Buchinfo

Jessica Cole: Topmodel und Geheimagentin

Jessica ist geschockt, als sie von einem Fotoshooting nach Hause kommt: Ihr Vater, ein Ex-Agent, wurde unter mysteriösen Umständen entführt. Da sie nicht weiß, wem sie vertrauen kann, folgt sie auf eigene Faust den wenigen Spuren, die sie finden kann. Der Weg führt sie nach Paris, mitten in eine der angesagtesten Fashion Shows. Dort geht es hinter den Kulissen längst nicht mehr um die neuesten Modetrends, und Jessica selbst schwebt plötzlich in tödlicher Gefahr …

Autorenvita

Sarah Sky

Sarah Sky ist freie Journalistin und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in London. Sie hat den braunen Gürtel (bald vielleicht sogar den schwarzen) in Karate und liebt Kickboxen.Sie wäre gerne selbst Spionin geworden, aber das MI6 hat leider nie bei ihr angeklopft. Oder etwa doch ...? »Topmodel undercover« ist ihre erste Jugendbuch-Serie

Titelseite

Für Darren, James und Luke

Kapitel Eins

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Die Riesenschlange drückte ihr den Hals zu und zog sie tiefer in das eiskalte Wasser. Jessica fühlte sich von der Kälte geschwächt, und die Schultern taten ihr unter dem enormen Gewicht der Schlange weh. Ihre Lunge wurde eng. Jessica versuchte, die Schlange abzuschütteln, aber sie war größer als sie und rührte sich nicht vom Fleck.

Als Jessica auf den Boden des Beckens sank, geriet sie in Panik. Sie bekam Wadenkrämpfe in beiden Beinen. Ihre Glieder fühlten sich wie Bleigewichte an. Sie versuchte, sich nach oben zu strampeln, aber ohne Erfolg. Hinter dem Glas konnte Jessica verschwommene Gestalten erkennen, aber niemand machte Anstalten, ihr zu helfen. Sie würden zusehen, wie sie ertrank. Sie kam sich so dumm vor. Ihr Vater hatte sie gewarnt – das Ganze sei keine gute Idee. Sie hasste es, wenn er recht hatte, was eigentlich immer der Fall war. Warum hatte sie nicht auf ihn gehört?

Ihre Lunge schrie nach Sauerstoff, und ihre Rippen schienen der Reihe nach zu brechen. Aber sie würde nicht vor all den Leuten sterben! Mit allerletzter Kraft riss sie an der Schlange, die von der plötzlichen Bewegung überrascht wurde, sich kurzfristig geschlagen gab und von ihren Schultern glitt. Jessica kämpfte sich schwach nach oben, indem sie Wasser trat und sich auf den Lichtkreis konzentrierte. Sie durchbrach die Oberfläche, klammerte sich an das Becken und schnappte heftig nach Luft, während Leute sich auf sie stürzten.

»Haare! Lippenstift und Eyeliner!«, tönte eine Stimme. »Und kann sich jemand mal um die Schlange kümmern?«

Jessica schlotterte, als eine Gruppe von Maskenbildnern noch mehr silberfarbenen, wasserfesten Lidschatten, schwarzen Eyeliner und Mascara auftrug. Eine Stylistin kämmte ihr die Haare und klatschte eine Menge Gel darauf, während ein anderes Händepaar an dem grünen Chiffon-Kaftan über ihrem weißen Badeanzug von Gucci herumzupfte und auf ihrem Rücken feststeckte. Jessica schaute ihre blauen Finger an. Würde denn keiner fragen, ob mit ihr alles okay war? Anscheinend waren alle viel zu sehr damit beschäftigt, sie so makellos wie möglich zu machen, bevor sie sie wieder ertränkten.

Ein kleiner Mann, der einen Shih Tzu auf dem Arm trug, kam auf sie zu. Sein winziger schwarzer Bart zitterte vor Wut.

»Jessica, tu es très belle, aber wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du nicht zwinkern sollst? Warum hast du gestrampelt, obwohl ich dir ausdrücklich gesagt habe, dass du dich treiben lassen sollst? Du hast meine Aufnahmen ruiniert. Schon wieder

Sie bekämpfte den Drang, die Arme auszustrecken und ihn und seinen schrecklichen, kläffenden Hund ins Wasser zu stoßen. Es handelte sich schließlich um Sebastian Rossini. Er hatte sie eigens für eine Fotostrecke im neuen Hochglanz-Magazin für Teenager Mademoiselle ausgewählt. Es war eine fantastische Gelegenheit, und sie war begeistert gewesen. Leider war Sebastian auch ein unglaublicher Sadist. Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten. Er würde sie nicht gehen lassen, bis ihm das Foto, das er wollte, gelungen war.

»Tut mir l-l-leid«, sagte sie mit klappernden Zähnen. »Ich konnte mich ein paar Sekunden lang nicht konzentrieren. Es wird nicht wieder passieren. Ich v-v-versprech’s.«

»C’est bon

Er drückte den Hund in die zitternden Finger seines Assistenten Juan und nahm die Kamera wieder in die Hände. Juan setzte den Hund in einer Ecke der Lagerhalle auf ein Kissen von Chanel und schob ihm ein Stück pochiertes Hähnchen als Snack zu, bevor er sich in sicherer Entfernung zurückzog. Jessicas Bauch knurrte. Sie war schon seit dem Morgengrauen da, und man hatte ihr bisher weder etwas zum Frühstück noch zum Trinken angeboten. Wieso dachte eigentlich jeder, dass Modeln etwas Glamouröses sei? Schade, dass die Mädchen aus der Schule sie jetzt nicht sehen konnten. Sie würden in Zukunft den Mund halten.

Jessica streckte Arme und Beine. Die Durchblutung schien wieder halbwegs zu funktionieren.

