Granatapfeltage

»Und das hält, was es verspricht?«

»Das hält.«

Ich streiche mit den Fingern über die raue Oberfläche. Noch stehen viele Haare ab, aber Sophie hat versprochen, mir später mit einer Häkelnadel alle kleine Härchen in den Dread zu ziehen. Mein erster Dread.

Sophie trennt eine weitere Haarsträhne meiner braunen Locken ab und beginnt die Strähne zu toupieren. Es ziept. Eine Zigarette klemmt zwischen ihren Zähnen, während sie konzentriert auf meinen Kopf starrt. Sie zieht an meiner Kopfhaut, ich habe noch Sonnenbrand von den vielen Tagen, die ich am See verbracht habe. Sophies Stängel verglimmt und ein feiner Rauchfaden steigt zur Zimmerdecke auf. Ich kann mich noch immer nicht daran gewöhnen, dass sie jetzt raucht.

Eine Weile arbeitet sie schweigend weiter.

»Willst du Musik hören?«, frage ich und beobachte sie im Spiegel. Sie greift nach einer großen Holzperle und zieht sie auf den unfertigen Dread, ehe sie fortfährt. Sie ist zu konzentriert, um meine Worte zu beachten. Ich genieße also weiter die Stille und male Bilder in meinem Kopf.

»Auch eine Feder?«, fragt sie irgendwann und greift nach einer kleinen Dose, gefüllt mit Perlen, Bändern und Federn. Ich überlege.

»Nee, danke.«

»Sicher?«

»Bin ich ein Vogel?!«

Sophie zuckt die Schultern und hält kurz inne. Sie schwitzt, die spätsommerliche Sonne hat mein Zimmer unterm Dach während der letzten Stunden stark aufgeheizt.

Sie bemerkt ihre halbfertig gerauchte Zigarette und schielt rüber zur Uhr über meiner Tür. Pink mit Einhörnern. Schrecklich! Aber als Neunjährige kam sie mir wie die wundervollste Uhr vor, die sich ein Mädchen zum Geburtstag wünschen kann.

»Machen wir eine Pause?«, fragt Sophie und lässt mein Haar los. Stattdessen kramt sie in ihrer Bauchtasche nach dem Feuerzeug und reißt die Fenster auf. Sie setzt sich in den Rahmen und blinzelt in die Sonne. Schon wieder vergisst sie, ihre Zigarette anzuzünden. »Klar«, sage ich und muss mir ein Lächeln verkneifen. Eine ausgemachte Raucherin wird sie wohl nie werden. Wahrscheinlich wieder eine Phase, so wie der Apfel-Cidre. Oder der grüne Lidschatten. Oder die Festivalbändchen.

Ich sehe aus wie Struwwelpeter. Irgendwie ungepflegt und unfertig. Mein Gesicht ist rot, mein Top ein wenig verschwitzt und überall stehen zerbrochene Härchen ab. Ich hoffe, sie bekommt das mit der Häkelnadel am Ende tatsächlich hin!

Ich schiebe meinen Sitzsack zu Sophie ans Fenster. Im Gegensatz zu mir passt sie gut in die Fensterhöhle, zierlich und schmal wie sie ist. Sie lehnt den Kopf gegen den weißen Holzrahmen und schließt die Augen. Ihr schulterlanges Haar sieht aus wie Sonnenstrahlen, es ist heute noch etwas buschiger als sonst.

»Erzählst du mir noch mal von Portugal?«, frage ich und krame in ihrer Perlendose, um mir mehr von dem Schmuck auszusuchen.

Sophie öffnet die Augen und guckt mich wieder an.

»Was willst du hören?«

»Die Geschichte vom ersten.«

»Vom ersten?«

»Na ja, vom ersten der sechs.«

»Ist aber die schönste Geschichte, sicher, dass ich die nicht für ein anderes Mal aufheben soll?«

»Nein, jetzt.«

»Na gut.«

Umständlich rückt sie sich zurecht und lässt die Füße in mein Zimmer baumeln. Sie setzt ihr Geschichtengesicht auf. Sophie ist eine richtige Märchenfrau, nur dass im Gegensatz zu Märchen ihre Erzählungen wahr sind. Sie liebt es, diese zu teilen, zumindest mit mir. Und ich höre gerne zu. Ihr Leben ist so viel aufregender als das meine.

»Also, es war mein erster Abend in Lissabon. Ich war froh, überhaupt einen Couchsurfer gefunden zu haben und nach den mehr oder minder schönen Geschichten der letzten Schlafmöglichkeiten ließ ich mich also trotzdem auf eine Übernachtung bei einem Kerl ein.«

Ich glaube, Sophie ist deutlich abenteuerlustiger als ich. Aber dessen bin ich mir schon seit der Grundschule bewusst.

»Ich konnte spontan doch nicht bei ihm übernachten, weil seine Familie überraschenderweise früher aus dem Urlaub kam, als geplant. Und deswegen bot er mir an, mir den Strand zu zeigen und dann ein Hostel für mich zu suchen.«

»Und auch zu zahlen?«

»Ja, auch das. Er meinte, er habe mir ja einen Schlafplatz versprochen.«

Ich hole eine kleine gelbe Muschel mit Loch aus Sophies Kästchen und halte sie ihr hin.

»Kannst du mir die reinflechten?«

Sie nickt und wischt meine Hand beiseite. Jetzt will sie ihre Geschichte loswerden.

