Cover
Janita Pauliks – Internat Gut Wolkenstein – Aller Anfang ist schwer – SCM

ISBN 978-3-417-22824-3 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2015 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten

Die Bibelstellen sind folgender Ausgabe entnommen:

Coverillustration: Elke Broska, Wiesbaden

Inhalt

Prolog

Ein verhängnisvoller Tag

Hoffnungsschimmer

Internat Gut Wolkenstein

Abschied

Der Hahnenkampf

Glücklicher Zufall

Exkursion mit Folgen

Strafe muss sein

Das Wiedersehen

Eine geniale Entdeckung

Keine andere Wahl

Lügen haben kurze Beine

Mit Volldampf voraus

Und los geht’s

Die Entscheidung

Höhenflug

Das muss gefeiert werden

Herzenssache

Ein riesiges Dankeschön!

Zur Autorin

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Prolog

Die Wiese ist grün wie mein Nike-Pullover, den ich mir heute Morgen übergeworfen habe. Meine Beine baumeln über den wuscheligen, weißen Wattebauschen, die blökend unter mir an den Grasbüscheln knabbern. Ich starre vergnügt Löcher in die Luft, während der seichte Wind durch meine langen blonden Haare streicht. In der Ferne hört man Stimmen. Hier oben bin ich sicher, denke ich und muss schmunzeln. Die dichte Blätterhaube des Pflaumenbaumes macht mich so gut wie unsichtbar. Von hier oben hat man die ganze Umgebung im Blick. Weit und breit ist niemand zu sehen.

Das stattliche Rittergut liegt ruhig zwischen den riesigen Bäumen. Ein Fluss schlängelt sich dahinter entlang und schimmert blau und silbern im warmen Sonnenlicht. Das prachtvolle Haupthaus des Guts steht zwischen mehreren kleineren und weniger prunkvollen Nebengebäuden. Das metallene Eingangstor des Haupthauses steht offen und gibt die Sicht auf den Weg frei der, gesäumt von hohen Pappeln, idyllisch vom Gut wegführt. Er steuert geradewegs auf einen seichten Hügel zu und verliert sich dahinter in der Unendlichkeit. Im Hof des Guts zieren jede Menge bunte Blumen die Beete.

Ich liebe diesen Ort! Hätte mir das jemand noch vor einem Jahr gesagt, wäre ich wahrscheinlich ausgeflippt. Alles schien mir damals zu entgleiten. Ich hatte das Gefühl, alles Vertraute für immer verloren zu haben. Aber nach jeder Nacht kommt ein neuer Morgen. Keine Ahnung, warum ich so geschwollen daherrede, muss mit dieser Aussicht zu tun haben.

Ich heiße übrigens Mila. Mein Vater würde zwar auf Melanie bestehen, aber so nennt mich fast keiner außer ihm.

Während mein Vorname ganz okay ist, schießt mein Nachname echt den Vogel ab – Meisentöter. Ich könnte jedes Mal ’ne Heulattacke kriegen, wenn ich dran denke, dass man diesen kleinen niedlichen Dingern etwas antun könnte. Ich kann eigentlich keiner Fliege etwas zuleide tun und muss trotzdem mit so einem Namen rumlaufen. Na ja, Spinnen sind da die große Ausnahme, die find ich total ekelig – da hau ich auch schon mal drauf. Also wäre Melanie Spinnentöter echt angebrachter.

Zu meinem Vater passt der Name sogar. Er ist Pilot bei der Lufthansa und hat mit Sicherheit schon einige Meisen beim Landeanflug „erlegt“. Oder ihnen zumindest einen riesigen Schreck eingejagt, wenn sie gegen seine große Windschutzscheibe geflogen sind. Ja, mein Papa … Hätte er nicht so einen familienunfreundlichen Beruf, wäre ich hier nie gelandet. Und da wäre mir ganz schön was entgangen! So ein Internat ist halt schon etwas Abenteuerliches. Und ich glaube, das Internat Gut Wolkenstein ist unschlagbar!

