Cover

Andrea Schneider – DAS JA DER DANKBARKEIT | In der Bibel entdeckt – heute gelebt – SCM R.Brockhaus

SCM | Stiftung Christlicher Medien

Der SCM-Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-22811-3 (E-Book)
ISBN 978-3-417-26657-3 (Lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

© 2015 SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 58452 Witten
Internet: www.scmedien.de; E-Mail: info@scm-verlag.de

Die Bibelverse wurden, soweit nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung 2006, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Weiter wurde verwendet:
Gute Nachricht Bibel, revidierte Fassung, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 2000 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart (GNB).

Umschlaggestaltung: yvonne pils, Düsseldorf
Titelbild: Fotolia © pixelrobot
Satz: Christoph Möller, Hattingen

INHALT

Vorwort

„Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat!“ –
Sich erinnern und danken

Die Arche in der großen Flut –
Gerettet werden und danken

„Seid dankbar in allen Dingen!“ –
Entdecken und danken

Der Blinde und sein Hilfeschrei –
Sehen und danken

Zwei Alte mit guten Augen –
Hoffen und danken

Zwei Frauen auf dem Weg –
Wagen und danken

Der Eine von den Zehn –
Geheilt werden und danken

Der Silbergroschen und das Schaf –
Finden und danken

Der Vater und seine ungleichen Söhne –
Dazugehören und danken

10 Die Mutter und ihr geschenktes Kind –
Loslassen und danken

11 „Du sollst Vater und Mutter ehren!“ –
Respektieren und danken

12 „… dass ich wunderbar gemacht bin!“ –
Staunen und danken

13 Der Bauer und seine vollen Scheunen –
Ernten und danken

14 Der hartherzige Schuldner –
Vergeben und danken

15 „Denn seine Güte währet ewiglich …“ –
Singen und danken

16 „Freuet euch in dem Herrn allewege!“ –
Frei sein und danken

Anmerkungen

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VORWORT

Das Cover dieses Buches ist himmelblau, mit schöner Paketband-Schleife verziert und sympathischer Krakelschrift beschrieben: „Das Ja der Dankbarkeit“.

Haben Sie es selbst gekauft? Dann sind Sie vermutlich gespannt darauf, das „Paket“ gleich „aufzuschnüren“. Oder ist es ein Geschenk? Dann haben Sie sich doch bestimmt dafür bedankt! Vielleicht überschwänglich freudig: „Herzlichen Dank dir! Wie wunderbar, dass du an mich gedacht hast!“ Oder nicht ganz so überrascht, denn ein Geschenk war zu erwarten und hätte durchaus auch größer ausfallen können: „Nett von dir … Schönen Dank!“ Oder auch etwas schmallippig, denn schließlich hätte sich Ihre grundsätzliche Leseunlust doch langsam herumsprechen können: „Ach ja, ein Buch … Danke!“

Wie auch immer: Danke ist ein einfaches Wort. Aber Dankbarkeit ist kein einfaches Thema. Ist Dankbarkeit der Schlüssel zur Zufriedenheit oder eine Fessel der Abhängigkeit? Sagt man eigentlich „dankbar“, weil der Mensch normalerweise nicht Dank „bar“ ausdrückt? „Stattet“ man den Dank „ab“, um die Dankbarkeit loszuwerden? Ist Hoffen auf Dankbarkeit ein „undankbares“ Geschäft? Und „Undank“ sowieso der Welten Lohn?

Das Wort „dankbar“ hat überaus viele Bedeutungen: verbunden und verpflichtet, lohnend und vorteilhaft, ergiebig und ertragreich, nützlich und erfreulich … Und der „Dank“ hat viele Formen: die Dankeskarte und die Dankesrede, die Dankadresse und den Dankaltar, aber auch die Dankesverpflichtung und die Dankesschuld … „Dankbarkeit“ kann ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Manchmal aber auch Bauchschmerzen verursachen. Und immer wieder ist sie eine Herausforderung.

Die Idee zu diesem Buch ist entstanden im Rahmen des „Jahres der Dankbarkeit“, das Kirchen und Gemeinden, Einzelpersonen und Verlage gemeinsam ausgerufen haben, um dieses Thema in den Fokus zu rücken. In einer Zeit, wo es den allermeisten Menschen in unserem Land überaus gut geht, sie das aber viel zu wenig wahr-nehmen und nörgelige Undankbarkeit viel weiter verbreitet ist als zufriedene Dankbarkeit – leider auch unter Christenmenschen.