»Am Strand war es sehr schön und wir unterhielten uns, bis es dunkel wurde. Mein Englisch war aber deutlich besser als seins. Ging trotzdem. Irgendwann sagte er zu mir, dass jetzt der letzte Bus ins Dorf führe. Ich sollte entscheiden, ob ich ins Hostel und er nach Hause gehen sollte, oder ob wir die Nacht bis zum ersten Bus am frühen Morgen zusammen am Strand verbringen wollen.«

»Und?«

»Ich entschied mich für den Strand.«

Sophies Lippen umspielt ein katzenhaftes Lächeln. Ich liebe es, wenn sie so guckt. Sie sieht dann noch jünger aus als sowieso schon. Eher wie sechzehn als wie zwanzig.

»Wir hatten eine Decke dabei und lagen die ganze Nacht wach am Strand. Es passierte weiter nichts und ich war wirklich überrascht. Er hielt mich einfach nur in den Armen und einmal küsste er mich sanft auf die Wange. Das war`s. Mehr nicht. Am frühen Morgen stieg dichter Nebel über dem Meer auf und ich habe noch nie so einen zauberhaften Moment erlebt. Sand zwischen den Zehen, Tropfen in den Haaren, übermüdet und in warmen Armen.«

»Das ist alles?«

»Nicht ganz.« Sie grinst jetzt verschmitzt und schnippt die Zigarette in unseren Garten. Geraucht hat sie nicht mehr.

»Als wir aufstanden, hatte man uns die Taschen geklaut. Ich hatte nicht mitbekommen, dass außer uns jemand hier war, und konnte es nicht fassen. Zum Glück lagen meine Wertsachen unter der Decke, aber meine Schuhe, mein Essen, alles war weg. Er versuchte mich zu trösten und schenkte mir seine Schuhe. Sie waren etwas zu groß, aber mit zwei Paar Socken passten sie mir.«

»Und dann?«

»Dann nahmen wir den ersten Bus und fuhren ins Dorf. Er küsste mich noch einmal sanft auf die Wange und meinte, dass ich eine Fee wäre. Und dann bin ich weitergetrampt.«

Ich schüttelte fasziniert den Kopf. Sophie erlebte einfach immer wahnsinnig spannende Sachen. Unfassbar! Ich bin mir unsicher, ob ich ihre Geschichten selbst erleben will, neidisch bin ich deshalb nie. Höchstens etwas enttäuscht von mir und meiner Art.

»Okay, genug pausiert!«, reißt Sophie uns zurück in mein geschmacklich fragwürdiges Kinderzimmer.

»Machen wir weiter?«

Ich nicke und zücke die Häkelnadel.

»Nein, die brauchen wir noch nicht.«

»Aber ich glaube, mir reichen so zwei oder drei Dreads.«

»Sicher, dass du nicht den ganzen Kopf voll haben möchtest?«

Ich überlege kurz, aber der Gedanke fühlt sich komisch an.

»Nein, nur drei. Und die dafür richtig schön.«

Sophie wirkt ein wenig enttäuscht und zuckt dann die Schultern. »Ich kann das. Ich habe auch Pippo Dreads gemacht.«

»Ja … nee, danke dir.«

»Ganz wie du meinst.«

Wir setzen uns erneut vor den golden umrandeten Spiegel und sie zieht weiter an meinen Haarsträhnen herum.

Es dauert eine ganze Weile, bis sie zum ersten Mal die Häkelnadel ansetzt und noch länger, ehe sie zufrieden ist. Ich muss zugeben, am Ende sehen alle drei Dreads doch sehr ordentlich und schön aus.

»Fertig!«, sagt Sophie im selben Moment, in dem meine Mutter etwas von Eis und Kirschen nach oben ruft.

»Oh!«, schreit Sophie. Sie liebt Zucker in jeglicher Form und reißt meine Zimmertür auf. Eine Sekunde später hat sie das Treppengeländer erreicht.

»Jetzt komm, Greta, das Eis schmilzt doch!«

Nur schwer kann ich mich von dem Anblick im Spiegel losreißen. Ich bin noch wie gebannt von dieser kleinen äußeren Neuerung. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass ich mich zu selten verändere.

Ich schlurfe über den Teppich in den Flur, doch Sophie ist die Treppe schon hinabgesprungen.

Ich greife nach dem Geländer und lasse meine Hände über das Holz gleiten, betrachte im Gehen die Familienfotos an der Wand. Meine Eltern, mein Bruder, meine Großeltern, Sherlock, unser Hund, und ich.

Unser Wohnzimmer ist wie immer aufgeräumt und die weißen Vorhänge blähen sich ein wenig im Wind der offenen Terrassentür. Ich trete in den Garten, die Sonne blendet mich, doch durch die Brise ist die Hitze deutlich erträglicher als oben in meinem Zimmer.

Altweibersommer würde meine Oma sagen.

Meine Mutter hat den Holztisch im Garten gedeckt, das feine russische Geschirr mit den blauen Ornamenten. Mein Vater und mein Bruder sitzen schon auf den weißen Gartenstühlen. Wenn ich es mir recht überlege, ist fast alles bei uns zu Hause weiß. Die Lieblingsfarbe meiner Mutter, sauber und unschuldig.

