Kriss Rudolph
Kindsköpfe
Roman
Roman
Fischer e-books
Kriss Rudolph, Jahrgang 1971, behauptet allen Ernstes, gute Unterhaltung muss nicht billig sein. Er hat vor einigen Jahren schon mal in L.A. als Promi-Reporter gearbeitet, lebt und schreibt jetzt meistens in Berlin, sitzt außerdem regelmäßig in Köln vorm WDR-Mikrofon. 2005 erschien bei Fischer seine Romantic Comedy ›Das Beste von heute‹ (Bd. 16736), ein Jahr später ›Unsterblich kopiert‹ (Bd. 17185), nominiert für den DELIA-Literaturpreis, und zuletzt der komisch-böse Roman ›Heute ziehst du aus‹.
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildungen: Getty Images
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2009
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400072-5
Nehmt zur Kenntnis die Meinung der Alten:
Daß da gehören soll, was da ist, denen, die für es gut sind, also
Die Kinder den Mütterlichen, damit sie gedeihen
Die Wagen den guten Fahrern, damit gut gefahren wird Und das Tal den Bewässerern, damit es Frucht bringt.
Der kaukasische Kreidekreis,
Bertolt Brecht
»Noch können wir weglaufen, es ist nicht zu spät«, flehte Niklas und blieb zögerlich auf der letzten Stufe stehen.
Oliver, der vorgegangen war, legte ungerührt den Finger auf den Klingelknopf und drückte. »Das ist das letzte Paar, Nikki. Sei lieb!«
Niklas, der direkt von der Arbeit kam, löste mit einem geschickten Handgriff den Knoten seiner Krawatte, um sie in der Tasche seines Jacketts verschwinden zu lassen.
»Am besten, du überlässt das Reden ganz mir«, sagte Oliver.
Seufzend schloss Niklas zu seinem Freund auf. »Bitte sehr.«
Gespannt standen sie an jenem Januarabend im mäßig beleuchteten Flur einer Mietskaserne im Düsseldorfer Süden und warteten, dass man ihnen die Tür öffnete. Sie kannten die Frauen nur vom Telefon und hatten in einem ersten Gespräch den Eindruck gewonnen: Dieses Mal könnte es klappen.
»Wie sehe ich aus?« Oliver rückte seine gelbe Baseballkappe zurecht.
»Wie ein kleiner Junge vor seinem ersten Date.«
Niklas zog ihn an sich und küsste zärtlich seine knubbelige Nase. Da öffnete sich die Tür. Vor ihnen stand eine Frau in Jeans und einem schlichten hellblauen Männershirt. Das glanzlose strohgleiche Haar trug sie sportlich kurz geschnitten, und ihr Teint verlangte dringend etwas Farbe. Groß und drahtig war sie, schmal genug, um sich hinter einem Laternenpfahl umziehen zu können – selbst Niklas hatte ein breiteres Becken als sie. Die Mutter seiner Kinder hatte er sich ganz anders vorgestellt.
»Seid ihr meine Väter?«, sagte die Frau mit einem Schmunzeln.
»Wenn du unsere Mutter bist«, entgegnete Oliver.
Sie reichte ihnen die Hand. »Ich bin Kordula. Schön, dass ihr da seid.«
Ihre Gastgeberin trat einen Schritt zurück, und Oliver zog seinen Freund in die Wohnung. Niklas sah sich um: Der Flur war in Hellgelb gestrichen oder vielmehr: gewischt, mit einem Schwamm. Er hatte nie verstanden, wie Menschen, die Farbe in ihr Leben bringen wollten, bei unentschlossenen Tönen wie Blasslila oder Himmelblau landeten. Aber noch schlimmer fand er die Wischtechnik. Solche Wände mochten in billige Pizzerien passen, wo man im Stehen aß und zwei fuffzich zahlte. Fehlten nur noch Tassen mit aufgedruckten Katzengesichtern.
»Ist schlechter Geschmack eigentlich erblich?«, flüsterte Niklas hinter vorgehaltener Hand. Oliver boxte ihn warnend in den Bauch und zerrte ihn weiter.
In der überheizten Küche trafen sie auf Andi. Kordulas Freundin saß am Tisch und war damit beschäftigt, eine Holzlokomotive zu leimen, deren Schornstein abgebrochen war. Sie nickte den Gästen aus einem grauen Jogginganzug zu. Vorne waren ihre Haare gestutzt, wie bei Kordula; hinten jedoch, im Nacken, wuchsen sie, und damit das niemandem entging, hatte sie ein paar der längeren Strähnen rot eingefärbt.
Kordula setzte Wasser auf und erkundigte sich nach den Getränkewünschen der Männer. Oliver wollte Kakao trinken, musste aber mangels Angebot auf Tee ausweichen, während Niklas mit einem Kopfschütteln signalisierte, dass er ganz verzichtete: Er wollte sich an sein Schweigegelübde halten. Außerdem war er schon jetzt von den Frauen enttäuscht, obwohl er nicht mal allzu viel von dem Treffen erwartet hatte.
»Und, wie viele Frauen habt ihr schon getroffen?«, fragte Kordula und nahm zwei Becher aus dem Schrank. Katzenfrei, wie Niklas erstaunt feststellte.
Oliver sagte den Spruch, mit dem er am letzten Wochenende bereits Angelika und Urte glücklich gemacht hatte: »Ihr seid die Ersten.«
Kordula goss kochendes Wasser über ein Teesieb mit wildem Kraut. Einen Becher behielt sie für sich, den anderen servierte sie Oliver, der neugierig daran roch und die Nase verzog.
Von nebenan ertönte Babygeschrei. Andi erhob sich, und es klang mehr nach einem Befehl denn nach einer Bitte, als sie Niklas aufforderte, den Daumen fest auf den geleimten Schornstein zu pressen. Dann verließ sie den Raum.
»Ihr habt also schon ein Kind!« Oliver setzte sich zu Niklas an den Tisch und rührte unentschlossen in seinem Getränk.
»Es ist Andis Tochter«, erklärte Kordula. »Martha ist vierzehn Monate alt. Ein gutes Alter, um ein Geschwisterchen hinterherzuschicken.«
Oliver erkundigte sich nach Zucker, und Kordula holte ein Glas Honig aus dem Schrank.
»Was ist denn mit Marthas Vater?« Niklas witterte plötzlich eine Chance, schnell und unkompliziert aus der Nummer herauszukommen, und vergaß darüber sein Gelübde.
»Ist im Herbst nach Griechenland gezogen, zu seinem neuen Lover. Deshalb haben wir uns geschworen: nie mehr mit Singles.«
Kordula setzte sich zu den Männern und trank ihren Tee. Dabei schmatzte sie zufrieden.
»Was trinken wir hier eigentlich Leckeres?«, fragte Oliver, der bereits den dritten Löffel Honig in seinen Becher rührte.