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Ein Jahr vorher …

Ein verhängnisvoller Tag

Mensch, heute hatte der Möller aber ’ne ganz schön lange Leitung!“, schnaubt Lisa und kickt einen Stein vom Gehweg.

„Ich dachte schon, er hört gar nicht mehr auf zu reden“, sage ich und kann meine Erleichterung, endlich auf dem Weg nach Hause zu sein, nicht verbergen.

„Was hast du heute geplant?“, fragt Lisa und grinst mich mit ihrem Honigkuchenpferd-Gesicht an.

„Meine Omi und ich wollen den Stadtpark unsicher machen und danach geht’s noch zu Anton, ihrem Tangopartner. Sie wollen mir ein bisschen was beibringen, damit ich mich auf dem Schulfest vielleicht doch ein wenig zum Rhythmus bewegen kann.“

„Mensch, deine Omi hat noch ganz schön was drauf – so fit möchte ich in dem Alter auch mal sein!“, murmelt Lisa und stopft sich einen Schokoriegel in den Mund. „Wir sehen uns morgen!“, sagt sie dann und dreht in ihre Straße ab.

„Mach’s gut“, schreie ich noch hinter ihr her, aber ein vorbeidonnernder LKW verschluckt meinen Gruß und hüllt mich in eine stinkende Abgaswolke.

Puh! Ich rümpfe meine Nase. Schon biege ich in die nächste Seitenstraße ein und bin froh, dass ich in wenigen Schritten zu Hause bin.

In meiner Straße sehen fast alle Häuser gleich aus. Aneinandergereiht wirken sie wie Schuhschachteln. Zum Glück ist darin ein bisschen mehr Platz. Zumindest mehr, als unser Garten vermuten lässt. Er ist gerade mal groß genug, um ein Planschbecken darin aufzubauen (nicht, dass ich mich noch in so ein albernes Ding reinsetzen würde). Mein Freund Daniel und ich machen immer aus der Platznot eine Tugend und benutzten die Hecke, die zwischen unseren Minigärten steht, als Netz für Volleyball und Badminton. Ganz praktisch!

Endlich stehe ich vor unserem kleinen Haus, das man nur durch die Hausnummer, die beiden Terrakottakübel vor der Tür und die bunten Blumen, die ich an alle Fensterscheiben gemalt habe, von den anderen unterscheiden kann. Ich drücke auf den Klingelknopf, der direkt unterhalb der Nummer 255 angebracht ist. Ein nerviges „Kuckuck“ hallt durch das Innere des Hauses. Nichts passiert. Wo steckt Omi? Eigentlich wartet sie jeden Tag nach der Schule auf mich und winkt mir fröhlich aus dem Küchenfenster zu.

Meine Omi … Wenn mein Papa auf Reisen ist, und das kommt ja nun ständig vor, kümmert sie sich rund um die Uhr um mich. Nachdem meine Mutter kurz nach meiner Geburt – aus Gründen, die keiner kennt oder die zumindest niemand verraten will – einfach aus Papas und meinem Leben verschwand, wurde Omi zu meiner Ersatzmama und zu Papas „guter Fee“, wie er immer sagt. Die Sache mit meiner Mutter wird mir wahrscheinlich immer Bauchschmerzen bereiten. Wie kann eine Mutter einfach aus dem Leben ihres Kindes verschwinden? Jedenfalls hat Omi damals sogar ihre Arbeit an den Nagel gehängt, um sich um mich zu kümmern. Sie verbreitet immer eine fröhliche Stimmung und bringt uns Sonnenschein.

Seltsam! Irgendetwas stimmt hier nicht … Was ist nur passiert? Ich kratze nervös mit meinen Schuhen über die staubigen Pflastersteine vor unserer Haustür. Ein unangenehmes Gefühl macht sich in meiner Magengegend breit. Das sieht Omi überhaupt nicht ähnlich! In den ganzen letzten Jahren ist es heute das erste Mal, dass ich so lange vor der Tür stehen muss. Ich habe nicht einmal einen Schlüssel, um in das Haus zu kommen.

