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 Sonja Kientsch – Fanny und die Muffinbande– SCM Kläxbox

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Es war ein herrlicher Tag. Luftig-warm wie frische Zuckerwatte. Und Fanny hatte es geschafft. Mit zwölf Jahren würde sie keinen einzigen Tag mehr in der Schule absitzen müssen. Tschüssikowsky Mathe, Bio und Sport!

Mitten in einer Menschenmenge stand sie, alle waren ihretwegen angereist. Ihretwegen! Sogar die berühmte Jeromina, Leiterin der Brandon und Co.-Kunstschule. Gerade klopfte die schlanke Frau gegen ein großes Mikrofon, dann drehte sie sich in Fannys Richtung.

»Fanny von Sturm«, hauchte sie, beugte sich kurz zu ihr hinunter, flüsterte kaum hörbar: »Das ist jetzt dein Künstlername«, fuhr dann laut fort: »Du bist die jüngste, aber auch die beste Künstlerin, die wir je an unserer Schule hatten.« Schob sich die spiegelnde Sonnenbrille ins Haar und strahlte ein blitzweißes Lächeln. »Wir sind gespannt auf deine Kleidungsentwürfe, deine Schmuckkollektionen. Vielleicht willst du auch malen oder Stoffe designen? Alles ist bei uns möglich. Und die Leute werden dich lieben!« Selbstsicher erhob sie ihre Stimme, als sie rief: »Hab ich recht, Leute?«

Sofort brach die Menge in Jubel aus. Mit Schwung streckte Jeromina Fannys selbst bestickten Flip-Flop in die Höhe. »Ihr werdet noch viel von diesem Mädchen hören und sehen«, rief sie, warf den Schuh in die Menge und schob Fanny in Richtung eines großen, ordentlich herpolierten Wagens. »Du gehst jetzt packen. Wir sehen uns dann in der Lobby der Brandon und Co.-Kunstschule.«

Fanny nickte. Und strahlte. Öffnete lässig die Tür des Bonzenschlittens, drehte sich noch einmal um, um ihren Fans übermütig zuzuwinken und … zuckte erschrocken zusammen, als sie einen schmerzhaften Stich auf ihrer Haut spürte.

»Aua.« Heftig klatschte sich Fanny Sturm auf den geröteten Unterarm, wo eine Wespe gerade brummend das Weite suchte. Sie schlug die Augen auf und versuchte sich zu orientieren. Wo war sie? Wie in einem Ofen fühlte es sich an. Benommen drehte sie sich um, gähnte, streckte sich und rappelte sich auf. Auf ihren Knien zeichneten sich die Abdrücke von kurzen Grashalmen ab. Und vor ihr glitzerte der kleine Gartenteich, an dessen Ufer sich eine Amsel erfrischte. Sie blinzelte. Und rieb ein wenig Spucke auf ihren Arm. »Doofes Vieh«, murmelte sie. Mit runden Augen sah die Amsel zu ihr hinüber und legte den Kopf schief. »Ich meine nicht dich«, lächelte Fanny, griff zu der Wasserflasche, die neben ihr im Gras lag, trank – und spuckte angewidert die von der Sonne erhitzte Flüssigkeit wieder aus. Empört schlug die Amsel mit den Flügeln und rauschte davon.

»’tschuldigung!«, rief Fanny und legte den Kopf in den Nacken. Ein leichter Wind fuhr durch ihre Haare und zog an den Seiten einer abgelegten Zeitung. Einer Zeitung? Sofort sah Fanny neben sich. Dort lag das Mühlstädter Stadtmagazin und raschelte im Wind. Das Stadtmagazin … Hatte sie nicht eben darin gelesen, dass …? Ach ja! Genau! Mit einem Mal sprang sie auf und schlüpfte in ihre selbst bestickten Flip-Flops. Sie musste mit Kralle reden, SOFORT! Flugs flitzte sie auf die kleine Terrasse und von dort ins Haus. Doch was war das? Unerwartet schlug ihr ein Schwall warmer Luft entgegen. Wie vor einer Wand blieb sie stehen. Sie holte tief Luft. Es roch beißend und seltsam verbrannt.

»Kralle? Mama?«, rief sie verunsichert. »Seid ihr da?«

»Nanu, was machst du denn hier?« Fannys Mutter streckte den Kopf aus der Küche.

»Mama«, rief Fanny entsetzt, »wie siehst du denn aus?« Teigfetzen hingen der Mutter in den Haaren, die Schürze war über und über mit Mehl bestäubt und die Finger sahen aus, als hätten sie gerade in Schokolade gebadet.