»Schafgarbe«, informierte ihn Kordula. »Mir zerreißt es immer fast den Unterleib, wenn ich meine Regel kriege. Schafgarbe beruhigt.«
Oliver hörte auf zu rühren und verschloss das Honigglas.
»Wie lange seid ihr beiden zusammen?«, fragte Kordula.
»Sechs Jahre, zwei Monate und elf Tage.« Oliver legte seinem Freund zärtlich die Hand in den Nacken und kraulte ihn. Niklas trug sein Haar recht kurz, obwohl sein Freund seit Jahren bettelte, er möge es wachsen lassen. Oliver litt an und vor allem unter Haarausfall, den er mit Tabletten aus einem Algenextrakt aufzuhalten und mit Baseballkappen in allen Farben des Regenbogens zu kaschieren versuchte, und forderte mehr Phantasie von Niklas – das sei er seinem starken Haarwuchs schuldig. Aber dem mangelte es nicht an Ideen: Ab einer Länge von zwei Zentimetern begann sein Haar sich zu kräuseln und war nicht zu bändigen. Und Niklas hasste Dinge, die sich nicht bändigen ließen.
»Dann habt ihr also das verflixte siebente Jahr noch vor euch.«
Kordula lächelte, als hätte das Paar den wichtigsten Test schon bestanden. Doch die Prüfung hatte gerade erst begonnen. Ob in ihren Familien Erbkrankheiten bekannt waren? Konnte einer von ihnen musische Begabungen vorweisen? Und wie verhielt es sich mit den monatlichen Einkünften?
Die Männer schienen alles zu Kordulas Zufriedenheit beantwortet zu haben, Niklas konnte vor allem bei der letzten Frage punkten. Doch dann schnitt Kordula ein scheinbar nebensächliches Thema an.
»Und wo wohnt ihr in Düsseldorf?«
»Niklas hat eine Wohnung in Oberkassel, und ich lebe in Köln.«
Kordulas Lächeln wurde rissig. »Ihr wohnt getrennt?«
»Sonst hätten wir es nicht auf sechs Jahre gebracht«, erklärte Niklas.
»Ganz zu schweigen von den zwei Monaten und den elf Tagen«, witzelte Oliver, aber diesmal lächelte Kordula nicht.
»Mein Mann braucht viel Zeit für sich«, erklärte er.
Niklas nahm Olivers Hand und biss hinein. Es war seine Art zu sagen: Und du hast ungern Zeit für dich, weil du dich nicht selbst beschäftigen kannst.
»Aua, Nikki!«, machte Oliver, ohne seine Hand wegzuziehen.
Dann biss Niklas nochmal, zärtlicher, um zu sagen: Und nenn mich nicht immer Nikki. Ich bin schließlich kein bayrisches Cowgirl.
»Und warum willst du dann Kinder haben?«, fragte Kordula, unbeeindruckt vom Zirkus der Männer. »Zeit für dich hast du dann keine mehr.«
Niklas war nicht gekommen, um sich belehren zu lassen, erst recht nicht von Menschen mit hellgelb gewischten Wänden. Ihm lag eine Bemerkung auf der Zunge, aber Oliver zuliebe hielt er sich zurück.
»Ich stelle mir unser Projekt jedenfalls nicht so vor, dass ihr die Kinder nur am Wochenende holt und sich darauf unser Kontakt beschränkt«, fuhr Kordula fort. »Dafür stelle ich meine Eierstöcke nicht zur Verfügung.«
Herausfordernd musterte sie Niklas, als spürte sie, wie sein Widerstand immer stärker anwuchs.
»Andi und ich wünschen uns eine große Familie. Wir wollen mit den Vätern gemeinsame Sachen unternehmen, Wandern in der Eifel oder mal eine schöne Radtour.«
»Warum nicht«, sagte Oliver.
Kordulas Vorschlag und vor allem die leichtfertige Reaktion seines Freundes schockierten Niklas so sehr, dass ihm der Schornstein umknickte. Er steckte ihn schnell wieder auf die Lok, um keinen Ärger mit Andi zu bekommen, die eben mit einem kleinen verschlafenen Bündel in die Küche zurückkehrte.
»Du hältst es schief!« Sie drückte dem verdutzten Oliver das Kind in die Hand und drapierte geschickt ein Spucktuch über seiner Schulter. Dann verscheuchte sie Niklas von seinem Platz. Offenbar vertraute sie ihr Kind ohne weiteres fremden Männern an; um die blöde Spielzeuglok aber kümmerte sie sich lieber selbst.
»Hallo, du kleine Maus!« Oliver wandte sich mit kindlichem Singsang an das Baby und schien plötzlich einen größeren Stimmumfang zu haben als Mariah Carey. »Haben wir dich geweckt?«
»Du kannst ganz normal mit ihr sprechen«, sagte Andi, ohne von ihrer Bastelarbeit aufzuschauen.
»Ich habe aber gelesen, dass man mit höheren Tönen am besten das Gehirn von Babys erreicht.« Oliver zog für Martha eine kleine Show mit seinen albernsten Grimassen ab, und die Kleine dankte es ihm mit einem strahlenden Lächeln.
»Marthas Gehirn sicher nicht.« Kordula nahm ihm das Kind ab, das nun wieder anfing zu weinen. »So was ist sie nicht gewohnt.«
Oliver zog eine letzte Grimasse, die nur Niklas sehen konnte. Den beschlich das dumpfe Gefühl, dass der Abend nicht ganz so reibungslos verlief, wie sein Freund es sich gewünscht hätte.
»Habt ihr schon über die Befruchtung gesprochen?«, schaltete sich Andi wieder ein und erklärte den verdutzten Männern, dass sie bei der kleinen Martha gute Erfahrung mit der Bechermethode gemacht hätten.
Oliver starrte angewidert auf seinen Teebecher.
»Hier legt wohl niemand gesteigerten Wert darauf, dass wir zusammen in die Kiste steigen«, erklärte Kordula, und Niklas war zum ersten Mal an diesem Abend ganz ihrer Meinung.
»Die Methode funktioniert in der Regel gleich beim ersten Versuch«, erklärte Andi, die weiter an der Lok herumfummelte. »Wir Lesben sind ja ziemlich fruchtbar.«
Und Kordula ergänzte: »Da wir nicht mit Männern pennen, sind wir weniger anfällig für Geschlechtskrankheiten, die uns die Fruchtbarkeit versauen.«
Niklas, der etwas unbeholfen neben dem Tisch stand, konnte sich nun nicht mehr beherrschen. Es ging ihm auf die Nerven, wie sich die Frauen selber als Mutterwunder anpriesen.
»Also, meine Bilanz an nicht gehabten Geschlechtskrankheiten kann sich durchaus auch sehen lassen.«
»Sie wohnen getrennt«, klärte Kordula ihre Freundin in einem Tonfall auf, als sei es für Paare schlimmer, zwei Haushalte zu haben, als die Syphilis.
