Die Autorin

Annie M. Rose – Foto © Privat

Annie M. Rose, geboren 1994, lebt am Niederrhein. Hauptberuflich arbeitet sie als Bürokauffrau. Doch das Schreiben gehört seit ihrer frühen Jugend zu ihrem Leben dazu. Wir zwei und ein Augebnlick ist ihr Debütroman, weitere Romane sind schon in Planung.

Das Buch

Das Glück schmeckt genau wie dieser Kuss

Dass es mit ihrem Liebesleben nicht so klappt, findet Elena nicht weiter schlimm, denn der High-School-Abschluss steht kurz bevor. Und wenn sie in Mathe nicht durchfallen will, muss sie dringend etwas unternehmen. Das Nachhilfeangebot ihrer Mitschülerin Sophia ist ihre Rettung. Schnell werden die beiden Freundinnen. Doch als Sophia auf einer Party mit Elena tanzt und versucht sie zu küssen, gerät Elenas Welt ins Wanken. Plötzlich ist da dieses Kribbeln, wann immer sie Sophia sieht. Elena weiß nicht, wie sie mit der Situation umgehen soll. Nie hätte sie es für möglich gehalten, so für eine andere Person zu empfinden …

Annie M. Rose

Wir zwei und ein Augenblick

Liebesroman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
April 2020 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-566-1

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Kapitel 1


Der erste Schultag nach den Ferien ist immer der schlimmste. Grundsätzlich gehe ich gerne zur Schule. Aber nach den Ferien, wenn man sich gerade daran gewöhnt hat, nicht lernen oder früh aufstehen zu müssen, bin noch nicht mal ich ein Morgenmensch.

Ich habe sogar meinen Wecker überhört, den ich mir für gewöhnlich extra früh stelle, wenn ich vor der Schule noch eine Runde laufen will. Jetzt ist dafür nicht mehr genug Zeit und nach der Schule ist es noch zu heiß. Es ist Juli und damit Winter hier in Brisbane, Australien. Zum Sport machen aber trotzdem zu heiß. Sieht wohl so aus, als müsste ich das nach dem Abendessen machen. Immer noch im Halbschlaf schließe ich meinen I-Pod an die Dockingstation an und Taylor Swifts Song Picture to Burn ertönt aus den Lautsprechern. Na also, schon besser. Ich gehe in das ans Schlafzimmer angrenzende Badezimmer, das ich mir – Gott sei Dank – nicht mit meiner kleinen Schwester Maddie teilen muss. Das würde vermutlich täglich im dritten Weltkrieg enden.

Mit einem flüchtigen Blick über die Schulter auf meinen Digitalwecker entscheide ich mich achselzuckend für eine Katzenwäsche. Egal – ich war gestern, bevor ich ins Bett gegangen bin, duschen – das muss reichen.

Meine auf Kinnlänge geschnittenen braunen Haare brauchen morgens zum Glück kaum Aufmerksamkeit, einmal mit der Bürste durchfahren und fertig.

An Schultagen benutze ich nur Mascara, da ich nicht aufgestylt durch die Schule laufen mag.

Das kommt mir heute zugute, denn wenn ich mich nicht beeile, kann ich mein Frühstück vergessen. Also schnell in die Schuluniform geschlüpft, die aus einem dunkelblauen Rock und einer weißen Bluse besteht, und den dazugehörigen Blazer angezogen, auf den wir leider nur im Sommer verzichten dürfen, egal, wie warm es jetzt ist.

Mein schwarzer Rucksack mit dem Schullogo, welchen ich glücklicherweise schon gestern Abend gepackt habe, steht schon neben der Tür. Ich greife danach und gehe die Treppe runter in die Küche.

»Morgen«, begrüße ich meine Mutter, die noch im Pyjama am Küchentisch sitzt und die Zeitung liest.

»Guten Morgen, Elena. Ich habe deinen Tee schon fertig gemacht. Ich dachte mir schon, dass du heute nicht pünktlich unten bist, ist ja schließlich der erste Schultag«, sagt sie mit einem Augenzwinkern.

Ich lächele Mum gleichzeitig dankbar und entschuldigend an.

Auf meinem Platz steht die Tasse mit schwarzem Tee, der schon halb abgekühlt ist – genauso wie ich ihn am liebsten mag. In einer Schüssel bereite ich mein Frühstück aus Joghurt, Müsli, einer Banane und ein paar Weintrauben zu. Aus dem Eisfach hole ich ein Glas und fülle es mit Wasser. Es gibt nichts Besseres als etwas Eiskaltes zu trinken. Egal zu welcher Jahreszeit.

Plötzlich stutze ich. »Wo ist Maddie?«, frage ich Mum. Meine jüngere Schwester Maddison müsste längst in der Küche sein. Sonst kommt sie noch zu spät zum Unterricht.

»Oh, sie ist schon vor zehn Minuten los. Wollte wohl noch was erledigen.«

Das ist ziemlich ungewöhnlich. Eigentlich bin ich die Frühaufsteherin und Maddie die Langschläferin. Wenn Mum, Dad oder ich nicht regelmäßig an ihre Zimmertür klopfen würden, dann würde sie wahrscheinlich jeden Tag zu spät zur Schule kommen. Ich habe sie echt lieb, aber ihr Zeitmanagement ist mir manchmal ein absolutes Rätsel.


Da wir nur etwa drei Kilometer von unserer Highschool entfernt wohnen, gehe ich meistens zu Fuß, außer wenn ich mal einen faulen Tag habe, was eher selten vorkommt, dann nehme ich den Bus. Aber heute werde ich es wahrscheinlich nicht mehr pünktlich zur Bushaltestelle schaffen. Und um zu Fuß zu gehen, ist es auch schon fast zu spät, vor allem wenn ich nicht erst in letzter Minute an der Schule auftauchen will, und das ist nicht meine Art. Also öffne ich das Garagentor und schiebe mein Fahrrad heraus. Als ich das Tor gerade schließen will, spüre ich etwas Nasses und Kaltes in meiner Kniekehle.

Lachend drehe ich mich um und begrüße unsere beiden Australian Cattle Dogs Gecko und Chipper ausgiebig, bevor ich hochschaue.

