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Inhalt

Vorwort

Teil 1: Was Glaube mit Alter zu tun hat – und umgekehrt

Wie sich der Glaube wandelt

Reinhard Deichgräber

Ruhestand ist kein Stand – oder doch?

Burghard Browa

Die Berufung endet nicht mit der Pensionierung

Jürgen Blunck

Teil 2: Neu entdeckte Lebensqualität

Zufriedenheit und Dankbarkeit

Martin Kruse

Die Kraft des Gebets

Hartmut Bärend

Ehrenamt tut gut

Friederike Hagemeyer

Mein Altern ist bunt

Henning Scherf

Traumreisen und Kreuzfahrten

Horst Marquardt

Teil 3: Beziehungen sind wichtig!

Wenn eine Ehe in die Jahre kommt

Ute und Lutz Kettwig

Freundschaften im Alter

Johanna Jesse-Goebel

Versöhnung ist möglich

Traugott Schall

Teil 4: Wenn sich die Generationen verbinden

„Ehre Vater und Mutter …“ – überein hochaktuelles Gebot

Beate M. Weingardt

Das Glück der Enkelkinder

Karin Lücke

Für den Glauben gewinnen – für die Bibel begeistern

Dagmar Maeß

Wenn Jüngere sich von Älteren etwas erbitten dürften.

Anja Schäfer

Teil 5: Bewusst leben und planen

Loslassen und aufbrechen

Paul-Ulrich Lenz

Vorsorge für das Alter

Dietrich Bauer

Teil 6: Tiefe Schatten und dennoch Licht

Und plötzlich kommt der „Einbruch“ – krank werden im Alter

Richard Goebel

Trotz Lähmung – der Glaube bleibt beweglich

Irmhild Bärend

Leben mit Alzheimer

Linda Karbe

Mit Einsamkeit umgehen lernen

Margarete Krohn-Grimberghe

Teil 7: Das Beste kommt noch – von Tod und Leben

Es geht weiter!

Monika Deitenbeck-Goseberg

Hoffnungsbilder

Hartmut Bärend

Nachwort

Fußnoten

Vorwort

Sage nicht, ich bin zu alt – ja, das möchte ich manchmal denen entgegnen, die mir immerzu mit ihrem „noch“ kommen: „Wie lange willst du das noch machen? Kannst du das noch? Willst du dir das immer noch antun? Geht es dir gesundheitlich noch gut?“ Und wenn ich dann fröhlich oder nachdenklich antworte und versuche, das „noch“ ein wenig infrage zu stellen, dann spüre ich doch die zwar weithin unausgesprochene, aber doch deutliche Ansicht der Fragesteller heraus, dass es beim Älterwerden um Abbau zu gehen habe, um ein allmähliches Nicht-mehr-Können, um zunehmende Gebrechlichkeit. In die Richtung geht ja auch das deutsche Wort „Ruhestand“: Offenbar soll es in den Jahren des Älterwerdens um einen neuen Stand gehen, eben den Stand, der mehr mit Ruhe als mit Bewegung zu tun hat, mehr mit Abstand als mit Nähe, mehr mit Rückzug als mit Aktion. Und damit der Körper dabei nicht einrostet, werden viele Angebote gemacht, vom Muskeltraining zum Gedächtnistraining. All das und vieles andere soll dazu führen, dass der älter werdende Mensch sich in seinem Alter einrichten kann und so viel Betreuung wie möglich als Lebenshilfe während dieses „letzten Lebensabschnitts“ erfährt.

Nun ist gegen Muskel- und Gedächtnistraining nichts zu sagen. Und viele Menschen in dieser Lebensphase brauchen Pflege, brauchen Orte der Geborgenheit und Fürsorge. Gott sei Dank gibt es solche Orte, wenn es auch deutlich mehr sein könnten! Aber viele sind nicht alle! Der ältere Mensch ist grundsätzlich kein altes Eisen, und vielleicht muss er das auch gar nicht werden. Wir haben heute die besondere Situation, dass immer mehr Personen immer älter werden und dabei erstaunlich gesund sind und auch noch eine ganze Zeit lang bleiben. Diese Entwicklung wird sich in Zukunft noch verstärken. Es wird höchste Zeit umzudenken und den älteren Menschen nicht einfach als Objekt der Fürsorge zu sehen, sondern als höchst aktiven Zeitgenossen, der sehr wohl etwas leisten kann – und auch will, wenn sich das Richtige findet.

