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  Uwe Buß– Das Amulett von Gan– SCM R.Brockhaus

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ISBN 978-3-417-22678-2 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book:

© 2012 SCM Kläxbox im SCM-Verlag GmbH & Co. KG

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Umschlaggestaltung: Marc Robitzky, ZKY-Design

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Für Lisanne, Anike und Jeppe

Und ein Strom geht von Eden aus,

den Garten zu bewässern;

und von dort aus teilt er sich

und wird zu vier Armen.

Die Bibel, 1. Mose 2,10

INHALT

Inhalt

Kapitel 1
Das geheimnisvolle Amulett

Kapitel 2
Die Träger der Amulette

Kapitel 3
Die List der Bergmännchen

Kapitel 4
Die Welt der Bergmännchen

Kapitel 5
Schloss Birah

Kapitel 6
Überfall am Morgen

Kapitel 7
Der Zauberwald

Kapitel 8
Gefangene der Nacht

Kapitel 9
Harah, der Zerstörer

Kapitel 10
Die Hüterin der Lebensströme

Kapitel 11
Die Rückkehr

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Kapitel 1

Das geheimnisvolle Amulett

Die Angst schnürte ihm die Kehle zu. Ganz alleine stand er in diesem dunklen Wald. Riesige Bäume umgaben ihn, nur der Mond schimmerte silbrig zwischen den Zweigen. Wohin sollte er jetzt gehen? Er konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, wie er hierhergekommen war. Da, schon wieder: dieses krächzende Geräusch. Nichts wie weg hier, dachte er. Aber was war das? Seine Füße wollten sich einfach nicht bewegen. Keinen müden Zentimeter. Verzweifelt versuchte er davonzukommen. Über ihm bewegte sich etwas. Er schaute nach oben und da sah er es: Mit weit ausgebreiteten, ledrigen Flügeln stürzte es mit rot glühenden Augen auf ihn herab …

Finn schreckte auf. Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Atem stockte. Es war nur ein Traum. Wie ätzend! Jetzt sogar schon tagsüber. Noch nie hatte er so fest bei einer Autofahrt geschlafen, dass er einen dieser grässlichen Albträume hatte. Seit einigen Wochen verfolgte ihn nun dieser Traum, immer dieselbe Szene: Allein in diesem seltsamen Wald und dann dieses schwarze, fliegende Etwas. Schrecklich! Finn atmete tief durch und setzte sich wieder aufrecht hin. Seine Eltern, die vor ihm saßen, schienen nichts bemerkt zu haben. Sie waren in ein Gespräch über einen Kinofilm versunken, den sie sich am Abend vorher miteinander angeschaut hatten.

Langsam beruhigte sich sein Pulsschlag wieder und Finn schaute versonnen auf die Straße. Endlich: Das lang ersehnte Schild! Ungeduldig rutschte er auf dem Rücksitz in die Mitte und schob seinen Kopf zwischen die Schultern seiner Eltern: »Nur noch 20 Kilometer bis Husum!«

»Mmh«, brummte sein Vater nur und schaute ernst auf die Straße. Wie immer, wenn sie zu Finns Großeltern an die Nordsee fuhren, hatte sein Vater schlechte Laune. Seine Mutter legte beschwichtigend ihre Hand auf seinen Arm.

Finn sagte lieber nichts. Er freute sich riesig auf die Zeit bei den Großeltern. Er verstand nicht, warum sein Vater immer so ungern zu ihnen fuhr. Aus irgendeinem Grund mussten sich sein Vater und der Großvater schon vor vielen Jahren zerstritten haben. Wie es dazu gekommen war, hatte Finn nie erfahren. Einmal hatte er seinen Vater direkt darauf angesprochen, eine wirkliche Antwort aber nicht bekommen. »Weißt du, Finn«, hatte sein Vater gemeint, »das ist eine ganz alte Geschichte. Ehrlich gesagt möchte ich darüber nicht sprechen.« Damit war das Gespräch beendet. Finn traute sich nicht mehr, das Thema anzuschneiden. Auf keinen Fall wollte er den Ärger seines Vaters über den Großvater steigern, schließlich hatte er in seiner Wut schon öfter damit gedroht, nicht mehr dorthin zu fahren, also schwieg Finn lieber.

Seine Mutter ließ sich von der schlechten Stimmung ihres Mannes nicht beirren: »Ach Bernd, freu dich doch einfach auf die schöne Natur, das Meer und den blauen Himmel, auf die Wanderungen, die wir dort machen können!«

Ein etwas freundlicheres Grunzgeräusch war die Antwort. Es wurde still im Auto. Alle hingen ihren Gedanken nach.

Zweimal im Jahr machte sich Familie Petersen auf den Weg Richtung Norden – und es war jedes Mal eine richtig coole Zeit. Zumindest für Finn und seine Mutter Sabine. Finn Petersen war ein zwölfjähriger Junge mit blonden lockigen Haaren, grünen Augen und schmaler Figur. Er freute sich riesig auf seine Großeltern. Vor allem sein Großvater dachte sich immer tolle Aktionen aus. Sie unternahmen Wanderungen im Watt oder gingen miteinander segeln. Langweilig wurde es jedenfalls nie mit ihm. Manchmal erzählte der Großvater auch eine seiner spannenden Seefahrergeschichten. Mittlerweile war es Finn zwar etwas peinlich, diesen Kindergeschichten so begeistert zu lauschen, aber sie waren einfach zu gut. Richtig spannend und voller Abenteuer und Gefahren! Viel interessanter als der ganze Kram, mit dem er sich in der Schule herumschlagen musste. Richtig dröge fand er es dort, zumal er in seiner Klasse keinen einzigen wirklichen Freund hatte. Ständig machten alle Witze über seinen norddeutschen Akzent und ärgerten ihn, weil er noch recht klein für sein Alter war. Finns Mutter versuchte stets, ihn zu beruhigen. Die anderen wären neidisch wegen seiner guten Noten und ärgerten ihn deshalb. Aber das half ihm auch nicht weiter. Er wünschte sich richtig gute Freunde – solche, mit denen man Pferde stehlen konnte, wie sein Großvater immer sagte.