Sophie lässt sich auf den Stuhl am Kopfende plumpsen, zieht die Knie an und starrt mit gierigen Augen auf die frischen Kirschen, die meine Mutter auf einer Porzellanplatte mit vielen Kugeln Vanilleeis drapiert hat. Meine Mutter trägt einen hellen Sonnenhut und neigt ihren Kopf leicht meiner Freundin zu. Manchmal frage ich mich, wieso sie Sophie mit ihrem strubbligen Haar und dem Nasenring mag. Ihre Art passt eigentlich nicht in das Weltbild meiner Mutter. Aber Ausnahmen bestätigen wohl die Regel. Und Sophie ist so herzlich, jeder mag sie.

»Margarethe, mein Herzchen, setz dich«, meint meine Mutter und drückt mich sanft auf einen der letzten freien Stühle, ehe sie beginnt, die Süßspeise auf die Teller zu häufen. Bei Sophie fängt sie an. Sie bekommt die größte Portion.

Als Letztes nimmt meine Mutter sich ebenfalls einen ganz kleinen Löffel und strahlt in die Runde.

»Ich hoffe, es schmeckt euch, meine Lieben.«

Sophie hat schon längst angefangen. Ich tauche meinen Löffel in die weiche Creme, die mir auf der Zunge zerläuft. Seit meine Mutter dieses neue Küchengerät hat, probiert sie fast täglich neue Kreationen aus. Ich muss sagen, das Eis gehört zu meinen bisherigen Favoriten.

»Wunderbar, Lisbeth«, seufzt mein Vater und streichelt kurz ihre Hand.

»Danke, Bernd.«

Bilderbucheltern. Manchmal nett, manchmal zum Kotzen.

Mein Bruder sagt nichts, er schaufelt sich nur eine zweite Portion Eis auf den Teller, sortiert die Kirschen aus und schiebt sich den Löffel in den Mund. Er kann sich so etwas derzeit erlauben, die Universalerklärung meiner Mutter lautet: »Lasst nur, der Junge ist im Wachstum.«

Auch Sophie nimmt sich nach. Als ich zum großen Löffel greifen will, guckt meine Mutter mich eine Sekunde fragend an. Ich weiß, dass ich im letzten Jahr etwas zugenommen habe. Ein komisches Gefühl steigt meine Kehle hinauf und ich ziehe die Hand zurück.

Sophie kratzt ihren Teller leer und ich sehe Franz an, dass er versucht ist, sein Geschirr abzulecken, doch er widersteht und wischt die Reste nur mit dem Zeigefinger auf, als meine Mutter sich mir zuwendet und nun doch die Dreads entdeckt.

»Margarethe!«, ruft sie und ihre glatte Stirn wirft eine Sorgenfalte. »Was ist das denn?!«

»Ähm …«

»Das sind Dreads, Frau Moosbach«, springt Sophie sofort ein. »Sie haben in einigen Kulturen spirituelle oder religiöse Bedeutungen. Die meisten hier in Europa kennen sie durch die Rastafari-Bewegung. Oder sie wissen nichts darüber und tragen sie aus modischen Gründen.«

Ich liebe Sophie.

»Ah ja?«, gibt meine Mutter argwöhnisch zurück und nimmt einen der Dreads in die Hand.

»Die fühlen sich ja an wie raue Filzwürste.«

»Die Technik ist durchaus vergleichbar«, erklärt Sophie und dreht ihren Nasenring. »Eigentlich wollte ich Greta den ganzen Kopf …«

»Den ganzen Kopf?!«, ruft meine Mutter und zuckt mit ihrer Hand zurück.

»Lisbeth, bitte«, murmelt mein Vater und hebt beschwichtigend die Hände. »Wir waren doch auch mal jung. Weißt du noch, als wir uns gegenseitig die Haare mit Henna gefärbt haben, während wir in dem besetzten Haus gewohnt haben?«

Er schmunzelt.

»Du sahst damals ziemlich scharf aus, mit deinem Hexenhaar. Und ich wie Pumuckl.«

»Ach, hör doch auf«, entgegnet meine Mutter, doch ich sehe ihr an, dass sie sich ein geschmeicheltes Lächeln verkneifen muss.

»Zum Glück sind es ja erst drei, die können wir noch unkompliziert entfernen. So wirst du nie einen Job finden, Margarethe.«

»Ich habe doch noch nicht einmal einen Studienplatz«, murmle ich.

Sie putzt sich die sauberen Hände pflichtbewusst an der Serviette ab und steht auf.

»Ich hole die Schere.«

Mein Vater seufzt. »Lisbeth, lass sie doch.«

Meine Mutter ist bereits auf halbem Wege zum Haus und lässt sich nicht mehr aufhalten.

»Ich finde es hübsch«, meint Bernd zu mir und lächelt mich unter seinem Schnurrbart an.

»Greta, bist du fertig?«, fragt Sophie und spießt eine letzte Kirsche hastig mit der Kuchengabel auf.

»Denke schon.«

»Na dann los! Ehe die Schere kommt, sind wir doch längst weg.« Sie zieht mich aus meinem Stuhl und stolpert zum Gartentor.

»Bis bald, Herr Moosbach, tschüss, Franz!«

Dann reißt sie das weiße Holztörchen auf und zieht mich kichernd auf den Gehweg.

»Na, das war aber in allerletzter Sekunde«, lacht sie und ich nicke.

»Und trotzdem konnten wir das Eis deiner Mutter aufessen.«

»Gelungene Kombi«, erwidere ich und befühle einen meiner Dreads. Sie fühlen sich wirklich an wie harter Filz. Eigen, ein bisschen eklig und ziemlich, ziemlich wunderbar.