Ich schmeiße meine Schultasche vor die Tür und versuche, durch das Küchenfenster reinzuschauen. Doch dummerweise lässt meine winzige Körpergröße das nicht zu. Meine beste Freundin Lina nennt mich immer Zwerg, weil ich gerade mal so groß wie ihr achtjähriger Bruder Luka bin.

Der Blumenkübel!, schießt es mir durch den Kopf und ich zerre das megaschwere Ding unter das Fenster. Während ich versuche, mit den Füßen auf dem Terrakottakübel Halt zu finden, ziehe ich mich vorsichtig an der Fensterbank hoch. Bevor der Kübel jedoch unter meinem Gewicht mit einem lauten Krachen auseinanderbricht, erhasche ich einen kurzen Blick in die Küche. Mein Herz fängt jetzt vor Angst an zu hämmern. Omi liegt leblos auf dem Küchenboden! Was kann ich bloß tun? Ich schaue mich hilflos um, doch die Straße ist wie leergefegt. Panik erfasst mich und ich schnappe nach Luft. Meine Gehirnzellen drehen sich wie in einer schlammigen Brühe. Da fällt mein Blick auf das gekippte Toilettenfenster und ich mache mich daran, den anderen Terrakottakübel unter dieses Fenster zu zerren. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn, aber ich arbeite wie verrückt.

„Bitte lass den Kübel halten“, hauche ich in den Himmel, als ich hinaufklettere und mich dann bis hoch auf die Fensterbank ziehe. Mit aller Kraft drücke ich meinen Arm durch den Spalt des geöffneten Fensters und beiße mir auf die Zähne, um den Schmerz nicht zu spüren. Nur noch ein paar Millimeter, denke ich und drehe meine Hand zum Fenstergriff. In einem unnatürlichen Winkel hängt mein Arm jetzt in dem Fensterspalt und ich versuche den Griff umzulegen. Mit lautem Krachen schlägt das Fenster auf und reißt sämtliche Dekoutensilien von der Fensterbank. Ich springe ins Haus und lande in den Scherben, die über den ganzen Badezimmerboden verteilt sind. Schnell rapple ich mich auf, um nach Omi zu schauen. Wie mechanisch bewege ich mich in die Küche.

„Omi, Omi!“, schreie ich und beuge mich über sie.

Mit meinen zitternden Fingern taste ich ihren Hals ab. Da! Ein Schauer rinnt über meinen Rücken als ich feststelle, dass ihr Herz noch schlägt. Notarzt!, schießt es mir durch den Kopf und ich springe auf die Füße und laufe in den Flur zum Telefon, um mit zitternden Fingern die Nummer des Notrufs einzutippen.

Alles verläuft wie in einem Traum: Knapp beantworte ich die Fragen, die mir die Person am anderen Ende der Leitung stellt. Mir wird übel und schwindelig. „Es kommt gleich Hilfe – versuche Ruhe zu bewahren!“, sagt die Stimme.

Reiß dich zusammen!, sag ich zu mir selbst, als ich das Telefon zur Seite lege und mich auf meine wackeligen Beine stelle, um zu Omi zu eilen. Ich hocke mich neben sie und halte ihre Hand. Tränen kullern mir über die Wangen.

„Vater im Himmel – nicht Omi! Sie ist mit Papa alles, was ich habe!“, bitte ich Gott.

In der Ferne ertönt ein Martinshorn.

Auch wenn ich durch das dunkle Tal des Todes gehe, fürchte ich mich nicht, denn du bist an meiner Seite, kommt es mir plötzlich in den Sinn und ich merke, wie mein Herz aufhört, so schmerzhaft in meiner Brust zu hämmern.

„Danke!“, sage ich und schicke noch einige Stoßgebete zum Himmel, bis der Krankenwagen endlich vor unserem Haus anhält.