Die Landschaft wurde immer vertrauter. Von Weitem sah Finn schon die gelbe Fahne mit dem blauen Wellenkreuz, die sein Großvater an einem langen, etwas windschiefen Mast gehisst hatte, der neben dem Tor in die Erde gerammt war. Sein Vater grunzte erneut. Diesmal etwas schärfer. Er fand diese Fahne immer furchtbar grässlich. »Dass er diesen albernen Kram einfach nicht lassen kann«, schimpfte er, und sein Oberlippenbart zuckte dabei verdächtig.

Finn dagegen, der diese Schrulligkeit seines Großvaters liebte, wusste, was die Fahne bedeutete: Sie wurden erwartet! Die Torflügel standen weit auf, und bald schon fuhr das Auto durch die Einfahrt eines stattlichen Bauernhofes. Neben dem alten Wohnhaus, in dem seine Großeltern lebten, stand eine Scheune mit Stallungen, die aber größtenteils nur noch als Lagerräume genutzt wurden. Tiere gab es nur noch wenige, denn schon vor vielen Jahren hatten seine Großeltern alle Kühe und Schafe abgeschafft. Es hatte sich einfach nicht mehr gelohnt. Finn fand das sehr schade, aber immerhin liefen noch ein paar Hühner und zwei Katzen über den Hof. Hinter einem Zaun meckerten Ziegen, und einen Hund gab es natürlich auch.

Ein halbes Jahr hatte Finn auf diesen Moment gewartet. Er sprang aus dem Auto und rief: »Opa, Oma!«

Als Allererstes kam Kalli, der kleine Mischling, angerannt, sprang gleich freudig an ihm hoch. »Halt, nicht so wild«, lachte Finn und streichelte der Promenadenmischung über den Rücken. Da ging auch schon die Tür des Wohnhauses auf und seine Großmutter, eine kleine rundliche Frau mit grauem Haarschopf und strahlenden blauen Augen, lief ihm entgegen:

»Da ist er ja endlich. Mein lieber Junge. Wie schön!« Sie umarmte Finn ganz fest und küsste ihn auf die Wange. Dann wandte sie sich seinen Eltern zu und drückte seine Mutter an sich, die die Umarmung herzlich erwiderte. Sein Vater ließ sich zwar auch gerne von der Großmutter umarmen, wirkte dabei aber etwas steif. Offensichtlich hatte er immer noch schlechte Laune.

»Wie immer!«, dachte sich Finn. Seine Großmutter verzog etwas betrübt das Gesicht und dachte sich wohl das Gleiche.

»Wo ist denn Opa?«, fragte Finn.

»Oh, der ist auf der Wiese hinter der Scheune. Er wollte noch das Heu wenden, damit es bis morgen auch wirklich trocken wird. Du kannst gerne zu ihm gehen und ihm sagen, dass es gleich Essen gibt.«

Das ließ sich Finn nicht zweimal sagen. Sofort rannte er los und schon war er um die Ecke. Jeden Winkel des Bauernhofes hatte er bereits erkundet. Trotzdem gab es immer Neues zu entdecken. Der vertraute Geruch von frisch gemähtem Gras stieg ihm in die Nase. Ach, wie schön wäre es, wenn er immer hier leben könnte! Aber das war nicht möglich, da sein Vater als Chemiker in Frankfurt arbeitete. Das war einfach zu weit weg.

Da sah er schon seinen Großvater auf einem kleinen Traktor sitzen. »Opa!«, rief er, so laut er konnte. Sofort hielt dieser den Traktor an, winkte Finn zu sich und bedeutete ihm, er solle sich doch gleich hinters Steuer setzen. Nichts lieber als das, dachte sich Finn. Schon im vergangenen Sommer hatte der Großvater ihm gezeigt, wie er den alten Traktor zu bedienen hatte. Er kletterte hoch und setzte sich auf den Sitz, während sein Großvater mit der Sitzfläche links daneben vorliebnahm. Finn legte den ersten Gang ein und ließ langsam die Kupplung kommen. Der Traktor setzte sich in Bewegung.

»Super, du kannst es noch!«, rief der Großvater fröhlich und strahlte ihn mit seinen auffallend grünen Augen an, die genauso wie Finns aussahen. Auf dem Kopf trug er eine blaue Seemannsmütze, die seine Glatze vor der Sommersonne schützte. Besonders stolz aber war der Großvater auf seinen langen grauen Rauschebart. Er meinte, dass er die fehlenden Haare auf seinem Kopf ja irgendwie ausgleichen müsse. Im Winter fragten ihn kleine Kinder öfter, ob er der Weihnachtsmann sei. Dann verneinte er lachend und erzählte ihnen eine der kleinen Geschichten, die Finns Vater so sehr verabscheute: Auf einer Reise nach Übersee hätte er einmal Zwerge kennengelernt. Sie hätten ihm erklärt, dass ein langer Rauschebart der ganze Stolz eines Mannes sei und er ohne Bart in ihren Augen fast nackt sei. Da er in den Augen anderer nicht nackt dastehen wollte, habe er sich halt einen Bart wachsen lassen.