Der erste Herbsttag kommt jedes Jahr schneller, als man denkt. Er ist überraschend windig, bunt und voller Vorfreude auf die Zeit mit Tee, Kastanienmännchen und Drachen steigen.

Mittwoch hat die Sonne Sophie und mir noch auf den Pelz geschienen, während wir uns am Wannsee in der Sonne geaalt haben und Donnerstag gießt es wie aus Eimern.

Ich renne nach Hause, die Mappe mit meinen Bildern in der Hand. Zum Glück wohnen wir nahe der U-Bahn und ich trage Gummistiefel. Die Autos rasen an mir vorbei und spritzen mich mit ihrem Fahrwasser von oben bis unten nass. Egal, zu Hause werde ich heiß duschen und mich in gemütlichen Klamotten aufs Sofa kuscheln. Vielleicht läuft im Fernsehen ein Märchenfilm.

Kurz bevor ich in unsere Straße einbiege, renne ich in einen Kerl. Braune Jacke, nur wenige Zentimeter größer als ich, ich erkenne den Geruch sofort.

Meine Mappe fällt zu Boden und die entwickelten Fotos verteilen sich auf dem schmutzigen Asphalt.

»Greta!«

Ich gucke gebannt zum Boden, wo meine Fotos anfangen, auf einer entstehenden Pfütze zu schwimmen.

»Hallo, Lukas.« Einen Moment gebe ich mir noch, ehe ich aufsehe. Das dunkelbraune Haar klebt an seinen schmalen Wangen und seine Augen blicken mich weich an. »Was machst du denn hier?«

»Ich wollte dir deinen Fahrradhelm bringen, der lag noch bei uns in der Garderobe. Geht’s dir gut?«

»Bestens.«

Er hockt sich nun hin und beginnt, die feuchten Abzüge einzusammeln. Der Regen trommelt laut und unablässig auf seinen Rücken. Eine Fotografie von meinem Hund Sherlock betrachtet er eine Weile, während ein Tropfen von seiner Nase auf das Bild fällt.

»Ich vermisse unsere Spaziergänge mit dem Hund. Das war immer sehr schön.«

Ich spüre, wie mir das Blut in den Kopf schießt.

»Warum sagst du so was?«

Die Autos rauschen weiter an uns vorbei und ich bin unsicher, ob er mich verstanden hat.

Irgendwann meint er: »Keine Ahnung, das hätte ich vielleicht lassen sollen.«

Er sammelt die Reste ein und reicht mir die triefenden Aufnahmen.

»Schöne Bilder«, sagt er, kramt in seinem Beutel und reicht mir meinen Helm. Ich schaue ihm in die Augen, nicke knapp und gehe mit festem Schritt an ihm vorbei. Ich hoffe er sieht nicht, dass mir eine Träne über die Wange läuft. Zum Glück habe ich ohnehin genug Regen im Gesicht, sodass die Chancen gut stehen.

Umdrehen werde ich mich nicht, ich gehe im Stechschritt zu unserer Haustür. Erst, als ich im Flur stehe und den guten Teppich meiner Mutter volltropfe, atme ich erleichtert auf.

Ich pelle mich aus dem feuchten Pulli und möchte mich die Treppe nach oben ins Dachgeschoss schleichen, doch ich war zu laut.

»Margarethe«, flötet meine Mutter aus dem Wohnzimmer heraus. »Bitte zieh die Schuhe im Bad aus und komm dann zu uns. Wir haben eine Überraschung.«

Ich rolle mit den Augen, eine Angewohnheit, die meine Mutter seit Jahren versucht mir abzugewöhnen. Die durchweichten Chucks stelle ich ins Bad und knete meine vereinzelten Dreads. Wenn die erst mal nass sind, dauert es eine Weile, ehe die Feuchtigkeit gänzlich verschwindet. Ich wische mir mit einem Stück Klopapier über die Nase, dann atme ich einmal tief durch und drücke die Glastür zum Wohnzimmer auf.

Meine Eltern sitzen auf der weißen Ledergarnitur. Auf dem Couchtisch brennen Kerzen, ein kleiner Schokokuchen in Herzform und zwei Briefumschläge sind hübsch hindrapiert.

Die Hand meines Vaters liegt auf dem Knie meiner Mutter. Er lächelt.

Die Hand meiner Mutter liegt auf den Fingern meines Vaters. Sie strahlt.

»Margarethe, setz dich!« Sie greift zum Messer und schneidet den Kuchen in schmale Streifen.

»Ich habe gebacken, für dich, zur Feier des Tages.«

Argwöhnisch betrachte ich den Tisch. Sie drängt mir ein Stück Kuchen auf, obwohl sie normalerweise pingelig genau darauf achtet, dass ich nicht zu viel Süßkram bekomme. Ich beiße hinein, doch meine Kehle ist zu trocken, um den Rührkuchen zu schlucken, und belasse es bei dem einen Bissen.

»Na, los doch!«, sagt meine Mutter und packt die Hand meines Vaters so fest, dass er pfeifend ausatmet. »Ich bin gespannt wie ein Flitzebogen!«

»Was meinst du denn?« Ich runzle die Stirn.

