Die Autorin

Ella Fields – Foto © privat

Ella Fields ist Mutter und Ehefrau und lebt in Australien. Während ihre Kinder in der Schule sind, trifft man sie meistens, wie sie mit ihrer Katze Bert und ihrem Hund Grub über ihre Figuren und Bücher spricht. Sie ist schokoldensüchtig und eine unverbesserliche Sammlerin schöner Notizbücher. Sie liebt es Stories mit hart erarbeiteten Happy Ends zu schreiben.

Das Buch

Ich dachte, er würde für immer zu mir gehören, selbst als wir gezwungen waren uns zu trennen. Wir hätten einander festhalten sollen, aber es ist trotzdem passiert.
Schade, dass ich nicht ahnte, dass jemand anderes nur darauf wartete, meinen Platz einzunehmen. Sonst hätte ich niemals losgelassen.
Zwei Jahre später sind wir genau dort, wo wir geplant hatten zu sein. Ich habe mein Versprechen gehalten. Er hat es einfach vergessen.
Er hat nicht nur jemand neuen gefunden, sondern diese Neue ist meine ehemalige beste Freundin.
Und ich beginne das College mit gebrochenem Herzen

Wahrscheinlich sollte jetzt der Part kommen, in dem ich euch erzähle, wie ein anderer toller Typ auftaucht und die Scherben meines Lebens aufsammelt und wieder zusammensetzt. Einer, der mich wieder zum Lachen bringt.

Aber das hier ist nicht diese Art von Geschichte.

Mein Herz mag gebrochen sein. Aber es weigert sich, ihn nicht mehr zu lieben.

Ella Fields

Suddenly Forbidden

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Nina Bader

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Deutsche Erstausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Mai 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
German Translation copyright © 2019 by Ullstein Buchverlage GmbH
Copyright © 2018. Suddenly Forbidden by Ella Fields.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Suddenly Forbidden
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Übersetzung: Nina Bader
Autorenfoto: © privat
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-421-3

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Eins


Daisy, sieben Jahre alt

Das Gras peitschte um meine Knöchel, meine Lungen brannten, und Tränen strömten über meine Wangen, während ich so schnell, wie mich meine Beine trugen, unter dem Zelt eines violetten, sich verdunkelnden Himmels in das Feld rannte.

»Daisy!«

Seine Stimme hallte in meinen Ohren wider, aber ich blieb nicht stehen. Konnte nicht stehen bleiben. Das hieß, bis mir ein tückischer versteckter Graben in die Quere kam und dafür sorgte, dass ich auf meinem Hinterteil landete.

Verflixte Axt.

Schwer atmend untersuchte ich meinen Knöchel, stöhnte dann und sank rücklings in das Meer aus Löwenzahn, als seine sich nähernden Schritte die Pflanzen in einem sanften Rhythmus rascheln ließen, bei dem ich die Augen schloss.

Dank des morgendlichen Regens konnte ich spüren, wie der kühle Matsch meine Leggings und mein T-Shirt durchweichte. Obwohl Mama Gift und Galle spucken würde, brachte ich es nicht über mich, mich aufzusetzen.

»Da bist du ja.« Seine Schritte machten direkt neben meinem Kopf halt. »Mist, ich wäre fast auf dich draufgetreten.«

»Schrei nicht so, Müffelmaul. Schsch.« Ich schlug die Augen auf, um festzustellen, dass Quinns Gesicht die letzten Farbschattierungen des Sonnenuntergangs ausblendete.

Er lachte, ließ sich dann auf den Boden fallen und streckte sich neben mir aus. Ich hielt das Gesicht nach oben gerichtet und sah zu, wie die Nacht die letzten Farben des Tages auslöschte und ein paar Sterne am Himmel zu funkeln begannen.

»Was ist denn los?«, fragte Quinn nach einer Minute. »Ist es der Hahn?«

Ich schniefte; hätte gern gelogen, konnte es aber nicht. »Warum musste dein Vater ihm das antun?«

»Er sagt, man kann nicht zu viele Hähne halten. Gibt Ärger im Hühnerstall.« Er seufzte. »Was immer das heißen soll.«

»Yeah, aber ich hätte ihn mit zu mir nach Hause nehmen können.«

Quinn lachte wieder, und ich musste bei dem Geräusch unwillkürlich lächeln. »Was? Zusätzlich zu Frederick? Deine Mama steht mit dem schon auf Kriegsfuß.«

Quinns Dad hatte mir vor ein paar Monaten widerstrebend erlaubt, Frederick, den Hahn, zu retten. Er war nicht gerade der Freundlichste oder ein Kuscheltier, aber Mama warf einen Blick auf das zappelnde Huhn in meinen Armen und meine flehenden, nassen Augen und sagte, wir könnten ihn behalten, bis sie ein neues Zuhause für ihn gefunden hatte. Wie sich herausstellte, brauchte in unserer kleinen Stadt niemand einen weiteren Hahn.

Glück für mich und Fred. Pech für Mama.

Finger strichen über meine im Gras liegende Hand. Ich drehte den Kopf, als sich Quinns warme Hand um meine schloss. »Deine Mama wird stinkwütend sein, weil du dich unnötig schmutzig gemacht hast«, platzte ich heraus.

Quinn lächelte nur und zeigte dabei für sein achtjähriges Gesicht zu große Zähne. Trotzdem hielt ich ihn für den hübschesten Jungen in ganz Clarelle. Selbst wenn er mich zu fest an meinem Pferdeschwanz zog oder es lustig fand, Schlammklumpen zu formen und damit nach mir zu werfen. »Sie sagt nichts, wenn ich ihr alles erkläre.«

»Sie wird mich irgendwann einmal für eine richtige Heulsuse halten.« Bei dem Gedanken wurde mir das Herz schwer. Aber ich konnte nichts dagegen machen, ich hatte gerade einen weiteren Hahn ohne Kopf herumflattern sehen.

Und ich wusste, dass ich wieder einen Albtraum haben würde, wenn ich einschlief.