»Stillhalten und den Mund weiter öffnen!«, befahl eine Maskenbildnerin.

Sie gehorchte, als die dritte Schicht eines knallroten Lippenstifts aufgetragen und mit einem Papiertaschentuch abgetupft wurde. Jemand anderes besserte die wasserfeste Grundierung nach.

»Das Ganze noch mal!«, befahl Sebastian. »Und dieses Mal keine Fehler.«

»Ich werd mir Mühe geben.«

Sie strahlte, obwohl sie ihm eigentlich sagen wollte, dass er ihr den Buckel runterrutschen könne. Zwei Männer hatten die Schlange aus dem Wasserbecken gefischt und ihr wieder um den Hals gelegt. Sie holte tief Luft und tauchte erneut unter. Diesmal hielt sie die Augen weit offen, obwohl das Wasser furchtbar brannte. Sie posierte, wölbte den Rücken und streckte die Arme in die Höhe. Sie änderte ihre Pose, und ihre Beine trieben anmutig hinter ihr her. Es war schwierig, den Körper zu beherrschen und gleichzeitig mit der Schlange zu jonglieren, aber Ballettstunden und Kickboxen hatten ihr Durchhaltevermögen gestärkt. Sie gab sich alle Mühe, Sebastian zum perfekten Foto zu verhelfen, damit sie möglichst schnell wieder verschwinden könnte.

Jessica nahm eine letzte Pose ein, und Sebastian hielt die Daumen hoch. Die Sache war unter Dach und Fach. Sie tauchte zum letzten Mal auf und wurde mit einer Runde Applaus des Aufnahmeteams empfangen. Jessica schüttelte die Schlange schaudernd von ihren Schultern und merkte, dass sie aus dem Becken gezogen wurde. Ihr war so kalt, dass sie kaum fähig war, die Leiter hinunterzuklettern. Na und? Sie sollte aufhören zu meckern und sich nicht so anstellen. Der Job war toll. Sie lernte unheimlich kreative Leute kennen. Außerdem würde sie mit viel Glück vielleicht bald die Chance bekommen, um die Welt zu reisen. Durch diesen Auftrag würde sie ein super Foto für ihre Mappe bekommen, was zu etwas noch Größerem führen könnte. Sie hätte ja zu gerne einen Job bei einer Werbekampagne für eine Kosmetikfirma oder ein Modelabel wie Prada an Land gezogen.

»Fantastique! Ma jolie sirène«, rief Sebastian strahlend aus.

Jessica wurde rot und wünschte fast, sie hätte »Meine hübsche Nixe« nicht übersetzen können – peinlich, oder?

»D-d-danke«, sagte sie und stotterte immer noch vor Kälte.

Jessica hinkte zu einer Umkleidekabine. Sie hatte es also geschafft, mit dem Leben davonzukommen. Louise begrüßte sie mit einem mitfühlenden Lächeln und einem großen weißen Frotteetuch.

»Dir wird bald wieder warm sein, das versprech ich dir«, sagte sie. »Und jetzt raus aus dem nassen Zeug!«

Louise musste Jessica den Kaftan und den Badeanzug ausziehen, weil sich ihre Finger immer noch taub anfühlten. Jessica drückte das Handtuch an sich und zog schnell einen rosa Bademantel an. Dieser Auftrag war besser als die meisten, da es einen separaten Umkleidebereich gab, aber Fotografen und Stylisten platzten trotzdem oft unangemeldet herein. Andere Models zuckten mit keiner Wimper, wenn sie sich vor allen Leuten an- und ausziehen mussten, aber Jessica hatte sich noch nicht daran gewöhnt. Sie bezweifelte auch, ob ihr das jemals gelingen würde.

Als sie die falschen Wimpern abnahm und mit Wattepads am Make-up herumrubbelte, fing sie an, sich unter der Grundierung wiederzuerkennen. Normalerweise schminkte sie sich, wenn sie nicht arbeitete, nicht so stark. Aber an ihrem Lieblings-Lipgloss und ihrer Mascara hing sie doch sehr.

Vor dem Föhnen kämmte Louise Gel und Wachs aus Jessicas langen rotblonden Haaren, während diese auf ihr Handy schaute. Zum ersten Mal hatte ihr Vater ihr keine SMS geschickt. Sonst litt er immer am ÜAVS, dem Überfürsorglicher-Alleinerziehender-Vater-Syndrom, und wollte, dass sie sich sofort bei ihm meldete, wenn ein Fotoshooting vorüber war. Er befand sich auf Dienstreise und hatte auch auf ihre gestrigen Anrufe nicht reagiert; alle waren gleich auf dem Anrufbeantworter gelandet. Vielleicht hatte er zu viel zu tun. War das der Grund, weshalb sie auch von Jamie, dem süßesten Typ in ihrer Klasse, nichts gehört hatte?

Schön wär’s. Als ob er ihr jemals eine SMS schicken würde.

»Eine Haarwäsche könnte nicht schaden«, meinte Louise. »Die Knoten krieg ich ja nie raus!« Sie hob ein Büschel zerzauster Haare hoch.

»Mach dir keine Sorgen!«, sagte Jessica und fasste ihre Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammen. Ein paar Strähnen lehnten es strikt ab, sich an ihren gewohnten Platz zu begeben, aber ihr fehlte die Zeit, sie zu zähmen. Es war schon 7 Uhr 45, und sie steckte im Osten Londons fest – keine U-Bahn-Station weit und breit. Ihre Lehrer waren ihr, seit sie mit dem Modeln begonnen hatte, zwar entgegengekommen, aber sie wollte ihr Glück nicht herausfordern, indem sie wieder einmal zu spät kam und das Durchgehen der Anwesenheitsliste verpasste. Noch so ein Ausrutscher, und sie würde nachsitzen müssen.