Ich sprinte zur Haustür und reiße sie auf. Unwirklich spielt sich das Geschehen vor meinen Augen ab: Sanitäter drängen sich um Omi, Befehle werden hin- und hergeschickt, einer der Männer setzt mich in den Flur auf einen Stuhl, überprüft meinen Puls und redet mit mir. Alles scheint ganz weit weg abzulaufen. Dann werde ich in den Notarztwagen gesetzt, während meine Omi auf einer Trage in den Krankenwagen geschoben wird. Wieder kullern Tränen über meine Wangen. Mir ist kalt, obwohl mich einer der Sanitäter in eine Decke gewickelt hat. Mit Martinshorn und Blaulicht rasen wir durch die Straßen, die ich eigentlich so gut kenne, die mir aber in dieser Situation völlig fremd und unbekannt vorkommen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir das Krankenhaus. Dort begleitet mich ein Sanitäter in einen kleinen Behandlungsraum, wo ich mich auf eine Liege setze. Omi wird an meinem Zimmer vorbeigeschoben, umringt von Ärzten und Sanitätern, die sich kurze Informationen zurufen. Ich fange an am ganzen Körper zu zittern und werde auf die Liege gelegt. Meine Beine liegen jetzt auf einem großen kissenähnlichen Ding. Ein Arzt redet beruhigend auf mich ein, überprüft meinen Puls. Eine Krankenschwester gibt mir etwas zu trinken und ich fühle mich bald schon wieder ein wenig besser.

„Was ist mit meiner Omi?“, frage ich die freundliche Schwester, die irgendetwas in eine Krankenakte schreibt.

Sie schaut von ihrer Arbeit auf, lächelt mich aufmunternd an, kommt zu mir und setzt sich neben mich auf die Liege. Dann hält sie mir ihre Hand hin und stellt sich vor: „Ich bin Schwester Ines.“

„Mila“, sage ich kurz und schüttle etwas verunsichert ihre Hand.

„Ich kann dir noch nichts Genaues sagen“, bedauert sie, „aber alle Symptome deuten auf einen Schlaganfall hin.“

Ich merke, wie sich mein Herz zusammenzieht und mich wieder diese elende Panik überkommt. Schwester Ines legt ihren Arm um meine Schultern und drückt mich. „Was ich dir aber mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass die Ärzte für deine Omi alles Erdenkliche tun werden.“ Ein warmer Schauer durchflutet meinen Körper und verlegen nippe ich an meinem Tee. „Dein Vater wurde auch schon benachrichtigt. Er wird kommen, sobald er einen Ersatzmann für seinen nächsten Flug gefunden hat.“

Papa! Ich hoffe, dass er bald kommt.

„Wenn du magst, kannst du auch in den großen Warteraum gehen, dann schau ich dort immer mal nach dir“, schlägt Schwester Ines vor.

Ich nicke und steige von der Liege. Schwester Ines nimmt mich an die Hand und bringt mich in einen Wartesaal, wo auch schon andere Menschen auf Hilfe oder Informationen warten. Sitzgelegenheiten gibt es hier genug und an einer Wand hängt ein Fernseher, aus dem Stimmen plärren. Anscheinend läuft gerade irgendeine Serie. Ein kleines Mädchen hüpft durch den Raum und zieht die Blicke der Wartenden auf sich. Ich setze mich in eine Ecke und umklammere meine Tasse.

„Ich komm gleich wieder und schaue nach dir“, sagt Schwester Ines und streichelt mir über den Arm.

Ich sehe ihr nach und verliere mich bald in meinen Gedanken, die um das, was geschehen ist und geschehen wird, kreisen. Ich fühle mich vollkommen hilflos und bestürme innerlich Gott, mir zu helfen und vor allem auf Omi aufzupassen. Wieder spüre ich, dass er mich niemals loslässt, und schließe meine Augen, um mich ein wenig auszuruhen. Die Geräusche um mich herum werden immer leiser, bis es in mir ganz still ist. Dann träume ich: Ich tanze mit Omi durch den Park, wir lachen zusammen, pflücken wunderschöne Blumen und halten uns an den Händen. Doch plötzlich ist die Hand, die ich halte, ganz kalt. Ich drehe mich zu Omi um und merke, dass ich sie hinter mir herschleife.

Ich schreie „Omi! Omi!“, und reiße meine Augen auf.