»Cora ist schon vor einer Viertelstunde zur Tankstelle gegangen«, nuschelte Mama und pfriemelte an den Teigfetzen in ihren Haaren. Womit sie die Schokolade auch noch auf ihrem Kopf verteilte. »Wo warst du denn? Ich dachte, du bist auch längst unterwegs.«

Fanny schlug sich die Hand vor den Kopf. Die Tankstelle! Klar, es war ja Dienstag, aber war es wirklich schon so spät?

»Wie viel Uhr haben wir?«, fragte sie.

»Keine Ahnung«, stöhnte ihre Mutter und hastete zurück in die Küche. »Ich weiß nur, dass meine Schokomuffins mal wieder viel zu lange im Ofen waren. Und die Glasur ist auch völlig missraten. Tja, man sollte einfach nicht gleichzeitig backen und einen Krimi lesen.« Fanny zuckte, als ein Blech auf den Boden schepperte.

»Nächstes Mal klappt’s sicher besser, Mama. Ich bin dann jedenfalls weg«, antwortete Fanny, riss eine bunt getupfte Jacke vom Kleiderbügel und schlang sie sich um den Bauch. Vorbei an einer kleinen Hundehütte, in der Tante Lulu – die Dackeldame des Hauses – träge vor sich hindöste, stolperte Fanny auf die Straße. Einmal mehr wurde ihr klar, von wem sie ihre Verträumtheit geerbt hatte. Ein Blick in die Küche genügte da vollkommen.

*****

Die Kirchturmuhr schlug Viertel nach sieben, als Fanny keuchend ihren Roller in Helmstedts ordentliche Garage warf und in Richtung Hauseingang hastete.

»Du bist spät.« Zwei dunkle Augen blinzelten freundlich über die Hecke. Vielsagend tippte Momo, der hinter der Hecke wohnte, mit dem Zeigefinger auf seine Plastikarmbanduhr.

»Ich weiß«, antwortete Fanny höflich und hielt abrupt an.

»Und … Wie gääts?«, grinste Momo und legte damit eine große Zahnlücke im Unterkiefer frei. »Gääts gut?«

»Ja, klar. Und dir?«

»Oh pärfäkt«, sagte Momo. »Aber warte mal …« Sein Kopf verschwand hinter der Hecke – jedoch nur, um kurz darauf wieder pfeilschnell nach oben zu schießen. »Ich hab mir etwas Neues gekauft! Das ist ein Hammer, was?« Übermütig, fast wie ein Kind am Heiligen Abend, schwang er einen riesigen Hammer über seinem Kopf.

Fanny musste lachen. Sie mochte Momo und seine freundlichen Augen – und die Art, wie er sich über seine Werkzeuge freute.

»Und, gääts Hund auch gut?«

»Ja, Momo, Tante Lulu geht’s prächtig. Aber ich muss jetzt leider gehen. Tschühüss!«

»Tschüss, Mädchen.« Das war das Letzte, was Fanny hörte, bevor sie schließlich im Haus verschwand und zwei Stufen auf einmal nehmend nach oben eilte, wo sie die Tür mit der Aufschrift »Tankstelle« stürmisch aufstieß. Bei der Tankstelle handelte es sich um eine kleine Wohnung im Dachgeschoss des Hauses, die Robert und Becki Helmstedt mithilfe der Kirchengemeinde eigens für die Mühlstädter Kinder und Jugendlichen eingerichtet hatten und die ihren Namen der Tatsache verdankte, dass sich auf dem Grundstück noch vor wenigen Jahren eine Tankstelle befunden hatte. Stimmen drangen aus dem Wohnzimmer zu Fanny in den Flur und vermischten sich mit dem Geschirrklappern aus der Küche. Fanny atmete auf. Alles in allem gute Zeichen: Sie hatten offenbar noch nicht angefangen.

»Hallo«, keuchte Fanny und streckte ihren Kopf in die Küche.