Ich fand es spannend, in der Bibel auf Spurensuche zu gehen. Und ich habe Geschichten entdeckt, die – vielleicht auch erst auf den zweiten Blick – „Dankbarkeitsgeschichten“ sind. Texte, die von Dankbarkeit handeln – auch wenn sie zunächst gar nicht von ihr sprechen. Zum Beispiel die Geschichte von der Arche in der großen Flut oder die von den zwei Frauen auf dem Weg oder die von dem Vater mit den ungleichen Söhnen.

Und ich habe überlegt: Was haben die alten Texte mit uns zu tun? Welche Impulse zur Dankbarkeit können sie heute geben – für unseren kleinen Alltag und unsere großen Lebensfragen?

Im „Jahr der Dankbarkeit“, aber ganz bestimmt auch darüber hinaus, lohnt es sich, das „Ja der Dankbarkeit“ zu suchen. Es hat viele Aspekte und Farben. Ob es manchmal himmelblau ist? Vielleicht … Jedenfalls gründet es in der befreienden Weite und liebevollen Zuwendung unseres Vaters im Himmel. Dieses große göttliche „Ja“ lockt, unsere kleine menschliche „Dankbarkeit“ zu leben: persönlich und ehrlich. Mutig und kreativ. Frei und fröhlich.

Ich freue mich, wenn Sie Lust haben zum „Aufschnüren“ dieses Buches, und sage „Danke!“ für Ihr Interesse!

Andrea Schneider

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Kapitel 1

„VERGISS NICHT, WAS ER DIR GUTES GETAN HAT!“ –
SICH ERINNERN UND DANKEN

Sich erinnern können gehört zu unserem Menschsein zutiefst dazu. Das Gedächtnis verbindet unsere kleinen und großen, schönen und leidvollen Erfahrungen zu unserer Lebensgeschichte. Ohne die Kraft der Erinnerung zerfällt unser Bewusstsein in Einzelteile, in unverbundene und unverstandene Augenblicke.

Manches bleibt lange präsent im Gedächtnis: „Ich weiß noch ganz genau …“ Anderes rutscht schnell weg: „Keine Ahnung, war da was?“

Der schleichende Verlust der Erinnerung ist ein Kennzeichen von Demenz, die in unserer immer älter werdenden Gesellschaft immer mehr Menschen erfasst. Dieser Verlust löst große Angst aus – zu Recht, denn ohne die Fähigkeit zur Erinnerung wären wir nicht die, die wir sind. Und wenn Menschen diese Fähigkeit verlieren, sind sie nicht mehr die, die sie waren. Aber gerade auch bei schwer von Demenz betroffenen Menschen, die vergessen, was vor einer Minute war, und schon ihre engsten Angehörigen nicht mehr erkennen, können Ereignisse, die schon weit zurückliegen, blitzlichtartig in der Erinnerung wieder auftauchen: „War das nicht damals schön …?“ Vergessen und erinnern – ein geheimnisvolles Geflecht von Geist und Seele.

Zu allen Zeiten rätselten Menschen über das Erinnern und Vergessen. Für Platon war das Gedächtnis eine Art Wachsplatte, in die Erlebnisse eingedrückt werden. Zur Zeit der Erfindung des Buchdrucks stellte man sich das Gedächtnis wie ein beschriebenes Buch oder wie eine ganze Bibliothek vor. Später dann sollte der Vergleich mit einem Fotoapparat oder einem Computer veranschaulichen, wie das Gehirn Informationen abspeichert. Heute erfreut sich interessanterweise wieder ein Deutungsvorschlag aus der Renaissancezeit wachsender Beliebtheit: das Gedächtnis – gedacht als „Theater“1. Diese Vorstellung finde ich spannend: Unsere Erinnerung bringt unser „Lebensdrama“ auf die innere Bühne. Das Gedächtnis spielt – manchmal auch verrückt. Führt uns hinters Licht. Täuscht uns zuweilen. Da sind in unserer Erinnerung Krimis und Komödien – und wir spielen unsere Rollen in diesem „Erinnerungstheater“, das wir selbst konstruieren …