»Also vögelt ihr rum wie alle anderen auch«, schloss Andi.
Niklas ignorierte die mahnenden Blicke seines Freundes. »Tun wir nicht.«
»Ihr wäret die Ersten«, sagte Andi, die sich nicht gern ihre vorgefassten Meinungen madig machen ließ.
Niklas hatte keine Lust, sich weitere Dreistigkeiten anzuhören, und beschloss, dem Abend ein Ende zu bereiten.
»Da fällt mir ein«, sagte er mit Blick auf die Küchenuhr, »in einer halben Stunde beginnt meine Monogamie-Selbsthilfegruppe. Ich fürchte, wir müssen los.«
Oliver, der sich sichtlich unwohl fühlte und beim Wortgefecht zwischen Andi und Niklas immer stiller geworden war, trank seinen Tee mit zwei großen Zügen leer und verabschiedete sich mit dem für Castings unerlässlichen Satz: »Wir melden uns dann.«
Schweigend verließen die Männer das Haus. Ihr Atem zeichnete sich in der kalten Luft ab, und Niklas schlug den Kragen seines Mantels hoch.
»Schafgarbe«, sagte Oliver düster. »Wie ekelhaft!«
»Hast du Unterleibsschmerzen?«, versuchte Niklas seinen Freund aufzuheitern.
»Nein!«
»Na bitte!«
Oliver war nicht nach Scherzen zumute, und so setzte er sich ins Auto. Die Scheiben waren zugefroren, und Niklas musste kratzen. Durch ein erstes kleines Guckloch beobachtete er, wie sein Freund einen Flunsch zog und Kordula und Andi von der Liste strich.
Nun war nur noch eine einzige Bewerberin übrig.
Es war kurz nach ihrem fünften Jahrestag, als Oliver plötzlich mit dem Thema Kinder anfing. Sie hatten ein befreundetes Pärchen in Berlin besucht, das im schicken Prenzlauer Berg wohnte. Dort hatten sich so viele Familien niedergelassen, dass Kinderdentisten und Kinderyogalehrer ihr Auskommen hatten. Uwe und seinem Freund Kareem ging der ständige Anblick schwangerer Frauen und das schrille Kindergeschrei, das der Wind von den umliegenden Spielplätzen auf ihre Dachterrasse trug, schon länger auf die Nerven, doch seit in ihrer Straße das dritte Geschäft für Babymoden eröffnet hatte, spielten sie ernsthaft mit dem Gedanken, den Kiez zu wechseln. Niklas äußerte ein gewisses Verständnis für ihre Umzugspläne, doch Oliver hatte sich infiziert. Auf dem Rückflug schmiegte er sich an seinen Freund und fragte: »Warum haben wir eigentlich keine Kinder, Nikki?«
Der hatte es zunächst für einen seiner Tricks gehalten. Denn wenn es nach Oliver gegangen wäre, würden sie schon längst zusammenwohnen, und da Niklas alle diesbezüglichen Vorschläge ablehnte, war Oliver erfinderisch geworden. Mal rechnete er seinem Freund vor, wie viel Geld sie sparen könnten, wenn sie endlich zusammenzögen, und um wie viel weniger sie die Umwelt belasteten, wenn das lästige Hin- und Herfahren wegfiele und dass sie häufiger in die Sonne fliegen konnten, wegen der wegfallenden zweiten Miete und des eingesparten CO2 sowieso. Dann waren im vorvergangenen Winter die Rohre in seiner Wohnung zugefroren, und er musste ein paar Nächte in Düsseldorf verbringen. Niklas wunderte sich, warum der Platz in seinem Kleiderschrank jeden Tag knapper wurde, bis er feststellte, dass Oliver heimlich nach und nach Sachen aus seiner Wohnung herübergeholt hatte, und als dann plötzlich noch sein hässlicher Rattan-Schaukelstuhl mitten im Wohnzimmer stand und all die antiken Möbel beleidigte, musste Niklas seinen Freund daran erinnern, dass der Frühling begonnen hatte.
»Kinder?«, fragte Niklas und schob seine Rückenlehne in eine aufrechte Position.
»Hm.«
»Du und ich?«
»Ja.« Olivers blaue Augen nahmen den Ausdruck an, mit dem er seinen Freund sonst bat, ihm die Füße zu massieren oder mitten in der Nacht Schokoladenpudding zu kochen. Normalerweise war Niklas gegen den Blick wehrlos.
»Du willst wissen, warum du und ich keine Kinder haben?«
»Ja-ha.«
Niklas war in lautes Gelächter ausgebrochen, weil er sich Oliver partout nicht in der Vaterrolle vorstellen konnte – so sehr war sein Freund selber noch ein Kind, trotz seiner 38 Jahre.
Beleidigt hatte Oliver die Kopfhörer aufgezogen und dem Hörspielkanal gelauscht. Aber erledigt war die Sache für ihn noch lange nicht. Nach ihrer Rückkehr aus Berlin verging keine Woche, ohne dass er Ratgeber und Zeitschriften für junge Eltern kaufte, die er zwar nicht alle las, aber offenbar gab ihm der stetig wachsende Bücherstapel auf seinem Nachttisch das gute Gefühl, irgendwie schwanger zu sein.
»Gute Nacht, du Vater Morgana«, zog Niklas ihn eine Zeitlang auf, bevor er beim Zu-Bett-Gehen Olivers Nase küsste und das Licht löschte.
Doch Olivers biologische Uhr hatte zu ticken begonnen – so laut, dass er nachts oft nicht schlafen konnte. Der große Zeiger seiner Eieruhr, wie er sie gerne nannte, stand kurz vor der 4. Nicht dass er fürchtete, seine Zeugungsfähigkeit könne später nachlassen; vielmehr fand er, dass er bald schon eher als O- denn als Papa in Frage käme, schließlich war er ab 40 als Adoptivvater schwer vermittelbar. Dabei war ebendas Olivers ursprüngliche Idee gewesen: ein Baby aus Vietnam oder Afrika anzunehmen.
Niklas fand die Idee, Vater zu werden, nicht grundsätzlich unattraktiv: Es gab so viele schlecht oder gar nicht erzogene Kinder, und immer wenn er von Eltern las oder hörte, die ihre Sprösslinge misshandelten oder verhungern ließen, packte ihn die kalte Wut: Die bekamen Kinder wie andere Leute einen Schnupfen und hatten gar keine Ahnung, wie privilegiert sie waren! Doch mit 33 Jahren hatte er seine Prioritäten anders sortiert. Alois Wittenberg aus der Agentur kündigte schon lange seinen Abschied an, um ganz für seine Frau da zu sein, die an Alzheimer erkrankt war. Niklas gab sich berechtigten Hoffnungen hin, ihn dann als Creative Director zu beerben. Nur hätte er Oliver nichts davon erzählen sollen, der ihn schon gelegentlich als »Herrn Direktor« verspottete.