Nachdem sie sich den grauen Polyester-Rock ihrer Schuluniform, die weiße Hemdbluse und den grauen Pullover angezogen hatte, schlüpfte sie in ihre schwarzen Ballerinas. Sie trug fast nie hohe Absätze, weil sie so groß war. Jessica guckte in den Spiegel und seufzte. Egal wie oft sie an ihrem Rock herumzupfte – er sah nie gut aus. Bäh! Der Stoff kratzte und kletterte an ihren Beinen hoch. Er lenkte die ganze Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass ihre Beine aussahen, als ob sie einer Giraffe gehörten.

Jessica hängte sich die Kette mit dem goldenen Anhänger ihrer Mutter um den Hals und versteckte sie unter ihrer Bluse, damit sie nicht beschlagnahmt werden konnte. Dann zog sie die graue, fusselige Jacke an, die sie in einem Secondhand-Laden gefunden hatte. Sie war, was die strengen Uniformregeln betraf, gerade noch durchgegangen. Jessica wollte eben abzischen, als Sebastian ins Zimmer stürmte und seine Digitalkamera schwenkte. Sein Hund sauste ihm kläffend um die Beine.

»Wir haben die Aufnahme, ma jolie sirène. Schau dir das an!«

Jessica und Louise spähten über seine Schulter auf das Foto. Ein wunderschönes nixenhaftes Mädchen trieb so natürlich im Wasser, als ob es darin geboren wäre. Ihre blonden Haare schwammen hinter ihr, und ein geheimnisvolles Lächeln umspielte ihre Lippen. Jessica erkannte sich fast nicht – sie hatte sich wirklich in eine Meerjungfrau verwandelt. Niemand würde erkennen, dass sie beinah ertrunken wäre.

»Mann!«, staunte Louise. »So siehst du überhaupt nicht aus! Du lässt dich echt gut schminken, wenn ich das mal so sagen darf. Ich hätte dich nie erkannt.«

Jessica wurde rot.

»So hab ich das nicht gemeint«, sagte Louise. »Du siehst einfach anders aus.«

»Ich weiß, was du meinst«, erwiderte Jessica. »Ich fühle mich auch nicht wie ich, wenn ich als Model arbeite.«

Sebastian nickte. »Das ist die Qualität hervorragender Models. Sie können sich mithilfe eines Künstlers wie mir verwandeln. Du bist eine weiße Leinwand, aus der alles werden kann, Jessica, sogar eine Meerjungfrau.«

Sie zuckte zusammen, als er sie auf beide Wangen küsste und mit einem dramatischen Abgang verschwand.

»Ich wollte nicht unhöflich sein.« Louise wandte sich stirnrunzelnd Jessica zu.

»Ich weiß. Mach dir keine Gedanken!«

Jessica umarmte sie und entfernte sich schnell. Louise war nicht gerade die taktvollste Person. Jessica waren aber Assistenten, die ehrlich sagten, was sie dachten, lieber als solche, die hinter ihrem Rücken gehässige Bemerkungen über ihr Aussehen machten. Jessica war die Erste, die zugab, dass sie nicht wie Cindy Crawford oder Claudia Schiffer aussah, die mit ihren wohlproportionierten Figuren und gleichmäßigen Gesichtszügen die Welt der Models dominierten. Ihre Stirn war ein bisschen breit, und ihr Unterkiefer war kräftiger als bei den meisten Mädchen in ihrem Alter und betonte ihre großen grünen Augen und die Sommersprossen auf ihrer Stupsnase.

Sie rief dem Aufnahmeteam »Tschüss« zu und lief durch die Lagerhalle. Jessica schloss die Tür hinter sich und lächelte, als sie die Wintersonne warm auf ihrem Gesicht spürte. Ohne Make-up sah sie wie jeder andere Teenie aus.

Bis auf die scheußliche Uniform fühlte sich alles fantastisch an. Selbst das berühmteste Topmodel der Welt würde mit diesem Look nicht gut aussehen. Sie zerrte ein letztes Mal an ihrem Rock und rannte zum Bus.

Kapitel Zwei

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Jessica war unter der Achselhöhle eines Mannes mittleren Alters eingequetscht, während der Busfahrer versuchte, am Montag im Berufsverkehr Kamikaze-Geschwindigkeiten zu erreichen. Super. Wieder mal eine Fahrt, auf der sie neben einer Person mit starkem Körpergeruch feststeckte. Sie drehte sich langsam um. Jemand schob ihr die heutige Zeitung vors Gesicht, weshalb sie die Titel-Story lesen musste, ob sie wollte oder nicht.

20. Januar

TYLER GIBT AUF!

Das Topmodel Tyler Massey schockiert die Modewelt, weil sie ihrer lukrativen Modelkarriere den Rücken kehrt.

Die Achtzehnjährige hat gestern ihren Multimillionen-Pfund-Vertrag mit der Firma Naturissmo SkinCare gekündigt und alle Mode-Verpflichtungen abgesagt, einschließlich ihres ersten Solo-Projekts als Cover der Vogue.

Sie hatte sich bereits vor ihrem seit Langem erwarteten Auftritt bei der Pariser Haute-Couture-Woche am Donnerstag zurückgezogen und war tatsächlich schon seit der Vorweihnachtszeit nicht mehr in der Öffentlichkeit zu sehen gewesen.

Ihr Pressesprecher erklärte, Pläne für die Markteinführung eines eigenen Parfums seien ebenfalls für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt worden.

Lydia Hollings, Chefin der Modelagentur Emerald, sagte, Tyler möchte sich an einer Uni einschreiben. Ihr Aufenthalt ist jedoch im Augenblick unbekannt, und sie ist nicht an ihren Heimatort in Devon zurückgekehrt.

Tyler ist das letzte der »berühmten fünf« Topmodels, das der Modeindustrie den Rücken gekehrt hat.