„Alles wird gut, meine Kleine! Beruhige dich!“ Papa hält mich in seinen starken Armen und streichelt über meine Haare. „Das war nur ein Traum“, flüstert er und zieht mich auf seinen Schoß.

Alle anderen im Raum schauen erschreckt zu mir herüber und ich vergrabe mein Gesicht in der Jacke meines Papas. „Omi wird es schaffen. Da bin ich mir ganz sicher, meine Kleine“, flüstert er.

Ich muss bitterlich weinen und schluchze unkontrolliert. Papa hält mich fest und streichelt mir beruhigend über den Rücken. Nach einer Weile geht es wieder einigermaßen. Papa wischt mit einem Taschentuch mein Gesicht trocken und versucht, mich aufmunternd anzulächeln.

„Entschuldige, dass ich nicht da war“, sagt er und nimmt mich wieder in seinen Arm. „Meine tapfere kleine Maus“, flüstert er in mein Ohr. „Ich liebe dich!“

Ich kann nicht anders. Das erste Mal nach meinem Schockerlebnis formt sich mein Mund zu einem Lächeln.

„Was hältst du davon, wenn wir zusammen in die Cafeteria gehen und dort weiterwarten?“, fragt Papa.

„Gerne!“, sage ich und lasse mich von ihm mitziehen.

In der Cafeteria ist die Stimmung um einiges entspannter. Hier und da hört man sogar jemanden lachen. Papa und ich setzen uns in eine gemütliche Sitzecke, direkt an eines der riesigen Fenster, die den Raum hell und fröhlich wirken lassen.

„Ich brauch jetzt erst mal einen Kaffee“, stöhnt Papa. „Was kann ich dir mitbringen?“

„Einen heißen Kakao“, sage ich dankbar.

„Irgendetwas zu essen?“, fragt Papa und mir fällt ein, dass ich heute noch gar nichts außer meinem Frühstück gegessen habe. Aber trotzdem habe ich keinen Appetit und schüttle den Kopf.

Nach einigen Minuten kommt Papa mit einem Tablett zurück. Er reicht mir meinen Kakao. Mir fällt auf, dass sein Gesicht von tiefen Falten zerfurcht ist, die dort sonst nicht sind, und seine Augen traurig aussehen. Ich nehme Papas Hand und drücke sie fest. Papa schaut auf und lächelt ein wenig angespannt zu mir rüber.

„Als Omi da so leblos auf dem Fußboden gelegen hat, hab ich eine wahnsinnige Panik bekommen und ich musste nach Luft schnappen“, erzähle ich. „Doch plötzlich fiel mir Omis Lieblingsvers ein: ‚Und wenn ich auch wandere durchs finstere Tal, fürchte ich kein Unglück.‘ Als ob Gott sagen wollte: ‚Hey Mila, ich bin da! Du brauchst dich nicht zu fürchten.‘ Danach wurde ich echt ruhiger.“

„Bei mir war es ähnlich, als ich die Nachricht vom Krankenhaus bekam“, sagt Papa. „Mir schoss sofort in den Kopf, dass Gott Omi in seinen Händen hält und bei uns ist.“ Papa nimmt meine Hände in seine und schaut mich forschend an. Um meinen rechten Arm ist ein ordentlicher Verband gewickelt. „Die Krankenschwester hat gesagt, dass du Omi gerade noch rechtzeitig gefunden hast. Wobei hast du dir denn diese Verletzung zugezogen?“

Er blickt auf den verbundenen Arm und ich erzähle ihm, wie ich ins Haus eingestiegen bin.

„Na, zum Glück war das Fenster gekippt“, meint Papa. „Ich glaub, nach dem Vorfall muss ich wohl doch in den sauren Apfel beißen und dir ein Handy besorgen.“

„Ein Haustürschlüssel würde es vielleicht schon tun, aber ein Handy ist auch nicht verkehrt“, sage ich und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, weil ich schon seit Monaten mit Papa darüber diskutiere.

Papa will gerade etwas erwidern, da erklingt über die Lautsprecher eine Durchsage. „Herr Meisentöter bitte zur Notaufnahme!“

Ein Raunen und Tuscheln geht durch die Cafeteria und einige Leute lachen sogar.

