Wenn ich eines sicher nicht machen werde, dann ihn kontaktieren. Vorsichtig taste ich meine Schläfe ab, die zunehmend schmerzhaft pulsiert. Ich werde Sarah nach ihrer Meinung fragen.

Wozu wohnt man mit einer Medizinstudentin zusammen?