Auch Olinka, Jacey, Darice und Valeriya haben im vergangenen Monat das Modeln aufgegeben, wofür sie persönliche Gründe nannten. Sie haben sich inzwischen aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen.

Der Begriff »berühmte Fünf« wurde von Sebastian Rossini geprägt, der die Topmodels für ein legendäres Titelblatt der Zeitschrift Vogue fotografiert hat.

Jessica schaute weg, als die Frau die Seite umblätterte. Sie hatte von den »berühmten Fünf« gehört. Wer nicht? Sie waren alle berühmt genug, um sie beim Vornamen zu nennen. Aber warum gaben alle auf? Der Bus machte plötzlich eine Vollbremsung und alle Leute flogen nach vorn. Die Türen gingen ratternd auf und ein Menschenstrom taumelte ins Freie.

Jessica hielt sich an einer Stange fest und schwang sich auf einen leeren Platz. Sie wühlte in ihrem schwarzen Rucksack, zog ihr iPhone heraus, gab »Tyler« und »Topmodel« ein und landete Tausende von Treffern. Das Internet brummte vor lauter Gerüchten, warum sie das Modeln aufgegeben hätte. Sie schwankten zwischen den Behauptungen, ein Autounfall hätte sie entstellt und sie sei das Opfer einer Entführung durch Außerirdische geworden.

Im Ernst? Glaubte tatsächlich jemand so einen Quatsch?

Sie folgte Links zum Rest der »berühmten Fünf«. Olinka hätte eigentlich in einem größeren Hollywoodfilm mitspielen sollen, aber dann gab Lydia Hollings Anfang des Monats unerwartet ihren Rückzug bekannt. Jacey hatte geplant, eine exklusive Dessous-Kollektion und ein eigenes Parfum auf den Markt zu bringen. Emerald hatte Darice und Valeriya für Shows fast aller Top-Designer während der Haute-Couture-Woche in Paris gebucht. Sie hatten beide erst vor Kurzem abgesagt, obwohl sie die Stars der Shows gewesen wären. Wieder Emerald. Jessica klickte zurück. Jacey war auch ein Emerald-Model. Die Topmodels gehörten der gleichen Agentur an und hatten sich alle auf der Höhe ihrer Karriere von aufregenden Jobs verabschiedet. Seltsam!

Jessica gab die Namen aller Topmodels, Lydia Hollings und Emerald ein und fand einen Artikel in der Zeitschrift OK! vom letzten Dezember.

DIE BERÜHMTEN FÜNF REISSEN – ZUM WIEDERHOLTEN MAL – JEDEN VOM HOCKER!

Man konnte niemandem vorwerfen, auf dem fünfzigjährigen Jubiläumsball der Modelagentur Emerald in London underdressed zu sein.

Die »berühmten Fünf« zogen alle Register und trugen Smaragde und Brillanten im Wert von insgesamt 20 Millionen Pfund, die ihnen De Beers geliehen hatte.

Sie feierten gemeinsam mit Designern, Redakteuren von Zeitschriften und anderen Berühmtheiten, einschließlich Hollywood-Stars wie Taylor Lautner und Liam Hemsworth.

Die Gäste ehrten Lydia Hollings, Chefin von Emerald, die diese Modelagentur zur erfolgreichsten der Welt machte. Bekanntlich hat sie Tyler, Olinka, Jacey, Darice und Valeriya entdeckt.

Herzlichen Glückwunsch, Emerald!

Lydia Hollings stand in der Mitte der Aufnahme. Jessica vergrößerte das Bild. Was für ein Fischmaul! Zum Totlachen. Sie hatte sich ganz offensichtlich viel zu viel Kollagen in die Lippen spritzen lassen. Links neben ihr stand Tyler in einem fantastischen tintenblauen Kleid. Die Überschrift behauptete, es sei von Christian Dior. Olinka, Jacey, Darice und Valeriya gruppierten sich um sie. Sie hielten Sektgläser in den Händen und lachten. Die Mädchen sahen alle hinreißend aus, vor allem Darice, die ein feuerrotes Fransenkleid von Versace mit einem Schlitz bis zum Bauchnabel trug.

Aber warum konnte sie keine Fotos der Supermodels nach dem Jubiläumsball finden? Sie waren einfach verschwunden, nachdem sie jahrelang im Scheinwerferlicht gestanden hatten. Hatten sie es sattgehabt, ständig von Paparazzi verfolgt zu werden? Es konnte einem ja echt auf die Nerven gehen, aber schien trotzdem kein ausreichender Grund zu sein, einfach aufzugeben. Tyler hätte noch viele Jahre als Model vor sich gehabt und ihr Abitur gut mit der Arbeit vereinbaren können. So hatte Jessica es sich jedenfalls gedacht. Und sie konnte das Geld gut gebrauchen, vor allem, weil ihr Vater aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten konnte.

Jessica blickte auf und sah die vertrauten Straßen im Westen Londons vorbeiflitzen.

»Nein!« Sie drückte auf den Halteknopf, aber der Busfahrer ignorierte sie und raste über eine rote Ampel. Sie hätte schon zwei Haltestellen davor aussteigen sollen. Es war fünf Minuten vor acht und sie war viel zu spät unterwegs. Zum dritten Mal im Monat hatte ein Fotoshooting länger gedauert als geplant. Welche Ausrede sollte sie diesmal gebrauchen?

Eine schlecht gelaunte Schlange hat versucht, mich zu ertränken? Das würde ihr Mr »Hackebeil« Hatcham niemals abnehmen. Sie würde nachsitzen müssen und einen Brief mit nach Hause bringen, was bedeutete, dass Dad ihr für immer und ewig Hausarrest erteilen würde. Sie hatten einen Pakt geschlossen – das Modeln dürfe der Schule nicht in die Quere kommen.