Bald war die letzte Reihe Heu gewendet, und Finn und sein Großvater fuhren zurück zum Bauernhof und gingen in die Küche, wo Großmutter und seine Eltern schon am Tisch saßen. Die beiden Männer gaben sich die Hand, nickten einander kurz zu und sagten »Moin, moin«. Das war die ganze Begrüßung.

Die Großmutter sprach ein kurzes Tischgebet, und dann gab es das leckerste Essen, dass Finn seit Langem gegessen hatte. Es war sein Leibgericht: Birnen, Bohnen und Speck. Das gab es nur in Norddeutschland bei Großmutter. Oh wie lecker, dachte er, und roch genüsslich an dem Eintopf, den sie ihm reichte. Gierig machte er sich über seinen Teller her. Seine Mutter schaute ihn zwischendurch streng an. Es war dieser typische Mama-Blick, der Bände sprach. Finn wusste genau, was seine Mutter ihm damit sagen wollte. Er hörte sie deutlich in seinem Kopf: »Schling nicht so! Was soll denn Oma denken? Immerhin bist du jetzt schon zwölf Jahre alt. Wozu bringe ich dir denn Tischmanieren bei, wenn du sie hier alle vergisst?«

Finn versuchte sich etwas zurückzuhalten, aber es schmeckte einfach zu gut.

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Gleich nach dem Abendessen nahm sich Finn seinen Koffer und verzog sich in sein Zimmer. Es brauchte ihm niemand zu sagen, wo er schlafen würde – er war immer im gleichen Raum untergebracht. Es war eine kleine Mansarde unter dem Dach. Innendrin war es wie in einem Zelt: Zwei große schräge Deckenwände und zwei kleine Seitenwände, eine mit der Tür und die gegenüberliegende mit einem kleinen Fenster. Von dort aus konnte er in Großmutters Gemüsegarten schauen.

Das Zimmer war klein. Es passten eigentlich nur ein Bett, ein Schreibtisch, ein Nachttisch und eine Kommode hinein. Zu Hause war sein Zimmer viel größer, aber für Finn war die kleine Dachmansarde das Paradies auf Erden. Mehr brauchte er nicht. Hier fühlte er sich so richtig wohl, selbst wenn sein Vater mit saurer Miene herumlief. Das war ihm egal. Hauptsache, er durfte hier sein. Weit weg von der Schule und den Jungs, die ihn immer ärgerten.

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Am nächsten Morgen sprang er eilig aus dem Bett, denn er wollte den Tag ganz auskosten. Als er herunter in die Küche kam, war nur seine Großmutter da. »Wo sind denn die andern?«, fragte Finn.

»Guten Morgen erst mal, mein Junge«, sagte die Großmutter. »Deine Eltern sind heute in aller Frühe losgegangen. Sie wollen das schöne Wetter ausnutzen, um eine ausgiebige Wanderung zu machen. Sie meinten, dein Interesse an einer Wanderung wäre heute vermutlich nicht so groß.«

»Allerdings«, beteuerte Finn grinsend. Es gab wohl nichts Uncooleres als eine Wanderung mit den Eltern. »Aber wo ist Opa?«

»Ach, der ist eben mal nach Husum gefahren, ein paar Besorgungen machen. Bis zum Mittagessen wird er zurück sein. Aber jetzt frühstücke doch erst mal.«

Auf dem Tisch stand schon sein Frühstück bereit, über das er sich gleich hermachte. Was sollte er jetzt ohne den Großvater anstellen? Er beschloss, sich zunächst einmal ein wenig auf dem Hof umzuschauen, und ging hinaus. Aber irgendwie war das ohne den Großvater langweilig. Jede Ecke war ihm vertraut. Da fiel ihm eine offen stehende Tür im ehemaligen Kuhstall auf. Er konnte sich nicht erinnern, wozu dieser Raum jetzt genutzt wurde. Schnell lief er zu der Tür und ging hinein.

Der Raum war vollgestopft mit Gerümpel: alte Tische und Schränke. Stühle, denen ein Bein fehlte, altmodische Lampen, eingestaubte Bilder und vieles mehr. »Wie auf einem Flohmarkt«, rief Finn begeistert. »Stark!« Das musste er sich genauer anschauen. Wer konnte ahnen, was es da an interessanten Dingen zu entdecken gab!

Neugierig öffnete er alle Schränke und schaute unter jedes der Laken, mit denen die Möbel provisorisch abgedeckt waren. Er stieß auf alte Bücher mit schnörkeliger Schrift, die er nicht entziffern konnte, allerlei Zettel und auch alte Fotos. Ein Bild stach ihm besonders ins Auge. War das nicht sein Vater als Kind? Er saß auf der Schulter von Großvater. Beide lachten. Da haben sie sich wohl noch besser verstanden, dachte Finn.