»Huhu, schön, dass du da bist«, trällerte Becki. Sie rückte Käsespieße auf einem Teller zurecht, einen schön neben den anderen. »Geh ruhig schon rüber. Mmh, pfind alle fon da«, schmatzte sie mit einem Stück Käse zwischen den Zähnen. »Heute reden wir über das Thema ›Ist es wurstegal, wenn mein Leben Käse ist?‹ – oder so ähnlich.« Sie kicherte. »Hat Robert sich ausgedacht. – Hier, nimm die Spieße und die Teller mit, ich komm auch gleich, bin ein bisschen spät dran heute, aber du ja auch. Muss nur noch warten, bis der Tee so weit ist.«

»Alles klar.« Durch den schmalen Flur stakste Fanny mit Tellern und Spießen in Richtung Wohnzimmer. Sie fasste mit einer Hand nach der Klinke der Wohnzimmertür. Die Teller in der anderen Hand wackelten bedenklich. Mist, irgendetwas klemmte. Und da passierte es: Sie kam ins Straucheln, das Tablett rutschte und panisch langte Fanny nach den abstürzenden Tellern. »Oh nein, so ein Käse, verflixter!«, brüllte sie und stolperte durch die in diesem Moment sich öffnende Tür hinein ins Wohnzimmer. Teller für Teller krachte auf den Boden. Und Fanny plumpste erbarmungslos hinterher.

Mit einem Schlag war es totenstill. Fünfzehn erschrockene Gesichter starrten sie an. Bis sich der kindische Tobi grölend auf die Schenkel schlug. »Klar ist das Käse! Käsespießkram, um genau zu sein. Aber das brauchst du doch nicht gleich durchs ganze Haus zu brüllen.«

Haha. Seinem Freund Paul, der mal wieder aussah, als hätte er die letzten drei Tage ausschließlich beim Friseur verbracht, hielt er die Hand entgegen und rief: »Schlag ein, Kumpel.« Paul schlug ein. Und Fanny krabbelte auf dem Boden herum und sortierte Käsespieße und Tellerteile auseinander.

»Warte, ich hol einen Besen.« Fannys Freundin Maria sprang auf und kehrte kurz darauf mit Kehrschaufel und Handfeger bewaffnet zurück. »Das war jetzt echt noch die Krönung«, tuschelte sie, als sie neben Fanny kniete und die Scherben auffegte. »Du warst vorhin sowieso schon Gesprächsthema.« Ein wenig mitleidig klopfte Maria ihrer Freundin auf die Schulter. »Wieso Thema?«, wollte Fanny fragen, aber da rief Paul auch schon zu ihr hinüber:

»Und wir haben tatsächlich gedacht, du bist in den Teich gefallen. Dabei hast du nur die ganze Zeit versucht, den Käse heil hierherzubringen, was?«

»Quaaak«, machte Tobi, sprang von seinem Kissen und wieder mal hatten die Jungs die Lacher auf ihrer Seite. Fanny zeigte einen Vogel in Tobis und Pauls Richtung. Solche Spinner waren das! Eigentlich konnte man die in solchen Momenten kaum ernst nehmen.

Robert, der gerade einen Stapel Liederbücher in die Mitte gelegt hatte, nahm Maria die gefüllte Kehrschaufel ab und schickte ein aufmunterndes Schmunzeln in Fannys Richtung. Sie zog die Augenbrauen in die Höhe und lächelte milde. Sauer war sie sowieso auf jemand ganz, ganz anderen: So grimmig sie konnte, sah sie ihrer Schwester in die Augen, die sich gerade lachend ein Liederbuch vom Wohnzimmertisch angelte und verdutzt Fannys Stirnfalten zur Kenntnis nahm. Noch ehe Kralle aber irgendwas sagen konnte, drehte Fanny sich weg, fischte selbst nach einem Liederbuch und blätterte intensiv darin herum. Selbst Kralles Husten konnte Fannys Aufmerksamkeit nicht mehr auf sie ziehen. Strafe musste schließlich sein. Da hatte ihre Schwester doch tatsächlich gewusst, dass sie die Zeit hinten am Teich vergessen hatte, und war trotzdem alleine losgegangen! Und damit nicht genug: Sie schien sich auch noch einen Spaß draus zu machen, das alles vor dem kompletten Tankstellentreff breitzutreten. Das war schon eine ziemliche Frechheit, und ein paar wütende Blicke hatte sie auf jeden Fall verdient mit ihrer Aus-Fehlern-wird-man-klug-Erziehungs-Masche. Oder etwa nicht?

»Sonst alles üppig?«, fragte Maria, schob sich eine Salzstange in den Mund und hielt Fanny ebenfalls eine hin. Fanny richtete sich lächelnd auf.

»Das kannst du wohl meinen. Es ist etwas Sensationelles los in der Stadt!«, raunte sie. »Genau das Richtige für uns.« Noch näher rückte sie und legte geheimnisvoll einen Finger auf den Mund: »Aber pst, großes Mädchengeheimnis. Ich will nicht, dass es irgendjemand erfährt. Schon gar nicht diese furchtlosen Spinner da drüben«, zischte sie und spielte aufgeregt an ihrer Haarspange herum.