»Das würde sie nie denken. Sie wird mich wieder verschossen nennen und mich so komisch ansehen.«

Meine Lippen zuckten leicht, und ich beobachtete, wie seine langen Wimpern zitterten, als er den Blick unverwandt auf mich heftete. »Was heißt verschossen?«

Er schien einen Moment darüber nachzudenken, bevor er mit den Achseln zuckte. »Keinen blassen Schimmer. Wahrscheinlich, dass ich wieder etwas Dummes tue.«

»Ist …« Ich schluckte hart. »Ist der Hahn gestorben?«

Seine hellen Brauen zogen sich zusammen. »Ja, Dais. Er ist tot.«

Tränen rannen seitlich an meiner Wange hinunter und verschwanden in meinen unordentlichen blonden Haaren.

»Nicht weinen.« Quinns Gesicht verzog sich, und er drückte meine Hand. »Hey, vielleicht könnten wir ihn begraben?«

Leise schnüffelnd fragte ich: »Wirklich? Wie denn?«

Er lächelte, ließ mich los und stand auf, bevor er erneut nach meiner Hand griff, um mir auf die Füße zu helfen. »Komm mit, ich zeige es dir.«

Wir rannten zum anderen Ende der Scheune. Der Himmel glich jetzt einer schwarzen Decke, und wir hörten, wie Quinns Mom von der Veranda ihres großen ranchähnlichen Hauses nach ihm rief.

Er brüllte zurück: »Zwei Minuten, Mom!«

Dann schnappte er sich die Kinderschaufel aus dem Set, das er letztes Jahr zu Weihnachten bekommen hatte, und führte mich zu der Weide auf dem hinteren Feld, wo unsere Autoreifen-Schaukel sacht im Wind schwang.

Ich setzte mich hin und sah zu, wie Quinn mühsam zu graben begann, dann beschloss ich, ihm zu helfen. Ich ließ mich auf alle viere sinken und grub mit den Händen in der lockeren Erde, bis ein flaches Loch entstand, in das der arme Hahn gerade hineinpassen würde.

Dann hockte ich mich auf die Reifenschaukel, beobachtete, wie er zur Scheune zurückrannte, und lauschte dem Zirpen der Grillen, während die kühle Luft über mein erhitztes Gesicht strich.

Fünf Minuten später kam er wieder und sagte mir, ich sollte die Augen schließen. Ich gehorchte, weil ich wusste, was er aus dem Sack in seinen Händen ziehen würde, und hörte, wie der tote Hahn mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden fiel.

»Okay, soll ich ihn zuschütten?«

Ich nickte und schlug die Augen auf, hielt den Blick aber abgewandt, während er Erde in das Loch schaufelte, das wir gegraben hatten. Als er fertig war, holte ich schnell ein paar Steine aus dem nahe gelegenen Bach und ordnete sie in Form eines Sterns auf dem Erdhügel an.

»Warum ein Stern?«, erkundigte sich Quinn.

»Damit er nicht allein ist. Er kann im Traum mit den anderen Hähnen und Hühnern im Himmel spielen.«

Quinn sah mich eigenartig an, als ich aufstand und meine schmutzigen Hände an meiner Hose abrieb.

»Was ist?«, fragte ich abwesend und begann zum Haus zurückzugehen.

»Eines Tages werde ich dich heiraten, Daisy June.«

Mein Atem stockte im selben Moment wie meine Schritte.

Ich fuhr herum, stemmte die Hände in die Hüften und setzte in der Hoffnung, das seltsame, in meinem Bauch brodelnde Gefühl zu überspielen, ein spöttisches Lächeln auf. »Ach, wirklich?«

Er nickte, dabei grinste er, wie er es immer tat, wenn er sich aufführte, als würde er alles wissen. »Yep. Eines Tages, wenn wir mit dem College fertig sind und ich diese Farm übernehme, wirst du meine Frau sein.« Er trat näher, und mein Herz fing an, gefährlich schnell zu hämmern. »Und ich werde dafür sorgen, dass du nie sehen musst, wie einem anderen Hahn der Kopf abgehackt wird.«

Er griff nach meiner Hand und beugte sich zu mir, und ich spürte, wie seine warmen Lippen meine klebrige Wange streiften. Er sagte nichts weiter, und ich auch nicht. Wir trotteten mit einem Grinsen auf unseren Gesichtern und den über uns wie ein lächelndes Publikum glitzernden Sternen durch das Gras zurück.

Mir war zu der Zeit nicht bewusst, was passiert war. Warum ich meinen Herzschlag in meinen Ohren hören oder Tage danach nicht aufhören konnte zu lächeln.

Im Rückblick wurde mir klar, dass Quinn Burnell damals zum ersten Mal ein großes Stück meines Herzens gestohlen hatte.

Zwei


Daisy, Gegenwart

Ich packte meine Steppdecke aus einem der letzten Kartons aus und versuchte, nicht die Augen zu verdrehen.

»Mom, du bist erst vor einer Stunde gegangen. Mit mir ist alles in Ordnung.«

Ein Jammerlaut drang an mein Ohr. »Oh, entschuldige.« Schniefend murmelte sie: »Es ist nur … du bist so weit weg. Ich dachte, ich würde damit klarkommen, und … ach, zur Hölle. Lass mich mich einfach nur noch eine Weile selbst bemitleiden, okay? Ich brauche das.«

Ich klemmte mir mein Telefon zwischen Ohr und Schulter und zog die letzte Ecke des Spannbettlakens über die Matratze. »Okay«, gab ich resigniert zurück. »Ein oder zwei Minuten kann ich mir das vermutlich noch anhören.«

Sie lachte prustend. »Sei nicht so frech. Achtzehn oder nicht, ich werde Daddy gleich das Auto wenden lassen, junge Dame.«

Mein Dad sagte im Hintergrund etwas zu ihr, und sie seufzte. »Okay, dein Dad meint, ich klammere, und ich muss mir das abgewöhnen, wenn ich will, dass du auch weiterhin meine Anrufe annimmst.«

Ich lachte, nahm meine Steppdecke und breitete sie über das Bett. »Ich hab dich lieb, Mom, und wenn ich deine Anrufe verpasse, rufe ich dich zurück, okay?«