Als Nächstes fiel sein Blick auf eine alte Kommode. Irgendwie kam sie ihm bekannt vor. Stand sie nicht früher auf dem Dachboden der Großeltern? Finn zog eine Schublade nach der anderen auf. Alle waren leer. Doch als er die unterste Schublade öffnen wollte, klemmte sie. Komisch, was war denn das? Wieso ging sie nicht auf? Irgendwas musste sich verhakt haben. Nun war Finns Neugierde endgültig geweckt. Er wollte unbedingt herausfinden, was sich in dieser Schublade befand. Er zog die mittlere heraus. Vielleicht konnte er ja von oben in die untere Schublade hineinfassen. Aber zwischen den Schubladen befand sich eine fest montierte Bodenplatte. Er schaute hinter die Kommode und sah, dass die Rückwand locker war. Die meisten der zahlreichen kleinen Nägel hatten sich schon gelöst. Kurz überlegte er, ob seine Großeltern wohl Einwände hätten, wenn er die Rückwand einfach abriss, aber bevor er den Gedanken richtig zugelassen hatte, zog er schon an der Holzplatte. Es war nur ein kräftiger Ruck nötig, da fiel sie schon von alleine ab. Jetzt konnte er in die Schublade hineinschauen. Sie war leer, genau wie die anderen auch. Aber irgendetwas musste das Öffnen der Schublade doch verhindert haben! Was konnte es bloß sein?

Er kniete sich hin und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Zwischen der Schublade und der darüberliegenden Platte klemmte etwas. War das ein Stein? Er konnte es nicht genau erkennen. Finn schaute sich suchend im Raum nach etwas um, das er als Werkzeug nutzen konnte. In einer Ecke sah er einen schmalen Stock. Schnell holte er ihn, schob ihn von hinten in die Kommode und drückte mit ihm seitlich an dem Gegenstand, bis dieser mit einem polternden Geräusch in die Schublade fiel. Er hüpfte auf die andere Seite der Kommode, öffnete die Schublade und nahm den Gegenstand in die Hand.

Im ersten Moment sah es wie ein Stück Schiefer aus, aber dafür war es zu dick und die Oberfläche zu glatt. Der Stein hatte drei Ecken. Zwei Seiten waren ganz gerade und die dritte abgerundet, etwa so wie bei einem großen Kuchenstück. An der runden Seite standen drei Worte. Er konnte die alte, in den Stein gemeißelte Schrift nur mühsam entziffern: Leben und Kraft. Was das wohl bedeuten mochte? Über dem Wörtchen und befand sich ein kleines Loch, durch das eine Schnur aus dunkelbraunem Leder gezogen war. Auf dem schmalen Ende des Steines konnte Finn geschwungene Linien erkennen. Ansonsten war der Stein ganz unscheinbar. Trotzdem war Finn von ihm fasziniert. Es war etwas Besonderes an ihm. Immerzu musste er zu ihm hinschauen, seine Blicke wurden geradezu von ihm angezogen. Versonnen strich er mit seinen Fingerkuppen über die rätselhaften Worte: Leben und Kraft.

Plötzlich hörte er hinter sich ein Geräusch. Er zuckte zusammen, drehte sich blitzschnell um und versteckte vor Schreck den Stein hinter seinem Rücken. Sein Großvater stand mit ernstem Gesicht und verschränkten Armen vor ihm. »Was machst du denn hier für eine Unordnung, Junge?«

»Ähm, ich wollte mich nur umschauen«, stotterte Finn, »Ich liebe einfach altes Gerümpel.«

»Das ist aber nicht nur altes Gerümpel. Manches davon wollen wir noch verkaufen oder verschenken. Auf jeden Fall soll es nicht einfach kaputt gemacht werden«, sagte der Großvater vorwurfsvoll mit Blick auf die am Boden liegende Rückwand der Kommode.

»Äh, ja, Opa. Tut mir leid. Ich bringe alles wieder in Ordnung«, sagte Finn und schaute betreten nach unten. Es war ihm peinlich, den Großvater verärgert zu haben.

»Na, dann ist es ja gut«, sagte der Großvater schon etwas versöhnlicher. »Hast du denn wenigstens etwas Interessantes gefunden?«

»Ja, habe ich. Schau hier, dieses Bild von dir und Papa«, sagte Finn zögernd und deutete auf das Foto. »Da lacht ihr beide so schön.«

»Das war auch eine sehr schöne Zeit. Da haben wir viel miteinander gelacht. Die Stimmung zwischen deinem Vater und mir war nicht immer so mies. Aber dann …«

Großvater hielt inne. Finn merkte, dass er genauso ungern über diese Thema sprach wie sein Vater. Da wechselte der Großvater abrupt das Thema: »Und hast du sonst noch was Schönes gefunden?« Es war, als könne er direkt hinter Finns Rücken schauen, wo er immer noch den Stein mit der Schnur verborgen hielt. Leugnen war zwecklos.

Zögernd holte Finn den Stein mit der Schnur nach vorne. »Das hier!«

Der Großvater erstarrte. Reglos schaute er auf den Gegenstand in Finns Hand. Eine unheimliche Stille erfüllte den Raum. Selbst das Kreischen der Möwen, die über dem Gebäude ihre Kreise zogen, verebbte. Mühsam hauchte er: »Das Amulett! Wo hast du es gefunden? Sag es mir!«

Finn erschrak. So hatte er Großvater noch nie erlebt. Stockend begann er zu erzählen: »Es war hier in dieser Kommode. Es hatte sich zwischen zwei Schubladen verhakt. Deshalb hatte ich die ohnehin schon lose Rückwand ab… montiert.« Abgerissen traute Finn sich nicht zu sagen, aber die Rückwand interessierte den Großvater jetzt gar nicht mehr.