Das vorliegende Buch ist auch unter diesem Blickwinkel entstanden. Eine Reihe kompetenter Autorinnen und Autoren hat darüber nachgedacht und aufgeschrieben, welche Fülle von Möglichkeiten der ältere Mensch hat, ja, dass diese Lebensphase sogar eine ganz neue Lebensqualität mit sich bringt. Wie gerade hier Zufriedenheit und Dankbarkeit wachsen können, kommt deutlich heraus. Dafür ist es unter anderem wichtig, in guten Beziehungen zu leben, sowohl was Freundschaften anbelangt als auch die Beziehungen zu den eigenen Kindern und Enkelkindern. Auch dazu finden sich Beiträge im Buch, die zumeist sehr persönlich gehalten sind.

Es wird aber auch nicht ausgeblendet, dass gerade in dieser Lebensphase Krankheit, Leiden und Einsamkeit kommen und sehr bestimmend werden können. Manchmal kommen diese Einbrüche ganz plötzlich und unerwartet und fordern den ganzen Menschen. Auch hierzu bietet das Buch ungemein hilfreiche Beiträge. Denn, wie oben schon angesprochen: Natürlich hat das Älterwerden auch mit wachsenden Belastungen zu tun. Die werden in diesem Buch angesprochen, in zum Teil ungemein anrührender Ehrlichkeit.

So ist ein Buch über das Älterwerden entstanden, eine Art Lesebuch, aber eigentlich noch viel mehr als das. Es ist ein weises und herausforderndes Buch, das deutlich macht, wie wichtig es ist, für diese Lebensphase Vorsorge zu treffen und sich im Loslassen zu üben.

Was aber am wichtigsten ist: Dieses Buch will nicht nur ein Lese- oder Sachbuch mit sehr persönlichen Klängen sein, es will auch und gerade darüber berichten, wie der christliche Glaube im Laufe des Lebens wächst und reift und wie er im Alter erlebt und erfahren werden kann. Der Glaube als Lebenshilfe beim Älterwerden – was für ein spannendes Thema! Die meisten Autoren schreiben deshalb nicht nur, was sie für das Alter ganz allgemein für wichtig halten, sondern sie geben auch weiter, was ihnen gerade in dieser Lebensphase der Glaube an Jesus Christus bedeutet. Damit will dieses Buch auch ein Glaubensbuch sein, ein Buch, in dem viele Zeitgenossen, die das Leben kennen, berichten, wie der Glaube im Laufe ihres Lebens gereift ist und was er ihnen im Alter bedeutet. Die Leser werden eingeladen, es ähnlich zu machen wie viele der Autoren und sich dem christlichen Glauben zu öffnen und aus der Kraft Gottes heraus zu leben.

Nicht von ungefähr stehen deshalb am Schluss zwei Beiträge, die der großen Sinnfrage des Lebens gewidmet sind, der Frage, die im Laufe des Lebens immer dringlicher wird und auch sehr beunruhigen kann: Warum bin ich da, wozu war und ist mein Leben gut, und – was kommt danach? Bleibt am Ende nur das Ende – oder gibt es einen Neuanfang, ein neues Leben bei Gott, eine Perspektive, die es uns erlaubt, eine Hoffnung über den Tod hinaus zu haben? Der christliche Glaube bekennt sich zu dieser Hoffnung, weil Jesus Christus von den Toten auferstanden ist.

Ich wünsche den Leserinnen und Lesern Freude, neue Einsichten und viel Gewinn beim Lesen dieses Buches. Was hier niedergeschrieben worden ist, ist geprägt von viel Lebenserfahrung. So will das Buch Mut dazu machen, sich dem Leben zu stellen, auch wenn die Lebenszeit kürzer und das Leben selbst beschwerlicher wird. Es möchte Räume eröffnen, in denen sich Leben neu entfalten kann. Es möchte zum Glauben an Jesus Christus einladen. Und es möchte biblisch gegründete Hoffnung vermitteln in einer hoffnungsarmen Zeit.