Wir kennen sie alle – diese netten Runden am Kaffeetisch der geschätzten Großfamilie oder am Biertisch der ehemaligen Klassenkameraden. „Weißt du noch?“ Und dann geht’s munter los mit dem Erzählen: große Ereignisse, lustige Anekdoten, kleine Katastrophen. Die eine meint, sich noch bis in alle Kleinigkeiten zu erinnern, der andere ist völlig überrascht von einer Geschichte, die er aber auch selbst miterlebt haben muss. Kleines wird groß und Harmloses dramatisch. Stressiges wird lustig und Schwieriges verklärt.

Wir sind beteiligt am „Theaterspiel“ des Gedächtnisses. Sind vielleicht sogar seine Regisseure und erinnern uns bewusst und unbewusst, was und wie wir wollen. Und manches lassen wir hinter der Bühne, ganz im Dunkel des Vergessens, verschwinden.

An was erinnern wir uns von den einzelnen „Akten“ unseres „Lebensdramas“, in denen unterschiedliche Erfahrungen prägend waren? Von Kindheit, Jugend, erster Liebe, Krankheit usw.?

Eine Frage der Sichtweise

Ich selbst bin seit vielen Jahren betroffen von einer schweren, unheilbaren, fortschreitenden Erkrankung: Multiple Sklerose. Ich weiß kaum mehr, wie es sich anfühlt, gesund zu sein. Aber ich erinnere mich an kilometerlange Spaziergänge am Strand. An atemberaubende Schneeballschlachten im Winter. An schweißtreibende Federballspiele auf unebener Wiese. Leider alles nicht mehr möglich für mich.

Die Erinnerung daran ist zuweilen deprimierend. Während ich heute weit weg bin von früherer Sportlichkeit, sondern im Rollstuhl unterwegs, sehe ich um mich herum oft nur gesunde Leute. Vorzugsweise Paare in meinem Alter, anscheinend topfit und unbeschwert von Problemen, vermutlich unterwegs zur nächsten sportlichen Wellnessaktion zwecks Vorbereitung auf ein gesundes und genussreiches „Silver Age“-Leben! Dann packen mich Neid und Selbstmitleid.

Ja, oft erinnern wir uns mit verengtem Blick. Mit einem Blick, der vergleicht, und der dann unglücklich und neidisch macht. Aber wenn ich hinter den „Vorhang“ blicken würde, auf das wirkliche Leben der ach so unbeschwert glücklich scheinenden anderen: Was würde ich dann sehen? Und meine Erinnerung an frühere Tage: Täuscht sie nicht auch? Waren die Strandspaziergänge wirklich so lang? Die Schneeballschlachten so wild? Das Federballspielen so schnell? Und überhaupt: Ist das Leben als gesunder Mensch so unbeschwert und problemlos, wie es erscheint? Hat nicht manche Einschränkung auch ganz schlicht eher mit dem Älterwerden zu tun als mit dem Kranksein?

Wir sollten unseren Blick weiten. Denn das – neidvolle – Vergleichen ist der Anfang der Unzufriedenheit. Erinnern mit weitem Blick dagegen bedeutet: zurückschauen mit Dankbarkeit. So wie es der englische Dramatiker Sir J. M. Barrie (1860–1937) gesagt hat: „Gott schenkt uns Erinnerungen, damit wir Rosen haben im Winter.“

Wie der Blick auf Rosen im unwirtlichen Winter Freude auslöst, so kann Zufriedenheit wachsen, wenn wir auch durch die Erinnerung ganz bewusst das wahrnehmen, was das Leben reich und voll und glücklich gemacht hat. Wenn wir die Augen vom beneidenswerten Leben anderer abwenden und das Gute im eigenen Leben entdecken, das wir leider so oft übersehen oder unerheblich finden. Wenn wir nicht wehmütig einer anscheinend glücklicheren Vergangenheit nachtrauern, sondern das entdecken, was heute möglich ist – trotz allem. Ein Rollstuhl zum Beispiel bringt in Bewegung. Er überwindet Hindernisse. Und kann sogar sportlich aussehen …

Doch leider schauen wir oft nicht auf zarte Rosenblüten, sondern eher auf piksende Stacheln: Negatives, kränkende Sätze, schmerzliche Niederlagen, fiese Verletzungen bleiben im Gedächtnis. Und wir tragen sie mit uns herum und anderen nach. Zuweilen jahrelang. Positives, Gespräche, wo wir von anderen gelobt wurden, Erfolge, wo uns etwas gelungen ist, Erfahrungen, wo wir beschenkt wurden, vergessen wir häufig viel schneller.