»Das Amulett«, sagte der Großvater leise und ernst, »ist wohl der kostbarste und wichtigste Gegenstand, den unsere Familie je besessen hat. Seit vielen Generationen befindet es sich schon in unserer Familie. Eines Tages aber war es verschwunden. Seit über zwanzig Jahren habe ich es nicht mehr gesehen. Es war nirgends aufzufinden. Bis jetzt.«

»Dann gehört es also dir?«, fragte Finn und wollte es gleich seinem Großvater in die Hand geben. Der aber wich zurück und machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung. »Nein, Finn. Das Amulett gehört jetzt dir, denn es hat dich gefunden. Du bist jetzt der Träger des Amuletts.«

»Häh?« Finn schaute verwirrt seinen Großvater an. Jetzt verstand er gar nichts mehr. »Wie kann denn ein Amulett mich finden? Es war doch in der Kommode festgeklemmt.«

»Das Amulett sucht sich seinen Träger selbst aus. Wenn wir es einem Menschen geben wollen, der gar nicht dazu berufen ist, sein Träger zu sein, kann das ungut enden.«

Der Großvater sprach diese Worte ganz in sich gekehrt. Er schien mit den Tränen zu kämpfen. »Nimm es«, sagte er. »Es ist deins.« Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ eilig den ehemaligen Stall. Finn stand ratlos da und schaute auf den steinernen Gegenstand, der warm in seiner Hand lag.

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Den ganzen Tag über versuchte er, sich selbst zu beschäftigen, schaute nach den Tieren, die er in Frankfurt so sehr vermisste, oder lief zum Deich, um die herannahende Flut zu betrachten. Aber seine Gedanken waren immerzu bei dem Gespräch im Stall und dem steinernen Amulett. Was sollte das Gerede, er sei jetzt der Träger des Amulettes? Am liebsten hätte er den Großvater gefragt, aber der war seit ihrer Begegnung im Stall wie vom Erdboden verschluckt. Nur zum Mittagessen war er kurz aufgetaucht und dann sofort wieder verschwunden. Das war so gar nicht seine Art. Großmutter und den Eltern, die mittlerweile zurückgekehrt waren, zeigte er seinen Fund lieber nicht. Wer weiß, was für seltsame Reaktionen es noch geben würde. Sobald er in die Nähe des Hauses kam, verbarg er den Stein tief in seiner Hosentasche. Abends aß er nur einen kleinen Happen und verzog sich eilig in seine Dachmansarde. Er wollte jetzt am liebsten alleine sein.

Seinen Eltern kam das sehr merkwürdig vor, nutzte Finn doch sonst jede freie Minute, um sie mit den Großeltern zu verbringen. Also ging sein Vater die Treppe hinauf, um bei ihm nach dem Rechten zu sehen.

Finn saß auf dem Bett und tat so, als lese er interessiert in einem Buch. Sein Vater setzte sich zu ihm. »Ist bei dir alles okay?«

»Ja, alles okay!«

»Wirklich?«

»Aber ja doch«, sagte Finn etwas genervt. Immer diese Erwachsenen, die alles ganz genau wissen wollen.

Da fiel der Blick seines Vaters auf den Nachttisch neben dem Bett. Ach du Schreck, dachte Finn. Da liegt ja noch das Amulett! Schnell wollte er danach greifen, um es an sich zu nehmen, aber da hielt es sein Vater schon in den Händen. Er betrachtete es genauso erschrocken wie zuvor der Großvater und sagte dann mit strenger Stimme: »Wo hast du das her, Finn?«

»Ich … ich habe es in einer alten Kommode im Stall gefunden. Es war dort zwischen zwei Schubladen eingeklemmt«, stammelte er.

Sein Vater war auf einmal ganz aufgeregt. Sein Schnurrbart begann wieder verdächtig zu zucken. Erschüttert schaute er zwischen Finn und dem Amulett hin und her. Nach einer Weile stand er abrupt auf. Finn dachte im ersten Moment, er würde ihm das Amulett wegnehmen. »Bitte, lass es hier, Papa!«, bat er besorgt und streckte seine Hand nach dem Amulett aus.

»Ja, ja, ich lass es dir hier, schon gut. Ich habe nur eine Bitte: Glaub nicht so viel von dem Zeug, was Opa über dieses Amulett erzählt. Bitte!« Er legte kurz seine Hand auf Finns Schulter, gab ihm das Amulett zurück und verließ den Raum.

Nach dieser Unterhaltung war natürlich an Schlaf nicht zu denken. So lag Finn noch lange wach im Bett und grübelte über die seltsamen Ereignisse dieses ersten Ferientags. Das war doch nicht normal, wie Großvater und sein Vater sich benahmen. Irgendwie musste er herausfinden, was dahintersteckte.