Sie stieß laut und schwer den Atem aus. »Okay.« Dann hielt sie eine Sekunde inne. »Ich habe dich auch lieb, Honey.«

»Benimm dich!«, donnerte mein Dad. »Lass die Finger von Alkohol, den du dir nicht selbst eingeschenkt hast. Am besten bleibst du in deinem Wohnheim. Wenn du zu viel Party machst, vernachlässigst du dein Studium, und das willst du doch nicht, oder?«

»Joseph«, tadelte meine Mutter. »Okay, wir machen jetzt Schluss. Wir lieben dich.«

Ich lächelte. »Ich euch auch. Ich rufe euch bald wieder an.«

Nachdem ich aufgelegt und mein Telefon auf den alten Nachttisch aus Buchenholz gelegt hatte, griff ich nach meinen Kissen und warf sie auf das Kopfende des Bettes, bevor ich einen Schritt zurücktrat, um meine neue Umgebung zu begutachten.

Nicht schlecht. Auch nicht überwältigend, aber von dem Moment an, wo ich das hohe braune Backsteingebäude betreten hatte, hatte ich gewusst, dass ich nicht zu viel erwarten durfte. Ich hatte online wie besessen recherchiert. Wenn ich es irgendwie schaffte, mich nach all den Stunden, die ich damit verbracht hatte, Stadtpläne, Gebäude, Plätze und Straßen zu studieren, doch noch zu verlaufen, dann schätzte ich, dass ich es nicht besser verdiente.

Die Gray Springs University. Endlich.

Grinsend betrachtete ich die gestrichenen Ziegelwände des kleinen Zimmers. Es würde schwierig werden, hier viel aufzuhängen, von meinen Kunstwerken ganz zu schweigen. Aber ich würde es mit Sicherheit versuchen.

Ich hatte gerade die leeren Kartons zusammengefaltet und verstaute sie neben meinen alten Zeichenblöcken und Mappen ganz oben im Schrank, als die Tür geöffnet wurde.

»Scheiße, Mom.« Ein Mädchen mit mattbraunen Haaren stolperte hinter einer kleinen, kräftigen Frau in den Raum. »Du hättest …« Das Mädchen warf einen Blick auf mich und zuckte zusammen. »Anklopfen sollen.«

»Hi.« Ich schloss die Schranktüren und verschränkte meine Hände vor mir. »Du musst meine Mitbewohnerin sein?«

»Pippa, die Wände sind aus Backstein! Wie um alles in der Welt willst du es da im Winter warm haben?« Die Frau schnalzte mit der Zunge, schaute von dem leeren Einzelbett zu meinem frisch bezogenen und begriff, dass sie nicht alleine waren. »Oh«, quiekte sie. Ihre Hand flog zu ihrem üppigen Busen, und ein wunderschönes Lächeln erhellte ihr von feinen Falten durchzogenes Gesicht. »Sorry, ich bin Terry, Pippas Mom.« Sie machte Anstalten, mir die Hand zu schütteln, und ich löste meine beiden langsam voneinander.

Das Mädchen – Pippa, wie ich annahm – stöhnte. »Es tut mir ja so leid.«

Ich zog meine Hand zurück, und Terry sah ihre Tochter an. Ihre dunklen Brauen zogen sich zusammen, und ihre Hände wanderten zu ihren Hüften. »Du brauchst gar nicht verlegen zu sein, Pip. Ich mache mir nur …« Sie trat weiter ins Zimmer und rümpfte die Nase, als sie mit dem Finger über den Staub auf dem Nachttischchen neben dem anderen Bett fuhr. »Sorgen.«

»Tja«, meinte Pippa. »Wie wäre es mit weniger Sorgen und mehr Ausladen, ja?« Sie lächelte mich an. »Was für eine Art, sich vorzustellen. Und wie heißt du?«

»Daisy. Ich, äh, ich bin vor ein paar Stunden angekommen.«

Sie blickte sich um. »Wow. Du verschwendest keine Zeit.«

Nein, dachte ich bei mir. Ich hatte schon genug Zeit verloren. »Vermutlich die Aufregung.« Ich wedelte leicht mit den Händen, dann fiel mein Blick auf den Heizkörper. »Es gibt ne Heizung.« Ich deutete darauf, als Terry fortfuhr, sich im Raum umzusehen, und dabei vor sich hinmurmelte. »Meine Mom hat sich auch Sorgen gemacht.«

Terry hörte auf, Hektik zu verbreiten, musterte die Heizung, trat zu ihr hinüber, um sie zu inspizieren, und lächelte. »Gut, gut. Okay.« Sie klatschte in die Hände. »Warum gehen wir nicht alle einen Kaffee trinken?«

Ich stand wie angewurzelt da. Mein Blick schoss zwischen Terry und Pippa hin und her.

»Mom, die Kurse fangen in ein paar Tagen an. Ich muss auspacken und mich einrichten.«

Terry verzog nachdenklich die Lippen. Ihre Augen leuchteten auf, als sie auf mir haften blieben. »Daisy! Wir sollten uns besser kennenlernen.«

»Mom!« Pippa knurrte das Wort förmlich, und mir wurde plötzlich klar, dass ich es mit meiner Klette dritten Grades von Mutter noch ziemlich gut getroffen hatte. »Bitte. Lass uns meine Sachen holen.«

»Okay, okay.« Terry seufzte.

»Kann ich euch helfen?«, fragte ich, weil ich nicht untätig herumstehen wollte, während sie sich die drei Treppen hochquälten.

Beide bedachten mich mit dankbaren Blicken, und wir verbrachten die nächsten zwanzig Minuten damit, drei Koffer, zehn Kartons und drei Rucksäcke aus ihrem kleinen SUV zu hieven und zu unserem Zimmer hochzuschleppen.

»Die Frau am Empfang macht keinen allzu lebhaften Eindruck«, murmelte Terry, als wir das letzte Mal an dem Schreibtisch im Eingangsbereich vorbeikamen.