»Hey, Dad, wie war eure Morgenrunde?«

Mein Vater wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Gut, aber schon ziemlich heiß. Verrate deiner Mutter bloß nicht, dass ich das gesagt habe, sonst darf ich mir wieder anhören, was ich denn im Sommer machen würde, wenn wir 35 Grad haben, oder sogar noch mehr.« Er zwinkert mir zu.

Ich weiß genau, was er meint. An manchen Tagen kann einen das Wetter hier echt fertig machen. Aber meistens mag ich es. Schmunzelnd schüttle ich den Kopf.

Wenn ich nicht am ersten Tag zu spät kommen will, muss ich jetzt wirklich los.

»Sorry, Dad, ich bin spät dran. Wir sehen uns.«

Mit dem Rucksack auf dem Rücken steige ich auf mein Rad und mache mich auf den Weg zur Schule.


Obwohl ich mich beeile, komme ich fast zu spät zu meinem Kurs in englischer Literatur bei Mr Woods. Die ersten beiden Kurse des Tages liegen schon hinter uns und ich habe mich beim Mittagessen mit meinen besten Freundinnen Holly, Jasmin und Grace verquatscht. Gerade in dem Moment, in dem ich mich auf meinen Stuhl in der letzten Reihe am Fenster fallen lasse, betritt der Lehrer mit den ergrauten Schläfen und der schwarzen Brille das Klassenzimmer. Ich mag Mr Woods und englische Literatur zählt zu meinen Lieblingskursen. Seit ich klein war, lese ich für mein Leben gerne und alles, was mit Literatur zusammenhängt, liegt mir einfach.

Es dauert ein paar Minuten, bis Ruhe im Raum eingekehrt ist. Mit den Worten: »Ich habe die Ferien dazu genutzt, eure Klausuren zu korrigieren«, holt Mr Woods eine rote Mappe aus seiner braunen Ledertasche und lächelt in die Runde. Mindestens die Hälfte meiner Mitschüler stöhnt laut auf. Ich nicht. Ich habe nichts zu befürchten. Wie immer habe ich mich wochenlang gut auf die Klausur vorbereitet. Daher bin ich auch nicht besonders überrascht, als Mr Woods mir meine Arbeit zurückgibt und auf dem Papier ein rotes A prangt.

Mir fällt auf, dass ich vor lauter Quatschen in der Mittagspause vergessen habe, meine Wasserflasche wieder aufzufüllen. Schnell verlasse ich den Raum und gehe auf dem Flur zum nächsten Wasserspender. Da wir im Schnitt eine Temperatur von fünfundzwanzig Grad haben, brauchen wir nie um Erlaubnis zu bitten, wenn wir ein Klassenzimmer verlassen, um etwas zu trinken zu organisieren.

Ich biege gerade um die Ecke, um zurück zum Unterricht zu gehen, als jemand in mich hineinrennt. Kurz verliere ich das Gleichgewicht, kann mich aber zum Glück an der Wand abfangen, um nicht zu Boden zu stürzen. Ich schaue hoch und sehe, dass die Person, die mich beinahe zu Fall gebracht hätte, Sophia James ist. Schon seit ein paar Jahren gehen wir auf dieselbe Schule. Sie sitzt auch in englischer Literatur bei Mr Woods und ich glaube, dass sie sogar mit Grace zusammen im Schwimmteam ist. Beim genaueren Hinsehen fällt mir auf, dass ihr Tränen über die Wangen laufen.

»Ist alles okay?«, frage ich vorsichtig. Vor ein paar Minuten saß sie noch zwei Reihen vor mir und jetzt scheint sie völlig aufgelöst zu sein.

Sophia schüttelt den Kopf. »Ich bin in Literatur durchgefallen. Mein Vater wird mich umbringen.«

»Ist er so streng?«, frage ich und sehe sie mitfühlend an. Meine Eltern sind zum Glück ziemlich locker, was meine Noten angeht. Das könnte aber auch daran liegen, dass meine schlechteste Note bisher ein D war. Und selbst das kommt nur in einem einzigen Fach vor, nämlich in Mathe.

Sophia wischt sich mit dem Arm über die Augen. »Mein Vater will nur das Beste für mich. Ich liebe ihn, aber seine strengen Prinzipien können manchmal schon sehr anstrengend sein. Meine nächste Klausur muss auf jeden Fall besser werden. Leider habe ich mich in Literatur schon immer gerade so durchgeschlagen. Ich lerne und lerne und habe am Ende des Tages doch immer nur das Gefühl, keine Ahnung vom Thema zu haben.« Sophia schlägt sich mit der Hand vor den Mund. »Entschuldige bitte, Elena, ich wollte nicht so drauflos plappern.«

Ich winke ab und sage, ohne großartig zu überlegen: »Wenn du willst, kann ich dir beim Lernen helfen. Wir können die letzte Klausur zusammen durchgehen und schauen, wo deine Schwächen und wo deine Stärken liegen. Für die nächste Klausur können wir dann zusammen lernen, wenn du magst.«

Ein Lächeln breitet sich auf Sophias Gesicht aus und lässt ihre haselnussbraunen Augen strahlen. »Das würdest du tun? Das wäre klasse! Du bist eine der Besten im ganzen Kurs!«

Ich zucke die Achseln. »Kein Problem. Sag deinem Vater einfach, dass du jetzt eine kostenlose Nachhilfelehrerin hast, dann ist er vielleicht beruhigt. Wollen wir uns direkt morgen nach der Schule bei mir zu Hause treffen?«

Sophia stimmt meinem Vorschlag sichtlich beruhigt zu und gemeinsam gehen wir zurück in die Klasse.


Nachdem der Rest des ersten Schultages relativ schnell vergangen ist, mache ich es mir nachmittags auf der Terrasse mit einem Buch und einer Kanne selbstgemachtem Eistee gemütlich. Gott sei Dank bekommen wir am ersten Tag nach den Ferien selten Hausaufgaben auf.