Einige Zeit später hörte er, wie Oma und seine Mutter zu Bett gingen. Die beiden Männer blieben zu zweit im Wohnzimmer sitzen. Das war, so lange Finn zurückdenken konnte, noch nie passiert. Normalerweise hatten die beiden sich nicht viel zu sagen und waren nur ungern allein miteinander in einem Raum. Was hatte sie wohl dazu bewogen, noch aufzubleiben? Finn wusste zwar, dass es nicht okay war, andere Leute zu belauschen, aber er musste unbedingt herausfinden, was das alles bedeutete. Ganz leise stand er auf und schlich auf den kleinen Flur. Ein paar Schritte wagte er sich auf der alten hölzernen Treppe nach unten, bis sie zu knarren begann. Vorsichtig hockte er sich hin und versuchte, ein paar Fetzen des Gesprächs aufzuschnappen. Die beiden Männer redeten laut und mit erregten Stimmen aufeinander ein.

»Ich weiß auch nicht, wie das Amulett dorthin gekommen ist. Ich hielt es für verschollen. Genau wie du«, sagte Finns Großvater.

»Verschollen? So ein Quatsch!«, schrie sein Vater. »Das Amulett war nicht verschollen. Ich habe es eigenhändig ins Meer geworfen. Und jetzt ist es plötzlich wieder da.«

»Du hast was?! Du hast das Amulett weggeworfen? Den größten Schatz unserer Familie? Das glaube ich nicht. Wie konntest du nur?«

»Wie ich nur konnte? Ich habe dieses Ding gehasst. Immerzu sollte ich es mit mir herumtragen. Ich wäre bestimmt der nächste Träger des Amuletts. Ich müsse nur geduldig sein.« Bernd Petersens Stimme überschlug sich fast. »Das ist doch alles eine große Spinnerei. Ich habe dir den ganzen Kram wirklich geglaubt und immer gewartet, dass etwas Ungewöhnliches geschieht. Ich lebte in einer Traumwelt. Aber es ist nichts passiert. Rein gar nichts. Ich war so enttäuscht … Ich wollte dieses Ding nur noch loswerden. Also habe ich es weggeworfen.«

»Dabei habe ich es doch nur gut gemeint, Junge. Ich habe wirklich gehofft …«

»Du glaubst den Mist also wirklich? Ich fass es nicht.«

»Was heißt hier glauben? Ich habe es selbst erlebt!«, sagte der Großvater mit belegter Stimme. »Als ich so alt war wie Finn jetzt, begann es …«

»Ach, erzähl doch keinen Quatsch. Nichts hast du erlebt!«, fiel ihm Bernd Petersen ins Wort. »Das sind alles nur Kinderträumereien gewesen.« Er hielt inne. »Und eins will ich dir sagen: Halte mir Finn da raus. Er soll nicht die gleiche Enttäuschung erleben wie ich damals. Kein Wort über das Amulett. Ist das klar?«

Als Finn die Türklinke hörte, schlich er schnell wieder in sein Zimmer und hüpfte ins Bett. Mit kräftigen Schritten und ärgerlich vor sich hin brabbelnd ging sein Vater nach oben. Vor der Treppe, die zu Finns Dachmansarde hinaufführte, blieb er kurz stehen, als überlegte er, noch einmal zu ihm zu gehen, aber dann entschied er sich dagegen und ging in sein Schlafzimmer.

Finn versuchte, sich auf das Gehörte einen Reim zu machen, aber das war schier unmöglich. Neugierig nahm er das Amulett in Augenschein. Es fühlte sich wieder ganz warm an. Für einen gewöhnlichen Stein zu warm, fand er …

Nach einiger Zeit fiel Finn in einen schweren, aber unruhigen Schlaf. Mitten in der Nacht wurde er plötzlich wach. Hatte er nicht ein Geräusch gehört? Schnell rollte er sich auf die Seite, um die Nachttischlampe anzuschalten. Was er nun sah, verschlug ihm den Atem: Das Amulett lag immer noch auf dem Nachttisch, aber von ihm ging ein seltsames Licht aus. Es schien von innen heraus zu leuchten, und außerdem vibrierte es. Schnell machte Finn das Licht an. Jetzt sah das Amulett wieder ganz gewöhnlich aus. Total verrückt! Was war das? Nach dem Gespräch mit Großvater und dem Streit, den er am Abend belauscht hatte, wunderte es ihn zwar nicht sonderlich, dass der Stein seltsame Sachen machte. Aber das war doch zu sonderbar. Ob er zu seinen Eltern gehen sollte? Nein, lieber nicht. Am Ende würde sein Vater ihm das Amulett doch noch abnehmen. Er musste selber herausfinden, was es damit auf sich hatte.

Vorsichtig nahm er es in die Hand und schaltete das Licht wieder aus. Sofort begann der Stein wieder zu leuchten, immer stärker. Er fühlte sich ganz warm an. Als Finn sich umschaute, kam es ihm vor, als stünde eine in Weiß gekleidete Frau im Zimmer. War das Einbildung, oder sah er sie wirklich? Er konnte das Fenster hinter ihrem Körper erkennen, und dennoch schien sie ganz real zu sein. Die Frau streckte die Arme nach ihm aus, als ob sie ihm etwas sagen wollte. Dann hörte er eine leise flehende Stimme: »Kommt zu uns. Wir brauchen eure Hilfe.«

Der Drang, etwas zu tun, wurde in Finn immer stärker – nur wusste er beim besten Willen nicht, was. Er spürte Angst in sich aufsteigen, und gleichzeitig konnte er die Verzweiflung der Frau fühlen, die ihn so Hilfe suchend anschaute.

Schließlich wurde die Anspannung zu groß. Mit einem Ruck ließ er den Stein auf den Boden fallen und knipste hastig seinen Nachtischlampe an. Alles war wieder normal. Finn saß kerzengerade im Bett, der Schweiß stand ihm auf der Stirn.

