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Das Buch

Ein Mädchen, das sich ihren Wurzeln beraubt fühlt.
Ein schwarzer Hengst, der um sein Leben kämpft.
Ein Junge, der alles durcheinanderbringt.
Und eine Liebe, die alle drei vereint.

Alices Leben steht kopf. Ausgerechnet am Geburtstag ihrer Mutter erfährt sie, dass sie adoptiert wurde und ihr Leben bislang auf einer Lüge basierte. Sie beschließt, ihren leiblichen Vater zu suchen und wird fündig. Er besitzt einen Reiterhof und lädt Alice ein, den Sommer dort zu verbringen.
Die Idylle scheint perfekt, doch dann tritt der verwahrloste Araber-Jährling Amaris in ihr Leben – eine unsichtbare Kraft scheint sie mit dem Pferd zu verbinden. Alices Vater unterstützt sie nach Kräften. Aber das düstere Geheimnis, das der Hengst birgt, wird schon bald zur Gefahr für sie und ihre neuen Freunde. Zum Glück ist Ben an ihrer Seite, auch wenn der Stallbursche aus Kalifornien Alices Gefühlsleben ganz schön durcheinanderwirbelt …

Die Autorin

© privat

Maren Dammann, geboren 1983 in Wermelskirchen, studierte Umweltmanagement und emigrierte nach Australien, wo sie unter anderem den Lebensraum der Koalas und Flughunde erforschte. Nun arbeitet sie in einer leitenden Position bei einem der größten Sprachdienstleister Australiens. Seit ihrer frühen Jugend im Journalismus tätig, entwickelte Maren Dammann eine Passion für das Schreiben. Sie hat ca. zehn Jahre als Freelance-Journalist gearbeitet und unzählige Artikel veröffentlicht. Als Selfpublisher hat sie bereits Erfahrung mit Kinder- und Jugendbüchern gesammelt. In ihrer Freizeit beschäftigt sich Maren Dammann mit ihren Pferden, bei denen sie sich auch Inspiration für ihre Geschichten holt.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!
Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

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Vorwort

Kennt ihr das?

Diese furchtbaren Momente, in denen man sich eingesperrt fühlt und alles in einem zur Flucht drängt – doch da sind Wände, sichtbare und unsichtbare, und ihr müsst euch in euer Schicksal ergeben.

Vor ein paar Jahren machte ich den Fehler, auf eine Pferdeauktion zu gehen, eine von denen, die vor allem Bieter von den Schlachthöfen anziehen. Und da sah ich sie, die ungewollten Stuten und Fohlen, die grauen Senioren, die ehemaligen Rennpferde, dicht aneinandergedrängt in ihren Pferchen. Ungeliebt, unnütz, ausgedient. Das Weiße in ihren Augen verfolgt mich bis heute.

Damals hatte ich keine Möglichkeiten, eines von ihnen zu retten. Mittlerweile bin ich im Tierschutz aktiv. Und zum Glück habe ich viele Geschichten beobachten und miterleben dürfen, die am Ende zu einer neuen Chance führten.

Dieses Buch ist all den Pferden gewidmet, für die es kein Happy End gibt.

Kapitel 1

Der Duft der Kirschblüten umfing sie in ihrem Baumversteck auf dem verlassenen Obsthof, der direkt an das Haus in der Silberkampstraße 4 angrenzte. Alice lehnte sich seufzend an den Stamm und genoss die sanfte Brise, die durch die Äste wehte und ihr Gesicht streichelte. Tief sog sie den lieblichen Geruch der Blüten ein, der Erinnerungen an den Sommer weckte. Hier oben war es friedlich, alle Sorgen schienen weit weg und unbedeutend. Neben ihr rupfte eine Meise an ihrem Nest herum und ließ sich von ihrer Anwesenheit nicht stören.

Und doch konnte die Schönheit dieses Frühlingstages nicht von der schrecklichen Erkenntnis ablenken, die heute Morgen ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte.

Das Wort »Familiensache« raste ihr durch den Kopf, hämmerte gegen die Innenseite ihres Schädels und bereitete ihr Kopfschmerzen. Sie war nicht die, die sie glaubte zu sein. Genau genommen war ihr ganzes bisheriges Leben eine Illusion gewesen.

Eine der rosafarbenen Kirschblüten segelte an ihr vorbei, leicht und unbeschwert, als wolle sie Trost spenden. Aber schon war sie außer Sicht und Alice wieder allein. Dabei hatte der Tag so gut angefangen …

Kurz vor sechs erwischte sie den Wecker ein paar Sekunden vor dem Klingeln, etwas, das sie sonst nie schaffte. Auf Zehenspitzen schlich sie in die Küche, kochte Kaffee und backte Brötchen auf. Prüfend betrachtete sie den gedeckten Tisch und entschied, dass alles gut aussah. Heute würde ihre Mutter vierzig werden, und Alice wollte ihren Ehrentag gebührend feiern. Vierzig – das war eine besondere Zahl: Man stand mitten im Leben, hatte seine Karriere gewählt und eine Familie gegründet. In ihrem Fall bestand die Familie allerdings nur aus ihnen beiden, denn Alice hatte keine Geschwister, und zu ihrem Vater äußerte sich ihre Mutter Tina nicht.