Mum und Dad sind noch arbeiten. Mum ist Buchhalterin und kommt meistens gegen halb fünf nach Hause. Dad ist technischer Zeichner und macht eher selten zur gleichen Zeit Feierabend. Je nachdem, an was für einem Projekt er aktuell arbeitet. Maddie sitzt wahrscheinlich in ihrem Zimmer. Sobald die Schule zu Ende ist, sehe ich sie für gewöhnlich nur noch zum Abendessen.

Als ich schon eine ganze Weile in mein Buch vertieft bin, höre ich Krallen über das Holz der Terrasse kratzen. Ich blicke auf und sehe, dass Gecko aus dem Haus getrottet ist und sich zu meinen Füßen zusammenrollt. Natürlich nicht, ohne mir vorher einmal mit seiner kalten Hundeschnauze ans Bein zu stupsen.

Mein Handy signalisiert mir eine eingehende SMS von Jasmin:

Heute um halb acht Treffen am River?

Jasmin und ich treffen uns gerne nach unseren jeweiligen Laufrunden am Brisbane River für eine kurze Pause. Bis zu unserem Stammplatz sind es von meinem Haus etwa fünf Kilometer. Da meine Laufrunde heute Morgen ja aus Zeitgründen ausfallen musste, freue ich mich jetzt umso mehr auf ein bisschen Bewegung, also sage ich zu.

Bald sollte das Abendessen fertig sein. Wie auf Kommando piept nur wenige Augenblicke später der Instant Pot in der Küche. Bevor Mum zur Arbeit fährt, bereitet sie meistens das Abendessen vor, denn der Instant Pot läuft mit Strom und muss nicht beaufsichtigt werden. Mit einem Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass meine Mutter jede Minute nach Hause kommen könnte. Ich klappe mein Buch zu, nehme mein Glas mit dem Rest Eistee und gehe in die Küche. Schnell decke ich den Tisch und genau in dem Moment, als ich die letzte Gabel hinlege, höre ich, dass Mum die Haustür aufschließt.

»Maddie, Abendessen!«, rufe ich. Erstaunlicherweise steckt sie keine zwei Minuten später den Kopf zur Küchentür herein.

Während des Essens tauschen wir uns wie immer über den Tag aus. Natürlich berichte ich auch von der Klausur in Literatur. Nur von dem Zwischenfall auf dem Flur erzähle ich nichts. Das würde sie vermutlich eh nicht interessieren.

Da meine Schwester heute an der Reihe ist, den Tisch abzuräumen, verschwinde ich nach dem Essen in mein Zimmer, ziehe meine Laufsachen an, schnappe mir meinen I-Pod und gehe zur Haustür.

»Ich bin jetzt weg!«, rufe ich über die Schulter, bevor die Tür hinter mir ins Schloss fällt.

Mittlerweile ist es draußen etwas milder geworden. Meiner Meinung nach immer noch nicht die idealste Temperatur zum Laufen, aber was soll ich dagegen schon machen? Bewegung an der frischen Luft ist immer gut. In gemütlichem Tempo und mit Musik auf den Ohren lege ich die Strecke bis zum Brisbane River zurück. Jasmin winkt mir schon von Weitem zu und der Zopf mit ihren schwarzen Locken hüpft dabei hin und her.

Sie hat es sich auf einer Bank bequem gemacht und hat wie immer aus dem Supermarkt an der Ecke zwei Flaschen Wasser mitgebracht.

Und während wir es uns bequem machen und auf das glitzernde Wasser des Flusses schauen, reden wir über die Schule, die Ferien, wer mit wem Schluss gemacht hat oder neu zusammengekommen ist. Typische Themen unter besten Freundinnen eben. Jasmin kenne ich von all meinen Freundinnen am Längsten. Unsere Mütter waren schon befreundet, bevor wir überhaupt geboren wurden. Es ist, als wäre es uns vorherbestimmt, Freundinnen zu sein.

»Gehen wir am Samstag zu Graces Schwimmwettkampf?«, will ich von ihr wissen.

Sie nickt. »Klar, wir müssen sie doch anfeuern. Ohne uns schafft sie es nicht zu gewinnen.« Jasmin zwinkert mir zu.

Wir sitzen noch ein paar Minuten schweigend nebeneinander, bevor wir nach Hause aufbrechen.

Es ist schön, Menschen im Leben zu haben, mit denen man auch ohne Probleme schweigen kann.

Kapitel 2


Am nächsten Tag, Dienstag, haben wir keine englische Literatur auf dem Stundenplan und einen anderen Kurs habe ich nicht zusammen mit Sophia, daher warte ich in der Cafeteria auf sie.

Jasmin, Holly, Grace und ich sitzen mit Hollys Freund Joe an unserem Stammtisch. Ich habe mein Gesicht zur Tür gewandt, damit ich Sophia abpassen kann. Gerade als ich herzhaft in mein Sandwich beiße, betritt Sophia die Cafeteria – na das war ja klar. Wie durch Zufall schaut sie in unsere Richtung und ich signalisiere ihr, dass sie auf mich warten soll.

»Bin gleich wieder da«, sage ich zu den anderen und lege mein Sandwich auf das Tablett. Mit schnellen Schritten gehe ich in Richtung Tür, wo Sophia auf mich wartet.

»Hey«, begrüße ich sie.

»Hey, was gibt’s?«, sie schaut mich fragend an.

Ich halte ihr einen Zettel hin.

»Meine Adresse und meine Handynummer, falls du mich erreichen musst. Wärst du damit einverstanden, wenn du so gegen drei Uhr bei mir bist? Dann können wir in Ruhe deine Klausur durchgehen. Und am besten klingelst du mich einmal kurz an, damit ich auch deine Nummer habe.«

Sie lächelt mich an. »Du meintest das ernst.« Ich höre den ungläubigen Unterton in ihrer Stimme.

»Natürlich meinte ich das ernst. Sonst hätte ich es dir wohl kaum angeboten.«

»Schön, dann sehen wir uns um drei bei dir«, sie winkt mir zu und geht in Richtung Essensausgabe davon.

Zurück an unserem Tisch schauen mich vier Augenpaare erstaunt an.

»Was hast du mit Sophia James zu tun?«, fragt Grace neugierig.