»Meine Güte, was war denn das?«, schnaufte er noch sichtlich erregt. Morgen früh musste er gleich mit Großvater sprechen. Finn hob vorsichtig den Stein wieder auf und legte ihn auf seinen Nachttisch. Dann versuchte er erneut, einzuschlafen. Das Licht ließ er aber lieber angeschaltet.

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Am nächsten Morgen stand Finn in aller Frühe auf und ging in die Küche. Seine Eltern schliefen zum Glück noch, und die Großeltern saßen am Küchentisch und schlürften ihren Morgenkaffee.

»Opa, hättest du nachher mal kurz Zeit für mich? Ich muss dich unbedingt etwas fragen, unter vier Augen.«

Die Großmutter machte ein besorgtes Gesicht, blieb aber still. Als der Großvater seinen Kaffee zu Ende getrunken hatte, sagte er: »Na, dann komm mal, mein Junge. Lass uns draußen ein paar Schritte gehen.«

Sobald sie den Bauernhof hinter sich gelassen hatten, sprudelte es auch schon aus Finn heraus: »Du sollst mir zwar nichts sagen, meint Papa, aber ein paar Sachen muss ich einfach wissen.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute der Großvater Finn an. »Woher weißt du, dass ich dir nichts sagen soll?«, fragte er streng.

»Ich, ich …«, stammelte Finn. Er spürte, wie er rot anlief. Was sollte Großvater nur von ihm denken? »Nun ja, ich war so furchtbar neugierig und …«

»… und dann hast du gestern Abend unser Gespräch belauscht«, ergänzte der Großvater.

»Ja. Das tut mir leid, Opa. Wirklich!«

»Du weißt jetzt schon mehr, als deinem Vater lieb ist«, sagte der Großvater, dem die ganze Situation auch sehr unangenehm zu sein schien. Er machte eine kleine Pause und holte tief Luft. »Ich darf dir nichts erzählen, wenn dein Vater das nicht erlaubt. Er ist für dich verantwortlich, und er hat mir ausdrücklich verboten, dir irgendetwas über das Amulett zu sagen.«

»Aber Opa«, sagte Finn mit aufgeregter Stimme. »Der Stein, ich meine das Amulett, hat heute Nacht geleuchtet, und dann war da diese Frau in meinem Zimmer und die hat gesagt: ›Kommt zu uns. Wir brauchen eure Hilfe.‹«

Abrupt blieb der Großvater stehen. Er schwieg und schien mit Bedacht seine Worte zu wählen, dann sagte er mit stockender Stimme: »Du bist wirklich der neue Träger des Amuletts.« Tränen rannen seine Wangen herunter und gleichzeitig lächelte er Finn glücklich an: »Finn, wenn du wieder diese Stimme hörst und das Amulett zu leuchten beginnt, lege das Band um deinen Hals und den Stein direkt auf dein Herz. Das ist das Tor zu einer neuen Welt. Du brauchst dich nicht zu fürchten, denn du wirst Glück und Frieden finden. Du wirst Dinge sehen, die du dir im Entferntesten nicht vorstellen kannst.«

»Aber Opa, du musst mir einfach noch mehr erklären. Du hast Papa gesagt, es habe bei dir angefangen, als du so alt warst wie ich jetzt. Was heißt das? Was hast du mit dem Amulett erlebt?«

»Ich habe dir schon viel zu viel erzählt«, sagte der Großvater eilig. Scheinbar hatte er sich wieder gefasst.. »Dein Vater wäre damit überhaupt nicht einverstanden.«

»Opa!«, sagte Finn empört zu seinem Großvater, als der sich Richtung Bauernhof bewegte. »Ich bin kein kleines Kind mehr. Ich bin zwölf Jahre alt. Du musst mir einfach mehr erzählen.«

Der Alte wandte sich erneut seinem Enkel zu. Zwei starr dreinschauende grüne Augenpaare begegneten sich: »Denk an all die schönen Geschichten, die ich dir in den letzten Jahren erzählt habe.«

»Aber das waren doch nur irgendwelche ausgedachten Abenteuergeschichten. Die waren doch erfunden!«

»So? Wirklich?«, fragte der Großvater nun mit leicht verschmitztem Gesicht. »Lass uns jetzt zurückgehen. Die anderen wundern sich bestimmt schon, wo wir so lange bleiben. Ach ja – deinem Vater würde ich von dieser Unterhaltung nichts erzählen. Behalte es erst mal für dich.«

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Kapitel 2

Die Träger der Amulette

Je länger der Tag wurde, desto aufgeregter wurde Finn. Seine Eltern wollten unbedingt mit ihm zusammen an den Strand gehen. Finn liebte das Meer über alles, doch diesmal hätte er sich natürlich viel lieber alleine mit dem Amulett beschäftigt. Da er aber nicht das Misstrauen seines Vaters erregen wollte, stopfte er es sich in die Hosentasche und ging mit an den Strand. Sie sammelten Muscheln und wateten mit den Füßen durch die Gischt, spritzten sich gegenseitig nass und hatten viel Spaß miteinander.

Sein Vater erwähnte das Amulett tatsächlich nicht mehr. Vielleicht hoffte er, es würde bei Finn in Vergessenheit geraten. Aber da täuschte er sich. Jede Minute dachte Finn an seinen kostbaren Schatz und kontrollierte immerzu, ob es sich noch in seiner Hosentasche befand.