Das tat sie in der Tat nicht. Sie stützte das Kinn auf eine Hand, ihre Augen klebten an einer Zeitschrift, und sie rührte sich nur, um einen Finger zu befeuchten und die Seite umzublättern.

»Ich bin sicher, sie ist ganz in Ordnung«, schnaufte Pippa außer Atem, während sie den letzten Koffer hinter sich herzerrte.

Ich stellte den Karton, den ich gerade trug, neben ihrem Bett auf den Boden und klopfte mir die Hände an meinem Kleid ab. Ich brauchte dringend eine Dusche und krümmte mich innerlich, als mir einfiel, dass ich mir jetzt ein Bad mit anderen Mädchen teilen musste. Das konnte ja heiter werden.

Pippas Mom machte sich ans Werk, packte Laken und Decken aus und bezog das Bett, legte Kleidungsstücke zusammen und verstaute sie in Schubladen und hängte den Rest in den Schrank. Es machte mich schon müde, ihren schnellen, geschickten Handgriffen nur zuzuschauen. Bei ihr mit ihrem Lächeln auf dem Gesicht und der Zielstrebigkeit in jeder Bewegung wirkte alles so einfach.

Pippa drehte sich zu mir und flüsterte: »Willst du kurz hier raus?« Ich schielte von meinem Platz auf dem Bett aus unsicher zu ihrer Mom. »Sie merkt nichts, glaub es mir. Wir haben mindestens eine halbe Stunde, bis sie fertig ist.«

Ich folgte ihr achselzuckend aus unserem Wohnheimzimmer und griff nur für den Fall eines Falles nach meinen in der Tür steckenden Schlüsseln.

Für Anfang September herrschte noch strahlender Sonnenschein, und die Nähe zu meiner Heimatstadt ließ mich Wehmut ein- und Aufregung ausatmen.

»Wo kommst du her?«, fragte ich, als wir einen Bogen um einen Typen ohne Hemd machten, der aus einem ein paar Türen von unserem entfernten hohen Gebäude eine Matratze auf dem Kopf heraustrug. Pippa riss ihre geweiteten Augen von der nackten Brust des Typen los und sah mich an. »Willowmina.«

»Also ganz in der Nähe. Wo liegt das? Ungefähr drei Stunden in nördlicher Richtung?«

Sie nickte und fragte dann: »Und du?«

»Ursprünglich aus Clarelle. Bin vor ein paar Jahren nach Watson gezogen.«

»Wolltest du näher bei Clarelle sein?«

»So was in der Art.« Ich hob eine Schulter. Meine Brust füllte sich mit Seifenblasen aus Nervosität und Hoffnung . Ich schluckte sie hinunter und spürte, wie sie in meinem Magen erneut zum Leben erwachten, als wir uns einer Gruppe junger Männer auf dem Bürgersteig näherten, die einen Football hin und her warfen, sich unterhielten und lachten.

Meine Augen wurden groß, während sie verzweifelt nach dem einen Ausschau hielten, nach dessen Anblick sie sich seit zwei Jahren sehnten. Da ich merkte, dass ich die Jungs angestarrt hatte, zwinkerte ich mehrmals, als wir an ihnen vorbeischlenderten und Pfiffe und Johlen uns folgten.

Wo bist du?

»Muss eines von den Männerwohnheimen sein«, vermutete Pippa nach einem flüchtigen Blick über ihre Schulter. Dann zog sie eine Dose Pfefferminzbonbons aus der Tasche, klappte sie auf und hielt sie mir hin. »Was für frischen Atem?«

»Danke, jetzt nicht.«

Mit einem Schulterzucken schob sie sich ein paar in den Mund. »Es ist ein bisschen schräg, ständig das Zeug zu futtern, ich weiß.« Sie steckte die Dose wieder weg. »Aber ich lege sie mir gern unter die Zunge. Ich bin süchtig nach dem Brennen.«

»Dann magst du auch Saures?«

Sie zog die Nase kraus. »Igitt, nein.«

»Oh. Okay.«

Wir liefen noch fünf Minuten, bis wir den Außenbezirk des Universitätsgeländes erreichten, überquerten die Straße und stießen auf eine Reihe von Läden. Obwohl wir nicht viel redeten und ich Pippa noch nicht wirklich kannte, fühlte ich mich in ihrer Gesellschaft wohl.

Ich wusste nicht, was ich, Tage, bevor die Vorlesungen begannen, erwartet hatte. Vielleicht überall Massen von Studenten. Viele waren schon da, doch bei Gray Springs handelte es sich im Vergleich zu den meisten anderen um eine relativ kleine Uni, in deren Mittelpunkt das Footballteam, die Tomahawks, stand. Ich nahm an, dass die meisten Leute noch früher angekommen waren als wir.

Pippa blieb vor einer Eisdiele mit einem Schild im Fenster stehen, das verkündete, dass eine Aushilfe gesucht wurde. »Hast du was dagegen, wenn ich kurz reinspringe und mir ein Bewerbungsformular hole?«

Der Wind löste ein paar Haarsträhnen aus meinem Knoten; sie kitzelten mich an Lippen und Wangen, bevor ich sie zurückstrich. Ich blickte durch das Glasfenster. »Ganz und gar nicht. Ich warte da drüben.«

Ich setzte mich auf ein Sandsteinmäuerchen, das ein Gartenbeet umgab, und beobachtete Pippa durch die Fenster, als sie auf eine bonbonrosa Theke zuging und mit einem Mann sprach, der einen niedlichen altmodischen Hut trug.

Die Sonne veränderte ihre Farbe, als der Nachmittag in den frühen Abend überging. Ich krallte die Hände in den Rock meines Kleides, weil es mich in den Fingern juckte, das über die großen Backsteingebäude tanzende goldorangefarbene Licht auf meinem Zeichenblock festzuhalten. Die satten Grünflächen der Gärten waren mit Blumen in fast allen Farben übersät. Ich machte mir eine geistige Notiz, das zu tun, bevor die Kurse begannen und der Herbst den Campus dieser bunten Vielfalt beraubte, um dem Winter den Weg zu bereiten.