»Ich gebe ihr Nachhilfe in englischer Literatur«, erwidere ich achselzuckend.

Jasmins Augenbrauen schießen in die Höhe. »Das hast du gestern gar nicht erwähnt.«

»Ich fand es nicht wirklich erwähnenswert. Sie braucht Hilfe und ich bin Klassenbeste. Ist doch nichts dabei?«

Darauf geht keiner meiner Freunde ein und wir wenden uns wieder unserem Mittagessen zu.


Um kurz nach zwei bin ich von der Schule zu Hause. Da es heute noch heißer ist als gestern, ist meine Entscheidung, ob wir draußen auf der Terrasse oder in meinem klimatisierten Zimmer lernen, schnell gefallen. Im Kühlschrank stehen zwei frische Kannen Eistee. Auf Mum ist eben immer Verlass. In meinem Zimmer wandert mein Blick zwischen meinem Bett und meinem Schreibtisch hin und her. Nein, auf dem Bett zu lernen finde ich irgendwie … unpassend. Aber mein Schreibtisch ist eher klein und ich habe nur einen Stuhl. Also hole ich zwei der großen Kissen von der Couch im Wohnzimmer und lege sie auf den Boden.

Auf dem Schreibtisch liegt noch meine eigene Klausur, dazu lege ich meinen Literaturordner sowie Sturmhöhe von Emily Brontë, das Buch, über das wir die Klausur geschrieben haben. Ich sehe mich noch einmal um, ob ich irgendwas vergessen habe, aber ich denke, ich habe alles. Also setze ich mich auf mein Bett und warte. Mittlerweile ist es kurz vor drei. Anfangen zu lesen würde sich jetzt nicht mehr lohnen, da Sophia jeden Moment klingeln könnte. Stattdessen schalte ich Musik ein, nehme mein Handy, beantworte ein paar Nachrichten von Mum, Jasmin und Holly und scrolle dann eine Weile durch Facebook. Als Sophia um zwanzig nach drei noch immer nicht da ist, schicke ich ihr eine Nachricht:

Alles okay?

Darauf bekomme ich eine gute Stunde lang keine Antwort.

Dann kann ihr die Note ja nicht so wichtig sein.

Es ist fast halb fünf, als ich beschließe, nicht länger zu warten und mich endlich an meine eigenen Hausaufgaben zu setzen. Ein Klopfen an meiner Tür lässt mich zusammenfahren. »Ja?«

Mum kommt rein. »Das Abendessen ist fertig«, sie schaut auf die Kissen, die immer noch auf dem Boden liegen, sagt aber nichts.

Ein letztes Mal checke ich meine Nachrichten. Nichts.

Mit einem komischen Gefühl gehe ich die Treppe runter in die Küche. Warum wurmt es mich so, dass Sophia mich versetzt hat?


Sowohl am Mittwoch als auch am Donnerstag bleibt Sophias Platz im Literaturkurs leer. Auch auf den Fluren sehe ich sie nicht und falls sie sich doch irgendwo in der Schule befindet, dann isst sie zumindest nicht in der Cafeteria zu Mittag. Nach meiner Doppelstunde Mathe laufe ich zum Biokurs, in dem ich mit Grace bin, und nutze die Zeit, um erneut einen Blick auf mein Handydisplay zu werfen. Mittlerweile kann ich gar nicht mehr zählen, wie oft ich das seit Dienstag getan habe. So langsam beschleicht mich das Gefühl, dass Sophia vielleicht etwas passiert sein könnte. Und blöderweise ist es wohl an der Zeit mir einzugestehen, dass ich überhaupt nichts über Sophia James weiß. Vielleicht nimmt sie gewisse Dinge – wie die Schule – einfach nicht so ernst wie ich. Es ist nicht meine Aufgabe, das zu hinterfragen.

Ich muss wohl einen ziemlich merkwürdigen Gesichtsausdruck aufgesetzt haben, denn Grace berührt mich am Arm und fragt: »Geht es dir gut? Du siehst irgendwie nicht so aus.«

Mit einer Handbewegung winke ich ab. »Alles okay.« Gerade bin ich nicht in Stimmung, darüber zu reden. Ich habe das Gefühl, dass meine Freundinnen mich nicht verstehen würden – denn ich verstehe mich ja momentan selbst nicht.

Biologie wird ein absolutes Desaster. Grace und ich sind Laborpartner. Die erste der beiden Stunden besteht wie immer aus einem theoretischen Teil und die zweite aus dem dazugehörigen Experiment. Schon bei der Theorie driften meine Gedanken immer wieder ab. Sie lassen sich nicht davon abhalten, obwohl ich es wirklich versuche. Wirklich. Beim Experiment jedoch komme ich auf die dumme Idee, während der Durchführung gleichzeitig unter dem Tisch zum gefühlt tausendsten Mal an diesem Tag auf mein Handy zu schauen. Man könnte meinen, meine Hände täten das schon von ganz allein, ohne dass ich darüber nachdenke, geschweige denn es überhaupt möchte. Meine Aufmerksamkeit wird erst dadurch wieder auf den Unterricht gelenkt, dass das Becherglas, welches zwischen Grace und mir auf dem Tisch steht, mit einem zischenden Geräusch schäumend übersprudelt und sich eine übelriechende, grünliche Pfütze bildet. Grace und ich springen vor Schreck auf. Dabei fällt auch noch mein Handy zu Boden. Ich vergrabe stöhnend mein Gesicht in den Händen. Wie peinlich!

Mrs Gordon schaut gleichermaßen entsetzt und streng zu uns herüber. »Wo seid ihr mit euren Gedanken, Mädchen? Räumt das hier auf und dann ist die Stunde für euch beide beendet. Beeilt euch lieber, bevor ich euch als Strafarbeit fünfzig Seiten aus dem Lehrbuch abschreiben lasse.«

Ich kann spüren, wie mein Gesicht rot anläuft. Am Waschbecken im hinteren Teil des Raumes stehen Eimer mit Lappen und Handschuhen. Schweigend machen wir uns daran, das angerichtete Chaos zu beseitigen. Während ein Teil unserer Mitschüler uns mitleidig anschaut, ist es kaum zu übersehen, dass mindestens genauso viele von ihnen sich das Lachen verkneifen müssen.