Wenn es also so etwas wie eine biologische Uhr gab, dann arbeitete sie in Niklas’ Fall noch eher geräuscharm. Abgesehen davon, dass es bei ihm nicht richtig tickte, füllte ihn sein Job vollkommen aus. Zwölf-Stunden-Tage waren keine Seltenheit. Immerhin lagen die mageren Zeiten als maximal beschäftigter Junior-Texter mit minimaler Bezahlung hinter ihm. Und er wollte reisen – gerne auch nach Afrika, aber von dort Kinder importieren? Solche, die womöglich schon ein paar Jahre lang die Hölle eines Waisenheims durchlitten hatten? Nicht dass es keine grundsätzlich schöne Idee wäre, so einen armen Wurm zu retten, aber Niklas fand: Wenn er irgendwann Kinder haben sollte, dann wollte er für ihre Neurosen auch selber zuständig sein.
Er war anfangs davon ausgegangen, dass sich Olivers Vaterschaftseuphorie wieder legen würde, wie zwei Jahre zuvor, als er seine eigene Bar aufmachen wollte, und so versuchte er es mit einem Ablenkungsmanöver: Warum nicht mehr Zeit mit den Kindern seiner stets übellaunigen Schwester Inken verbringen, die ihren Nachwuchs ohnehin am liebsten vor dem Fernseher parkte? Immerhin war Oliver der Patenonkel des Jungen.
Doch davon wollte er nichts wissen. Der gelernte Tischler, der – nach einer Reihe von Gastspielen als Barmann in verschiedenen Kölner Kneipen – inzwischen als Fitnesstrainer arbeitete, hatte resümiert, was er bislang erreicht hatte. Er war unzufrieden und so gut wie 40 – ein Dilemma, das offenbar nur ein eigenes Kind lösen konnte.
Ratsuchend wandte sich Niklas an seine Freundin Nadja, die wie er als Senior Texter in der Agentur arbeitete. Eine Frau in seinem Alter, so dachte er, hätte sicher eine Meinung zum Thema Kinderkriegen. Doch als er sich ihr beim Altbiergelage in einer Studentenkneipe anvertraute, tat sie so, als wollte sich Niklas lebendig begraben lassen.
»Wenn ich du wäre, würde ich jeden Tag mein Glück feiern, dass ich mir ums Schwangerwerden keine Sorgen machen muss!«, schrie sie gegen die laute Musik an.
»Oliver redet von nichts anderem mehr!«, schrie er zurück.
»Willst du dir für ein Kind deine Chancen in der Agentur versauen?«
Niklas trank stumm von seinem Bier.
»Und überhaupt: Was wird sexy Jay dazu sagen?«
Jay war ein Fahrradkurier, ein großgewachsener Schwarzer, dessen Dienste sie oft in Anspruch nahmen. Nadja behauptete gern, dass Niklas den Kurier deshalb so oft kommen ließ, um ihn in seinen knappen Latexhosen zu bewundern.
»Jay hat selber zwei Kinder. Er wäre stolz auf mich.«
Doch Nadja hörte gar nicht mehr zu. Sie starrte dem bestenfalls minderjährigen Kellner, der ihnen gerade eine neue Runde Altbier servierte, auf den mickrigen Hintern und leckte sich über den Brillanten zwischen ihren Schneidezähnen. Abwesend schlug sie Niklas vor, sich einfach einen netten Hund aus dem Tierheim zu holen.
»Nur bitte keinen Mops, sonst kann ich dich leider nicht mehr besuchen kommen.«
Schließlich rief er seine Berliner Freunde an. Uwe und Kareem schlugen vor, im Sommer mit ihnen auf die Virgin Islands zu fliegen, wo man prächtig segeln, tauchen und schnorcheln konnte. Niklas schöpfte kurz Hoffnung, da Oliver eine begeisterte Wasserratte war.
»Willst du mich umbringen?«, echauffierte sich sein Freund, als Niklas ihm die Idee unterbreitete. »Ein angehender Vater treibt doch keinen Risikosport mehr!«
Ein halbes Jahr war inzwischen vergangen, doch Olivers Kinderwunsch hielt sich hartnäckig. Da versuchte es Niklas mit einer Schocktherapie. Er zeigte seinem Freund verschiedene Folgen der Super-Nanny. Er hoffte, der permanent brüllende ADS-Junge könnte Oliver von seinem Kinderwunsch abbringen oder wenigstens das kleine süße Mädchen, das mit dem Messer auf seine Mutter losging. Geduldig verfolgte Oliver Fall für Fall bis zum Ende, um dann jedes Mal mit einem siegessicheren Lächeln zu sagen: »Unsere Kinder werden nicht so, Nikki.«
Da Niklas nicht weiterwusste, spielte er die Machtkarte aus. Sein Freund hatte ihm vor einiger Zeit die Erlaubnis abgerungen, sich mit anderen Männern vergnügen zu dürfen. Das hatte nichts mit mangelnder Zuneigung zu tun, es war nicht mal ein Zeichen nachlassender körperlicher Anziehungskraft. Vielmehr war es so, dass sich ihre sexuellen Wünsche nicht vereinbaren ließen. Oliver, der seine Phantasien nicht für fortgeschritten pervers hielt, hatte dies sehr bedauert. Alles, was er wollte, war, mit seinem Partner zu verschmelzen, um größtmögliche Nähe herzustellen, aber Niklas mochte von Eindringlichkeiten jeglicher Art nichts wissen. So duldete er Olivers Abenteuer, auch wenn sie ihn verletzten.
»Wenn du aufhörst, andere Männer zu treffen, können wir auch über Kinder reden«, schlug er darum vor, überzeugt, dass sein Freund niemals auf den Handel eingehen würde. Oliver bat sich Bedenkzeit bis zum Wochenende aus, doch schon am nächsten Tag verkündete er, dass er bereit sei.
Niklas musste seine Frontalopposition aufgeben, auch wenn er immer noch nicht hundertprozentig von der Idee einer Familiengründung überzeugt war. An ihrem sechsten Jahrestag, den sie in Wien verbrachten, fing Oliver bei einem abendlichen Spaziergang entlang der Donau wieder von den Kindern an. Niklas, von den Gerüchen und den Lichtern der Stadt eingelullt, schlug schließlich eine Teilzeit-Vaterschaft vor: Sie würden sich eine nette Mutter suchen oder auch zwei, bei denen das Kind lebte, und am Wochenende kämen die Väter zum Zug. Für seinen Geschmack war das gerade genug Verantwortung. Oliver, der spürte, dass er seinen Freund endlich da hatte, wo er es wollte, schlug ein und setzte bei ihrer Rückkehr nach Düsseldorf eine Anzeige in ein Lesbenmagazin.
Seitdem machte Oliver eine merkwürdige Verwandlung durch: Plötzlich drehte er sich nach Frauen auf der Straße um, und zwar nicht nur nach solchen mit Kinderwagen. Dass er in seinem früheren Leben mit Frauen zusammen gewesen war, hatte Niklas bislang auf befremdliche Art und Weise erregt; nun machte es ihm Angst: Würde sein Freund in schlechte Gewohnheiten zurückfallen?