Ein kicherndes Mädchen kam vorbei und zog seinen Freund hinter sich her. Mit einem Stechen in der Brust holte ich tief Atem und stieß ihn langsam wieder aus.

Was, wenn er nach all dieser Zeit beschlossen hatte, doch nicht herzukommen?

Es kam mir inzwischen wie ein Schuss ins Blaue vor, einfach hier aufzutauchen. Als wäre es uns seit jeher vorbestimmt, dass wir uns wiedertrafen und unseren Weg in die Zukunft fortsetzten. Gemeinsam.

Ich war ein bisschen naiv – immer gewesen – und von albernen Vorstellungen und entschieden zu viel Vertrauen erfüllt. Aber es ging um Quinn. Wenn es jemanden gab, dem ich mein Vertrauen schenken und bei dem ich mein Herz so lange zurücklassen konnte, dann war er es.

Immer nur er.

»Sorry.« Pippa trat wieder ins Freie. »Aber er hat gesagt, er könnte mir wahrscheinlich einen Teilzeitjob geben. Ich muss nur meinen Stundenplan noch einmal checken.«

Ich stand da und lächelte dieses Mädchen an, das noch keine Freundin, aber auch keine völlig Fremde mehr war. »Na, das ist ja gut gelaufen. Wer mag schon kein Eis?«

»Oder?« Sie klatschte in die Hände und zerriss dabei fast ihren Bewerbungsbogen. »Ups, Scheiße.«

Ich wandte mich lachend wieder zum Campus. »Deine halbe Stunde ist vermutlich beinahe um.«

»Oh, richtig.«

Wir gingen zum Wohnheim zurück, wo Pippa ihrer Mutter von dem Job in der Eisdiele berichtete, die dann darauf bestand, mit uns beiden essen zu gehen, bevor sie wieder fuhr.

»Ich lieber nicht, danke«, wehrte ich ab. »Ich habe zum Lunch zu viel gegessen.« Das stimmte, und ich wollte bei der wenigen Zeit, die Pippa vielleicht für Monate noch mit ihrer Mom verbringen konnte, nicht stören. Außerdem wusste ich, dass ich mich fehl am Platz fühlen würde, weil ich sie noch nicht gut kannte und all das. Ich brauchte auch Zeit, um alles einsinken zu lassen – die neue Umgebung, meine Gefühle und das Herzrasen, das sich immer dann einstellte, wenn ich zu weit in die Zukunft dachte. Es gab nichts, was ich tun konnte. Wenn ich ihn nicht beim Immatrikulationsamt ausschnüffeln wollte, falls mir das überhaupt gestattet war, würde ich mich einfach in Geduld üben müssen. Dazu kam, dass mich mein sentimentales Herz zu dem Schluss verleitete, es wäre viel romantischer, wenn wir uns zufällig wiederbegegneten.

Falls man es als bloßen Zufall betrachten konnte, dasselbe College zu besuchen, so, wie wir es immer geplant hatten.

Ich griff nach meinem Skizzenblock, zog den fadenscheinigen weißen Vorhang vor dem Fenster neben meinem Bett zurück, blickte hinaus und zeichnete, während das Licht am Himmel verblasste und die Straßenlampen gelbe Pfützen auf den Bürgersteig warfen.

Nachdem ich mich in die Dusche gewagt und erleichtert festgestellt hatte, dass es dort durchaus Privatsphäre gab, auch wenn ein seltsames Gefühl blieb, lag ich wieder auf dem Bett, als Pippa zurückkam.

»Jesus. Ich dachte schon, sie würde nie nach Hause fahren.« Sie schleuderte ihre Ballerinas von sich und schloss die Tür hinter sich.

Ich setzte mich auf, klappte meinen Block zu und schaltete die Musik auf meinem Handy aus. »Hat sie versucht, dich wieder mit zurückzunehmen?«

Sie lachte, warf sich mit dem Gesicht nach unten auf ihr frisch gemachtes Bett und stützte sich auf einen Ellbogen, um mich anzusehen. »Viel hätte nicht gefehlt.« Nach ein paar Sekunden wurde ihr Lächeln traurig. »Macht mich das zu einem Weichei? Wenn ich sie jetzt schon …«

»Vermisse?« Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es macht dich zu einer Tochter, die ihre Mom liebt.«

Sie starrte mich einen Moment an. »Wir werden Freundinnen werden, du und ich.«

»Yeah?« Ich zog die Beine unter mich.

»Yep.« Sie verschluckte das p. »Ich dachte, ich würde bei einer fürchterlichen Mitbewohnerin landen, weißt du, so einer, von denen man so hört oder die man in Filmen sieht.«

»Ich auch«, gab ich zu.

»Uns bleibt ja noch Zeit.« Sie hob eine schmale braune Braue.

Ich nickte lachend. »Ich bin keine Ordentlichkeitsfanatikerin. Ich halte alles sauber, aber ich mag ein bisschen Durcheinander.«

Pippa rümpfte die Nase. »Ugh, nein.«

»Man hat mir auch gesagt, ich würde schnarchen, wenn ich die Nacht zuvor nicht genug geschlafen habe.«

Sie grinste. »Das dämpfe ich mit einem Kissen.«

»Du könntest mich umbringen.«

Sie drehte sich auf den Rücken. »Nicht, wenn ich es richtig mache.«

Wir lachten beide, und ich ließ mich wieder nach hinten sinken und starrte die Rauputzdecke an.

»Manchmal rede ich im Schlaf«, sagte Pippa eine Minute später.

»Ich schlafe tief und fest.«

»Ich bin ein Ordnungsfanatiker. Wahrscheinlich räume ich deinen Kram weg, und du fragst dich, wo er abgeblieben ist.«

»Das könnte ein Problem werden, je nachdem, um was es sich handelt.«

Sie summte. »Ich löse auch gerne Kreuzworträtsel und Silbenrätsel mit dem Bleistift. Ich werde jeden Bleistift klauen, den ich herumliegen sehe.«

Jetzt schnappte ich nach Luft. »Oh, sicher nicht.« Ich zog meine Nachttischschublade auf, in der die Bleistifte und Pinsel umherrollten. »Die hier kosten ein Vermögen. Pfoten weg, Lady.«

Kichernd erkundigte sie sich: »Kunst als Hauptfach?«

»Wie bist du da nur drauf gekommen?«, fragte ich trocken, schloss die Schublade und legte mich wieder hin.