Sobald sich die Bustüren wieder öffneten, sprang Jessica raus, lief die Straße entlang, an Cafés, Waschsalons und Imbissbuden vorbei, und bremste erst vor der Sankt-Albans-Schule ab. Sie klammerte sich an das Geländer und rang nach Luft. Sie hatte Usain Bolt soeben gezeigt, was eine Harke war. Die Eingangstüren standen offen, also kam sie noch ins Gebäude. Sie zögerte. Vertrauensschüler würden herumlungern und darauf warten, sich auf die Nachzügler mit ihren Ausreden zu stürzen.

Wenn sie einfach so ins Haus stürmte, würde sie auf jeden Fall nachsitzen müssen. Deshalb holte sie das iPad ihres Vaters aus dem Rucksack und schloss einen Kopfhörer an. Dann schaltete sie das Gerät ein, wartete, bis es geladen war, und gab das geheime Passwort ihres Vaters ein.

Jellybean – Geleebonbon!

Also echt! Jessicas Vater war Privatdetektiv und ehemaliger Agent des britischen Geheimdienstes MI6. Hätte er sich nicht etwas weniger Offensichtliches – und weniger Hackbares – als seinen alten Spitznamen für sie ausdenken können?

Sie machte mit dem iPad eine Aufnahme von der Schule und lud sie auf den Wärmesensor. Innerhalb von Sekunden hatte sie ein 3D-Bild der Schule und einer brodelnden Masse von orangefarbenen Klecksen, also den Schülern und Lehrern im Haus. Nicht jedes Stockwerk war nötig. Sie isolierte das Gelände, den Weg zum hinteren Eingang und das gesamte Erdgeschoss, um ganz sicher zu sein – genauso, wie sie es in einem Hotel in West Kensington schon einmal gemacht hatte, als sie ihrem Vater helfen musste, in der Suite einer Zielperson ein Abhörgerät unterzubringen.

Sie klickte auf »Start Audio« und hielt das iPad ganz fest. Der Bildschirm zeigte zwei orangefarbene Kleckse, die das Gebäude umrundeten: patrouillierende Vertrauensschüler.

»Feind nähert sich in etwa dreißig Sekunden von Osten«, sagte die elektronische Stimme in ihrem Kopfhörer. »Scharf rechts abbiegen. Jetzt los. Dreißig, neunundzwanzig, achtundzwanzig, siebenundzwanzig …«

Jessica rannte durch das Tor auf den verlassenen Schulhof. Sie hatte den hinteren Eingang fast erreicht.

»Stopp!«

Jessica lehnte sich mit klopfendem Herzen flach gegen die Wand.

»Feind geht vorbei. Fünf, vier, drei, zwei, eins«, sagte die Stimme.

Zwei Vertrauensschüler gingen auf den Fahrradschuppen zu. Sobald sie Jessica den Rücken gekehrt hatten, riss sie die Tür auf und stürmte in den Korridor. Sie holte tief Luft und wartete auf weitere Anweisungen.

»Den Flur in nördlicher Richtung zweihundert Meter weitergehen. Stehende Figuren voraus. Vorsicht angeraten.«

Sie bog um die Ecke und drückte sich an die Wand, während sie langsam den Korridor entlangging. Weiter vorn stritten sich zwei Jungs miteinander. Sie kam an einer Reihe von Schließfächern an und versteckte sich dahinter. Verflixt! Tommy Williams, ein Vertrauensschüler und Weltklasse-Schulhofschläger, versperrte ihr den Fluchtweg. Sie würde sich unmöglich herausreden können. Es wäre ihm nämlich ein großes Vergnügen, sie wegen Zuspätkommens anzuschwärzen.

Die Anweisung folgte. »Linken Korridor weitergehen. Weg frei bis zum Ziel. Fünf, vier, drei, zwei, eins.«

Jessica starrte auf den Bildschirm. Die Aufseher zogen sich zurück, wahrscheinlich in ihre eigenen Klassen. Sie zögerte. Tommys Zahnspange funkelte gefährlich, als er einen viel kleineren Jungen an den Schließfächern festhielt, in dessen Taschen wühlte und Münzen herausfischte.

Sie schaltete das Wärmebildprogramm aus und »Magnetisierung« ein. Diese Funktion hatte sie noch nie ausprobiert, fand sie aber cool. Sie scannte Tommys Gesicht ein und markierte seine riesige Zahnspange. Er sah wie einer der Häscher in James-Bond-Filmen aus.

»Mal sehen, wie dir das gefällt, Beißer

Klick.

»Was zum …«, sagte Tommy.

Eine Münze flog aus seiner Faust und blieb an der Zahnspange kleben.

Interessant. Sie verstärkte die Magnetisierungskraft mit der Maus. Noch mehr Münzen flogen in die Luft und hefteten sich an seinen Mund.

»Mann!«, schrie Tommy und schlug die Hände vors Gesicht. Die restlichen Worte waren unverständlich, als er den kleineren Jungen an den Aufschlägen seiner Jacke packte, ihn gegen die Schließfächer schleuderte und Drohungen murmelte.

»Ich hab nichts damit zu tun!«, protestierte der Junge.

Als Tommy eine Hand zur Faust ballte, um zuzuschlagen, verstärkte Jessica die Magnetisierung noch einmal. Die magnetisierte Zahnspange drehte ihn von seinem Opfer weg und ließ ihn mit dem Mund voran gegen die Schließfächer krachen. Er versuchte, sich loszureißen, aber die Zahnspange haftete fest.

»Hilfe!« Seine Stimme klang gedämpft.