Laut Stundenplan steht mir nach Biologie noch eine Doppelstunde Geschichte bevor. Doch ich verabschiede mich von Grace und mache mich auf den Weg zu meinem Schließfach, um die Bücher zu holen, die ich zum Lernen brauche. Dann gehe ich ins Sekretariat, um mich für den Rest des Tages abzumelden.

Das habe ich noch nie getan. Ich gehe immer nur im äußersten Notfall früher nach Hause. Aber ich beschließe, dass dies einer ist. Mein Kopf ist ein einziges Chaos und ich habe das Gefühl, überhaupt nicht mehr klar denken zu können. Zum Glück bin ich heute Morgen mit dem Rad zur Schule gekommen. So bin ich eindeutig schneller zu Hause, als wenn ich zu Fuß gehen würde oder jetzt noch auf den nächsten Bus warten müsste.

Zu Hause bereite ich mir einen Teller mit ein paar Crackern, etwas Käse, Weintrauben und Tomaten zu und nehme eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Erschöpft lasse ich mich wenige Minuten später auf mein Bett fallen, stecke die Kopfhörer des I-Pods in die Ohren, drehe die Lautstärke voll auf und schließe die Augen.

Anscheinend muss ich eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffne, steht der Teller mit meinen Snacks unberührt auf dem Nachttisch und der Wecker daneben zeigt bereits kurz nach acht. Sogar das Abendessen habe ich verschlafen. Ob Mum erfolglos versucht hat, mich zu wecken? Nachdem ich mich ein bisschen gestreckt habe, beschließe ich, endlich mal wieder laufen zu gehen. Laufen hilft mir immer, einen freien Kopf zu bekommen, und genau das brauche ich jetzt. Als ich in voller Sportmontur in die Küche komme, schaut Mum von ihrem Buch auf.

»Du bist wieder wach. Ist alles in Ordnung? Ich habe versucht, dich zum Essen zu wecken, aber du hast so fest geschlafen, da wollte ich dann doch nicht stören«, sie mustert mich von oben bis unten. »Gehst du laufen?«

»Ja, irgendwie ist heute nicht mein Tag, ich brauche etwas Bewegung und Ablenkung. Ich bin nicht allzu spät zurück. Hab dich lieb.«

Und dann laufe ich. Ohne auf mein Tempo zu achten, ohne die Musik wahrzunehmen, ich laufe einfach. Spüre meine Füße gleichmäßig auf dem Asphalt aufkommen. Ein Glück, dass es heute nicht zu heiß ist. Die Sonne scheint zwar, doch sie knallt nicht erbarmungslos. Das macht meine Runde angenehm und hilft, meine Gedanken abzuschalten. Keine Ahnung, wie viele Kilometer ich schon gelaufen bin, bis ich anhalte, um einen großzügigen Schluck aus meiner Wasserflasche zu nehmen.

Nur kurz will ich verschnaufen, als sich mein Magen kurz und heftig verkrampft. Ich stöhne auf.

Doch der Schmerz ist genauso schnell wieder weg, wie er gekommen ist, also laufe ich weiter.

Sehr weit komme ich allerdings nicht, denn nach nur ein paar Metern fangen die Krämpfe erneut an. Mir wird abwechselnd heiß und kalt und ich kann mich gerade noch von der Straße abwenden, bevor ich mich in den nächstbesten Vorgarten übergebe.

Hören diese Peinlichkeiten heute auch nochmal auf? Notdürftig wische ich mir mit dem Handrücken über den Mund und versuche, mit einem Schluck aus der Flasche den Geschmack von Erbrochenem zu vertreiben. Das funktioniert leider nur bedingt.

Es hat keinen Sinn, bis nach Hause zu laufen. Meine Beine zittern so sehr, dass ich kaum aufrecht stehen kann. Wie gut, dass meine Eltern grundsätzlich darauf bestehen, dass ich mein Handy mitnehme, wenn ich joggen gehe.

Meine Mum geht nach dem dritten Klingeln an ihr Handy.

»Ach du meine Güte, Elena! Wo bist du? Ich hole dich ab. Bleib, wo du bist. Hast du noch genug zu trinken?«

Mein Blick schweift auf der Suche nach einem Straßenschild umher.

»Bin an der Ecke Akin Street/Payne Road und ja, Wasser habe ich noch. Danke, Mum.«

Keine Viertelstunde später sehe ich unser Auto auf mich zu fahren. Das Leder des Beifahrersitzes fühlt sich auf meinen nackten Beinen angenehm kühl an, als ich mich, immer noch zitternd, darauf fallen lasse.

Als wir in die Einfahrt einbiegen, steige ich aus und mache mich sofort auf den Weg in mein Zimmer. Ich will einfach nur ins Bett.

Mum kommt noch mal zu mir und bringt mir einen kalten Lappen für die Stirn, einen Fencheltee, Wasser, trockenes Brot und einen Eimer, nur für den Fall der Fälle.

Die Nacht überstehe ich gerade so. Zumindest fühlt es sich so an. Ich übergebe mich noch mehrmals, mein Magen zieht sich immer wieder so schmerzhaft zusammen, dass es mir die Tränen in die Augen treibt. Als wäre das nicht genug, habe ich auch noch richtigen Schüttelfrost. Mitten in der Nacht stehe ich sogar auf, um eine Wolldecke aus dem Schrank zu holen. Bei fast fünfundzwanzig Grad Außentemperatur. Mir geht es wirklich schlecht. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich mich seit Tagen nicht besonders wohl gefühlt habe. Ich war einfach krank.

Am nächsten Morgen entscheide ich mich dazu, dass ich so unmöglich in die Schule kann. Ich sage Dad, der nach mir sieht, er solle mich bitte krankmelden. Außerdem schicke ich Jasmin eine SMS, in der ich sie darüber informiere, dass ich nicht zur Schule kommen werde. Kurz darauf erhalte ich von all meinen Freundinnen Gute-Besserungs-Nachrichten.