Als die ersten Zuschriften eintrafen, die bis auf eine Ausnahme von lesbischen Paaren stammten, bekam Niklas Angst. Frauen aus allen Teilen Nordrhein-Westfalens hatten sich gemeldet, die mit den beiden eine Familie gründen wollten. Glücklicherweise fand es selbst Oliver schwer, die Richtigen zu finden. Manche Paare wollten direkt wissen, was für sie bei der Sache herausspränge, andere wohnten selbst für eine Wochenendvaterschaft zu weit weg. Angelika und ihre Freundin wiederum hatten den Männern einen romantischen Empfang mit Räucherstäbchen und brennenden Kerzen bereitet, um gleich zur Tat schreiten zu können, da Urte ihre fruchtbaren Tage hatte. Auf der Flucht vor den Frauen hatte Oliver sein Handy verloren, wie er später im Auto feststellen musste, aber Niklas hatte sich strikt geweigert, umzukehren.
Dass es nun auch beim letzten Paar nicht geklappt hatte, schmerzte Oliver, und er schob seinem Freund den schwarzen Peter zu, weil der sich von Kordula und Andi hatte provozieren lassen. Niklas empfahl ihm daraufhin beleidigt, die letzte verbliebene Bewerberin auf der Liste alleine zu treffen. Was sie an wenigen Informationen über sie hatten, reichte ihm ohnehin schon: Eva war eine Schauspielerin aus Köln, die in ihrer Freizeit Passanten am Dom mit Gratis-Umarmungen beglückte.
Dazu kam, dass er momentan bis über beide Ohren in einer Kampagne für ein Mittel gegen nächtlichen Harndrang steckte. Er versuchte, sich dem Thema humorvoll zu nähern, indem er einen alten Roland-Kaiser-Schlager bemühte: Ich glaub, es geht schon wieder los. Leider hatte sich die Plattenfirma auf seine schriftliche Anfrage hin noch nicht geäußert. Niklas wollte gerade zum Hörer greifen, um die Sache in einem persönlichen Gespräch zu klären, da bekam er eine SMS von Oliver.
»Bin jetzt unterwegs wollte mich nur nochmal beschweren dass du mich allein zu dieser braut gehen lässt.«
Plötzlich geriet Niklas’ Magen in Aufruhr. Sein Freund würde sich nicht nur mit einer ›Braut‹ treffen, sondern vor allem mit der potenziellen Mutter seines ersten Kindes. Was mochte das für überwunden geglaubte Instinkte und Gelüste bei ihm auslösen! Bei allem Negativen, das man über Kordula und Andi sagen konnte: Ihr überaus hygienischer Vorschlag zur Bechermethode hatte Niklas gut gefallen, doch nun stellte er sich Oliver und Eva vor, wie sie direkt zur Tat schritten. Mit den sporadischen Jungsabenteuern seines Freundes hatte er umzugehen gelernt, aber mit einem Mal drohte Gefahr an einer ganz neuen Front. Zumal von einer Frau, die mit ihrem Körper nicht sonderlich zurückhaltend umging und sich unter dem Deckmantel der Nächstenliebe wildfremden Leuten an den Hals warf.
Panisch rief Niklas seine Schwester Inken an, die er wie immer zu Hause vor dem Fernseher antraf, als ob es alleinerziehenden Müttern verboten sei, auszugehen oder sich zu amüsieren.
»Oli vergöttert dich. Alle sehen das, nur du nicht.« Inken machte sich nicht die Mühe, ihre Eifersucht zu kaschieren. Ihr letzter Freund, ein knapp 20 Jahre älterer Bauunternehmer, hatte sich mit der Ankündigung aus ihrem Leben verabschiedet, eine Frau mit weniger anstrengenden Kindern suchen zu wollen. Seither hatte Niklas das Gefühl, sich für jeden Tag entschuldigen zu müssen, den seine Beziehung die seiner Schwester überdauerte.
»Es geht hier nicht um Liebe oder Treue, sondern um Fortpflanzung«, erklärte er ruhig. »Da kann Oliver mich lange vergöttern, ich werde bloß nicht schwanger davon.«
»Wieso wollt ihr überhaupt Kinder haben?«
Niklas fragte sich, was mit den Frauen los war. Warum taten neuerdings alle so, als handle es sich um einen Fall fortgeschrittenen Schwachsinns, wenn sich jemand Kinder wünschte?
»Oliver mag Kinder.«
»Und du?«
»Ich mag Oliver.«
»Glaubt bloß nicht den Humbug, den alle Leute erzählen, dass Kinder einem so viel zu geben haben!« Inken lachte verächtlich. »Nicht dass ich sie nicht von Herzen lieben würde, aber sie sind die reinsten Energiefresser.«
Sie hatte eine siebenjährige Tochter und einen Sohn, der noch in den Kindergarten ging. Niklas genoss die Zeit, die er gelegentlich mit Lotte und Hannes verbrachte, aber als Vollzeitbeschäftigung – das war eine ganz andere Geschichte. Bei allem Verständnis für Inkens Situation missfiel es ihm, dass sie abends, wenn die Kinder im Bett waren, mit dem Kiffen anfing. Sein alter Freund Mattis besorgte ihr das Zeug, und wenn Niklas versuchte, ihnen ins Gewissen zu reden, wurde er auf all die alleinerziehenden Mütter verwiesen, die jeden Abend auf dem Sofa eine Flasche Rotwein leerten.
»Ich werde es Oliver ausrichten. Gib den beiden Energiefressern einen Kuss von mir!«
Die Reisen, die Niklas in Olivers Stadt unternahm, liefen nie ohne Komplikationen ab, und auch heute erging es ihm nicht besser. Zuerst verpasste er fast die richtige Ausfahrt, dann ließ man ihn auf dem Ring ewig bei dem Versuch versauern, die Spur zu wechseln. Und schließlich musste er sich noch an einer roten Ampel eines rastalockigen Gelegenheitsarbeiters erwehren, der ihm gegen seinen erklärten Willen die Scheibe putzte und dabei auch noch seinen Wischer abbrach.
Niklas fluchte. Kein Wunder, dass er nie mit Köln warm wurde. Er hatte die allergrößte Sympathie für die jahrhundertealte Fehde zwischen den beiden Städten, auch wenn er nicht genau wusste, worauf die sich gründete.
Nach einer Dreiviertelstunde erreichte er endlich das Café, in dem sich Oliver mit Eva treffen wollte. Doch sie waren nicht mehr da. Er versuchte seinen Freund anzurufen, doch der ging nicht dran. Niklas lief verzweifelt den Ring zwischen Friesenplatz und Rudolfplatz auf und ab; die Menschen, die ihm begegneten, erschienen ihm heute Abend noch unsympathischer als sonst. In drei Tagen war Rosenmontag, und entweder waren sie albern verkleidet oder betrunken; meistens beides.