Ein Aufruf gegen das Vergessen

Ist Dankbarkeit, besser gesagt: ihre Abwesenheit, also auch ein Erinnerungsproblem? Und ist das typisch Mensch – zu allen Zeiten? Jedenfalls wussten schon die Menschen im Alten Testament, dass es nicht so einfach ist mit der Dankbarkeit. Vielleicht gibt es genau deshalb den 103. Psalm, sehr beliebt und oft zitiert: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Dieser Psalm ist ein einzigartiger Aufruf gegen das Vergessen. Er ist eine heilsame Therapie zur Stärkung der Gedächtnisfähigkeit. Und ein Lockruf zur Dankbarkeit!

Was sollen wir nicht vergessen, wofür sollen wir dankbar sein? Es lohnt sich, dieses alte Gebet genauer anzuschauen und ihm nachzusinnen:

Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen!
Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.

Psalm 103,1-2

Zweimal fordert der Beter am Anfang sich und seine Seele auf, Gott zu loben. Das hebräische Wort „näfäsch“, das wir mit „Seele“ übersetzen, meint zunächst „Kehle“, das Organ des Menschen, mit dem er atmet, isst, spricht – also das Lebensorgan überhaupt. Die Schöpfungsgeschichte erzählt, dass der aus Erde geschaffene Mensch von Gott den Atem eingehaucht bekommt und so zum Lebe-Wesen wird. Der Mensch „hat“ nicht eine Seele, er „ist“ lebendige Seele, Näfäsch: als ganzes Wesen von Gott beseelt, mit Leben erfüllt und gesegnet. Dieses Geschöpf Mensch soll und will nun – so unser Psalm – Gott loben: Lobe den Herrn, meine Seele! Statt „loben“ könnte man hier auch sagen: „segnen“. Gott segnen als Antwort auf das Geschenk seines Segens – das ist Dankbarkeit!

Mit seiner Näfäsch, seiner Kehle, seiner Seele, „mit allem, was in mir ist“, will der Beter sich erinnern und in den Lobpreis des heiligen Gottes einstimmen. Das ist die Eröffnung des Psalms: Wahr-nehmen und loben – statt über-sehen und vergessen!

Das Gute, das Gott schenkt, beschreibt Psalm 103 so:

… der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit, der deinen Mund fröhlich macht und du wieder jung wirst wie ein Adler.

Psalm 103,3-5

Was für Wohltaten: Vergebung wird geschenkt. Schwere Krankheit wird geheilt. Erlösung vom Verderben, wörtlich: „Auslösen aus der Grube“, ist möglich. Der Tod, dessen Schatten in das Leben hineinreicht, ist nicht stärker als Gott und seine Kraft. Gott „krönt“ das Leben, macht es reich.

Ähnlich beschreibt es Psalm 8: „Was ist der Mensch? … Du hast ihn wenig niedriger gemacht als Gott, mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt“ (Psalm 8,5-6). Während dieser Psalm die besondere Beziehung zwischen Gott und Mensch mit der Schöpfung begründet, hängt sie nach Psalm 103 an der Bereitschaft Gottes, aus Schuld und Not zu retten: Gottes Barmherzigkeit und Gnade sind es, die den Menschen „krönen“.

Wie könnte der Mensch das vergessen? Wie dafür nicht dankbar sein und Gott mit „allem, was in mir ist“, loben und preisen – übersprudelnd dankbar, dass der gute Gott „deinen Mund fröhlich macht und du wieder jung wirst wie ein Adler“?

Unklar ist, ob mit dem „Adler“ der nicht so beliebte, eher zerrupfte Geier gemeint ist oder wirklich der sympathische, majestätische Adler. Jedenfalls erinnert dieses Psalmwort an Jesaja 40,30-31: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“

Das ist ein wirklich schöner Gedanke: Sich dankbar an die Wohltaten Gottes erinnern – das erhält jung. Oder es macht sogar wieder jung. Ob also Dankbarkeit ein Mittel gegen Falten und für schöne, entspannte Gesichtszüge ist? Das wäre doch mal was!