HARTMUT BÄREND

Teil 1 | Was Glaube mit Alter zu tun hat – und umgekehrt
Teil 1 | Was Glaube mit Alter zu tun hat – und umgekehrt

Ganz am Anfang soll es in diesem Buch um grundsätzliche Dinge gehen. Was denkt der Zeitgenosse, wenn er dieses Wort hört – Grundsätzliches? Klingt das nicht irgendwie anstrengend? Geht es nicht einfacher und praktischer? Aber nur mit Light-Angeboten, nur mit Talkshows und einer Erlebnismentalität, die allein an möglichst dramatischen Lebensgeschichten interessiert ist, wird das Leben oberflächlich. Zur Praxis gehört die Theorie, zum Erleben gehört die Lehre, zur Erlebnisgesellschaft gehört die Grundlagenforschung. Das muss beieinanderbleiben, damit Leben gelingen kann. Darum sei auch hier das Grundsätzliche an den Anfang gestellt. Und es wird im weiteren Verlauf immer wieder aufleuchten, damit wir die Orientierung nicht verlieren.

Und noch etwas: Wir leben heute in einer kurzatmigen Zeit. Alles dreht sich um die Gegenwart, so, als sei diese Zeit die einzig wichtige. Wir nennen das Postmoderne: Die Zukunft ist unsicher, die Vergangenheit ist vorbei – es lebe das Leben im Heute! Es lebe das, was heute machbar ist. Aber dieses Heute ist schnell Gestern, und niemand kann sich dem Strom der Geschichte, die aus Gestern, Heute und Morgen besteht, entziehen. Es geht darum, nicht dem modernen Zeitgefühl zu verfallen und stattdessen Zusammenhänge zu erschließen, die mit dem Grund und dem Ziel des Lebens zu tun haben.

HARTMUT BÄREND

REINHARD DEICHGRÄBER

Wie sich der Glaube wandelt

Glaube ist Leben. Wenn er recht gelebt wird, ist er die schönste, die wichtigste, die innigste Lebensäußerung, zu der wir Menschen fähig sind. Leben zeigt sich nicht zuletzt in Wandlung und Wachstum. Ein Glaube, der nicht wächst, ist daher ein Widerspruch in sich selbst.

Gilt dies auch noch für den alt gewordenen Glauben? Im Alter erleben wir ja ein langsames, aber unaufhaltsames Nachlassen unserer Kräfte, unserer körperlichen, seelischen und geistigen Möglichkeiten. Muss das nicht auch für unseren Glauben gelten? Wird nicht auch dieser mit zunehmendem Alter immer schwächer, immer armseliger, immer dürftiger?

Was ich im Folgenden entfalte, setzt voraus, dass es keinen altersbedingten Verfall des Glaubens geben muss. Es wäre ja auch merkwürdig, wenn der weise Schöpfer uns Menschen einen Lebensabend zugedacht hätte, der nichts anderes als ein vorweggenommener Sterbeprozess ist. Manche Menschen erleben ihr Altwerden allerdings so: Man hat alles Wesentliche hinter sich. Man gleicht einem Schauspieler, der nach einer mehr oder weniger gelungenen Aufführung verloren auf der Bühne steht. Die Zuschauer sind gegangen, die Kollegen in der Garderobe verschwunden, die Lichter ausgegangen. Man selbst möchte gerne auch gehen, aber man darf es noch nicht. Ein trauriges Bild. Der Glaube wird diese Vorstellung nicht akzeptieren. Wer weiß, dass er sein ganzes Leben der Weisheit Gottes verdankt, kann sich sein Alter nicht gut als ein trauriges Nachspiel ohne Inhalt vorstellen. Nein, es ist Gottes Güte und Weisheit, die das Altwerden erfunden hat, und es ist der wachsende und reifende Glaube, der dies im Alter neu entdeckt.

Erst im Alter wird unser Glaube richtig ausgereift sein. Jetzt, jenseits der sechzig oder siebzig, werden wir als Menschen genießbar sein, denn die Frucht hat ihre volle Süße und Nährkraft erreicht.

Dass der Glaube diese seine Endgestalt gewinnt, ist allerdings nicht eine Sache unseres Willens. Kein Wachstumsprozess kommt dadurch zustande, dass wir ihn wollen, und schon gar nicht lässt er sich erzwingen. Wachsen ist vielmehr eine Sache des Lassens, des Zulassens.

Wie aber lässt sich dieser Wachstumsprozess beschreiben? Wie sieht die Reifung aus? Die folgenden Beispiele mögen zur Veranschaulichung dienen.