Am Tisch neben uns sagt eine Frau entrüstet: „Wie kann man nur so einen Namen haben!“

Als Papa in diesem Moment aufsteht und mit mir zur Tür eilt, hält sie sich beschämt die Hand vor den Mund.

Wir laufen so schnell wie möglich zur Notaufnahme, wo wir von Schwester Ines in Empfang genommen werden.

„Ihre Mutter hat erst einmal das Schlimmste überstanden und liegt auf der Station für Schlaganfallpatienten. Wenn Sie möchten, bringe ich Sie jetzt zu ihr“, erklärt sie und läuft, ohne auf unsere Antwort zu warten, voraus.

Wir folgen ihr in einen Aufzug, der uns in kürzester Zeit in eine der oberen Etagen bringt. Mein Magen wird flau und ich habe das Gefühl, an die frische Luft gehen zu müssen. Trotzdem tapse ich hinter der Schwester her und halte die Hand meines Papas fest. Vor einer Tür hält Schwester Ines plötzlich an und schaut ein wenig besorgt in meine Richtung.

„Vielleicht gehen Sie erst einmal alleine zu ihr herein und Mila wartet da vorne bei den Stationsschwestern.“ Sie nickt mir zu und ich folge ihr, während mein Papa mich mit schmerzerfülltem Gesicht ansieht. Dann öffnet er vorsichtig die Tür des Zimmers und verschwindet.

Im Schwesternzimmer werde ich an einen Tisch gesetzt. In meinem Kopf fangen meine Gedanken wieder an zu kreisen wie in einer Rührmaschine. Meine Finger verhaken sich ineinander und ich rücke unruhig von einer Pobacke auf die andere. Eine Schwester lächelt mir aufmunternd zu und wendet ihren Blick dann wieder einer Krankenakte zu. Ich fühle mich so einsam wie noch nie – und das, obwohl mehrere Personen im Zimmer ein- und ausgehen und der Raum mit den verschiedensten Geräuschen erfüllt ist. Danke, dass du wenigstens bei mir bist!, denke ich und weiß, dass Gott mir nah ist.

Die nächsten Minuten kommen mir vor wie Stunden und Tage, und als mein Papa endlich in der Tür erscheint, um mich abzuholen, fühle ich mich so müde und schlapp, als ob ich zwei Kilometer gerannt wäre.

Papa hilft mir hoch und sagt: „Ich bringe dich jetzt lieber nach Hause, meine kleine Maus.“

Nur zu gerne gehe ich, in Papas stützenden Arm eingehakt, mit ihm.

Zu Hause angekommen, legt Papa mich in mein Bett und setzt sich neben mich. In Sekundenschnelle übermannt mich ein tiefer Schlaf.

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Hoffnungsschimmer

Hey, meine kleine Schnarchnase, du darfst jetzt ruhig mal deine Augen öffnen!“

Durch das Fenster strahlt die Sonne in das Zimmer und ich kneife die Augen zusammen. Papa kniet neben dem Bett und schaut mich liebevoll, aber mit sorgenvollen Augen an.

„Wie geht es dir heute?“, fragt er und ich überlege, ob ich nur einen bösen Traum hatte oder Omis Schlaganfall und der Krankenhausaufenthalt tatsächlich Realität ist.

Nein, erkenne ich, als ich auf meinen verbundenen Arm schaue, und alles steht mir wieder klar vor Augen.

„Wie geht es Omi?“, frage ich zurück und entdecke wieder die tiefen Falten auf Papas Gesicht.

Er setzt sich neben mich aufs Bett und nimmt meine Hand, um sie fest zu drücken.

„Omi ist außer Lebensgefahr“, sagt er leise und ich atme tief aus. „Aber das bedeutet nicht, dass alles wieder so wird wie es vorher war. Omis linke Seite ist momentan noch komplett gelähmt, was nicht so bleiben muss, aber kann. Sie kann sich nur an ganz wenige Sachen erinnern und muss jetzt alles langsam wieder erlernen. Das Sprechen, das Lesen, die alltäglichen Dinge: Wie binde ich mir die Schuhe zu oder wie putze ich Zähne?“

Ich merke, wie sich mein Hals mit einem dicken Kloß verstopft und fange unkontrolliert an zu schlucken. Dann rinnen mir Tränen über mein Gesicht und Papa schließt mich in seine Arme. Auch ihm kullern ein paar Tränen über die Wangen, und wir halten uns gegenseitig ganz fest.