Der Junge ergriff die Gelegenheit zur Flucht und sprintete den Korridor entlang. Jessica drückte auf die Aus-Taste und Tommy sackte in einem Sturzbach aus Münzen auf den Boden. Sie hatte keine Zeit, sich das lange anzugucken, rannte den linken Flur entlang und stürmte im selben Moment durch die Tür, in dem ihr Klassenlehrer sein rotes Heft zuklappte.

Oje.

»Wieder zu spät, Miss Cole.« Auf Mr Hatchams Gesicht breitete sich ein hämisches Grinsen aus. »Wir fühlen uns ja so geehrt, dass Sie geruhen, uns mit Ihrem Besuch zu erfreuen, anstatt den Laufsteg zu zieren.«

Jetzt richteten sich alle Blicke auf sie. Das war wirklich so was von peinlich! Becky lächelte sie mitfühlend an. Aus dem Augenwinkel konnte Jessica einen blonden Jungen sehen, der sie beobachtete. Jamie. Ihre Wangen wurden rot und heiß.

Mr Hatcham verschränkte die Arme über seinem dicken Bauch. Ein paar Hemdknöpfe hatten den Kampf aufgegeben, seinen Bauch bedeckt zu halten und waren aufgesprungen. Ihm gefiel das Ganze. Er machte sich immer über ihre Modelkarriere lustig, um sich bei ihren Mitschülerinnen und -schülern einzuschleimen. Da täuschte er sich aber gewaltig.

»Vielleicht hätten Sie irgendwann einmal Zeit, mir ein paar Dinge beizubringen«, fuhr er fort.

Er sprang auf die Füße und versuchte, wie ein Model auszusehen, indem er die Hand hinter ein Ohr legte und eine blöde Grimasse zog. Ein paar Mädchen kicherten. Merkte er gar nicht, dass sie über ihn und nicht über Jessica lachten? Sie hasste ihn. Am liebsten hätte sie ihn samt Schlange in den Tank geworfen.

»Tut mir leid«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich kann alles erklären.«

»Bestimmt, Miss Cole«, sagte er und zog eine Augenbraue hoch. »Sie können es mir, wann immer es Ihnen passt, heute Abend beim Nachsitzen erklären. Wir haben außerdem das Vergnügen, Jamie dabeizuhaben, der genauso unfähig ist, pünktlich zu erscheinen.«

Als Jessica seinen Namen hörte, machte ihr Herz einen Purzelbaum – so, wie immer. Jetzt schlug es schneller. Ahnte er, welche Wirkung er auf sie hatte? Sein Mund öffnete sich zu einem breiten Lächeln und zeigte perfekte weiße Zähne. Er schob seinen Stuhl geräuschvoll zurück und stand auf. Er gehörte zu den wenigen Jungen ihres Jahrgangs, die größer waren als sie. Außerdem hatte er von all dem Sport, den er trieb, einen super Körper. Sein Hemd dehnte sich eindrucksvoll über seinem Bizeps.

»Das Vergnügen ist ganz meinerseits.« Er verbeugte sich tief und grinste Jessica an.

Die Klasse klatschte und pfiff, und Jessica wurde feuerrot.

»Es reicht! Ruhe jetzt!«, schrie Mr Hatcham. »Setzen Sie sich, Jessica! Sie haben an diesem Morgen schon reichlich für Unruhe gesorgt. Becky, nehmen Sie diese lächerlichen Ohrringe raus, sonst können Sie mit Jessica und Jamie nachsitzen. Und denken Sie daran – niemand spielt gerne den Anstandswauwau.«

Jessica stürzte sich auf ihren Platz neben ihrer Freundin. Sie konnte sich nicht überwinden, Jamie beim Hinsetzen anzusehen; sie war schon rot genug. Wieso schaffte sie es, ruhig zu bleiben, wenn sie ihren Vater bei geheimen Einsätzen begleitete? Und warum verwandelte sie sich jedes Mal, wenn Jamie im Spiel war, in ein nervliches Wrack?

Sie guckte ihre Freundin an, die sich ihren ordentlichen schwarzen Bob hinter die Ohren klemmte und die baumelnden Totenkopf-Ohrringe herauszog.

»Schlechter Tag?«, fragte Becky leise.

Jessica seufzte. »Wie immer.«

Kapitel Drei

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»Endlich hast du ein Date mit Jamie an Land gezogen«, sagte Becky mit vollem Mund. »Glückwunsch!«

Sie knuffte Jessica mit dem Ellbogen, die auf der Bank ein bisschen weiterrutschte. Sie aßen ihre Brote in der Mittagspause immer im Park, sogar im Winter, um den klaustrophobischen Klassenzimmern und dem Lärm der jüngeren Schüler zu entfliehen.

»Das kann man wohl kaum ein Date nennen«, sagte Jessica. »Es ist Nachsitzen.«

»Aber du bist mit ihm allein! Alles kann passieren …« Becky legte ihren Kopf auf Jessicas Schulter und machte Knutschgeräusche.

»Du spinnst!« Jessica stieß ihre Freundin lachend von der Bank. »Es ist Nachsitzen mit ›Hackebeil‹ Hatcham, nicht Abendessen und Kino.«

»Trotzdem! Vielleicht muss er kurz den Raum verlassen, und eure Blicke können sich quer durch das Zimmer 4B treffen …«

»Sehr witzig.« Jessica streckte Becky eine Hand entgegen, um sie wieder auf die Bank zu ziehen. »Jamie hat schöne Augen und er ist superschlau und alles. Er bringt mich auch zum Lachen.«

»Und vergiss nicht, dass er einen tollen Body hat.«

»Echt? Ist mir noch gar nicht aufgefallen.«

Sie bekamen beide einen Kicheranfall.

Jessica wühlte in ihrem Rucksack und holte ihre Puderdose und das Lipgloss heraus. Sie machte die silberne Dose auf.