»Abgesehen von den Stiften und Pinseln hast du so eine Ausstrahlung.«

Ausstrahlung? »Kannst du in Menschen hineinschauen oder so?«

»Meine Großmutter hat sich gerne mit Zukunftsvorhersagen und was weiß ich noch beschäftigt. Sie war ein bisschen verschroben.« Sie zupfte an ihrer Nagelhaut herum. »Sie sagte, man kann viel über einen Menschen erfahren, wenn man ihn genau beobachtet. Seine Haltung, seine Gesten, die Art, wie er auftritt. Solches Zeug eben.«

»Interessant.«

»Lieblingsfilm?«, fragte sie.

»Der König der Löwen. Und deiner?«

»Oh, Simba ist knallhart. Meiner? Ähmm, Anchorman

»Gute Wahl. Und jetzt verrat mir, wie du gerade auf Gray Springs gekommen bist.«

»Von dem Teilstipendium mal abgesehen?« Sie zögerte. »Würdest du mir glauben, wenn ich sage, es hat sich einfach richtig angefühlt? Ich habe die Broschüren und Bilder gesehen und es gespürt. Dass ich hierher gehen muss.«

»Das glaube ich dir.«

Eine Minute lang breitete sich Schweigen in dem kleinen Zimmer aus. »Keine Freunde, neue Leute. Eigentlich verrückt.«

»Total verrückt«, bestätigte ich. Mein Pulsschlag beschleunigte sich.

»Kennst du hier auch niemanden?«

Ich rollte mich auf die Seite und überlegte, wie viel ich meiner neuen Freundin anvertrauen sollte. Dann beschloss ich, mit der Wahrheit herauszurücken, um festzustellen, wie sie sich anfühlte und klang. Ich fragte mich, ob andere mich auch für verrückt halten würden. »Vielleicht kenne ich jemanden. Einen Typen.«

Sie wälzte sich herum, um mich anzusehen. Ihre grünen Augen leuchteten interessiert auf. »Weiter …«

»Er, na ja, er ist mein bester Freund. War, ist, ich weiß es nicht. Wir sind zusammen aufgewachsen, die klassische Geschichte von einer Kinderfreundschaft, aus der die erste Liebe wird. Wir haben verabredet, nach der Highschool hierherzukommen.«

»Dann bist du weggezogen.«

»Dann bin ich weggezogen.« Ich ließ das flaue Gefühl in meinem Magen einen Moment lang flattern, dann seufzte ich tief. »Seitdem habe ich ihn nicht mehr wiedergesehen. Alles blieb irgendwie unvollendet, aber ich kam einfach nicht damit klar.«

Pippa rückte das blaue Kissen unter ihrer Wange zurecht. »Womit nicht?«

»Mit dieser Fernbeziehungssache. Es hat mich fertiggemacht. Es war, als ob …« Sie wartete, während ich nach Worten suchte, um das Gefühl treffend zu beschreiben. »Als ob die Distanz zwischen uns jedes Mal, wenn wir telefonierten, greifbarer wurde und wir uns immer mehr voneinander entfernten. Irgendwann nahmen mir meine Eltern mein Telefon weg, und als ich es zurückbekam und es einschaltete, stellte ich fest, dass er kaum versucht hatte, sich mit mir in Verbindung zu setzen.«

Sie zuckte zusammen. »Autsch, das ist ziemlich heftig. Was hast du gemacht?«

»Ich bin wütend geworden. Ich wollte nicht, dass das mit uns zu Ende geht, einfach so, wegen mangelnden Interesses und räumlicher Entfernung. Ich habe meine Nummer geändert und beschlossen, es ihm, wenn er mich schon so leicht vergisst, umso schwerer zu machen, mich zu finden, wenn ihm schließlich doch noch der Sinn danach steht. Allerdings hat es nicht lange gedauert, bis ich das bereut habe.« Pippas cremeweißes Gesicht drückte Mitgefühl aus, das ich aufsog und schluckte, als ich mich an diese dunklen Tage erinnerte. »Es hat mich verändert. Ich war … ich versinke nicht leicht in Kummer oder bin am Boden zerstört. Dazu bin ich nicht der Typ. Aber ich wusste nicht, was mit mir passiert. Also habe ich mich mit meinen Eltern und meiner Freundin Alexis, zu der ich noch Kontakt hatte, zu Hause besprochen und mich danach komplett zurückgezogen.«

»Und da glaubst du, er hat an dem Entschluss festgehalten, hier das College zu besuchen?«

Das war der Teil, der mir Angst einjagte. Was, wenn er das nicht tat? Dann lässt er es eben bleiben. Ich würde ein für alle Mal darüber hinwegkommen müssen. Nur konnte ich es trotz allem nicht glauben. »Wir haben es uns versprochen. Und ich habe mir versprochen, dass alles okay wäre, wenn ich mich am Riemen reißen, meine Ängste überwinden und das Mädchen bleiben würde, von dem er mal gesagt hat, er würde es lieben.« Ich lachte humorlos auf. »Klingt so kitschig und blöd, was? Wer tut schon so was?«

Stimmen drangen aus dem Flur zu uns, Türen wurden geknallt, während wir beide einen Moment lang unseren Gedanken der Unsicherheit nachhingen. Neues Leben, neuer Anfang und eine Chance schwinden Funken neues Leben.

»Ein mutiges Mädchen, das sein Herz an jemanden verschenkt hat, von dem es geglaubt hat, er wäre es wert. So jemand tut so etwas«, erwiderte Pippa schließlich.

Eine Träne schlängelte sich an meiner Wange hinunter, als ich sie anlächelte und ihre Worte von vorhin wiederholte. »Wir werden Freundinnen werden, du und ich.«

Drei


Daisy, neun Jahre alt

»Du tust gut daran, vor Einbruch der Dunkelheit zurück zu sein, Missy, oder ich muss dich das ganze Wochenende im Haus behalten, hörst du?«, schimpfte meine Mama von der Veranda unseres kleinen Cottage, das inmitten von Wildblumen, längst vergessenen Gärten und Kornfeldern stand.