Gerade als ich wieder einschlafen will, fällt mir etwas ein. Ich greife nach meinem Handy und öffne erneut den Nachrichtenverlauf mit Jasmin.

Könntest du bitte für mich Ausschau nach Sophia J. halten?

Sobald ich die Nachricht abgeschickt habe, schließe ich die Augen. Verdammt, ich wollte das doch nicht mehr tun.

Keine zwei Minuten später brummt das Handy in meiner Hand.

Ähm … klar, warum?

Mist! Ich hätte damit rechnen müssen, dass sie fragt. Ich tue es nicht gerne, aber da muss einfach eine Notlüge her. Wann bin ich bloß so tief gesunken?

Wir wären heute Mittag zur Nachhilfe verabredet, meine SMS an sie kam mit einer Fehlermeldung zurück.

Wenn ich wenigstens eine Fehlermeldung bekommen würde, aber nicht mal das passiert.


Gegen Mittag wache ich wieder auf. Eine Nachricht von Jasmin ist eingegangen:

Keine Sophia in der Schule.

Doppelter Mist! Das sollte mir wirklich nicht so viel ausmachen. Schluss damit! Ich brauche eine kalte Dusche. Nach dem Duschen fühle ich mich gleich etwas besser. Ich wechsle meine verschwitzten Laken aus und krieche wieder ins Bett. Vielleicht kann ich mich endlich an die neue Lektüre für englische Literatur wagen, die Mr Woods uns am Mittwoch gegeben hat – Stolz und Vorurteil.

Allerdings schaffe ich keine fünf Seiten, bevor mir erneut die Augen zufallen.


Erst in den frühen Morgenstunden am Samstag wache ich wieder auf. Gott sei Dank fühle ich mich endlich besser. Mein Magen knurrt und zum ersten Mal seit einer Weile verspüre ich echtes Hungergefühl. Ich stehe auf, bewege mich ein bisschen und lasse durch das Fenster frische Luft herein. Mir ist tatsächlich nicht mehr übel. Scheint wohl nur ein Tagesvirus gewesen zu sein.

Umso mehr freue ich mich, als ich sehe, dass Holly mir am Vorabend noch geschrieben hat, während ich schon geschlafen habe.

Jasmin und ich wollen uns morgen um 10 im LaLuca treffen. Zum Brunch vor Graces Wettkampf. Sag Bescheid, ob du dich besser fühlst und mitkommen magst.

Ohne zu zögern, sage ich zu. Ich lasse doch meine Freundinnen nicht hängen.


Das LaLuca ist unser Lieblingscafé im Herzen von Brisbane. Es gibt dort ein riesiges Brunch-Buffet und mittags eine Auswahl verschiedener Salate für kleines Geld. Die Mädels und ich treffen uns dort mindestens zwei Mal im Monat. Manchmal sogar öfter.

Erfreut mache ich mich also direkt auf den Weg. Die Sonne strahlt kräftig vom Himmel und schon jetzt, früh am Morgen, sind es bestimmt zweiundzwanzig Grad. Dank eines leichten Windes ist es aber auszuhalten. Es ist fünf vor zehn, als ich mein Fahrrad vor dem LaLuca abstelle und abschließe. Fröhlich winke ich Tom, einem der Kellner, zu und er winkt zurück.

Erst vor ein paar Monaten hat Tom mich um ein Date gebeten und ich habe zugesagt. Schnell wurde mir allerdings klar, dass wir überhaupt nicht zusammenpassen. Zum Glück hat Tom es mir nicht übelgenommen, dass ich nicht das Gleiche empfunden habe wie er, sonst hätten meine Freundinnen und ich wahrscheinlich nie wieder ins LaLuca gehen können. Undenkbar!

Zielstrebig steuere ich den Tisch in der hinteren rechten Ecke, direkt am Buffet, an. Dort sitzen wir immer. Jasmin ist schon da, Holly entdecke ich noch nicht. Als Jasmin mich sieht, steht sie auf, damit ich sie zur Begrüßung umarmen kann.

»Schön, dass es dir wieder besser geht. Was war denn los?«

»Ja, Gott sei Dank. Wahrscheinlich habe ich nur etwas Falsches gegessen. Jetzt geht es wieder.«

In dem Moment, als Tom an den Tisch kommt, um unsere Getränkebestellung aufzunehmen, stürmt Holly durch die Tür.

»Was für ein Verkehrschaos«, schnauft sie und lässt sich neben mir auf die Bank fallen.

Ich bestelle mir einen Kräutertee. Kaffee trinke ich nicht und eigentlich bin ich zwar eher für Früchtetees oder Schwarztee, aber ich denke, ich sollte meinen Magen nicht überstrapazieren. Darum versuche ich mich auch beim Essen etwas zurückzuhalten. Zuerst esse ich eine Banane, mein Magen bleibt ruhig. Dann nehme ich mir ein bisschen Müsli und auch das kann ich ohne Probleme essen. Jedoch stelle ich fest, dass ich gar nicht so hungrig bin, wie ich nach dem Aufstehen dachte, und bestelle deswegen danach nur noch einen weiteren Tee. Als auch Jasmin und Holly fertig sind, bezahlen wir und machen uns mit den Rädern auf den Weg zum Freibad, wo der Wettkampf stattfindet.

Wir suchen uns einen Platz im mittleren Teil der Tribüne, sodass wir einen guten Blick auf das gesamte Becken haben. Es müsste jeden Moment losgehen. Unser Schulteam besteht aus sechs Schwimmern und drei Reserveschwimmern. Grace ist für den heutigen Wettkampf aufgestellt worden und geht, soweit ich weiß, als Dritte ins Wasser.

»Mädels, soll ich uns noch was zu trinken holen, bevor es losgeht?«, frage ich und sowohl Jasmin als auch Holly nicken. Also mache ich mich auf den Weg.

Bei solchen Wettkämpfen scheut unsere Schule keine Kosten und Mühen und organisiert jedes Mal einen Getränke- und einen Fast-Food-Stand.

Bei den Getränken sind ein paar Leute vor mir, also ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und scrolle ein bisschen durch Facebook und Instagram. In diesem Moment tippt mir jemand auf die Schulter. Als ich mich umdrehe, blicke ich geradewegs in zwei haselnussbraune Augen. Sophia.