1. Der Glaube hört nie auf zu lernen, auch wenn unsere leiblichen und seelischen Möglichkeiten nachlassen, was sehr schmerzlich sein kann. Lernen aber ist immer etwas Schönes, das unserem Leben Gewinn und Genuss bringt. Mögen manche Menschen heute auch den Verlockungen der Anti-Aging-Programme erliegen – warum soll ich das hinauszögern, was mir Genuss zu bringen vermag und mich selbst genießbar macht? Unser Glaube wandelt sich im Alter nicht zu einer freudlosen Kümmerform; die Fähigkeit zu lernen bleibt uns erstaunlich lange erhalten. Im Glauben machen wir immer neue Entdeckungen und Erfahrungen, die unsere Beziehung zu Gott beständig in die Weite und in die Tiefe führen.

2. Freilich werden uns die Lernaufgaben, die uns das Alter stellt, nicht immer auf Anhieb schmecken. Dazu gehört vor allem eine Lektion, gegen die wir uns zunächst wehren: Wir müssen lernen, uns helfen zu lassen. Wer ein Leben lang in selbstloser Weise anderen geholfen hat, tut sich meistens schwer mit der Einsicht, dass die Kunst, sich helfen zu lassen, vielleicht sogar die höhere Tugend ist. Ein alter lateinischer Weisheitsspruch lautet: „Per homines hominibus.“ – Wenn Gott seinen Menschenkindern etwas Gutes tun will, geschieht dies meistens durch Menschen. Ein kleines Beispiel: Die Hand, die mich füttert, ist Gottes Hand. Der Mensch, der meinen Rollstuhl schiebt, tut Gottes Dienst an mir.

3. Eine andere Kunst ist die Fähigkeit, mit dem Unveränderlichen zu leben, besonders da, wo es sich um Misslungenes, um Schuld und Versäumnis handelt. In jüngeren Jahren konnte unser guter Wille auf solche Erfahrungen vielleicht mit einem trotzigen „Beim nächsten Mal wird alles besser“ oder „Aus Fehlern lernen“ reagieren. Was aber, wenn es kein „nächstes Mal“ mehr gibt? Hier ist es wichtig, dass unser Glaubensblick geschärft wird, dass wir uns darin üben, in unserer Lebensgeschichte nicht nur das eigene, oft so fragwürdige Tun zu entdecken. Immer hat Gott seine Hand im Spiel; er weiß auch aus schlimmen Verfehlungen, etwas Gutes erwachsen zu lassen. Mit einem drastischen Bild gesagt: Den Mist, den wir gebaut haben, streut Gott auf seinen Acker und macht ihn auf diese Weise fruchtbar.

4. Ich kann die Freude an dem, was nicht selbstverständlich ist, entdecken. Zwei Beispiele: Das Pfund Quark, das ich 1945 nach stundenlangem Anstehen ergatterte, machte uns glücklich. Die vierzig und mehr Käsesorten im Supermarkt lassen mich kalt. Oder: Der Gesang der ersten Amsel im Frühling kann mich zu Freudentränen rühren, wenn es vor Kurzem noch auf Messers Schneide stand, ob ich diesen Frühling überhaupt erleben würde. Auch Freude will gelernt sein, und der Glaube lernt es, immer neue Freudenquellen zu entdecken.

5. Ich will mich aufmachen, das Schöne zu entdecken. Die Erde ist voll der Güte des Herrn (Psalm 33,5). Auch ein langes Leben reicht nicht aus, um diese Fülle auch nur einigermaßen zu erkunden. Besonders wichtig ist es, dass wir „die Güte des Herrn“ in der nachwachsenden Generation, also bei jungen Menschen, wahrnehmen. Der Altabt im Kloster Niederaltaich, Emmanuel Maria Heufelder, war schon weit über 80 Jahre alt, als er den bemerkenswerten Satz sprach: „Solange ich noch täglich an den jungen Mönchen etwas Gutes entdecke, geht es mir gut.“