»Na, die Briefe! Beide Unis haben dir endlich die Zulassungen geschickt. Du musst sie nur noch öffnen und dich für eine Uni entscheiden.«

Der Kloß in meinem Magen wird wieder groß. Jetzt ist der Moment da. Ich glaube, meine Mutter hat mehr auf ihn gewartet als ich. Ursprünglich wollte ich gar nicht studieren. Ein FSJ wäre schön gewesen, es muss ja nicht gleich eins mit schwer erziehbaren Kindern sein, wie Sophie es jetzt begonnen hat. Einfach etwas anderes nach der Schule machen. Mein Vater fand die Idee in Ordnung, meine Mutter hielt es lediglich für Zeitverschwendung. Meine zwei Unibewerbungen, beide hier in Berlin, denn laut meiner Mutter ist es günstiger und praktischer, wenn ich zu Hause wohnen bleibe, waren entsprechend etwas halbherzig.

Meine Mutter kichert und stößt meinen Vater an: »Vor uns sitzt eine zukünftige Biologin oder eine Juristin, die sich gleich für einen Studiengang entscheiden wird.«

Mit meinen Gedanken bin ich noch bei Lukas, als ich beide Briefe aufreiße. Deswegen dauert es auch mehrere Sekunden, ehe ich realisiere, was ich da in den Händen halte. Als ich es ausspreche, fällt meiner Mutter fast die Kinnlade herunter, ihr Entsetzen ist groß, noch größer als an dem Tag, an dem sie Franz zum ersten Mal aus der Milchtüte hat trinken sehen.

»Margarethe …«, flüstert sie und blickt fassungslos auf die Zettel in meinen Händen. Mein Vater räuspert sich und streichelt ihr Bein.

Ich stürme aus dem Raum, die Treppe hinauf, in mein Traumzimmer einer Neunjährigen.

Die beiden Ablehnungsbescheide lasse ich unten liegen.

Ich drehe den Fahrradhelm in den Händen, während ich meine Füße unter der Bettdecke vergrabe. Ich wusste genau, dass er noch bei Lukas lag, aber nach dem »Brief« hatte ich den Eindruck, dass er ihn mir bringen soll, nicht umgekehrt. Wahrscheinlich hatte ich einfach nur Schiss.

Das mit der Uni ist mies. Klar, so richtig viel Lust hatte ich zwar nicht, aber jetzt habe ich keinen Plan mehr bis zum nächsten Semester. Super. Ich hasse es, wenn ich keine Aufgabe habe, ich hasse es, dafür halte ich die Zeit mit mir allein einfach zu schlecht aus. Ich betrachte den Fahrradhelm. Er ist etwas Besonderes, denn Lukas hat ihn mir vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt, als alles noch gut war.

Wir wollten immer mit dem Rad nach Spanien fahren, so ein gemeinsamer, kindischer Traum. Doch dann kam unser Abi, seine Studienpläne, und es kam die Idee, ein anderes Leben zu führen und damit war es vorbei mit träumen.

Erneut rollt mir eine Träne die Wange hinab und tropft auf die Plastikschale des Helms. So etwas Dummes!

Jetzt stehe ich da, ohne Studienplatz und ohne Fahrradreise. Wahnsinn. Wäre ich Sophie, würde ich die Gelegenheit beim Schopf packen, das Ganze als schicksalhaftes Zeichen deuten und alleine losradeln. Aber ich bin nicht Sophie.

Als ich sie anrufe, sagt sie mir genau das. Ich kenne sie gut, meine Freundin aus der Grundschule.

»Hast du Lust, zu mir zu kommen?«, fragt sie mich durchs Telefon.

»Wir können Sims spielen oder irgendetwas anderes Dämliches aus Kindertagen machen, das dich aufbaut.«

Ich denke kurz nach. Alles ist besser, als in meinem rosa Zimmer zu sitzen, zu weinen und mich dann doch der Enttäuschung meiner Mutter zu stellen.

»Okay«, murmle ich.

»Was sagst du?«

»Okay.«

»Ich kann dich nicht verstehen. Sei lauter, sei überzeugter.«

»Okay!«

»Sag Ja!«

»Ja!«, brülle ich in den Hörer und muss plötzlich doch lachen. Ich liebe sie einfach.

»Ich nehme die nächste U-Bahn, dann bin ich da.«

»Nein, du schnappst dir deinen Helm und radelst hierher.«

»Okay.«

»Wie heißt das?«

»Ja!«

Am Ende des Tages haben wir tatsächlich mehrere Stunden Sims gespielt, Freundschaftsbänder geknüpft und geschätzte zehn Kilo Schokopudding sowie eine Flasche Sekt verputzt.

Es lebe die Freundschaft!

Ich mag Sophies Küche, seitdem ich sie zum ersten Mal beim Streichen betreten habe. Das ist jetzt drei Jahre her. Sie ist schmal, hell und eine typische WG-Küche.

Das T-Shirt, das ich mir über die angezogenen Knie ziehe, ist viel zu groß und gehörte sicher einem von Sophies unzähligen Exfreunden. Ich frage nicht nach, welchem von ihnen.

»Und, Kater-Kaffee?« Sophie drückt mir eine dampfende Tasse in die Hand. Ich wärme meine klammen Finger daran und schlürfe einen heißen Schluck. Wenn ich Alkohol trinke, ist mir den ganzen Tag lang danach kalt.

Beinahe verbrennt mir Sophies Gebräu die Kehle und ich spucke es zurück in die Tasse.

»Meine Mutter macht mir die Hölle heiß, sie findet eh, dass ich mit neunzehn schon ziemlich alt zum Studieren bin.«

»Was?!«, Sophie setzt sich zu mir und trinkt ihren Kaffee in schnellen Zügen. Ihr macht die Hitze offenbar nichts aus.