Nach einer Viertelstunde kam endlich der erlösende Rückruf. Olivers Stimme klang euphorisch, als hätte er einen Schatz gehoben. Er und Eva hätten sich so gut verstanden, dass sie noch essen gegangen waren.
»Komm doch auch, du wirst sie lieben!« Er nannte ein Lokal in einer Seitenstraße; Niklas war keine fünf Minuten von ihnen entfernt.
»Ich muss noch was arbeiten«, log Niklas, der nicht zugeben mochte, dass er bereits in Köln war. »Wir sehen uns morgen.«
Danach lief er zu dem Restaurant und spähte vorsichtig durchs Fenster. Es dauerte eine Weile, bis er seinen Freund entdeckt hatte. Er trug die blaue Baseballkappe, die die Farbe seiner Augen aufnahm. Eva saß mit dem Rücken zu ihm. Die beiden plapperten unaufhörlich; wenn Eva etwas erzählte, lachte Oliver so laut, dass es bis auf die Straße zu hören war. Plötzlich sah er zum Fenster. Niklas duckte sich schnell. Hatte er ihn gesehen? Er lief ein paar Meter die Straße hinauf und verschwand in einem Hauseingang. Von dort hörte er Olivers Stimme.
»Niklas, bist du das? Hey, Nikki!«
Er wartete in seinem Versteck, bis er die Tür des Restaurants sich öffnen und wieder schließen hörte. Dann lief er einen Umweg zu seinem Auto, um nicht nochmal an dem Fenster vorbeizumüssen, und fuhr mit hochrotem Kopf heim.
Mattis, der vorübergehend bei Niklas wohnte, vergrub schnell seinen Joint in einem Blumentopf, als er hörte, wie der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Breitbeinig saß er auf dem alten Louis-Philippe-Sofa, das mit seinen geschwungenen Formen und dem geschweiften Schnitzwerk nicht nur einen klaren Kontrast zur schlicht und kantig gehaltenen Biedermeier-Schreibkommode bildete, sondern auch zu Mattis selber. Seit der Zeit im Gefängnis wuchs seine blonde Mähne nur langsam wieder nach, und die dunklen Schatten unter seinen Augen wollten offenbar gar nicht mehr verschwinden.
»Und wie war sie?«, fragte er, ohne den Blick vom blanken Busen der Quiz-Moderatorin im Sportfernsehen zu nehmen.
»Kannst du den reparieren?« Niklas ließ sich mit seinem kaputten Scheibenwischer neben Mattis aufs Sofa fallen und versuchte den süßlichen Geruch, der im Wohnzimmer lag, zu orten.
»Wow, Alter! Hat sie den abgebrochen?«
»Quatsch! Eva ist … ganz nett.«
Mattis grinste. »Du kannst die Olle nicht ausstehen!«
Niklas konnte ihm nichts vormachen, dafür kannten sie sich zu lange. Er trank einen Schluck von Mattis’ Bier und suchte ein Programm, das um diese Uhrzeit noch angezogene Frauen beschäftigte. Die Nachrichten brachten einen Beitrag von einem vernachlässigten Kind aus Niedersachsen, das die Eltern in einem Kellerraum hatten verdursten und verhungern lassen. Ein zu Hilfe gerufener Notarzt konnte das Mädchen nicht mehr retten.
»Manche Leute dürften echt keine Kinder kriegen.« Niklas schaltete zurück zur barbusigen Moderatorin und wünschte seinem Freund eine gute Nacht.
Die Männer lagen in einem fremden Bett, das an ihr Wiener Hotelzimmer erinnerte. Oliver hatte sich an Niklas angekuschelt und nuckelte an seiner Brustwarze, während der seinem Freund übers Haar strich. Plötzlich stand Eva neben dem Bett. Sie hielt sich den Bauch, der bedrohlich angeschwollen war. Bereitwillig rückte Oliver zur Seite, um ihr in der Mitte Platz zu machen, und Eva legte sich dazu. Doch als er wieder die Augen schloss, stieß sie Niklas mit ihrem Bauch an, und er fiel aus dem Bett. Das war aber noch nicht das Schlimmste, denn mit einem Mal kletterten lauter kleine Kinder zwischen ihren Beinen hervor, eins nach dem anderen, bis eine ganze Horde durch das Schlafzimmer tollte und kein Platz mehr für Niklas war. Er brüllte seinen Freund an, er möge etwas unternehmen. Worauf Oliver in Evas Unterleib kletterte und darin verschwand. Niklas wachte von seinem eigenen Geschrei auf.
Irgendwo läuteten Kirchenglocken, die alte Kuckucksuhr im Flur krähte achtmal. Er zog sein Kissen über den Kopf, doch die Bilder seines Albtraums kehrten zurück. Also stand er auf.
Mattis war bereits aus dem Haus. Sein alter Freund besuchte einen Kurs, um den Taxischein zu erwerben. Er war zwar ein begabter Graphiker, kam aber aufgrund seiner Vergangenheit bei keiner Agentur unter.
Niklas beschloss, den Morgen zum Joggen zu nutzen. Er war kein großer Fitness-Fanatiker, aber wenn er nicht wenigstens einmal die Woche für eine Stunde rennen ging, hatte er das Gefühl, platzen zu müssen. Der Rhein lag nur fünf Minuten von seiner Wohnung entfernt, doch vorher musste er Pino ausweichen, der gerade vom Großmarkt kam und frisches Gemüse ins Restaurant schleppte. Niklas und Oliver aßen oft bei ihm. Wenn sie sich auf der Straße trafen, plauderten sie kurz. Der Italiener hätte immer auch lange gekonnt, doch dafür war Niklas an diesem Morgen nicht in Stimmung. Also versteckte er sich hinter der alten Kastanie vorm Haus und wartete den Moment ab, da Pino mit einer Kiste Tomaten im Laden verschwand. Dann spurtete er los.
Mit seinem auffallenden Architekturgemisch aus Renaissance und Jugendstil war Oberkassel der schönste und teuerste Stadtteil von Düsseldorf. Niklas fühlte sich hier an seine Kindheit in Hamburg erinnert. Oberkassel hatte im Krieg ganz offensichtlich mehr Glück gehabt als andere Viertel oder Städte; in ganz Köln konnte Oliver ihm nichts Vergleichbares zeigen, was Niklas einen weiteren Vorwand lieferte, niemals dorthin ziehen zu wollen.
