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   Frank Otfried July– Das Gebet der Gebete– Gedanken zum Vaterunser– SCM R.Brockhaus
 SCM– Stiftung Christliche Medien

ISBN 978-3-417-22667-6 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book:
CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

© 2013 SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG Bodenborn 43 · 58452 Witten

Die Bibeltexte sind folgender Ausgabe entnommen: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Bildnachweise: Dietmar Reichert: 16, 26 | shutterstock: Pincasso Cover, IngridHS 38, Jean-Francois Rivard 48, Symbiot 54 Irina Fischer 64, Roman Sigaev 76, Steve Siewert 84, Mateusz Skalski 90

Der Übersichtlichkeit halber werden alle Zitate in neuer Rechtschreibung wiedergegeben.

Umschlaggestaltung: Yellow Tree – Agentur für Design und Kommunikation | www.yellowtree.de

Inhalt

Das Vaterunser – das „Gebet der Gebete“?!

Vertraut und doch fremd – ein Blick auf das Vaterunser

Vater unser im Himmel

Geheiligt werde dein Name

Dein Reich komme

Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden

Unser tägliches Brot gib uns heute

Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern

Und führe uns nicht in Versuchung

Sondern erlöse uns von dem Bösen

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit

Ein Schatz, den es zu entdecken gilt – zur Bedeutung des Vaterunsers

Ein jüdisches Gebet

Ein ökumenisches Gebet

Ein Trostgebet

Zum Schluss

 

Dank

Verwendete Literatur

Anmerkungen

Für Edeltraud – Gefährtin im Leben und im Beten

Das Vaterunser – das „Gebet der Gebete“?!

In Stuttgart, wo ich wohne, gibt es im Rathaus einen sogenannten Paternoster. Es ist eine Aufzugform, die heute sehr selten geworden ist. Man kann – so man in eine Kabine gelangt ist – darin bleiben und weiterfahren, so lange man möchte. Wie Perlen an einer Schnur sind die Kabinen aneinandergereiht und bringen die Passagiere von Stockwerk zu Stockwerk.

Auch die Bitten des Vaterunsers sind nacheinander aufgereiht wie Perlen an einer Schnur. Mich erinnert das an die Praxis der Gebetsschnüre. Und tatsächlich gibt es im katholischen Brauchtum eine Paternosterschnur, eine Art Zählschnur für das Beten. Bestimmte Kugeln auf der Schnur deuten an, dass nun das Vaterunser (lateinisch: Paternoster) gebetet werden soll. Davon abgeleitet hat der Paternoster seinen Namen erhalten. Das Vaterunser war also ein so geläufiges Gebet, dass es diese Assoziation ausgelöst hat: Bitten wie Perlen an einer Schnur.

Christen sprechen viele verschiedene Gebete. Sie beten täglich, wöchentlich, hin und wieder. Sie beten in sehr persönlichen Worten, sie verwenden vorformulierte Gebete. Sie danken in Situationen des Gelingens, der Bewahrung, der Gesundung. Sie suchen Trost und Kraft in Herausforderungen und in Situationen des Scheiterns, in Krankheit, Tod und Abschied.

Christen beten überall auf dieser Welt. Sie versammeln sich, formulieren gemeinsam Fürbitten, um Gott in der Ungerechtigkeit, Gewaltsamkeit oder sozialen Not ihres Lebens um Hilfe zu bitten: Sie beten für das Kommen einer neuen Wirklichkeit, die die Wirklichkeit dieser Welt beendet. Ob persönlich oder gemeinschaftlich: Christen sprechen Gebete – authentisch, persönlich, anrührend, bewegend.

Ist der Titel dieses Buches – Das Gebet der Gebete – nicht anmaßend, weil er die tausenden Bittrufe jedes Tages mindert, während er das Vaterunser als qualitative Steigerung behauptet? Weil er das Gebet der Gebete als Gipfel betrachtet, um alle anderen Gebete als überwundene Stufen des Betens anzusehen?

Ja und Nein. Ja, weil natürlich jedes Gebet, und sei es nur ein verzweifelter kurzer Hilferuf, vor Gott zählt. Und Nein, weil uns diese Formulierung letztlich auf den verweist, der als Jesus von Nazareth Gottes Nähe unter den Menschen gezeigt hat, der das Gesicht Gottes in Zeit und Geschichte ist.

Jesus Christus redet zu den Menschen, verkündigt das Reich Gottes und zeigt, dass es in ihm schon angebrochen ist. Er heilt, spricht Menschen von ihrer Schuld frei, ruft zur Umkehr und zum Neubeginn mit Gott auf. Er geht mit ihnen den Weg des Lebens. Auf diesem Weg gibt er ihnen – wenige – Worte des Gebets. Denn weniger ist mehr. Er schenkt sie, damit Menschen Worte für Gott haben, auch wenn sie sprachlos sind.

Deshalb dürfen wir Jesu Worte „das Gebet der Gebete“ nennen: Jesus selbst betet es uns vor. Wir können es beispielsweise sprechen, wenn uns kein eigenes Wort mehr zur Verfügung steht. So lässt es uns nicht in Sprachlosigkeit fallen.