Als er abends zu Bett ging, legte er das Amulett nicht wieder auf seinen Nachttisch, sondern zog die Schnur über seinen Kopf und platzierte den Anhänger genau auf sein Herz, so wie es sein Großvater ihm gesagt hatte. Er legte sich auf den Rücken und hielt das Amulett mit beiden Händen fest. Sofort spürte er, wie es sich erwärmte. Obwohl er seine Augen geschlossen hielt, wusste er ganz genau, dass der Stein wieder zu leuchten begann. Wie am Abend vorher drang wieder die Stimme an sein Ohr: »Kommt zu uns. Wir brauchen eure Hilfe.«

Finn ängstigte dieses seltsame Licht, das Vibrieren und die Stimme, aber er nahm allen Mut zusammen: »Ja, ich will zu euch kommen«, flüsterte er mit zitternder Stimme. »Zeige mir den Weg!«

Als Finn das gesagt hatte, begann das Amulett zu pulsieren wie ein Herz. Erschrocken öffnete er die Augen. Der Stein leuchtete nun so stark, dass sein Zimmer von gleißendem Licht durchflutet war. Sein Bett fing an zu zittern, ein starker Wind kam auf, als ob ein Sturm das Fenster geöffnet hätte. Im nächsten Moment gab es einen heftigen Knall. Dann war alles auf einmal still. Finns Zimmer verschwand, und schwerelos glitt er durch helles Licht. Er hätte später nicht sagen können, wie lange dieser Zustand dauerte, aber es fühlte sich wunderschön an. Am liebsten wäre er noch viel länger so herumgeschwebt, doch plötzlich gab es wieder einen lauten Knall, und Finn fand sich auf einem Bett wieder – nur war es diesmal nicht sein Bett in der Dachmansarde bei den Großeltern, sondern ein ganz anderer Ort. Schnell setzte er sich hin. Wo war er bloß?

Der Raum, in dem er sich befand, war vollkommen anders als alle Räume, die er bisher gesehen hatte. Er war rund und hatte kein Fenster. Die Wand war mit einer seidenen Tapete bespannt, die in wunderschönen Farben leuchtete. Auf blauem und rotem Hintergrund waren silberne Federn gewebt, die durch die Luft zu fliegen schienen, und am unteren Rand waren kunstvoll gestaltete silberne Vögel zu sehen, von denen sich jeweils zwei mit langen Schnäbeln einander zuwandten. Das Licht im Raum kam gleichermaßen von der Decke und vom Boden: Es waren Steine, die wie sein Amulett die Fähigkeit hatten, aus sich selbst heraus zu leuchten.

In dem Zimmer befanden sich lediglich das Bett, auf dem er jetzt saß, und ein Stuhl mit darauf zusammengelegten weißen Kleidern und ein paar Schuhen darunter. Er strich über den Stoff des Gewands und war fasziniert von dem weichen Gewebe. Es musste sich wundervoll anfühlen, so etwas auf der Haut zu tragen. Ansonsten war der Raum leer. Es gab nur eine offene Tür, die in einen schmalen Gang führte. Finn war unschlüssig, ob er das Zimmer einfach verlassen konnte. Vielleicht lauerte ihm ja jemand auf? Aber alleine in dem Raum abzuwarten machte auch keinen Sinn, und so beschloss er nach einer Weile, einfach loszugehen. Er öffnete die Tür, setzte vorsichtig einen Fuß vor den andern und schlich den Flur entlang. Am anderen Ende konnte er einen weiteren Raum erkennen. Was würde ihn dort wohl erwarten? Ganz langsam und mucksmäuschenstill ging Finn weiter. Er spürte sein Herz pochen und wäre am liebsten wieder zurückgeschlichen. Andererseits war er auch neugierig, was das für ein seltsamer Ort war, an dem er sich befand …

Am Ende des Ganges blieb er stehen und lugte gespannt in den Raum. Es war das Prachtvollste, was er je gesehen hatte: Der Raum schien vollständig aus hell leuchtendem Gold und Silber zu bestehen. Fünf Eingänge hatte er und in der Mitte stand ein runder Tisch mit vier Stühlen, ebenfalls aus Gold. Ansonsten war der Raum leer. Finn war beeindruckt. Vor lauter Staunen vergaß er alle Vorsicht. Ehrfürchtig näherte er sich dem Tisch. Tausend Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Was war das für ein Palast? Wer mochte in diesen Räumen wohl leben?

Da hörte er eine helle, freundliche Stimme.

»Wer bist du denn?«

Mit einem kurzen Schrei wandte sich Finn ruckartig zur Seite, wo die Stimme herkam. Da stand ein Mädchen mit dunkler Hautfarbe und schwarzen, zu vielen Zöpfen geflochtenen Haaren in einem der weiteren Eingänge. Es trug ein schlichtes Kleid mit einem Blumenmuster, lächelte ihn freundlich an und wartete auf eine Antwort.

»Ich bin Finn. Und wer bist du?«

Das Mädchen wollte gerade antworten, da fragte eine weitere Stimme: »Könnt ihr mir sagen, wo wir hier sind?« Ein Junge mit bräunlicher Haut, der seine langen dunklen Haare zu einem Zopf zusammengebunden hatte, schaute die beiden fragend an. Er trug eine Jeans und ein gelbes T-Shirt.