»Schau mich an, was auch immer ich nach dem FSJ mache, ich werde mindestens einundzwanzig sein und damit trotzdem blutjung!«

»Aber was soll ich denn jetzt mit den Monaten bis zur nächsten Bewerberrunde machen?«

»Etwas anderes.«

»Was denn?«

»Malen, tanzen, den Vögeln zuhören, lesen, Sport, reisen … was ist mit der Radtour nach Spanien?«

»Ach.«

Ich schnippe eine Rosine auf den Boden, die sich bei einem Frühstück auf den kleinen Küchentisch verirrt hat.

»Als ob ich alleine reisen will und darf. Ich konnte mich doch noch nicht einmal an Unis außerhalb von Berlin bewerben, weil meine Mutter sonst die Krise bekomme hätte. Sie will unbedingt, dass ich zu Hause wohnen bleibe.«

»Natürlich darfst und kannst du das«, entgegnet Sophie und fährt sich durch das blonde Haar. Sie stellt ihre dampfende Tasse ab und nimmt aus dem Regal einige Einmachgläser voll Flocken und Nüssen.

»Du bist volljährig, du musst deine Eltern überhaupt nicht mehr fragen.«

»Du verstehst das nicht.« Ich male mit den Fingern die roten Ornamente meiner Tasse nach. Blumen und Blätter.

Sophie schneidet einen Apfel klein und brät ihn mit Öl und Rosinen an. Sie gießt Wasser darauf und kippt aus allen Gläsern eine Handvoll in den Topf. Kurz wartet sie, bis ein dampfender Frühstücksbrei entsteht. Noch zwei Löffel Honig und Hanfsamen hinein, dann füllt sie zwei Porzellanschälchen und kippt über ihre Portion einen Schluck Reismilch, ehe sie antwortet.

»Natürlich verstehe ich das, schwer von Begriff bin ich nicht.«

»So meine ich das nicht.«

»So kommt es aber rüber. Mann, Greta, du bist doch alt genug, um deine eigenen Entscheidungen zu treffen. Du musst deine Eltern nicht mehr fragen.«

»Du meinst, meine Mutter.«

Sophie setzt sich zu mir und stellt die Breischüsseln vor uns. Sie probiert einen Löffel, verzieht das Gesicht und schüttet dann ordentlich Zucker hinein.

»Glaubst du, mein Vater war begeistert, als ich mit sechzehn ausziehen und bei Tom wohnen wollte? Frau gestorben, Sohn den ganzen Tag am PC und minderjährige Tochter aus dem Haus? Toll fand er es nicht, aber er hat meine Entscheidung akzeptiert.«

»Ja, weil dein Vater cool und locker ist«, gebe ich etwas gereizt zurück und zerbeiße knirschend eine Haselnuss zwischen den Zähnen.

»Morgen«, ertönt es von der Küchentür aus. Pippo, Sophies Mitbewohner, schlurft in die Küche. Ich glaube, eigentlich heißt er Philipp. Er ist unrasiert und seine langen Dreads sehen aus wie ein zerzaustes Nest. Am Morgen braucht er einige Stunden, um wach zu werden und dann ist er ein Energiebündel. Ich mag Pippo.

»Kaffee?«, fragt er müde und Sophie schüttet ihm direkt einen Riesenbecher ein.

Pippo kratzt sich am Arm und nickt dankbar, als Sophie ihm das Getränk hinhält. Sein T-Shirt ist so verwaschen, dass ich das Logo kaum noch erkennen kann. Wacken vor einigen Jahren, rate ich.

»Pippo, was würdest du tun, wenn du deinen Studienplatz nicht bekommen hast und jetzt mindestens sechs Monate Zeit hättest, etwas anderes zu tun?«

Er denkt kurz nach und gähnt.

»Verreisen. Und viele, viele Frauen kennenlernen.«

Sophie sieht mich triumphierend an.

»Siehst du?«, sagt sie und hält kurz inne.

»Pippo, hast du noch den Karton mit den Fundsachen?«

Pippo gähnt erneut und schiebt einen Löffel von Sophies Müslibrei in den Mund.

»Boah!«, ruft er. »Willst du an Diabetes draufgehen?« Ich höre den Zucker zwischen seinen Zähnen knirschen, als er kaut und sich beim Herunterwürgen leicht schüttelt.

Sophie sieht ihn ungerührt an. »Wer so zuckersüß ist und isst wie ich, die ist hart im Nehmen.« Dann springt sie auf und hüpft aus der Küche. Einige Sekunden später kommt sie zurück und knallt ein schmales Buch auf den Tisch.

»Das gehörte mal Simon, aber er hat es beim Ausziehen vergessen. Du liest es und ich höre vierundzwanzig Stunden auf, dich zu nerven. Deal?«

Sophie hält mir die Hand hin, doch ich nehme zunächst das schmale Buch in die Hand. Ein Reiseführer für Spanien samt Karte und Insidertipps, wie der zerknickte Einband verrät. Ich blättere mit den Fingern einmal durch. Der Reiseführer wirkt nicht benutzt, sondern verlebt. Überall Knicke, Krümel, Flecken und die Restaurantseiten riechen eindeutig nach Knoblauch.

Ich rümpfe ein wenig die Nase.

»Vierundzwanzig Stunden Ruhe?«

Sophie nickt.

»Keine Sekunde weniger.«

Ich willige ein.

Solange Sophie mit dem Quatsch aufhört, bin ich zufrieden.