»Sophia! Ist alles in Ordnung bei dir? Ich versuche dich seit Dienstag zu erreichen. Ich dachte, dir ist vielleicht was passiert.«

Sie schaut mich schuldbewusst an. »Es tut mir wahnsinnig leid. Mein Vater ist wegen der Klausur so ausgerastet, dass er mir das Handy weggenommen und mich aus der Schule ferngehalten hat, damit ich Zeit habe, für heute zu trainieren. Seine Worte waren ›Wenn du schon in einem Fach versagst, lasse ich nicht zu, dass du dir noch so ein negatives Ergebnis leistest. Du wirst nur noch trainieren, damit du nicht noch eine Schande über diese Familie bringst.‹ Ich hatte echt ein schlechtes Gewissen, weil ich dir nicht Bescheid sagen konnte«, sie schaut zu Boden. »Wir müssen heute mindestens den zweiten Platz belegen, damit ich mein Handy zurückbekomme.«

Mir bleibt der Mund offen stehen. Was habe ich für ein Glück mit meinen Eltern.

»Wow, das klingt wirklich schrecklich. Das tut mir leid! Ich kann mir nicht vorstellen, unter so einem Druck zu stehen. Ich drücke dir die Daumen, dass ihr heute gut abschneidet.«

»Danke. Ich tue mein Bestes.« Sie lächelt mich an. »Aber sag mal, willst du trotzdem noch mit mir lernen? Würde es dir morgen passen? Ich möchte die alte Klausur abhaken, damit ich mich ab Montag voll und ganz auf Stolz und Vorurteil konzentrieren kann. Aber dabei brauch ich echt Hilfe.«

»Natürlich. Morgen passt mir gut. So gegen eins, nach dem Mittagessen? Wenn du dein Handy wiederhast, kannst du dich ja melden.«

»Danke, Elena. Das mache ich.«

»Okay. Viel Glück gleich.«

Zurück auf der Tribüne erzähle ich den anderen von meinem Zusammentreffen mit Sophia. Dass ich überhaupt nicht daran gedacht habe, dass sie auch im Schwimmteam ist, ärgert mich ein bisschen. Sonst hätte ich doch längst Grace gefragt, ob sie wenigstens beim Training aufgetaucht ist.

Egal, jetzt weiß ich ja warum sie mich versetzt hat und dann plötzlich nicht mehr zur Schule gekommen ist.

Und mir bleibt keine Zeit mir weitere Gedanken zu machen, denn der Wettkampf startet und wir feuern unser Team an. Als Grace an der Reihe ist, jubeln wir mit Sicherheit am lautesten. Sie schafft es locker, ihre Konkurrentin abzuhängen. Diese hat nicht einmal den Hauch einer Chance. Sophia ist die Schlussschwimmerin. Ihre Zeit wird den ganzen Wettkampf entscheiden. Gebannt sehe ich zu, wie sie mit einem Startsprung ins Becken gleitet. Meine Daumen tun weh, so fest drücke ich sie. Sie ist im Moment wirklich an zweiter Stelle. Aber auf der Bahn nebenan beginnt die Schlussschwimmerin des anderen Teams aufzuholen. Es ist ein Kopf-an-Kopf-Rennen, oder besser gesagt Schwimmen, um den zweiten und dritten Platz. Doch Sophia ist schneller und schafft es, den zweiten Platz zu behalten. Erst als ihre Hand am Beckenrand anschlägt, atme ich aus. Mir ist gar nicht bewusst gewesen, dass ich vor lauter Aufregung die Luft angehalten habe. Unser Team hat es geschafft. Wir haben den zweiten Platz gemacht. Die Schüler auf der Tribüne jubeln.

Holly, Jasmin und ich fallen uns in die Arme, wir sind stolz auf unsere Schule und Grace. Und ich auch ein bisschen auf Sophia.


Den restlichen Samstag erreicht mich noch keine SMS von Sophia. Auch Sonntagvormittag nicht. Ich frage mich, ob ihr Vater doch noch sauer ist und ihr das Handy noch nicht zurückgegeben hat oder ob sie sich vielleicht umentschieden hat. Aber warum sollte sie das tun? Was hätte sie davon? Ich weiß es nicht.

Nachdem ich meine Mathe-Hausaufgaben erledigt habe, setze ich mich gleich an meinen Aufsatz für Geschichte. Das Thema? Die spanische Inquisition, gähn. Aber leider muss es ja gemacht werden. Bis zum Mittagessen will ich wenigstens die Gliederung so weit vorbereiten, dass ich morgen mit dem Schreiben beginnen kann. Erst als es an meiner Tür klopft, merke ich, wie versunken ich in meine Schulaufgaben war.

»Wir wollen jetzt essen«, höre ich meine Schwester durch die geschlossene Tür rufen.

»Ich komme sofort«, antworte ich. Den angefangenen Satz schreibe ich noch zu Ende, dann klappe ich das Geschichtsbuch und meinen Ordner zu.

Mittagszeit. Theoretisch müsste in der nächsten Dreiviertelstunde Sophia hier auftauchen. Bisher hat sie sich immer noch nicht gemeldet. Na ja, ich werde schon merken, ob sie kommt oder nicht.

Mum hat zum Mittagessen einen Salat mit Hähnchenstreifen und gebratenen Pilzen zu ihrem selbstgebackenen Sauerteigbrot gemacht. Einfach köstlich.

»Wer kommt jetzt gleich nochmal her?«, will Dad von mir wissen. Ich schlucke den Bissen Brot, den ich noch im Mund habe, runter, bevor ich antworte. »Sophia James aus meiner Stufe. Sie braucht ein bisschen Hilfe in Literatur und ich habe ihr angeboten, den Stoff mit ihr durchzugehen.«

»Nett von dir«, sagt Mum. »Wir fahren gleich in die Stadt, ein paar Sachen erledigen. Maddie nehmen wir mit und setzen sie bei Charlie ab. Die beiden müssen noch an einem Projekt arbeiten. Ihr habt also das Haus für euch.«

Gerade als ich darum bitten will, aufstehen zu dürfen, damit ich noch schnell meine Literaturunterlagen raussuchen kann, klingelt es an der Haustür. Das wird Sophia sein.