»Die Furchtlosen.« Maria kicherte und nahm sich eine weitere Salzstangenportion. »Unbegreiflich, dass sie ihre Band so nennen, oder?«

»Die Blinddarmentzündung wäre auch ganz passend gewesen«, stimmte Fanny ihrer Freundin zu. »Hör zu: Können wir uns morgen um halb drei im Atelier treffen, hast du Zeit?«

»Mama sagt, ich muss Englisch lernen. Und vielleicht ein bisschen Mathe. Sagen wir um drei?«, fragte Maria und sah Fanny unsicher an.

Plötzlich fiel den auf dem Boden sitzenden Mädchen die Wohnzimmertür in den Rücken. Es war Becki. »Ich glaube, die Tür klemmt ein wenig«, sagte sie in Roberts Richtung und Tobi rief: »Frag mal Fanny, Becki. Ich wette, die glaubt das auch.« Paul lachte.

»Drei Uhr dürfte grade noch okay sein«, wandte Fanny sich wieder Maria zu. »Aber keine Minute später. Falls Niklas am Nachmittag wieder in unserer Hängematte abhängt, wird es schwierig, an ihm vorbeizuschleichen.« Sie schielte kurz zu dem dunkelhaarigen Jungen hinüber. Hinter ihm packte Robert endlich seine Gitarre aus und fing an, an den Saiten zu zupfen.

»Die muss noch gestimmt werden«, sagte Becki und rieb sich gequält das Ohr. »Das hättest du längst tun können.« Robert zuckte die Schultern und zupfte eine Saite nach der anderen an, drehte an den Knöpfen und griff dann die Akkorde.

»Also, ich tu’ was ich kann«, flüsterte Maria in Fannys Ohr. »Aber du kennst ja mein Englisch. Nott rrreally gutt!«

Fanny lachte. »Jetzt hörst du dich an wie die englische Ausgabe von Momo. Aber mach dir nichts draus. Du kannst dafür andere Dinge und das«, Fanny machte ein geheimnisvolles Gesicht, »wird uns noch ordentlich viel nützen.«

»Haben die Damen jetzt ausgequakt, äh ausgequatscht? Dann könnten wir nämlich anfangen«, rief Tobi und klatschte oberlehrerhaft in die Hände. Robert hatte die Gitarre auf dem Schoß und Becki hielt ihm ein Liederbuch unter die Nase.

»Es wäre wohl besser, du sagst jetzt nichts mehr«, rief Kralle, »da kommt eh nur Käse raus.«

Ein paar der Mädchen kicherten. Dann warf Kralle Tobi ein Kissen an den Kopf – und Fanny einen zerknirschten Versöhnungs-Blick zu. Komm schon, sagte ihr Blick, nun sei nicht mehr sauer. Und wie es Fanny erwartet hatte, presste ihre Schwester Daumen und Zeigefinger beider Hände in Herzform aneinander.

»Von uns aus kann’s klar losgehen«, sagte Fanny schnell und ignorierte Kralle ein weiteres Mal. »Nummer 137 bitte.« Sie legte Maria eine Hand auf die Schulter: »Morgen um drei im Atelier. Mit Klopfzeichen dreimal kurz und dreimal lang. Rest folgt, okay?«

Und als der laute, unverwechselbar schräge Gesang der Kinder endlich aus der Tankstelle hinaus in die Mühlstädter Abendluft drang, schickte Fanny seufzend ein Vier-Finger-Herz in Richtung Kralle, die sich daraufhin zufrieden zurücklehnte. Was soll’s!, dachte Fanny. Sie konnte ihrer Schwester einfach nie lange böse sein!

 

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»Komm, Tante Lulu, na komm.« Fanny stieß einen kurzen Pfiff aus. Und nur wenige Sekunden später sauste die kleine goldbraune Dackeldame um die Ecke des Hauses. Als sie Fanny sah, tänzelte sie übermütig auf der Stelle im Kreis herum und hechelte aufgeregt. Fanny lachte. »Verrückter Dackel«, sagte sie mit warmer Stimme, während sie dem Hund mit den Fingern durchs kurze Fell wuschelte. Sofort stieß Tante Lulu ein Freudengeheul aus. »Pst, leise. Du verrätst uns ja. Braucht doch niemand zu wissen, wo wir uns heimlich treffen«, zischte sie der Hündin ins Ohr, die sofort vom lauten Geheul in ein leises Gewinsel überging. Was für ein kluger Hund, dachte Fanny.