Ja, ich finde, da ist was dran: Dankbarkeit wirkt gegen Verbitterung und Verbiesterung, die uns oft so einzwängen und am schweren Boden der Unzufriedenheit festhalten. Gott loben dagegen erhebt in die Lüfte der Freiheit. Es lässt die Seele schwingen und schweben. Nicht vergessen lohnt sich!

Erinnerung und Rettung

In den Psalmen wird Gott immer wieder angefleht, nicht zu vergessen, sondern sich an seine von Feinden bedrohten Kinder zu erinnern: „Vergiss die Elenden nicht!“ (Psalm 10,12), „Das Leben deiner Elenden vergiss nicht für immer. Gedenke an den Bund …“ (Psalm 74,19-20). Dies meint jedoch nicht, dass man befürchten müsse, Gott könnte unter Erinnerungsschwäche leiden. Es ist vielmehr die dringende Bitte, dass Gott sich doch seinem Volk wieder zuwenden möge. „Nicht vergessen“ bedeutet viel mehr als „dran denken“. Es ist die Bitte: „Rette mich! Rette uns!“ Und wer so betet, rechnet damit, dass sich die Bitte erfüllt.

Zwar gibt es für den glaubenden Menschen Zeiten von Zweifel und Anfechtung. Gott erscheint dann oft so weit weg. Aber man darf um Hilfe rufen, denn Gott hat nicht vergessen. Er wird sich erinnern und sein Kind retten: „Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich ängsten in meinem Herzen täglich? … Schaue doch und erhöre mich, Herr, mein Gott! … Mein Herz freut sich, dass du so gerne hilfst. Ich will dem Herrn singen, dass er so wohl an mir tut!“ (Psalm 13,3.4.6).

Ja, Gott ist ein Helfergott, der seine Kinder nicht auf Dauer vergisst. Aber ganz im Gegenteil zu Gott neigt sein Volk dazu, sich von ihm abzuwenden. Es erinnert sich nicht mehr an die Geschichte der Befreiung, die es mit ihm erlebt hat, und vergisst ihn. Wird ihm untreu. Davon erzählt besonders das 5. Buch Mose. Immer wieder wird hier das Volk Gottes ermahnt, seinen Herrn nicht zu vergessen, der es doch aus Ägypten, aus der Knechtschaft herausgeführt hat. Dem Volk Israel wird seine Geschichte mit Gott und das Urbekenntnis seines Glaubens in Erinnerung gerufen – das Sch’ma Jisrael: „Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ (5. Mose 6,4-5). Die Israeliten sollen dieses Bekenntnis beständig konkret vor Augen haben: „… diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen, und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst … und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore“ (5. Mose 6,6-7.9).

Biblische Erinnerungs-Anweisungen – eine Therapie gegen die Vergesslichkeit! Viele gläubige Juden befolgen sie auch heute noch – zum Beispiel, indem sie das Sch’ma Jisrael in einem Kästchen, der Mesusa, an die Türpfosten hängen und sich so bei jedem Hinein- und Herausgehen in einem winzigen Moment dankbar erinnern: „Der Herr ist unser Gott! Von seinen Wohltaten leben wir.“

Konkrete Erinnerungs-Zeichen

Ich denke, Erinnerung braucht solche ganz konkreten Zeichen. Können wir in dieser Hinsicht von der biblisch-jüdischen Tradition etwas lernen? Wo und wie können wir als Christen solche kleinen Erinnerungspunkte setzen im Alltag, der uns ja die Wohltaten Gottes leider oft so schnell vergessen lässt?