Meine Gedanken schweifen zurück zu den Briefen, die ich meinen Eltern gestern hinterlassen habe. Eine Nacht später macht sich eine kleine Erleichterung breit. Ich werde weder eine verkappte Biologin noch eine verstaubte Juristin.

Ich kann noch mal genauer nachdenken, ohne dass meine Mutter mir allzu großen Druck machen kann.

Pippo schenkt sich eine weitere Tasse Kaffee ein und stellt den leeren Becher dann geräuschvoll auf der abgegriffenen Küchentheke ab.

»Mädels«, er hält sich die Hand zum Gruß an die Stirn. »Ich muss dann mal.«

»Ey!«, ruft Sophie. »Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages!«

Pippo hält ihr zur Antwort ein Päckchen Zigaretten entgegen und zündet sich noch im Rausgehen eine an.

»Kaffee und Kippen«, murmelt er, grinst und wenige Sekunden später hören wir die Haustür zuknallen.

»Wahnsinn, der Kerl«, meint Sophie und wickelt sich eine kinnlange blonde Strähne um den Finger. »Dabei hat er sogar noch kalte Pizza von gestern im Ofen.« Sie schüttelt fassungslos den Kopf. Manchmal erinnert sie mich an eine Mischung aus Pippi Langstrumpf und der überbesorgten Prusselise, die versucht, Pippi ins Kinderheim zu stecken. Ziemlich paradox.

»Zurück zum Thema«, sagt sie jetzt und futtert weiter ihre Flocken in sich rein. »Ist doch vollkommen okay«, nuschelt sie, ihrer Schüssel zugewandt, und streut noch etwas mehr Zucker in die Schüssel. »Du hast vierundzwanzig Stunden Zeit und dann teste ich dich mit ein paar Fragen, ob du es wirklich gelesen hast.«

Ich tippe mir an die Stirn. So weit kommt’s noch!

Ich schlürfe meinen Kaffee aus und kratze die Apfelreste aus meiner Müslischale. Ein Blick aus dem Zimmer zeigt mir, dass die Sonne endlich hervorgekommen ist.

»Na gut«, seufze ich und erhebe mich ächzend vom unbequemen Holzstuhl. »Ich denke, ich fahr jetzt mal besser nach Hause. Ich kann mich ja nicht ewig verstecken.«

Sophie nickt. Sie schlurft mir in ihrem kurzen Nachthemd hinterher. Schnell ziehe ich mich um, greife meine Tasche und verabschiede mich.

Draußen empfängt mich eisiger Wind, der meine Beine zittern lässt. Mist, ich habe vergessen, meine Strumpfhose anzuziehen. Aber Lust zurück in den vierten Stock zu Sophies Wohnung zu rennen, habe ich auch nicht.

Also beiße ich die Zähne zusammen, schwinge mich auf den Sattel und stemme mich dem Wind entgegen.

Irgendwie ist es doch kälter, als ich dachte.

Auf dem Weg nach Hause kommt mir meiner Meinung nach eine fabelhafte Idee. Meine frierenden Beine bringen mich darauf. Während ich über eine Brücke fahre, sehe ich das Maibachufer und den Stoffmarkt, der regelmäßig dort stattfindet. Neulich habe ich die alte Nähmaschine meiner Mutter im Keller gefunden. Jetzt habe ich jede Menge Zeit mich mal ein wenig mit dem Nähen vertraut zu machen. Mit einer Hose möchte ich anfangen. Sophie näht sich ständig irgendwelche weiten Pluderhosen. Ich biege ab und jetzt fährt mir der Wind erst richtig entgegen. Zitternd schließe ich mein Rad an dem Metallgeländer der Brücke fest. Auf dem Stoffmarkt drängen sich Kunden, Verkäufer, Kinder und von weit weg sehe ich, wie eine Kiste Melonen umfällt und die runden Früchte den Weg entlangkullern. Was all die Obst- und Essensstände mit Textilien zu haben, weiß ich zwar nicht, aber direkt am ersten Stand gönne ich mir einen frischen Granatapfelsaft.

Mit dem Strohhalm zwischen den Lippen schlendere ich die enge Gasse entlang. Die Melodien verschiedener Musiker fliegen durch die Luft, Menschen rufen und diskutieren und ich schlürfe meinen Saft.

Ein paar Stände weiter entdecke ich die bunten Auslagen eines dicken Verkäufers, der auf Deutsch und Arabisch seine Ware anpreist. Ich werfe meinen leeren Becher in den Müll und trete zu ihm.

»Angebot, Angebot!«, ruft er mir entgegen und drängt mir einen Ballen grünen Stoff auf.

»Heute nur vier Euro, nur vier Euro!«

Ich schiebe ihn mit meinen Händen sanft weg und betrachte einen Korb mit Restposten.

»Danke, ich schau erst mal.«

Der Mann nickt und hält den Ballen einfach willkürlich der nächsten Dame hin, die erschrocken stehen bleibt und dann weitergeht.

Ich wühle eine Weile in der Kiste, ab und zu sehe ich, dass der Verkäufer mir einen Blick zuwirft, doch ich lasse mich nicht beirren. Eigentlich weiß ich schon, dass die Reststoffe zu wenig für eine ganze Hose hergeben, denn klein bin ich nun wirklich nicht, doch als ich zur Meterware wechseln will, bemerke ich den fetten roten Fleck auf dem filigranen Muster eines kleinen Stücks türkisfarbenen Stoffs, den ich eben noch in der Hand hielt.