»Oooh, lass mich raten, was die beiden so draufhaben!«, sagte Becky. »Die Puderdose ist in Wirklichkeit ein Peilsender, damit wir Jamie jetzt gleich finden, und das Lipgloss ist eine Wanze. Damit können wir ihn belauschen, wenn er vor seinen Kumpels von dir schwärmt.«

Jessica verdrehte die Augen. »Du hast dir zu viele Spionagefilme angeschaut. Ich muss dich leider enttäuschen, aber die Puderdose ist tatsächlich – ähm – eine Puderdose, und das ist ein Lipgloss.« Sie klopfte Becky damit auf die Stirn, bevor sie eine dünne pfirsichfarbene Schicht auf die Lippen strich.

»Nicht alle Dinge in meinem Rucksack sind Geheimwaffen«, sagte sie. »Nur das iPad.«

»Wie du meinst!«

Jessica wühlte weiter und stöhnte. »Ich kann’s nicht fassen!«

»Was ist?«

»Ich hab Jane Eyre vergessen. Ich brauch das Buch für Englisch in der letzten Stunde!«

»Du hast noch Zeit, es zu holen, wenn du gleich losläufst. Ich kann dich beim ›Hackebeil‹ Hatcham entschuldigen, wenn du dich ein bisschen verspätest.«

Jessica umarmte sie und rannte los. Bei all dem Lauftraining, das sie heute absolvierte, könnte sie wirklich an der nächsten Olympiade teilnehmen. Sie kam an den Ealing Studios vorbei. Sonst versuchte sie immer, jemand Berühmtes zu entdecken. Sie und Becky hatten sogar einmal ein Autogramm von Robert Pattinson bekommen, als er in einem Historiendrama mitspielte. Aber heute hatte sie nicht die Zeit, auf irgendwelche Teenieschwärme zu warten. Sie musste so schnell wie möglich nach Hause.

Erst als sie an der Straßenecke ankam, an der die Chislett Street abzweigte, hörte sie auf zu rennen. Halb gehend und halb joggend kam sie an den hohen viktorianischen Häusern vorbei. Alle hatten hohe Schiebefenster und Buntglas über massiven Eichentüren. Ihr Haus, die Nummer 67, unterschied sich nur in einem Punkt von den anderen. Neben dem Eingang befand sich ein kleines goldfarbenes Schild mit der Aufschrift: Jack Cole, Privatdetektiv. Besucher übersahen oft die unscheinbare Plakette. Die anderen Unterscheidungsmerkmale des Hauses waren für das bloße Auge sogar noch unauffälliger: Das Glas sämtlicher Fenster war kugelsicher, und über den Fenstern waren Leisten angebracht, aus denen sich im Notfall Stahljalousien herabließen.

Jessica öffnete mit ihrem Schlüssel die Haustür, trat ein und blieb stehen. Seltsam. Die Alarmanlage funktionierte nicht. Ein gelbes Licht flackerte am Kasten und zeigte eine Fehlermeldung an. Ihrem Vater würde das kein bisschen gefallen. Nachdem er zwanzig Jahre lang für den MI6 gearbeitet hatte, war er extrem sicherheitsbewusst geworden.Vor neun Jahren war er an Multipler Sklerose erkrankt und hatte sich vorzeitig in den Ruhestand versetzen lassen. Danach hatte er eine Privatdetektei eröffnet und behauptet, nicht herumsitzen und auf den Tag warten zu wollen, an dem er im Rollstuhl landen würde.

Jessica tippte Ziffern am Kasten ein, um den Alarm zu reaktivieren. Ein fürchterliches Kreischen ertönte. Sie stellte den Lärm ab. Der Alarm funktionierte wieder. Mattie hatte wahrscheinlich daran herumgespielt. Ihre Großmutter übernachtete zurzeit bei ihnen und brachte sie langsam zum Wahnsinn, während ihr Vater die ganze Woche lang beruflich unterwegs war. Mattie kapierte einfach nicht, wie der DVD-Player funktionierte und erst recht nicht, wie mit der neuesten Sicherheitstechnik ihres Vaters umzugehen war. In technischen Dingen war sie eine Niete.

Jessica blickte hoch. Die Überwachungskamera hatte auch nicht funktioniert. Vielleicht hatte es einen Stromausfall gegeben. Sie ließ ihren Rucksack fallen und ging die Treppe hinauf, um ihr Buch zu holen, das neben ihrem Bett lag. Sie blieb stehen. Die Tür zum Arbeitszimmer stand offen, aber als Jessica am Morgen das Haus verlassen hatte, war sie zu gewesen. Hatte Mattie die goldene Regel verletzt und das Zimmer betreten? Unwahrscheinlich. Das würde sie nie wagen. Jessica trat näher.

Die erste Regel der Überwachung, die ihr Vater ihr eingeschärft hatte, war, stets die Umgebung zu beobachten. Am Schloss waren eindeutig Kratzer. Jemand hatte sich an der Tür des Arbeitszimmers zu schaffen gemacht. Jessica schaute wieder auf die Alarmanlage. Und dann hatte dieser Jemand vor dem Öffnen der Tür den Alarm und die Überwachungskamera außer Betrieb gesetzt.

Als Jessica ins Zimmer spähte, sah sie, dass es ordentlich und aufgeräumt war. Ein Foto ihrer verstorbenen Mutter auf dem Höhepunkt ihrer Model-Karriere nahm immer noch einen Ehrenplatz auf dem Eichenschreibtisch aus Thailand ein. Der Computer ihres Vaters stand auch noch da. Jessica machte schnell eine Runde durchs Erdgeschoss. Nichts schien abhandengekommen zu sein. Ein kleines Häufchen Geldscheine, das ihr Vater ihr dagelassen hatte, lag immer noch auf dem Küchentisch. Ein Einbrecher hätte sich die Beute doch sicher geschnappt? Es waren fast dreihundert Pfund – ein Volltreffer für einen zufälligen Eindringling.