Zwei kleine, ganz praktische Ideen: ein Handschmeichler-Stein in der Jackentasche. Immer, wenn ich in die Tasche greife und mit ihm spiele, erinnert er mich ganz ohne Worte daran: „Vergiss nicht, was Gott dir Gutes getan hat!“

Oder ein bunter Zettel, mit Magnet an die Kühlschranktür geheftet. Darauf ist ausnahmsweise keine Einkaufsliste notiert, sondern nur dieser Satz: „Nicht vergessen: Gutes von Gott!“ Mehrmals am Tag ein Blick – und die Erinnerung daran, was mich wirklich satt macht, stellt sich ein …

Auf-gehobener Zorn

Auch der Beter von Psalm 103 kennt die menschlich-allzu-menschliche Neigung, Gott zu vergessen. Und er erinnert nicht nur an die Wohltaten Gottes für den Einzelnen, sondern auch an die lange Glaubensgeschichte, an den guten Weg, den Gott mit seinem Volk gegangen ist:

Der Herr schafft Gerechtigkeit und Recht allen, die Unrecht leiden. Er hat seine Wege Mose wissen lassen und die Kinder Israel sein Tun.

Psalm 103,6-7

Ja, der Gott Israels hat damals am Sinai durch Mose seinem Volk die Zehn Gebote geschenkt. Aber immer wieder hat das Volk nicht den lebendigen Gott verehrt, sondern tote, selbstgemachte Götter angebetet. Hat die guten Wege Gottes verlassen. Hat seine Weisungen vergessen. Hat sich nicht um ein Leben in Gerechtigkeit geschert.

Wir heute sind nicht anders. Auch wir kennen die Weisungen Gottes. Auch wir wissen, was er von uns will: Recht und Gerechtigkeit. Aber auch wir haben unsere goldenen Kälber, um die wir tanzen. Auch wir gehen unsere eigenen Wege.

Es gibt viel Grund für Gott, zu zürnen. Und er sieht auch nicht einfach großzügig lasch über das falsche und ungerechte Tun der Menschen hinweg. Er nimmt dies ernst, aber er spricht kein Urteil, das zerstört, sondern eins, das vergibt und zum Neuanfang motiviert:

Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte.

Psalm 103,8

Gott ist geduldig und lang-mütig. Das heißt, er hat den Mut zum langen Durchhalten. Er ist langsam zum Zorn – trotz aller Verfehlungen seiner Leute. Sein Zorn ist unbeirrbar auf-gehoben – in seiner Barmherzigkeit und Geduld. Im Psalm fällt dieses wiederholte „nicht“ auf:

Er wird nicht für immer hadern, noch ewig zornig bleiben. Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Missetat.

Psalm 103,9-10

Der Psalmist weiß: Dass sich Israel immer wieder von Gott abwendet, hat schlimme Konsequenzen: die Zerstörung des Tempels in Jerusalem. Den Verlust des Landes. Die Zerstreuung des Volkes. Aber dies alles ist nicht das letzte Wort. Am Ende ist Gottes Barmherzigkeit stärker als sein Zorn!

Deshalb sucht der Beter Bilder, um dieses wunderbare Geschenk der Barmherzigkeit Gottes zu beschreiben: Wie ein behütender, unendlich hoher Gnaden-Himmel wölbt sich Gottes Zuwendung über die, die zu ihm gehören:

So hoch der Himmel über der Erde ist, lässt er seine Gnade walten über denen, die ihn fürchten.

Psalm 103,11

Getrennt wie der Tag von der Nacht ist die Schuld von den Menschen:

So fern der Morgen ist vom Abend, lässt er unsere Übertretungen von uns sein.

Psalm 103,12

Der große Gott – er verhält sich so ganz anders als wir, die wir oft kleinlich nachtragend sind im wahrsten Sinn des Wortes: Unseren Zorn und Neid und unsere Unzufriedenheit tragen wir mit uns lange herum. Tragen anderen ihre Versäumnisse hinterher! Erinnern uns haargenau an Kränkungen, Verletzungen, falsche Wege. Aber dies alles kann getrost „vergessen“ werden. Gott hat es vorgemacht. Seine Barmherzigkeit kann auf unser Verhalten abfärben. Der Weg ist frei für einen Neubeginn.

Gottes eigentliches Wesen ist nicht Zorn und Vergeltung, sondern Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Güte und Geduld – das ist der zentrale theologische Gedanke in diesem Psalm!