Beim Erreichen des Rheins atmete er tief durch. Er liebte den Fluss, wenigstens von seiner Oberkasseler Seite her; drüben war das Ufer zubetoniert, hier säumten den Strom satte grüne Wiesen, auf denen manchmal noch Schafe grasten. Das Beste aber war das Haus, das an der Uferstraße stand: Es war aus dunkelrotem, grobem Backstein gebaut, und an den Fenstern hingen weiße Läden. Zur Rheinseite befanden sich parterre ein Bullauge und ein Fenstervorsprung, über dem ein kleiner Balkon mit geschwungener weißer Balustrade hing. Der Clou aber war der Turm: Man hatte ihn an den vorderen Giebel gebaut und rundum verglast. Ein idealer Ort für Arbeitszimmer, Salon oder Wintergarten.
Niklas trat näher. Wie immer war keine Menschenseele zu sehen, weder auf dem Balkon im ersten Stock noch im gepflegten Garten, der zur Flussseite von einer ordentlich gestutzten Hecke und in der Seitenstraße von einem breiten, knapp mannshohen Gemäuer begrenzt war. Hier befanden sich eine Pforte aus schwerem Metall sowie ein Klingelschild aus Messing, allerdings ohne namentlichen Hinweis auf die Bewohner des Hauses.
Niklas lief weiter. Die frische Luft tat gut. Hin und wieder begegnete er joggenden Pärchen, Fahrradfahrern und Leuten, die ihren Hund spazieren führten. Er grüßte seine Nachbarin, die alte Frau Metternich, die sich mühsam mit einem Gehstock fortbewegte.
Mit jedem seiner Schritte fielen die negativen Gedanken vom Vortag von ihm ab; offenbar vertrugen sie sich nicht mit dem Sauerstoff. Er bereute es, dass er Oliver hinterherspioniert hatte. Seine Eifersucht war idiotisch, aber er wollte seinen Freund nun mal nicht verlieren.
Nachdem der Wind ihm den Kopf zurechtgerückt hatte, beförderte er Niklas auf die Rheinkniebrücke, die seinen Stadtteil mit dem Rest Düsseldorfs verband. Von hier hatte man einen herrlichen Blick auf Oberkassel, aber auch auf die Ausläufer der Altstadt gegenüber. Die Uferpromenade musste inzwischen gut zehn Jahre alt sein, aber Niklas konnte sich jetzt schon nicht mehr erinnern, wie es dort vorher ausgesehen hatte. Hinter dem, was die Düsseldorfer ›Spanische Treppe‹ nannten und wo sich im Sommer junge Leute versammelten und wie in einem Amphitheater Skater bei ihren halsbrecherischen Kunststückchen beobachteten, lag der Burgplatz. Links dahinter ragte der schiefe Turm der Basilika St. Lambertus empor, der den Mittelpunkt in der Lieblingsanekdote seiner Schwester bildete. Inken hatte früher als Stadtführerin gearbeitet und besaß eine besondere Schwäche für morbide Geschichten: Der Baumeister hatte für den Bau des Turms zu frisches Holz benutzt, worauf sich die Spitze verzog. Als er es später entdeckte, soll er sich im Turm aufgehängt haben.
Als neuer Mensch kehrte Niklas nach einer Stunde in seine Straße zurück. Pino holte gerade eine letzte Palette Obst aus dem Lieferwagen und schlug die Hintertüren zu. Niklas winkte dem Italiener zu und überquerte die Straße. Der Wirt grinste erfreut. Mit seinem schmalen Gesicht und den Grübchen erinnerte er Niklas an einen Eisverkäufer, für den er als 11-jähriger Junge geschwärmt hatte.
»So früh schon wach!«, rief der Italiener und bot ihm ein Glas Orangensaft an. Er lehnte dankend ab, aber da hatte Pino schon zwei besonders saftige Apfelsinen ausgesucht und presste sie aus. Niklas nahm an der Theke Platz.
»Wie geht es deine Freund? Ihr wart lange nicht zum Essen da.«
Pino legte ihm seine Hand auf die Schulter, und Niklas war froh, dass Oliver nicht hier war. Sein eifersüchtiger Freund behauptete gerne, dass der Italiener ihn anbaggere, obwohl der eine hübsche Frau hatte, die manchmal im Restaurant aushalf.
»Tut mir leid, dieses Wochenende verbringen wir in Köln.«
Pino rollte mit seinen schwarzen Augen. »Wie lange wollt ihr das noch so weitermache? Ich habe meine Antonia mit achtzehn geheiratet, da kannte wir uns keine drei Monate. Menschen, die sich lieben, musse zusamme sein.«
»Du weißt doch: Er will nicht nach Düsseldorf und ich nicht nach Köln.«
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber es brachte Pino von dem leidigen Thema des Zusammenziehens ab. Mit ihm konnte man nämlich herrlich über die ungeliebte Stadt schimpfen. Zu viele Italiener, behauptete er gerne und lachte dabei sein verschmitztes Lachen.
»Natürlich willst du nicht nach Köln, hier ist es viele schöner!« Pino tätschelte Niklas’ verschwitztes Bein.
»Das leite ich gerne weiter.«
Zu Hause nahm er ein heißes Bad und rasierte sich glatt. Beim Frühstück las er die Zeitung – ein Ritual, zu dem er nur am Wochenende kam und nur, wenn er allein war. Mit Oliver funktionierte das nicht, der konnte nicht still daneben sitzen. Niklas hatte versucht, ihm die Todesannoncen zu überlassen, die seinen Freund neben der Begeisterung für Karneval so sehr faszinierten. Doch der las ihm dann die Anzeigen vor, die er für besonders spannend hielt, weil er meinte, alles teilen zu müssen. In den ersten Wochen ihres Zusammenseins hatte Niklas das süß gefunden, so wie Olivers Schnarchen und seine Angewohnheit, sich über das gesamte Bett auszubreiten, bis Niklas nur noch ein handtuchbreiter Streifen blieb.
Gegen Mittag packte er ein paar Sachen zusammen und fuhr nach Köln. Er freute sich auf Oliver, und über die Tatsache, dass das nach über sechs Jahren noch möglich war, freute sich der leidenschaftliche Zweifler in ihm gleich noch ein bisschen mehr. Das Leben in getrennten Wohnungen tat ihnen gut, und Niklas fürchtete, dass ein Zusammenziehen der sichere Weg wäre, ihrer Beziehung den Todesstoß zu versetzen. Oliver, der der Realität nicht gern ins Auge blickte, nannte solche Befürchtungen zwar hysterisch, machte aber schon länger keine Anstalten mehr, das Thema eines gemeinsamen Haushaltes mit allzu viel Nachdruck zu diskutieren. Schließlich ahnte er, dass er damit die Freiheiten, die er in Köln mit seiner eigenen Wohnung genoss, in Gefahr brachte.
Oliver hatte die Tür für Niklas angelehnt. Im Wohnzimmer lief der Fernseher; ein Privatsender berichtete über das tote Kind aus Niedersachsen und zerrte die Nachbarn vor die Kamera, die abwechselnd sagen durften, wie »schockiert« und »betroffen« sie waren; der Oberbürgermeister beklagte das »Pech«, dass so etwas in seiner Stadt geschehen konnte.