Etwas rumpelte im Zimmer über ihr. Alice beeilte sich, die verführerisch duftenden Brötchen aus dem Ofen zu holen.

Tinas wuscheliger Lockenkopf tauchte im Türrahmen auf.

»Mor’n«, murmelte sie und gähnte. Vor dem Genuss ihres ersten Kaffees war mit der ansonsten meist gut gelaunten Kleintierärztin nichts anzufangen.

In letzter Zeit hatte Tina viel gearbeitet. Sie war eine der Tierärztinnen, die immer für ihre Patienten da sind. Auch nachts um drei und am Wochenende. Aber der heutige Tag gehörte nur ihnen beiden, das hatten sie so vereinbart.

»Morgen, Mama«, rief Alice fröhlich, wischte sich ihre Hände an der Schürze ab und fiel ihrer Mutter um den Hals.

»Is’ was?«, fragte sie schlaftrunken.

Alice grinste. »Ja, du Morgenmuffel, tu nicht so unschuldig. Ich weiß, älter werden ist nicht dein liebstes Hobby. Aber trotzdem: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!« Sie schob ihrer Mutter ein Päckchen entgegen, liebevoll in glänzendes Papier eingeschlagen. »Für dich.«

Tina packte einen bunten Seidenschal und eine silberne Kette mit Medaillon aus. Behutsam ließ sie das Schloss aufschnappen und ein Babyfoto von Alice blitzte ihr entgegen. Ein frecher blonder Spatz mit hellblauen Augen, etwa ein Jahr alt.

»Das erste Foto, das es von mir gibt«, sagte Alice etwas wehmütig. »Schade, dass alle früheren Bilder von mir beim Wasserrohrbruch verloren gegangen sind. Aber ich dachte, dass du mich damit immer am Herzen tragen kannst, wenn du möchtest.«

Ihre Mutter zögerte einen Moment, als wolle sie etwas sagen, entschied sich aber anders. Sie nahm Alice in den Arm, drückte sie fest und Tränen standen in ihren Augen.

»Gefällt es dir?«, fragte Alice.

»Beides ist wunderschön, Schal und Kette. Vielen Dank, meine Süße. Womit habe ich dich nur verdient?«

Später spazierten sie mit Bobby am Mühlstädter See entlang.

Der junge Schäferhund tollte ausgelassen auf den sumpfigen Wiesen neben dem Weg herum.

Wild wehten ihnen die Haare ins Gesicht, als die Wolken schneller vorbeizogen und sich verdichteten. Lachend und mit schlammverschmutzten Schuhen erreichten sie die Silberkampstraße, gerade noch rechtzeitig, als eine dunkle graue Wolke sich über den Himmel schob, die verdächtig nach Regen aussah.

Vor ihrem Haus parkte ein Auto, und als sich die Tür öffnete, kletterte ein Raubvogel heraus. Zumindest kam es Alice so vor. Mit ihrem scharfen suchenden Blick und der spitzen Nase gab ihre Großmutter ihr immer das Gefühl, eine kleine Maus in einem frisch gemähten Kornfeld zu sein. In dem Moment, als ihre Lederstiefeletten auf den Asphalt trafen, wurde es windstill und merkwürdig ruhig.

»Hallo, Tina, hallo, Alice«, begrüßte sie die beiden mit einem derart kalten Unterton, dass Alice eine Gänsehaut bekam. Abschätzig deutete die alte Dame auf Alices und Tinas schlammige Schuhe. »Schlimm seht ihr aus.«

»Oh, Mutter, was machst du denn hier?«, fragte Tina und ihr Lachen verschwand, um einer eisernen Miene Platz zu machen.

»Darf man jetzt nicht mal sein Kind besuchen? Ich wollte dich zu deinem Geburtstag überraschen. Oder bin ich etwa nicht erwünscht?«

Eine Windböe kam auf und der Mantel der alten Dame flatterte hoch wie ein wild schlagender Flügel.

Bobby fiepte leise und Alice legte ihm beruhigend die Hand auf den Kopf. Ein Regentropfen klatschte auf den Boden, gefolgt von einem zweiten.

Sie gingen ins Haus und Alice trocknete Bobby ab, der sich entgegen seiner sonstigen Kämpfe mit Handtüchern erstaunlich gut benahm. Der junge Hund hatte feine Antennen für angespannte Situationen. Anschließend verzog sich Alice in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Jede Minute, die sie weniger mit ihrer Großmutter verbringen musste, war ihr recht.