Flugs angelte sie ihren Rucksack, in den sie bereits eine Kanne Tee, einen Radiorekorder und das Stadtmagazin gepackt hatte, und schlich hinüber zum Atelier. Bevor sie die Tür öffnete, sah sie sich vorsichtig um. Niklas war zwar nach dem Mittagessen wieder gegangen, aber richtig sicher war man wohl nie vor ihm. Schon zu oft waren er und seine Freunde wie aus dem Nichts aufgetaucht, hatten den Mädchen aufgelauert oder ihnen nachspioniert. Ein letztes Mal spähte Fanny um sich – dann zwängte sie sich durch den schmalen Türspalt hinein in das Atelier und schloss ab.

»Puh, ist das eine Luft.« Fanny schob Mamas Farbtöpfe auf dem Fensterbrett zur Seite und klappte das Fenster auf. Dann rückte sie vier umgedrehte Kisten in die Mitte des kleinen Raumes, leerte ihren Rucksack aus und stellte Tee und Radio auf eine der Kisten. Gut gelaunt drehte sie die Musik auf Zimmerlautstärke und sog die Luft ein, die durch das geklappte Fenster ins Innere wehte und sich mit dem Geruch nach Farben und feuchter Erde vermengte.

Fanny liebte das Atelier, diesen kleinen Verschlag im hinteren Teil des Gartens, wo sie und ihre Mutter zwischen Rasenmäher und alten Blumentöpfen malten und bastelten, wann immer sie Zeit dazu fanden. Auf der Staffelei stand ein angefangenes Bild, das Mama nach einer von Fannys Fotografien malte. Es zeigte Tante Lulu, wie sie sich im letzten Herbst an einer Kastanie nicht sattsehen konnte, die ihre Stachelschale behalten hatte. Auf dem Foto hatte Lulu die Augen ungläubig weit aufgerissen. Bei der Erinnerung daran musste Fanny wie immer lachen. Noch größer waren Tante Lulus Augen geworden, als sie die Kastanienschale abgepult hatte und aus dem vermeintlichen Igelding ein prima Spielball geworden war.

Fanny setzte sich auf eine Kiste, dann wandte sie sich ungeduldig zur Tür. Wo Maria wohl blieb? Es musste doch schon längst Zeit sein. Und hoffentlich war sie vorsichtig …

Da, endlich klopfte es. Sechsmal kurz und sechsmal lang. Fanny zuckte erschrocken zusammen. »Maria?«, zischte sie und sprang auf. »Warum klopfst du nicht wie verabredet? Dreimal kurz …«, sie drehte den Schlüssel und öffnete die Tür.

»Machen wir doch«, lachte Kralle und stapfte vor Maria hinein. »Tataaa. Wir sind zu zweit. Und darum haben wir das Klopfzeichen einfach verdoppelt.«

»Na toll«, sagte Fanny genervt. »Wenn wir nicht aufpassen, haben wir ruckzuck einen Feind in unserem Versteck, das weißt du genau.«

»Feind?« Kralle stieß einen lauten Lacher aus. »Mir schlottern schon die Pobacken.« Mit Wucht ließ sie sich auf eine der Kisten fallen. »Habt ihr gesehen, wie Tobi gestern kuschte, als er mein Kissen an den Schädel bekommen hat?«, fragte sie und schenkte sich sofort einen Becher Tee ein. »Tolle Feinde, echt. Ach, und übrigens, Schwesterchen: Du solltest die Musik leiser drehen. Feinde wissen nämlich ganz genau, dass aus einer unbewohnten Gartenhütte keine Partymusik dröhnt.« Sie faltete ihre Beine zum Schneidersitz. »Und noch was«, sagte sie, »ich hab Maria zufällig draußen getroffen. Und mich spontan selbst eingeladen, da du das ja anscheinend vergessen hattest.« Herausfordernd blitzte sie ihre kleine Schwester an.

»Ist okay«, seufzte Fanny, die Kralles eigenständige Aktionen längst gewohnt war.

»Wollt ihr eigentlich auch Tee?«, fragte Kralle.