Jessica starrte erneut ins Arbeitszimmer. Es war der einzige Raum, auf den es der Störenfried abgesehen hatte, was kein gutes Zeichen war. Hatte er das größte Geheimnis des Hauses entdeckt, das nicht einmal Mattie kannte? Das musste sie überprüfen. Ihr Vater hätte das Gleiche getan, wenn er hier gewesen wäre.

Als Jessica das Arbeitszimmer betrat, knarrte der Fußboden, und sie erschrak. Jemand stand hinter der Tür. Bevor sie sich umdrehen konnte, lag ein Arm auf ihrer Brust und ein Tuch bedeckte ihre Nase und ihren Mund. Ein süßer, ekliger Geruch drang in ihre Nasenlöcher. Sie riss an der behandschuhten Hand, verlor aber die Kraft. Sie fühlte sich schwach und hilflos wie eine schlaffe Stoffpuppe. Wieso konnte sie sich nicht rühren? Sie sollte versuchen, zu treten oder den Kopf in den Nacken zu werfen und ihren Angreifer umzuhauen – genau so, wie sie es beim Kickboxen gelernt hatte –, aber ihre Glieder gehorchten ihr nicht mehr. Ihr Kopf tat weh und ihre Knie gaben nach. Das Bild an der Wand drehte sich unentwegt und die Fußbodenbretter hüpften ihr entgegen. Dann wurde alles schwarz.

Als Jessica versuchte, die Augen zu öffnen, durchbohrte ein heftiger Schmerz ihre Stirn. Das Licht versengte ihre Augäpfel. Ihr wurde übel. Sie kämpfte gegen den Drang an, sich zu übergeben. Sie musste nachdenken. Der Eindringling war die ganze Zeit da gewesen und hatte sie außer Gefecht gesetzt. Wahrscheinlich mit Chloroform. Jessica öffnete die Augen, dieses Mal langsam. Die Decke des Arbeitszimmers wurde deutlicher. Sie versuchte, beide Arme und Beine nacheinander zu bewegen. Puh! Sie war nicht ernsthaft verletzt. Jessica setzte sich auf. Ihr Kopf drehte sich wieder.

Mann! Das war zu schnell. Als sie ihren Kopf zwischen die Knie klemmte, ließ das schummrige Gefühl nach. Jessica schaute auf ihre Uhr. Es waren nur wenige Minuten vergangen, aber der Fremde war wohl längst über alle Berge. Wer auch immer ins Haus gekommen war, musste ein Profi gewesen sein. Schließlich hatte er die Hightech-Alarmanlage ihres Vaters deaktiviert und war mit Handschuhen und Chloroform ausgerüstet gewesen. Es konnte kein gewöhnlicher Einbrecher gewesen sein. Aber wonach hatte er gesucht?

Jessica starrte auf das Bücherregal. Ihre Hand lag auf ihrem Handy in der Tasche ihres Blazers. Sollte sie die Polizei anrufen? Nein. Ihr Vater würde sie vielleicht nicht hineinziehen wollen. Da es sich offensichtlich nicht um einen normalen Einbruch handelte, würde er wahrscheinlich lieber eine ehemalige Kontaktperson vom MI6 benachrichtigen.

Es dauerte ein paar Minuten, bis sie das Gefühl hatte, aufstehen zu können. Sie stützte sich am Schreibtisch ab. Als das zu klappen schien, konzentrierte sie sich auf die Bücherregale und ging direkt darauf zu. Die Entstehung der Arten von Charles Darwin stand rechts der Mitte. Sie griff nach dem großen Buch, aber es war schon nach vorne gekippt. Das Bücherregal war einen Zentimeter weit von der Wand gerückt worden.

Jemand kannte tatsächlich die Geheimnisse des Hauses und hatte die verborgene Tür ihres Vaters geöffnet. Jessica holte tief Luft und zerrte am Bücherregal.

Kapitel Vier

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Kalte, abgestandene Luft stieg Jessica in die Nase, als sie die Tür hinter sich zuzog und den Aufzug betrat. Sie drückte auf den Knopf auf der linken Seite und ging in die Hocke. Ihre Beine fühlten sich immer noch wie Wackelpudding an. Der Fahrstuhl machte einen Ruck und fuhr in den Keller. Als er stehen blieb, stemmte sie das Gitter hoch.

Becky würde Jessica nie glauben, wenn sie ihr von dem Bunker erzählen würde. Die Wände und Decken waren mit einer Titan-Aluminium-Legierung versehen worden, die kugel- und bombensicher war. Selbst wenn das Haus mit Raketen angegriffen würde, wäre man hier unten in Sicherheit. Ihr Vater lagerte sogar Lebensmittel und Wasser, die eine Woche lang reichen würden.

Jessica drückte auf einen Knopf und eine Computeranlage leuchtete auf. Sie schaute sich um. So hatte sie den Raum am Abend zuvor nicht zurückgelassen! Als sie sich das iPad auslieh, hatte sie darauf geachtet, dass alles so blieb, wie sie es vorgefunden hatte. Ihr Vater würde sie umbringen, wenn er meinte, sie hätte die Geräte unbeaufsichtigt benutzt. Aktenordner mit der Aufschrift »MI6 Vertraulich« lagen verstreut auf dem Fußboden. Sie ging in die Knie und schlug einen Ordner auf. Er enthielt die Namen von MI6-Agenten in Algerien. In einem anderen Ordner waren französische Agenten aufgelistet, und ein dritter trug die Aufschrift »Vectra«. Er enthielt das unscharfe Foto eines dunkelhaarigen Mannes mit Sonnenbrille.

Jessica holte ihr Handy heraus und wählte die Nummer ihres Vaters, aber es meldete sich wieder nur der Anrufbeantworter.

Und jetzt?