Ich verlasse den Esstisch und gehe in den Flur, um die Tür zu öffnen.

Draußen steht Sophia, die roten Haare zu einem gewollt unordentlichen Dutt hochgesteckt. Sie trägt Jeansshorts und ein schwarzes Top. Ihre Füße stecken in ebenfalls schwarzen Ballerinas und über ihrer Schulter baumelt die Schultasche.

»Hallo«, begrüße ich meinen Gast, »bereit für ein bisschen Literatur?«

Sophia verzieht das Gesicht. »Mehr oder weniger. Ich bin auf jeden Fall froh, mal aus dem Haus rauszukommen. Mein Vater weigert sich nämlich immer noch, mir mein Handy wieder zu geben.«

»Oh Mann, du Arme. Aber immerhin hat er dich heute weggelassen.« Einen Moment sehen wir uns einfach nur an. Dann fallen mir meine Manieren wieder ein.

»Komm doch rein, dann können wir direkt anfangen.«

Auf dem Weg in mein Zimmer kommen wir an der Küchentür vorbei, wo Sophia meine Eltern und Maddie mit einem Winken und einem kurzen, aber freundlichen »Hallo« begrüßt.

Wir machen es uns auf dem Fußboden in meinem Zimmer so bequem wie möglich und Sophia holt ihre Klausur und ihren Ordner aus dem Rucksack. Ich nehme meine Klausur dazu und fange an, ihre Antworten durchzusehen und mit meinen abzugleichen, um mir zunächst einmal einen groben Überblick zu verschaffen.

Ziemlich schnell erkenne ich, wo ihr Hauptproblem liegt. Doch ich bin der Meinung, dass es nichts ist, was sich nicht in den Griff kriegen lässt.

»Also, Emily Brontë«, sage ich, »es ist offensichtlich, dass dir die Fragen zu ihrer Person leichtfallen. Die sind nämlich alle korrekt.« Ich sehe zu Sophia, die mich daraufhin anlächelt.

»Ja, Zahlen und Fakten kann ich mir super merken. Nur beim Rest hapert es total.«

Ich nicke. »Das sehe ich. Die Aufgaben, die den Hauptanteil unserer Note ausmachen, beziehen sich fast alle auf die Interpretation des Textes. Schau mal hier, bei Aufgabe Nummer drei. Deine Antwort ist absolut in Ordnung, aber ich vermute, dass Mr Woods das Ganze gerne etwas ausführlicher gehabt hätte. Was denkst du, warum ist Heathcliffs Charakter so von Widersprüchen geprägt? Woher kommt das? Verstehst du?«

»Ich denke schon«, Sophia greift nach einem Stift und ihrem Block. »Lass es mich noch mal versuchen.«

Die Antwort, die sie mir gute zehn Minuten später präsentiert, gefällt mir gleich viel besser als die, die sie in der Klausur angegeben hat.

So gehen wir die restlichen Interpretationsaufgaben durch und tatsächlich macht es mir sogar richtig Spaß, vor allem, weil ich merke, dass sie versteht, was ich versuche, ihr zu erklären.

Als wir die Klausur durchgearbeitet haben, sprechen wir noch über die ersten beiden Kapitel aus Stolz und Vorurteil. Danach beschließe ich, dass es für heute erst mal genug ist.

»Wow, danke Elena. Ich habe endlich mal das Gefühl, etwas verstanden zu haben. Literatur ist einfach noch nie mein Ding gewesen. Aber vielleicht schaffe ich es mit deiner Hilfe, dieses Jahr wenigstens zu bestehen. Die Note an sich wäre dann eher nebensächlich.« Sophia strahlt richtig vor Freude.

»Überhaupt kein Problem. Ich freue mich, wenn ich helfen kann. Und ich weiß, wie du dich fühlst, denn genauso geht es mir mit Mathe. Nach jeder Unterrichtsstunde fühlt sich mein Kopf irgendwie vernebelt an, einfach schrecklich.« Automatisch verzieht sich mein Gesicht zu einer Grimasse.

»In Mathe bin ich gut, wenn du magst, kann ich mich bei dir revanchieren und dir bei den Vorbereitungen für die Klausuren helfen, auch wenn wir nicht im selben Kurs sind.«

»Das wäre toll. Meinst du, du könntest direkt damit anfangen und einen Blick auf meine Hausaufgaben werfen?« Ich werfe ihr einen fast schon flehenden Blick zu. »Ich bin mir nämlich sicher, dass ich mal wieder mindestens die Hälfte der Aufgaben falsch gelöst habe.« Ich lache.

»Klaro, zeig mal her.«

Sofort reiche ich ihr mein Matheheft, das noch auf dem Schreibtisch liegt.

Etwa eine halbe Stunde später sind nicht mehr nur die Hälfte meiner Aufgaben richtig, sondern alle. Sophia und ich unterhalten uns noch etwas über dies und jenes, bis sie einen Blick auf ihre Armbanduhr wirft und erschrocken ruft: »Oh verflucht! Ich muss in zwanzig Minuten zu Hause sein, sonst gibt es Ärger!« Sie springt vom Boden auf und sammelt ihre Sachen zusammen.

»Wir sehen uns morgen in der Schule. Danke für deine Hilfe und sorry, dass ich nicht länger bleiben kann, aber ich bin froh, dass sich die Situation zu Hause gerade etwas beruhigt hat.« Plötzlich ist sie ganz hektisch. Ich kann genau sehen, wie viel Angst sie davor hat, zu spät zu kommen. »Kein Problem. Bis morgen dann.«

Ich frage mich, warum Sophia und ich uns nie so richtig angefreundet haben. Wenn man es genau nimmt, kennen wir uns nur vom Sehen. Dabei haben wir uns heute echt gut verstanden. Na, wer weiß? Was nicht ist, kann ja noch werden. Ich hätte auf jeden Fall nichts dagegen. Sophia scheint ein richtig toller Mensch zu sein.