DVDs und Computerspiele stapelten sich auf dem Boden rings um Olivers Schaukelstuhl. Auf dem alten Cordsofa, das er vor Jahren von seinen Eltern übernommen hatte, lagen verstreute Zeitschriften und eine offene Packung Cornflakes, die er beim Fernsehen naschte.
»Helau«, rief Niklas.
»Für dich immer noch Alaaf!«, echote es aus der Küche.
Oliver war gerade dabei, für seinen Freund Kaffee zu kochen. Niklas kuschelte sich von hinten an und schob die Hand unter seinen Pulli. Er begann, seine rechte Brustwarze zu streicheln, in der früher mal ein Piercing gesteckt hatte und die seit dem Verlust desselben etwas größer war als die andere, dafür wurde sie auch schneller hart.
»Fröhlichen Fasching«, säuselte Niklas.
»Wie lange wohnst du schon im Rheinland? Es heißt Karneval!«
»Ich dich auch.«
»Willst du mein Kostüm sehen?« Oliver war schon auf dem Weg ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen.
»Ich bebe vor Erwartung.«
Sein Blick fiel auf den Orlando-Bloom-Kalender an der Tür, der im November 2005 stehen und hängen geblieben war. Oliver schmeichelte ihm oft, dass er dem Schauspieler ähnlich sehe, erst recht, wenn er seine Haare endlich wachsen ließe, aber das ließ Niklas’ Eifersucht nur noch weiter ansteigen.
Mit einem Glänzen in den Augen kehrte Oliver zurück: Im Mund einen Schnuller, über der Schulter ein Spucktuch – und vor der Brust hing eine Puppe, die in einem Tragetuch steckte.
»Ich komme nicht drauf«, sagte Niklas, und Oliver spuckte den Schnuller aus.
»Ich gehe als Vati.«
Niklas hatte so sehr gehofft, mal für ein Wochenende mit dem Kinder-Thema verschont zu werden. Statt Olivers Einfall zu loben, wurde er darum schnippisch. »Dann kannst du ja diese Eva gleich mitnehmen.«
»Gute Idee, das werde ich sie nachher mal fragen.«
»Was ist denn nachher?«
Oliver lief ins Schlafzimmer, um sich seiner Requisiten zu entledigen.
»Eva kommt heute Abend zum Essen.«
Er kehrte in die Küche zurück und gab Niklas einen Kuss. Der rührte in seinem Kaffee, auf den er schlagartig keine Lust mehr hatte. Er war kein großer Fan von Überraschungen.
»Dann hast du dich schon für sie entschieden?« Er ging mit seiner Tasse zum Fenster und tat so, als hätte er eben erst die schlechten Graffiti an der gegenüberliegenden Hauswand entdeckt.
»Sie ist perfekt, Nikki. Sie ist intelligent, hat Humor und sieht gut aus.«
Seine blauen Augen liefen über in dem Bemühen, Niklas zu überzeugen. Der fühlte sich, als sollte er zwangsverheiratet werden.
»Wenn das schon alles feststeht, braucht ihr mich wohl nicht mehr«, brach es aus Niklas hervor, bevor er sich auf die Zunge beißen konnte. Er hatte ein Händchen dafür, Situationen zum Eskalieren zu bringen. Dieses Talent hatte Oliver in ihm entdeckt, und er wusste es wie kein anderer zu fördern.
»Warum hast du denn schon wieder schlechte Laune?«
»Hab ich überhaupt nicht!« Niklas öffnete das Fenster und steckte den Kopf hinaus.
»Warum machst du mich dann blöd an?«
»Mache ich gar nicht!«
»Machst du wohl!«
Schon steckten sie in der Endlosschleife, tauschten ein paar Neins und ebenso viele Dochs aus, um dann vollends zu verstummen. Nach einer Weile ertrug Niklas die Stille nicht mehr und schlug vor, fürs Abendessen einkaufen zu gehen.
Die Temperaturen im Kühlregal des Supermarktes waren nichts gegen das eisige Schweigen, das zwischen ihnen herrschte. An der Kasse wollten unbedingt beide zahlen, als könnte man sich auf diese Weise Punkte für eine spätere Abrechnung sichern. Schließlich legten sie zusammen und setzten auf dem Heimweg ihren sprachlosen Streit fort.
Zurück in der Wohnung, packte Niklas das Fleisch aus und breitete es zum Ausbluten auf einem Brett aus. Oliver hockte sich vor den Schrank und suchte nach einer großen Pfanne für die Steaks. Dabei zogen sich Hosenbund und Unterhose zurück und gaben einen Teil von seinem Hintern frei. Niklas, der immer noch sauer war, aber nicht sauer genug, um darüber hinwegsehen zu können, nahm eine Stange Lauch aus der Tasche und schlich sich von hinten an; dann steckte er sie kurzentschlossen in Olivers Hose.
Der, statt sich zu rühren, maulte nur: »Nimm das da raus!«
»Ich war das gar nicht«, sagte Niklas unschuldig.
»Ich zähle bis zehn, und dann nimmst du das Ding da raus. Was auch immer es ist.«
»Bloß Porree.«
»Eins, zwei, zehn«, zählte Oliver. Dann sprang er herum und wollte sich auf Niklas stürzen. Der lief schnell weg, um sich im Schlafzimmer in Sicherheit zu bringen, aber da hatte Oliver ihn schon eingeholt. Er warf ihn aufs Bett, und bevor er sich auf ihn stürzte, zog er verdutzt die Lauchstange aus der Hose.
»Das ist ja Lauch!«
»Sag ich doch!« Niklas bedeckte das Gesicht seines Freundes mit wilden Küssen. »Du hörst mir nie zu!«
»Hä?« Grinsend zog sich Oliver den Pulli aus und half Niklas, sein Hemd aufzuknöpfen.
Der machte sich währenddessen an Olivers Gürtel zu schaffen. »Ich dachte, du magst Lauch.«
»Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass man mit Essen nicht spielt?«
»Och, die hat mir so einiges nicht beigebracht.«
Oliver streifte seine Hose ab und zog seinen Freund zu sich. »Du bist manchmal echt blöd!«, sagte er leise.
»Du erst!«, entgegnete Niklas und half ihm aus den Boxershorts.
Sie lagen noch im Bett, als Eva klingelte. Es gab Niklas ein beruhigendes Gefühl, vorher Sex mit seinem Freund gehabt zu haben. Während der schnell seine Sachen überzog, um die Tür zu öffnen, nahm Niklas den Umweg über Olivers Bademantel, damit keine Zweifel über seine Rolle aufkamen und darüber, welche Privilegien er hier genoss. Niklas winkte Eva flüchtig zu, kündigte etwas lauter als nötig an, noch schnell zu duschen, danach schlüpfte er zurück in seine Sachen und gesellte sich zu den anderen in der Küche. Oliver hatte bereits eine Flasche Sherry geöffnet, ein Mitbringsel von Eva, und schenkte ein.