6. Zu den wichtigsten Lernprozessen, die das Alter von uns fordert, gehört das Loslassen. Was gilt es loszulassen? Die Richtigkeiten vergangener Tage; Aufgaben; Pflichten; Scheinwahrheiten; überflüssige Besitztümer; Sicherheiten, die im Alter kaum noch helfen. Nun gibt es aber Menschen, die sich ein Leben lang nur in dem geübt haben, was man den Haben-Modus nennt: Raffen, kral len, klammern, das, was ein Mensch haben kann, vermehren. Bei manchen bildet sich diese Haltung im Alter immer stärker aus. Festhalten, bloß nichts verlieren, heißt dann die Losung. Der Glaube aber fügt sich freundlich in die im Alter mitunter harte Realität, dass wir nichts auf Dauer festhalten können. Der Glaube weiß: Was wir nicht loslassen können, wird uns je länger, je mehr zur Last. Er hält es mit Gerhard Tersteegens Versen:

Wer will, der trag sich tot.

Wir reisen abgeschieden,

mit wenigem zufrieden.

Wir brauchend‘s nur zur Not.

„Mach dir‘s leichter!“ – Dieser beherzigenswerte Satz kommt aus der Heiligen Schrift. Jethro spricht ihn zu seinem Schwiegersohn Mose (vgl. 2. Mose 17,22).

7. Zuletzt kann ich die Gethsemanegestalt des Glaubens einüben. Was ist damit gemeint? Ein Glaube, der die natürliche Altersangst vor Gott und vor Menschen offenlegt. Manche Religionen und auch manche christlichen Prediger versprechen ihren Anhängern ein angstfreies Leben. Ich träume nicht von solchen Zielen. Warum? Weil ich in der Nachfolge Jesu nicht über Jesus hinauskommen will. Ihm war die Angst nicht fremd, und er hat sie weder vor Gott noch vor seinen Jüngern versteckt (vgl. Matthäus 26,36-46). Wollen wir etwa frömmer sein als unser Herr? Und es sind viele Ängste, die das Alter mit sich bringt: Angst vor Krankheiten, Angst vor Schwäche und Demenz, Lebensangst, Todesangst.

Gewiss: Christlicher Glaube ist immer auch mutig, tapfer, leidensbereit, nicht leidensscheu. Aber er ist durchaus nicht heroisch, und darum trägt er alle Zeichen unserer irdischen Existenz an sich, auch die Zeichen der Angst.

Die Zahl der Beispiele ließe sich noch vermehren. Doch jeder mag sich selbst prüfen, welche Wandlungen und welches Wachstum seines Glaubens er wahrnimmt. Gegen alle Beispiele aber lässt sich ein schwerwiegender Einwand erheben: Sind sie nicht zu positiv, zu schön, zu sehr in falscher Weise tröstlich? Was bedeuten sie, wenn das Altwerden bei mir oder bei meinen Angehörigen Hand in Hand geht mit den schlimmsten Erscheinungen von Demenz oder anderen schrecklichen Leiden, die solche Wandlungen kaum noch oder gar nicht möglich erscheinen lassen? Stirbt der Glaube nicht am Ende doch, lange bevor ein alt gewordener Mensch endlich seine Augen schließen darf?

Wie gesagt: Solche Fragen wiegen zentnerschwer. Und niemand sollte sich unterstehen, solche Erscheinungen mit schönfärbenden „geistlichen“ Rezepten zu verharmlosen. Vor allem gilt: Wer es nicht selbst erlebt hat, sollte nicht darüber schreiben. Die Ernsthaftigkeit und Bitterkeit solcher Erfahrungen wird sich in der Regel nicht in Büchern und Artikeln niederschlagen. Nein, genau umgekehrt wird es sein. Wer es noch nicht erfahren hat, dem „bleibt die Spucke weg“, wie es der Volksmund sagt. Ich selbst stehe im 76. Lebensjahr und erfreue mich einer dem Alter entsprechenden Gesundheit. Meine Eltern, meine Großeltern, sie alle sind in gutem Alter und zum Teil mit einer bemerkenswerten geistigen Wachheit gestorben. Da ist also wirklich keine Erfahrung, die ich weitergeben könnte oder dürfte.