Das Vaterunser ist das Gebet, das die Christenheit seit 2 000 Jahren betet. Ein universales Gebet. Nicht nur im historischen Horizont, auch im gegenwärtigen. In dieser Welt wird sicher zu jeder Zeit an irgendeinem Ort das Vaterunser gebetet. Ob persönlich, ob in Andachten, ob in Kirchen vor der versammelten Gemeinde, ob im Stillen oder öffentlich. Erklingt es auf der einen Seite der Erde als Abendgebet nach einem langen Tag, so stehen am anderen Ende schon Menschen auf, um das Vaterunser als Morgengebet zu sprechen.

Schon als Kind beeindruckte mich – manchmal mehr als die lange und schwierige Predigt des Pfarrers –, wenn nach längeren Fürbitten „endlich“ das Vaterunser gesprochen wurde. Vielleicht spielte auch eine Rolle, dass das Ende des „Erwachsenengottesdienstes“ nun absehbar war. Wie auch immer: Alle sprachen gemeinsam dieses Gebet, das Vaterunser. Alle konnten es, auch die, denen ich das vielleicht nicht zugetraut hätte. Alle beteten es, und die Glocken läuteten dazu. Ich stellte mir vor: Jetzt sprechen wir wie Gott; Gott selbst ist da in diesem Gebet. Es läutet. Wie bei meiner katholischen Tante bei der „Wandlung“ in der Messe. Bei „uns“ ist Gott im Vaterunser da.

Diese kindliche Faszination, die sicher nicht nur ich empfunden habe, hat sich mit den Jahren ein wenig verändert. Und dennoch: Es ist und bleibt für mich das Herrengebet.

Es gibt aber auch andere Erfahrungen: Für manche Christinnen und Christen klingt das halblaute Gemurmel wie ein halbherziges Herunterleiern von Formeln, die sie gar nicht mehr füllen können. Manchen fehlt der innere Bezug zur Bedeutung der Worte, die da gesprochen werden. Schuld, Versuchung, Reich – diese religiösen Begriffe sind im Alltag fast nicht mehr vorhanden. Sie müssen neu mit Erfahrungen und Bildern gefüllt werden, damit sie etwas in uns zum Klingen bringen.

Viele Menschen kennen das Vaterunser auch nicht mehr auswendig, weil sie es so selten sprechen, nur ab und an in einem Taufgottesdienst, bei einer Beerdigung oder am Heiligen Abend. Allerdings lässt sich die Erfahrung machen, dass es leicht ist, wieder einzusteigen, wenn doch so viele um einen herum dieselben Worte sprechen. Dann kann dieses Gebet wie ein tragender Teppich aus Worten sein.

Warum ist das Vaterunsergebet von solch einer tragenden Bedeutung, dass es 2 000 Jahre lang im Christentum überliefert wurde und bis heute regelmäßig in Gottesdiensten gebetet wird? Warum ist es bis heute wichtig? Dieser Spur möchte ich in diesem Büchlein nachgehen. Ich lade Sie ein, die Kraft des jahrtausendealten Gebets auch für sich neu zu entdecken.

Um noch einmal auf das Bild vom Paternoster zurückzukommen: Der Schriftsteller Heinrich Böll hat die Aufzugform auf eigene Weise mit dem Beten in Verbindung gebracht: „Es ist mit dem Beten, als wenn du vor einem Aufzug stehst und Angst hast, aufzuspringen. Du musst immer wieder ansetzen, aber dann auf einmal bist du im Aufzug drin, und er trägt dich hoch …“1

Vertraut und doch fremd – ein Blick auf das Vaterunser

Wir beten das Vaterunser im „vertrauten Rahmen“, in der Fassung, die sich zum Beispiel in unseren Gesangbüchern findet. Diese Fassung ist vielen von uns von Jugend an bekannt. Wir haben sie möglicherweise von klein auf im Gottesdienst gehört und später im Konfirmandenunterricht gelernt. Dadurch hat dieses Gebet uns in gewisser Weise geprägt.

Das Vaterunser geht zurück auf Jesus selbst. Deshalb hören wir im Gottesdienst oft die Formulierung: „wie Jesus uns gelehrt hat.“ Wir verweisen darauf, dass Jesus seinen Jüngern erklärt hat, wie sie beten sollen. Damit hat er auch Christen im 21. Jahrhundert ein Vorbild gegeben. Er hat gezeigt, wie es gehen kann, und daran halten wir uns bis heute, indem wir das Vaterunser sprechen. Ja, überhaupt, wenn wir beten. Denn „der betende Jesus ist nicht nur das Urbild, er ist die Voraussetzung für alles christliche Beten.“2

Gut zu wissen ist, dass das Vaterunser im Neuen Testament in unterschiedlichen Fassungen weitergegeben wird. Der Evangelist Matthäus gibt eine längere Form wieder (Matthäus 6,9-13) als Lukas (Lukas 11,2-4). Man vermutet, dass diese wegen der älteren Sprachform die ursprünglichere ist. Zu den beiden Texten aus den Evangelien kommt noch eine Fassung in der Apostellehre (Didache 8,2) aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts nach Christus, die der des Matthäus sehr nahekommt.

Geschichtliche Quellen belegen, dass das Vaterunser Eine unglaubliche Tradition!
Wir beten mit Worten,