»Werde ich!« Ich hüpfte die Stufen hinunter, sprang auf mein Fahrrad und folgte dem staubigen Feldweg ein paar Minuten lang, bis ich den Eingang zum Grundstück der Burnells erreichte.

Rein technisch betrachtet waren sie unsere Nachbarn, obwohl ich zu Fuß zehn Minuten brauchen würde, um zu ihnen zu gelangen. Ihre Farm war groß, denn Quinns Daddy war ein Milchfarmer, und auf ihren Feldern gab es Vieh und Heuballen, so weit das Auge reichte.

Ich winkte Quinns Mom zu, die mit ihrem Buch und einer Tasse Tee auf der Veranda saß, und fuhr um die Ecke des Hauses herum, bis ich zu der Leiter kam.

Quinn hatte sie vor mehr als einem Jahr dort aufgestellt, um es mir leichter zu machen, zu kommen und zu gehen, wie es mir beliebte.

Sein Dad war nicht begeistert und sagte zu ihm, ich sollte einfach die Vordertür benutzen. Aber dann warf seine Mom ihm einen Blick zu, der bewirkte, dass er sie sogar an Quinns Fenster befestigte, damit die Gefahr eines Sturzes für mich geringer wurde.

Ich stellte die Füße auf die Sprossen, kletterte hoch und hielt inne, als mein Kopf den oberen Rand erreichte. Sein Fenster stand einen Spaltbreit offen, gerade so weit, dass ich ihn leise etwas von wiederholten Aufprallgeräuschen Begleitetes summen hören konnte.

Ich reckte mich, spähte in sein Zimmer und sah ihn auf dem Bett liegen und seinen Football über seinen Kopf fliegen, bevor er wieder in seiner Hand landete. Wieder und wieder.

Ich stieß das Fenster ganz auf. »Buh!«

»Wusste, dass du da bist«, nuschelte er, ohne den Kopf zu drehen.

Ich ließ mich auf den Teppich in seinem Zimmer fallen, legte den Kopf schief und beobachtete ihn, bevor ich aufstand und mich auf sein Bett setzte. »Warum so trübe, Rübe?«

Dann nahm ich ihm den Ball ab und musterte ihn stirnrunzelnd, ehe ich ihn warf. Es gelang mir nicht, ihn wieder aufzufangen.

»Glitschige Finger.« Er kicherte und rollte sich auf die Seite, um ihn vom Boden neben seinem Bett aufzuheben. »Und ich habe keine schlechte Laune oder so. Bin nur müde.«

Ich rutschte näher an ihn heran, bis ich mit dem Rücken gegen die Wand stieß und meine Beine seitlich über seinen Schienbeinen lagen. »Training?«

Er nickte und heftete seine haselnussbraunen Augen auf mich. »Ich weiß noch nicht einmal, ob ich es dieses Jahr ins Team schaffe.«

Mit einem spöttischen Lächeln pikte ich ihn so fest in die Brust, dass er lächelte. »Du schaffst das, Q-tip, das weißt du. Warte nur, du wirst gedraftet, sobald du nach Gray Springs kommst.«

Er summte wieder. »Lieber nicht, du hast mir doch versprochen mitzukommen. Also werde ich genug damit zu tun haben, auf dich zu warten.«

Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich das vertraute Versprechen hörte, das wir uns vor einigen Jahren gegeben hatten, als wir kaum wussten, was das College überhaupt war. Wenn ich ehrlich war, verstand ich es immer noch nicht richtig. Ich wusste nur, dass ich genau dorthin gehen musste. »Das solltest du auch.«

»Du weißt, dass ich das tun werde.« Er griff nach meiner Hand, zog sie näher zu sich heran und betrachtete sie. »Hast du heute im Matheunterricht wieder gezeichnet?«

Verwirrt blickte ich auf meine Hand. Er strich mit dem Finger sanft über die Kohleflecken auf meiner Handfläche. »Lass das«, kicherte ich. Mein Gesicht rötete sich bei dem prickelnden Gefühl, das seine Berührung in meinem Magen auslöste.

Er runzelte die Stirn, als ich die Hand wegzog, gab sie aber widerstandslos frei. »Was hast du denn gezeichnet?«

Dich. Aber das sagte ich nicht. Ich hatte im Lauf der Jahre vieles gezeichnet, aber er ging mir immer am leichtesten von der Hand. Mama pflegte mich damit aufzuziehen, dass es immer einfach wäre, etwas zu erschaffen, wenn das Herz beteiligt war.

»Frederick«, log ich, dabei wich ich seinem Blick aus.

»Quinn! Daisy!«, rief seine Mom. »Alexis ist da!«

Ich lächelte, als Quinn finster das Gesicht verzog. Ich wusste, dass er heute nicht in der Stimmung für Gesellschaft war, aber damit kam er bei mir nicht durch. Außerdem verbrachten wir so viel Zeit miteinander, dass unsere Eltern schon witzelten, wir würden im Haus des jeweils anderen zu einem Teil des Mobiliars werden. Deswegen glaubte ich nicht, dass ich wirklich als Besuch zählte.

Alexis stieß die Tür auf. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu einem festen Knoten geschlungen, und ihre blauen Augen glitzerten, als sie lächelte. »Hey.« Sie schloss die Tür, setzte sich auf den Boden und zog ihre Hausarbeiten hervor.

Wir sprachen nicht darüber, aber wir wussten, dass die Familie Brooks einen Ruf hatte. Alexis´ Mom arbeitete in der Bar der Stadt, und ihr Dad saß zu Hause herum und vertrank das sauer verdiente Geld ihrer Mom.

Trotzdem war Alexis in der Schule allgemein beliebt; sie war zu hübsch, um es nicht zu sein. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie mit uns herumhing, weil wir über ihre häusliche Situation Bescheid wussten und uns dennoch kein Urteil anmaßten. Nein, stattdessen schickten unsere Moms sie mit Snacks und einem vollen Bauch nach Hause, wenn sie sich rechtzeitig zum Essen einfand.