Lange sitzen wir auf dem Bett und klammern uns aneinander, um uns gegenseitig zu trösten. Sämtliche Ereignisse, bei denen ich mit Omi gelacht und geweint habe, spielen sich vor meinem inneren Auge noch einmal ab und mein Herz schlägt aufgeregt in meinem Brustkorb.

Plötzlich rappelt sich Papa aus unserer Umarmung auf, nimmt mich an die Hände und reißt mich damit aus meinen Gedanken.

„Wir beide werden jetzt erst einmal etwas essen und dann fahren wir, wenn du magst, ins Krankenhaus, damit du Omi sehen kannst.“

Ich nicke und lasse mich von Papa aus dem Bett ziehen. Dann stapfe ich ins Bad, um mich fertig zu machen.

Nachdem ich geduscht habe, ziehe ich mir meine Lieblingsklamotten an: meinen grünen Nike-Pullover und meine enge Jeans mit den bunten Flicken. Meine Haare binde ich mir schnell zu einem Pferdeschwanz zusammen und eile dann zu Papa in die Küche. Hier scheint alles noch wie bisher: Blümchen stehen auf dem Tisch und es riecht nach frisch gebrühtem Kaffee und Brötchen.

Papa schaut mich aufmunternd an und ich setze mich zu ihm an den Tisch.

„Danke, Vater, dass Omi lebt!“, betet Papa, nachdem wir beide die Augen geschlossen haben. „Wir bitten dich um ganz viel Kraft für sie. Dass du sie gerade jetzt trägst und ihr Halt gibst. Schenk uns beiden auch Weisheit, wie es für uns weitergehen soll. Wir danken dir, dass du uns versorgst. Amen.“

Eigentlich hab ich immer noch keinen Appetit, denke ich, aber in diesem Moment macht sich mein Bauch bemerkbar und knurrt wie ein hungriger Bär.

Papa lächelt. „Ich glaub, es ist höchste Zeit etwas zu essen“, sagt er und legt mir ein leckeres Brötchen auf meinen Teller.

Ich muss lachen und Papa zwinkert mir zu. Ausgiebig frühstücken wir und ich erzähle Papa, was in den letzten Tagen in der Schule gelaufen ist. Papa hört mir so aufmerksam zu, als würde ich einen Krimi erzählen und ich vergesse für einen Moment die Strapazen des gestrigen Tages und die Angst um Omi. Papa erzählt auch von seinen letzten Tagen und ich lausche entspannt seiner wohltuenden Baritonstimme.

Nach einer Weile sind alle Brötchen verdrückt und ich fühle mich wieder ein bisschen stärker. Nachdem wir unser Geschirr weggeräumt haben, machen wir uns auf zum Krankenhaus. Auf dem Weg dorthin merke ich, wie meine innere Unruhe zurückkommt.

„Wird Omi mich erkennen?“, frage ich Papa leise.

Papa schaut mich an und lächelt ein wenig gezwungen. „Das war gestern auch meine größte Angst und ich war froh, dass sie mich erkannt hat“, seufzt er. „Ich bin mir sicher, wenn sie mich erkannt hat, dann wird sie dich auch wiedererkennen.“

Ein wenig erleichtert hole ich Luft und bereite mich innerlich auf die erste Begegnung mit Omi nach dem Schlaganfall vor.

Als Papa einige Minuten später an die Tür von Omis Krankenhauszimmer klopft, habe ich das Gefühl, dass mein ganzer Mut verschwindet, und ich will am liebsten weglaufen. Ich zittere ein wenig und lasse mich von Papas warmer Hand mitziehen.