Und der zentrale anthropologische, also auf den Menschen zielende Gedanke: Wir Menschen sind auf diese Barmherzigkeit angewiesen. Ohne sie wären wir nicht lebensfähig zwischen Himmel und Erde, Tag und Nacht. Wir würden atemlos ersticken und verderben in der tödlichen Grube von Versagen und Schuld. Deshalb muss genau dies unsere angemessene Antwort sein: nicht vergessen! Sondern preisen und loben! Mit allen Sinnen, mit dem ganzen Leben – diesen Gott, den der alttestamentliche Psalm hier als liebenden Vater vorstellt:

Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, die ihn fürchten.

Psalm 103,13

Der himmlische Vater und seine Kinder

Gott sucht nicht die Perfekten, nicht die Schuld- und Makellosen, er sucht mit dem ganzen Ernst seiner Liebe die, die ihn ernsthaft suchen. Er sucht seine verlorenen Söhne und Töchter. Das ist wirklich Evangelium, Gute Nachricht – mitten im sogenannten Alten Testament! Zum Staunen! Und ein wunderbarer Grund für ein Ja der Dankbarkeit!

Dieser himmlische Vater ist in der Tat nicht vergesslich. Zeichen seiner Liebe ist, dass er sich daran erinnert, wie seine Kinder sind, dass er weiß, wie ihr Leben ist: endlich. Windig. Flüchtig:

Denn er weiß, was für Gebilde wir sind; er gedenkt daran, dass wir Staub sind. Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blüht wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.

Psalm 103,14-16

Ja, so sind wir Menschen. Der Psalm beschreibt es realistisch, voller Menschenkenntnis und Weisheit, was wir zutiefst wissen und auch als „gekrönte“ Ebenbilder Gottes jeden Tag, jede Minute erleben: Eben noch attraktiv wie eine schöne Blume – und schon verwelkt. Eben noch beeindruckend, bedeutend, beneidet – und schon unerheblich, überholt, vergessen. Staubgebilde sind wir.

Doch im starken Kontrast zu unserer Vergänglichkeit und Begrenztheit steht Gottes Gnade, die unendlich und zeitlos ist:

Die Gnade aber des Herrn währt von Ewigkeit zu Ewigkeit über denen, die ihn fürchten, und seine Gerechtigkeit auf Kindeskind bei denen, die seinen Bund halten und gedenken an seine Gebote, dass sie danach tun.

Psalm 103,17-18

Von Generation zu Generation soll dieser Gnadenbund Gottes mit den Menschen weitergetragen werden – mehr noch: gelebt werden. Darum geht es immer wieder neu: nicht vergessen, sondern den Willen Gottes tun! Seine Gebote halten! Auf seinen Wegen gehen! Das ist die Antwort der Kinder Gottes. Das ist wahrer Lobpreis!

Am Ende seines Psalms weitet sich der Blick des Beters noch mehr. Er schaut auf die unbeschreiblich machtvolle Größe Gottes und sein himmlisches Königreich:

Der Herr hat seinen Thron im Himmel errichtet, und sein Reich herrscht über alles.

Psalm 103,19

Und der ganze große Kosmos, alle himmlischen Welten, werden aufgefordert zum Lobpreis:

Lobet den Herrn, ihr seine Engel, ihr starken Helden, die ihr seinen Befehl ausrichtet, dass man höre auf die Stimme seines Wortes! Lobet den Herrn, alle seine Heerscharen, seine Diener, die ihr seinen Willen tut! Lobet den Herrn, alle seine Werke, an allen Orten seiner Herrschaft!

Psalm 103,20-22a

Ein fulminanter Schlussakkord dieses Lobliedes! Unglaublich: Der kleine Mensch, der nur ein Staubkorn ist und vergänglich wie Gras, aber doch gekrönt vom großen Gott; der so verstrickt ist in seiner Sündhaftigkeit, aber doch gnädig aufgehoben in väterlicher Liebe – er wird hier zu einem Vorsänger, ja, zu einer Art „Chorleiter“ für die kosmische Welt! Alles, alles, alles soll loben den Herrn, den mächtigen König der Welt!

Und wo fängt dieser umfassende Lobpreis des himmlischen Gottes an? Ganz klein, ganz irdisch, ganz persönlich – bei mir selbst. Und deshalb endet dieses Psalmgebet, wie es begonnen hat:

Lobe den Herrn meine Seele!