»Yes please«, sagte Maria und hielt ihren Becher hin. »Oh Mann, ich fühl mich, als hätte ich Prinz William und Kate persönlich verschluckt. Danke, Kralle.« Genüsslich hielt sie sich den Tee vors Gesicht. »Hoffentlich zahlt sich die Plackerei ausnahmsweise in der nächsten Arbeit aus«, murmelte sie durch den aufsteigenden Dampf. »Meistens bringt ja doch alles Lernen nichts.« Fanny warf ihr einen tröstenden Blick zu. Maria hatte es wirklich nicht leicht. Obwohl sie fast täglich büffelte, fiel ihr in den Arbeiten nur noch die Hälfte von allem ein. »Als ob kurz vorher jemand mit dem Radierer durchs Gehirn wischt«, sagte sie immer. Und auch jetzt sah sie aus, als könnte sie gar nicht richtig abschalten. Fanny holte tief Luft. Es war höchste Zeit, Marias Vorzüge in den Vordergrund zu stellen. Gerade wollte sie ansetzen, um endlich den Grund ihres Treffens mitzuteilen, als Maria plötzlich sagte: »Ach, beinahe hätte ich den Kuchen vergessen. Gib mir mal bitte die Dose in meinem Korb, Kralle.« Na bitte! Maria hatte enorme Vorzüge.

»Lecker duftet das!« Kralle öffnete die Dose und sog die Luft durch die Nase. »Maria, du bist einfach die beste Bäckerin in ganz Mühlstadt.«

»Du hast ja noch nicht mal probiert«, lachte Maria.

»Du hast recht, ich werd mal reinbeißen. Mpf – kann ja nicht schaden.« Kralle stopfte sich ein großes Stück Kuchen in den Mund und grinste. Braune Kuchenkrümel blitzten durch ihre weißen Zähne.

»Wenn die Jungs wüssten, wie gut wir’s hier haben«, kicherte Maria. »Die würden Augen machen.«

»Aber echt«, stimmte Fanny zu und nahm sich selbst ein Kuchenstück. »Geheimer Treffpunkt …«

»… üppiger Kuchen«, fiel Kralle ihr schmatzend ins Wort.

»… und leckerer Früchtetee. Davon können die vor ihren Bass-Saiten und Verstärkern nur träumen«, ergänzte Maria. »Apropos Jungs: Ist Niklas jetzt eigentlich jeden Tag bei euch? Ich meine, weil du gestern gesagt hast, dass er sich gerne in eurer Hängematte breitmacht.« Scheinbar gleichgültig sah Maria zu Fanny hinüber, aber ihre Augen verrieten eine nicht ganz so gleichgültige Neugier.

»Ja«, seufzte Fanny, und Kralle rollte mit den Augen. »Seit diesem Monat haben seine Eltern beide ’nen Job. Er kommt nach der Schule zu uns, weil seine und unsere Mama ja ganz dicke miteinander sind. Zum Mittagessen ist er immer da. Und dann bleibt er, solange er will.«

»Und hin und wieder will er sehr, sehr lange bleiben, das kannst du mir glauben«, ergänzte Kralle mit herausforderndem Blick in Fannys Richtung.

»Ach – ach ja?«, stammelte Maria und sah Fanny verwirrt an. Sie wirkte ein wenig irritiert, oder bildete Fanny sich das ein? Ach was, und was sollte überhaupt schon wieder Kralles Bemerkung? »Heute ist er jedenfalls unterwegs«, sagte sie energisch, »und deshalb braucht er uns auch nicht zu kümmern.« Fanny fischte nach ihrem Rucksack, öffnete die Schnallen und zog endlich das Stadtmagazin heraus. »Aber da wir nie wissen, wann er hier auftaucht, kommen wir doch endlich zum Grund unseres Treffens.« Mit dem Zeigefinger tippte Fanny auf eine bunt bebilderte Seite des Stadtmagazins. »Hierum geht es.«

»Eine Ta-lent-abend-show?«, entzifferte Maria staunend die Überschrift. »Zeig mal!«

»Jeder zwischen acht und achtzehn kann mitmachen«, erklärte Fanny. »Und das Beste: Es ist ein Wettbewerb.«

»Eine Jury und das Publikum stimmen über die besten Darbietungen ab. Den talentiertesten Bewerbern winken tolle Preise«, las Maria laut das Ende des Artikels vor und gab das Magazin an Kralle weiter. »Klingt gut«, seufzte sie. »Ich frage mich nur, wo mein Talent liegt. I haven’t found it yet. – Ich hab’s noch nicht gefunden.«

»Singen können wir jedenfalls alle nicht«, stellte Kralle fest. »Wenn ich da an unser Gegröle im Jugendtreff denke …«