Wie eine zerbrechliche Puppe liegt Omi in dem Krankenhausbett und verschwindet fast zwischen der Bettdecke und dem großen Kissen. In ihrem Arm steckt eine Kanüle, die über einen kleinen Schlauch mit dem Tropf, der neben ihr in einem Gestell hängt, verbunden ist. Papa schiebt zwei Stühle an Omis Bett und wir setzen uns zu ihr.

Ich schniefe laut auf, und genau in diesem Moment öffnet Omi die Augen. Sie schaut uns beide ein wenig verwirrt an und meine Angst, dass sie mich nicht mehr erkennen könnte, wird auf einmal noch größer. Doch dann flüstert Omi ein wenig undeutlich, aber für mich sofort zu erkennen, meinen Namen. Sämtliche Felsen purzeln von meinem Herzen und ich nehme die schlappe Hand meiner Omi in meine und stammle mit Tränen in den Augen: „Omi, ich hab dich so lieb!“

Omis Augen füllen sich auch mit Tränen und bald rollen sie über ihr schiefes Lächeln. Fast muss ich mich ermahnen einzuatmen und wieder auszuatmen, weil dieser Augenblick sich so zerbrechlich anfühlt. Ich lege mein Gesicht in Omis Hand und Minuten vergehen, ohne dass jemand ein Wort sagt.

Nach einiger Zeit räuspert sich mein Papa und sagt ein wenig kleinlaut: „Ich bin auch noch da!“

Ich rücke ein wenig zur Seite und Papa streichelt Omi über ihre Wange.

„Guten Morgen, Mutti!“, sagt er und Omi versucht etwas zu sagen, verstummt aber nach einigen seltsamen Lauten, und wieder kullern Tränen über ihr Gesicht.

„Das kommt alles wieder, Mutti, glaub mir“, sagt Papa leise und lächelt sie aufmunternd an.

Wieder sitzen wir drei stumm da und können nichts anderes tun als beieinander zu sein. Dankbarkeit macht sich in meinem Herzen breit und verscheucht meine Angst vor dem, was kommen wird. Dankbarkeit, dass wir uns immer noch haben.

Nach einer halben Ewigkeit klopft es an die Zimmertür und eine Schwester kommt herein. „So, jetzt braucht die Patientin aber wieder Ruhe!“, sagt sie und macht uns mit einem auffordernden Blick deutlich, dass wir gehen sollen.

Ich gebe Omi noch einen Kuss und erhasche ein schiefes Lächeln von ihr, bevor ich mit Papa das Zimmer verlasse.

In den nächsten Tagen gehen Papa und ich regelmäßig zu Omi und verbringen viel Zeit mit ihr. Von Tag zu Tag scheint sie etwas wacher zu werden. Jeden Tag lese ich ihr aus ihrer dicken Bibel vor und habe den Eindruck, dass Omi jedes Wort in sich aufsaugt. Papa sitzt daneben und beobachtet uns, und ab und an huscht ein Lächeln über sein Gesicht, das die tiefen Falten auf seiner Stirn verscheucht.

Nach einem solchen Krankenhausbesuch bei Omi nimmt Papa mich mit in den Park und setzt sich mit mir auf eine Bank, von der aus man über den blauspiegelnden See blicken kann.

Papa dreht sich zu mir und sagt in ernstem Ton: „Melanie, wir müssen zusammen überlegen, wie es nun für dich – für uns – weitergehen kann. Ich kann mir nicht ewig Urlaub nehmen und ohne Omi kannst du nicht allein zu Hause bleiben. Omi wird noch einige Monate, wenn nicht Jahre brauchen, um wieder auf eigenen Füßen stehen zu können.“

Papa macht eine Pause und starrt auf den glitzernden See vor uns.

Ich atme tief ein und versuche die Angst, die an mir nagt, zu verscheuchen.

„Wir müssen eine Lösung finden, die es mir möglich macht zu arbeiten und dir ermöglicht zur Schule zu gehen, ohne dass du alleine sein musst.“

Auch Papa atmet tief ein und ich sehe, wie er seine Kiefer zusammenpresst.

Ich lege meine Hand auf sein Bein und versuche ihn anzulächeln.