Psalm 103,22b

Das vielstimmige Lob Gottes

Als Christen haben wir ja die Psalmen von unseren jüdischen Geschwistern „geschenkt“ bekommen, wir dürfen das Gebetbuch der Bibel mitbeten. Und es ist kein Wunder, dass dieser Psalm 103, dieser wunderbare Dank- und Dankbarkeitspsalm, immer wieder zur Vertonung lockt. Mir gefällt besonders ein neueres Lied, das mit seinem als Kanon gestalteten Refrain einlädt, sich so richtig in die Dankbarkeit „einzusingen“ und das Lob Gottes vielstimmig „herauszusingen“:

Lobe den Herrn meine Seele, und seinen heiligen Namen.
Was er dir Gutes getan hat, Seele, vergiss es nicht, Amen.2
Der meine Sünden vergeben hat … –

Was für ein Grund zur Dankbarkeit, belastende Schuld loswerden zu können!

Was für ein Glück, befreit neu anfangen zu dürfen!

der mich von Krankheit gesund gemacht … –

Was für ein Grund zur Dankbarkeit, Genesung von Krankheit zu erfahren!

Was für ein Glück, mit Krankheit leben zu lernen und trotz Krankheit im Kern gesund zu sein!

den will ich preisen mit Psalmen und Weisen, von Herzen ihm ewiglich singen:
Lobe den Herrn meine Seele, und seinen heiligen Namen.
Was er dir Gutes getan hat, Seele, vergiss es nicht, Amen.

Der mich im Leiden getröstet hat … –

Was für ein Grund zur Dankbarkeit, in schweren Zeiten Gott an der Seite zu haben!

Was für ein Glück, durch die Nähe anderer Menschen seinen Trost zu spüren!

der meinen Mund wieder fröhlich macht … –

Was für ein Grund zur Dankbarkeit, Zeiten unbeschwerter Freude zu genießen!

Was für ein Glück, sich daran zu erinnern!

den will ich preisen mit Psalmen und Weisen, von Herzen ihm ewiglich singen:
Lobe den Herrn meine Seele, und seinen heiligen Namen.
Was er dir Gutes getan hat, Seele, vergiss es nicht, Amen.

Der mich vom Tode errettet hat … –

Was für ein Grund zur Dankbarkeit, aus dem Dunkel von Verzweiflung, Angst und Traurigkeit gerettet zu werden!

Was für ein Glück, bei Gott geborgen zu sein – auch über die letzte Grenze hinweg!

der mich behütet bei Tag und Nacht … –

Was für ein Grund zur Dankbarkeit, arbeiten zu dürfen und ruhig schlafen zu können!

Was für ein Glück, jeden Tag zuversichtlich anzupacken!

den will ich preisen mit Psalmen und Weisen, von Herzen ihm ewiglich singen:
Lobe den Herrn meine Seele, und seinen heiligen Namen.
Was er dir Gutes getan hat, Seele, vergiss es nicht, Amen.

Der Erd und Himmel zusammenhält … –

Was für ein Grund zur Dankbarkeit, dass es einen gibt, der in allem Chaos den Überblick behält!

Was für ein Glück, dass der liebende Gott die große weite Welt und jedes kleine Leben in seiner Hand hält!

unter sein göttliches Ja-Wort stellt …

Was für ein Grund zur Dankbarkeit, dass Gott dieses unbedingte Ja zum Leben gibt!

Was für ein Glück, dass seine Liebe über allem steht!

den will ich preisen mit Psalmen und Weisen, von Herzen ihm ewiglich singen:
Lobe den Herrn meine Seele, und seinen heiligen Namen.
Was er dir Gutes getan hat, Seele, vergiss es nicht, Amen.

Sich erinnern und vergessen – wir werden uns immer wieder an Wichtiges erinnern. Und Unwichtiges vergessen. Oder auch umgekehrt. Das Gedächtnis-Theater wird immer wieder mit uns spielen und uns etwas vorspielen. Vieles in unserem Leben ist wie Staub, der verfliegt. Auch unsere ach so wichtigen Erinnerungen. Wir selbst sind wie Staub. Und werden bald vergessen sein.

Aber als diese kleinen, vergänglichen Staubgebilde dürfen und sollen wir uns erheben und einstimmen in den Lobpreis des großen, ewigen Gottes: mit fröhlicher Kehle und dankbarer Seele!