Ihre Zunge konnte manchmal ein bisschen scharf sein, aber sie war meine Freundin und trat immer für mich ein, wenn jemand versuchte, mir Ärger zu machen, und Quinn nicht in der Nähe war.

Ich schob meine Brille höher auf meine Nase und fragte: »Mathe?«

Alexis stöhnte. »Ja. Ich schwöre, dass sie uns diesen Mist schon voriges Jahr beigebracht haben.«

»Höchstwahrscheinlich«, meinte Quinn und warf seinen Football erneut in die Luft.

Ich beugte mich über ihn zu seinem Nachttisch hinüber, zog die Schublade auf und nahm den Zeichenblock, den ich dort aufbewahrte, nebst Bleistift heraus. Wenn sie langweilig werden wollten, würde ich eben zeichnen.

Meine Mom sagte immer, dass ich jede verfügbare Fläche bemalt hatte, sowie ich einen Wachsmalstift halten konnte. Meine Eltern schrieben es dem Umstand zu, dass ich mich leicht langweilte. Ich stimmte ihnen da in gewisser Hinsicht zu, aber eigentlich saß ich nur nicht gerne untätig herum. Ich hatte nie gern gelesen oder übermäßig viel ferngesehen, also wurden Zeichnen und Malen zu meinem Hobby.

»Wo hast du das Bild hingetan, das du letzte Woche für mich gemacht hast?«, fragte Alexis eine Weile später.

Ich blickte von den verwischten Linien des Footballs auf, den ich gezeichnet hatte, und zwinkerte. »Was?«

Alexis streckte die Beine aus und setzte sich dann wieder in den Schneidersitz. »Du weißt schon, das, das du von mir gemalt hast.«

»Oh.« Ich erinnerte mich vage daran, es in der Pause in eines ihrer Bücher gelegt zu haben, und sagte ihr das.

Ihre blauen Augen schienen sich vor Kummer zu umwölken, ihre Brust hob sich mit einem leisen Seufzer.

»Was ist?«, fragte ich, spähte zu Quinn hinüber und sah, dass er tief und fest schlief. Hmm, er musste wirklich müde gewesen sein.

»Nichts.« Sie griff nach ihrem Papierbogen und überprüfte ihre fertigen Antworten. Alexis war intelligent, aber sie musste sich anstrengen; ihr flog nicht alles einfach so zu. Sie nahm die Schule so ernst, dass Quinn ihr einmal gesagt hatte, es wäre nur die Grundschule, und sie sollte es vielleicht lockerer angehen lassen, solange sie das noch konnte.

Sie hatte ihn nur mit einem harten Blick gemustert und geantwortet, sie täte gut daran, sich jetzt schon auf die Highschool vorzubereiten, wenn sie nicht komplett dämlich wäre.

Das brachte ihn zum Schweigen.

Aber ich konnte nicht lockerlassen. Irgendetwas an dem melancholischen Ausdruck, der über ihr Gesicht huschte, löste in mir den Wunsch aus, den Grund dafür herauszufinden. Ich kletterte vom Bett und setzte mich neben sie auf den Boden. Quinns Schnarchen erfüllte den Raum.

Dann nahm ich ihre Hand und drückte sie leicht. Sie betrachtete die Flecken auf meinen Händen, zog ihre aber nicht weg. »Erzähl es mir.«

Sie zog die Lippen zwischen die Zähne, sah mir in die Augen und erwiderte ruhig: »Mein Dad hat letzte Woche seinen Bourbon über mein Englischbuch verschüttet.« Ich runzelte die Stirn, weil ich mich an ihrer Stelle ärgerte, und sie fuhr fort: »Du sagtest, du hättest das Bild in eines meiner Bücher getan.«

»Oh«, schnaubte ich und zuckte dann entschuldigend zusammen. »Scheiße.«

»Yeah, es war total durchweicht. Mir blieb nichts anderes übrig, als es in den Müll zu werfen.«

»Ich male dir ein Neues.« Ich nickte eifrig; war bereit, alles zu tun, um die Enttäuschung auszulöschen, die in bitteren Wellen von ihr ausging.

Ihre Augen wurden feucht. »Das … das würdest du tun?«

Ich gab ihre Hand frei und schob meine Brille wieder auf meinen Nasenrücken hoch. »Mist, ich muss die reparieren lassen.«

Alexis kicherte. »Wenn du das tun willst, darfst du aber nicht vergessen, vorher deine Mom zu fragen.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Stimmt.«

Sie streckte lächelnd die Hand aus, um mein neues rotes Brillengestell zurechtzurücken. »Mir gefällt diese Brille. Damit siehst du so …«

»Clever aus?« Ich wackelte mit den Brauen. »Über meine Jahre hinaus reif und weise?« Dann ließ ich die Schultern hängen und murmelte: »Oder einfach nur bescheuert.«

Ich hatte seit Jahren immer rote Brillengestelle bekommen. Zwar wusste ich, dass ich irgendwann einmal damit Schluss machen sollte, weil ich kein kleines Kind mehr war, aber jetzt brachte ich das noch nicht fertig.

»Bescheuert? Niemals.« Auf ihr weiches Lächeln folgte ein Zwinkern. »Aber ja, sie lässt dich schon clever wirken.«

Ich grinste, fing vor Lachen an zu prusten und blickte dann rasch zum Bett hinüber, um mich zu vergewissern, dass ich Quinn nicht geweckt hatte. »Ich bringe dir morgen ein neues Bild mit, okay?«

Alexis starrte mich nur an, aber nach einem Moment legte sie mir die Arme um die Schultern. Wir plumpsten auf den Boden und kicherten, bis wir hörten, wie Amy, Quinns Mom, uns zum Dinner rief.

Wir standen beide auf, und ich sah Quinn an. »Sollen wir ihn wecken?«

Alexis schaute ebenfalls zu ihm hinüber, dann mit einem Feixen zu mir und schlang einen Arm um meine Schultern. »Nö.«