Granatapfelsaft von meinen Händen. Mist!

Ich versuche ihn unauffällig nach ganz unten zu schieben, doch der Verkäufer hat mein Missgeschick bereits entdeckt. Er greift den Stoff heraus und betrachtet ihn missbilligend.

»Das kann ich ja nun nicht mehr verkaufen«, grummelt er und versucht den Fleck mit Spucke herauszureiben, vergeblich. Ich schlucke.

»Ich kaufe ihn«, sage ich, ehe er mich anmeckern kann und drücke ihm einen Fünfer in die Hand. Er nickt zufrieden und lässt mich gehen.

Im Laufen entfalte ich meine erstandene Ware und ärgere mich ein wenig. Das reicht allerhöchstens für eine sehr kurze Hose! Aber gut, dann fange ich wohl erst mal klein an.

Um nicht in Versuchung zu geraten, drehe ich mich um und marschiere im Stechschritt zurück zu meinem Fahrrad. Als ich ankomme, springt mir sofort der platte Hinterreifen ins Auge.

»Auch das noch!«, fluche ich und öffne mein Fahrradschloss. »Mist!«

Ich glaube, das wird wirklich nicht mein Tag.

Ein bescheuerter Granatapfeltag mit Fleck. Und bis nach Hause schieben dauert eine ganze Weile. Vielleicht kürze ich doch ein Stück mit der U-Bahn ab.

Ich bin erst ein paar Meter gegangen, als ich das Klickern eines weiteren Fahrrads wahrnehme. Vorsichtig drehe ich meinen Kopf nach links und sehe einen jungen Mann, der im Schritttempo neben mir herfährt.

»Ein Platten?«

»Siehst du doch.«

»Kann man helfen?«

»Man kann. Wenn man Flickzeug dabeihat. Ob du helfen kannst, weiß ich natürlich nicht.«

Er grinst.

»Du bist schnell mit der Zunge, das mag ich.«

»Ich bin vor allem ziemlich geladen und das mag ich nicht.«

Der Typ tut mir ein bisschen leid. Schließlich kann er nichts für meine schlechte Laune am Mittag.

»Flickzeug habe ich zwar nicht, aber eine Luftpumpe.«

»Tatsächlich?« Ich bleibe stehen und gucke ihn erst jetzt wirklich an. Kurze Haare, Narbe auf der Nase, Jeans, eine Kette mit einem blauen Stein um den Hals.

»Ich gebe sie dir.«

»Zum Aufpumpen?«

»Jap.«

Jetzt lächle ich doch ein bisschen und lasse mir von ihm seine Luftpumpe reichen. Zwar werde ich mit einem Mal aufpumpen vermutlich nicht bis nach Hause kommen, aber bis zur U-Bahn wird es schon reichen.

»Danke.«

Ich hocke mich auf den Boden und möchte die Ventilkappe abschrauben. Sie fehlt. Ich setzte die Pumpe direkt aufs Ventil und beginne, den Reifen mit Luft zu füllen. Nach ein paar Minuten scheint er mir prall genug.

Ich stehe auf und wische meine schmutzigen Finger an meinem Rock ab. Keine so gute Idee, jetzt ist der dunkle Stoff mit schwarzen Flecken verziert.

Er grinst nur, als ich ihm die Luftpumpe hinhalte.

»Es gibt übrigens Stellwerkprobleme, das komplette U-Bahn-Netz ist lahmgelegt.«

Genervt rolle ich mit den Augen. Ich werde doch noch ewig lang brauchen.

Er zuckt mit den Schultern und fährt sich über das kurze Haar.

»Ich schenke dir die Pumpe, wenn du mir deine Nummer gibst.«

»Ts, vergiss es.«

»Dann kannst du immer nachpumpen und schaffst es bis zum Flickzeug nach Hause.«

Ich denke kurz nach und drehe einen meiner noch immer etwas ungewohnten Dreads in den Händen. Ich stöhne auf.

»Na gut!«

Dann reiße ich ihm die Luftpumpe aus der Hand. Er lacht laut.

»Ungeduldig bist du wohl gar nicht, was?!«

Er zückt sein Handy. Ich diktiere ihm irgendeine ausgedachte Nummer, schwinge mich auf den Sattel und will losfahren.

»Halt, warte!«, sagt er und hält mich am Ärmel fest. »Ich will noch testen, ob es wirklich deine Nummer ist. Alles andere wäre zu schade.«

Er hält sich das Gerät ans Ohr und äfft die Stimme im Lautsprecher nach: »Die von Ihnen gewählte Rufnummer ist leider nicht vergeben.«

»Sonst noch was?«, frage ich und werde doch langsam wütend. Manchmal ist Sophie verwundert darüber, wie pampig ich einerseits sein kann und wie kleinlaut ich meinen Eltern gegenüber trotzdem bin. Jetzt fällt mir auf, dass sie recht hat.

Ich gebe ihm meine richtige Nummer und als er zur Kontrolle anruft und das Handy in meiner Tasche klingelt, ist er zufrieden.

»Unter welchem entzückenden Namen darf ich die Nummer speichern?«

»Margarethe.«

»Ernsthaft?«

»Du musst sie ja nicht speichern«, erwidere ich schnippisch und fahre jetzt endlich weiter. Mein Rad rollt gut.

»Ich bin Artjom«, brüllt er mir noch hinterher, doch das kann ich gegen den Wind kaum noch verstehen.