Aber da gibt es eine Hoffnungsgeschichte, die ich liebe. Sie erzählt von einem Rabbi, einem frommen Mann und geschätzten Seelsorger. Viele Leute kamen zu ihm, hörten des Rabbis Rat und empfingen seinen Segen. Doch dann wurde er alt, und er wurde schwach und schwächer. Immer weniger Rat gebende Worte konnte er sprechen, und schließlich war die Segensgebärde das Einzige, was dem Rabbi blieb. Er hatte buchstäblich nichts mehr zu sagen. Doch immer noch kamen die Menschen zu ihm; ihnen genügte es, den Segen ihres geliebten Meisters zu empfangen. Schließlich war ihm selbst dies nicht mehr möglich; auch seine Gebärdensprache versagte. Aber die Menschen hörten nicht auf, den Rabbi zu besuchen, und sie legten für einen kurzen Augenblick ihr Ohr auf das Herz des Rabbis.

Wohlgemerkt: Ich liebe diese Geschichte und schöpfe aus ihr Trost. Aber sie ist kein Rezept. Sie sagt nicht, wie es gehen müsste, sollte, könnte. Sie hat eigentlich keine ethische Botschaft. Aber eines kann diese Geschichte vielleicht bewirken: dass wir auch angesichts der Rätsel völliger Hilflosigkeit im Alter nicht die Ehrfurcht verlieren, ganz gleich, ob wir selbst die so Leidenden sind oder einer unserer Angehörigen oder unser „kranker Nachbar“. Wie auch immer es sei: Ehrfürchtiges Schweigen ist unter allen menschlichen Gebärden die menschlichste. Gott erhalte mich und Sie in solcher Ehrfurcht.

Dr. Reinhard Deichgräber (75) ist Pfarrer. Jahrzehntelang war er als Theologischer Lehrer am Missionsseminar in Hermannsburg/Kreis Celle tätig. Er hat verschiedene Bücher zu Themen der Spiritualität und des geistlichen Lebens geschrieben und lebt heute im Ruhestand in Hermannsburg.

BURGHARD BROWA

Ruhestand ist kein Stand – oder doch?

Während einer Kissenschlacht morgens in unserem Bett stemmte unsere 3-jährige Enkelin die Arme in die Seiten und sagte ganz außer Atem: „Oma Heidi, ist es nicht schön mit mir?“ Unbewusst, bewusst hatte sie gespürt, dass sie Freudenbringer in unserem Leben sein durfte. Sie hat uns mit dieser kleinen Wahrheit mehr als ein Lächeln auf das Gesicht gezaubert.

Unsere Enkelin gibt mir die Idee zu einer Antwort auf die Frage: Kann ich noch mit 72 Jahren für andere ein Lichtstrahl in ihrem Leben sein? Wie ist es mit der Patina, die sich auf mein Leben gesetzt hat? Muss man sie abreiben, um mich zu entdecken, oder gibt sie mir einen eigenen Glanz, wie ich es an manchen Kunstwerken gesehen habe?

Wenn ich vom Heute in meine Vergangenheit zurückblicke und dort ein wenig verweile, kommt etwas Erstaunliches zutage: Ich entdecke die vielen Verknüpfungen und wunderbaren Führungen in meinem Leben. Aus einem christlichen Elternhaus kommend, durfte ich schon früh das Evangelium der Bibel als einen Raum sehen, in dem ich leben und wirken kann.

Damals wurde mir das Bild aus Psalm 31,9, Du stellst meine Füße auf weiten Raum, besonders wichtig. In mein Leben übertragen bedeutete es für mich: Umwege gehen, Niederlagen wegstecken, Versagen als Neuanfang betrachten, aber auch eine unglaubliche Lebensfreude erleben an vielem, was mir geschenkt wurde. Ich habe außerdem erfahren, dass vom 23. Psalm (Der Herr ist mein Hirte) eine besondere Kraft ausgeht, die schon seit Jahrhunderten fließt und viele Menschen aufgerichtet und getröstet hat.

Getragen wurden wir als Familie auch durch die Gebete unserer Eltern, Freunde, Bekannten und der Gemeinde. Wir haben Gebetserhörungen erlebt, die so tief greifend waren, dass wir sie nie, nie vergessen dürfen. Diese sehe ich als eine große Glaubensstütze im Älterwerden an, gerade auch dann, wenn ich mich in den Außenbezirken des Glaubens bewege. Gott erfahre ich als einen großen Künstler, der mein Leben wie ein Kunstwerk zusammensetzt. Dazu kann er selbst das gebrauchen, was ich verbaut habe.

Beruflich durfte ich 36 Jahre als 1. Geiger in einem international bekannten Orchester, mit den Bamberger Symphonikern, durch die Welt reisen. Während unzähliger Konzerte des Orchesters war es für uns Musiker eine wunderbare Aufgabe, Menschen zu erreichen, die ihren Alltag loszulassen und sich dem Fließen der Töne hinzugeben vermochten. Mehrere Jahre vor meinem Ruhestand habe ich dann schon innerlich für mich durchgespielt, wie sich die große Veränderung, die mit der Pensionierung eintritt, auf mein Leben und das meiner Frau auswirken würde.

Abgetreten – mit 63 Jahren – von den großen Konzertsälen der Welt, bekam ich eine Anfrage, ob ich bereit wäre, als Konzertmeister bei ProChrist mitzuwirken. Die Zusage schenkte mir ein neues, wunderbares Erlebnis. Ich spürte in vollbesetzten großen Messehallen bei den europaweiten Übertragungen des Wortes Gottes den Einklang mit der Musik. Dabei zu sein, mit meiner Gabe zu dienen, machte mich froh, dankbar und glücklich.

Ebenso gab es die Anfrage, als Konzertmeister in der Ökumenischen Philharmonie in Ettlingen bei Projekten mitzuwirken und meine langjährige Erfahrung einzubringen. In einer fröhlichen geistlichen Atmosphäre kamen auch hier großartige Konzerte zustande. Die Herzen berühren und mit der Musik ein Stück Himmel aufzuschließen, das gibt mir immer wieder die Motivation, zu üben und mich auf meinem Instrument weiter zu vervollkommnen.

Unbedarft hatte ich als Jugendlicher öfter in Gottesdiensten unserer Methodistischen Kirche Geige gespielt. Heute dürfen meine liebe Frau und ich die Freude mit unserer Gemeinde teilen, regelmäßig den Gottesdienst musikalisch mitzugestalten. Hier in der Gemeinde hat sich für mich ein wunderbarer Kreis geschlossen, der in meiner Kindheit begonnen hat.

Wer meine Frau kennt, weiß, dass ich mit ihr einen Schatz besitze. 45 Jahre sind wir verheiratet und haben mit unseren drei Kindern Höhen und Tiefen erlebt und getragen. Dabei dürfen wir uns freuen, dass vieles in unserer Ehe frisch geblieben ist. Aber wir werden weiter mit den simplen Herausforderungen kämpfen müssen, uns selbst und den anderen anzunehmen, Freiraum zu gewähren, die kleinen Aufmerksamkeiten nicht als selbstverständlich anzusehen und immer wieder gegen die Gewohnheit anzugehen. Wir sehen es als ein beson deres Geschenk an, auf diese Weise miteinander älter zu werden.

Loszulassen, und gleichzeitig für etwas Neues frei zu werden, habe ich mit meiner Geige erlebt, als sich mir nach der Pensionierung noch einmal neue Aufgabenfelder eröffneten. Loszulassen, und sich dadurch einschränken zu müssen, haben wir bei unserem Umzug vor zwei Jahren eingeübt. Loslassen als Einschränkung in unserem Leben, gleichzeitig aber als Befreiung zur Neugestaltung, das liegt noch vor uns. Auch wenn ich im Heute lebe, ist das Jetzt ein Beginn, der unaufhörlich in meine, unsere Zukunft fließt. Damit wächst eine geschenkte Zeit mit der Last des Alterns. Ich sehe dies als eine Art Bewährung und Ermutigung, mit dem Schöpfergott mein Leben zu vollenden. Vielleicht wird es sogar der schwierigste Teil meiner, unserer Lebensgestaltung.

In der Bibel lese ich von Verheißungen und Ermutigungen, die ich für mich in Anspruch nehmen darf. Daher muss ich keine Angst haben oder mich zersorgen, aber gewappnet, vorbereitet, wach bleiben, um Unvorhergesehenes annehmen zu können. Bewusst leben, spontan bleiben, um mich neu orientieren zu können, ist mein Beitrag, das geschenkte Leben mitzugestalten. Vieles, was vor mir liegt, gibt mir Aufschwung und schenkt mir Freude. Deshalb habe ich auch keine Angst vor Langeweile, ich musste aber auch lernen, Freizeit einzuüben. Diese gelebte Vielfalt möchte ich weiter in Gottes Hände legen und das Loslassen als Einschränkung einüben.

Es kann mir passieren – wenn ich allein im Wald spa zieren gehe