Mit der Kanne in der Hand betrat sie das Wohnzimmer und hörte, wie ihre Oma gerade zu ihrer Mutter sagte: »DU warst immer gut in Englisch. Damit kann sie nicht in deine Fußstapfen treten.«

»Das muss sie auch gar nicht. Alice kann dafür andere Dinge. Sie ist gut in Deutsch, Bio und Sport.«

»Sport? Na, damit kann man aber nichts Anständiges werden. Ich habe dir immer gesagt, dass du nicht weißt, auf was du dich einlässt …«

»Sei still, sie könnte dich hören.«

Verunsichert räusperte Alice sich und augenblicklich brach das Gespräch ab. Ein aufgesetztes Lächeln umspielte den Mund ihrer Großmutter und in einem lockeren Plauderton sagte sie: »Kaffee, wie schön. Für mich bitte mit Zucker.«

Alice zuckte zusammen, als die klauenartigen Finger der alten Dame vorstießen und ihr die Tasse viel zu heftig aus der Hand rissen. Ein Kaffeespritzer landete auf ihrer Handfläche und es brannte mehr, als es sollte. Alice starrte auf die manikürten Fingernägel ihrer Großmutter, die die Farbe von geronnenem Blut hatten.

»Willst du deiner Oma nicht was auf dem Klavier vorspielen?«, flötete Tina, und Alice wurde knallrot. Wollte sie nicht.

Ihre Großmutter kam ihr zuvor: »Nein, danke, laute Musik ertrag ich nicht mehr. Ich bevorzuge Ruhe.«

Ratlos schaute Alice zischen den Frauen hin und her, biss sich auf die Lippe und schwieg. Die Luft in dem Raum wurde immer dünner, die Anspannung war spürbar und erinnerte an einen Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Es war kaum auszuhalten. Dann machte Alice einen entscheidenden Fehler, den sie noch lange bereuen sollte.

»Okay, wenn ihr Ruhe möchtet, ziehe ich mich lieber zurück. Ich bin in meinem Zimmer. Wenn ihr mich braucht, ruft mich einfach.« Dieser eine Satz brachte den Vulkan zum Explodieren.

»Du bleibst hier!«, rief ihre Mutter, gleichzeitig mit ihrer Großmutter. »Ja, das ist besser so. Das hier ist Familiensache.«

Jetzt wurde Tina leichenblass.

Alice ahnte Schlimmes. »Wie meinst du das?«, fragte sie.

Ihre Großmutter stand so schnell auf, dass der Kaffee auf den Untersetzer schwappte, und funkelte sie an. »Schau doch in den Spiegel, wie kann man nur so blind sein?«

»Mach das nicht«, rief Tina mit verzweifelter Hilfslosigkeit in der Stimme. »Bitte!«

»Hast du dich nie gefragt, warum du als einzige Person in der Familie blonde Haare und blaue Augen hast? Du bist doch angeblich so gut in Bio – das ist einfache Genetik. Du gehörst nicht zur Familie! Du bist nicht meine Enkeltochter und auch nicht das Kind deiner Mutter – du bist adoptiert.«

»Mutter!«, schrie Tina auf und griff nach Alices Arm.

Diese riss sich entsetzt los. »Stimmt das, Mama?«

»Alice, da reden wir nachher in Ruhe drüber …«

Aber Alice war schon an ihr vorbei und aus dem Zimmer gerannt.

Nun saß sie hier oben im Baum, schaute dem Vögelchen zu, wie es eifrig das Nest für seine Küken vorbereite, und hinter ihrer Stirn war ein roter Schleier der Wut und Enttäuschung.

Der Regen hatte sich verzogen und einem herrlichen Frühlingstag Platz gemacht, aber der Stamm war feucht und glitschig. Auch der Ast, auf dem sie saß, schien zu schwanken. Sie kam sich vor wie auf einem Schiff im Sturm. Wellen der Verzweiflung schlugen über ihr zusammen, so fühlte sich wohl Ertrinken an. Und weit und breit kein Rettungsboot in Sicht.

Zwischen den Blättern hindurch sah sie, wie sich ein Regenbogen am Himmel bildete, und es kam ihr vor wie blanker Hohn. Tränen liefen ihr über die Wange, als sie verstand, dass nichts so war, wie es schien. Und – noch tausendmal schlimmer – dass es auch nie wieder so sein würde.

Die Meise hüpfte neben ihr entlang, einen winzigen Zweig im Mund.

»Lass es bleiben«, flüsterte sie dem Vogel zu, der erschrocken innehielt und sie mit schräg gelegtem Kopf anschaute, »in dieser Welt hält nichts für die Ewigkeit.«

An jenem schicksalsträchtigen Tag kam Alice erst spät nach Hause. Die Laternen in der Silberkampstraße waren bereits angegangen und in den Einfahrten parkten die Autos der heimgekommenen Berufstätigen.

In den beleuchteten Fenstern sah Alice Familien beim Abendbrot oder gemeinsam vor dem Fernseher sitzen, während sie einsam über den Asphalt irrte und sich von ihrer Mutter um die Wahrheit betrogen fühlte. Es tat ihr leid, dass heute ausgerechnet Tinas Geburtstag war, aber das entschuldigte nicht, was sie Alice jahrelang verheimlicht hatte: dass sie ein Waisenkind gewesen war.

An der Hausnummer 4 angekommen, kramte sie den Ersatzschlüssel unter der losen Gehwegplatte hervor und schloss leise die Tür auf. Auf Zehenspitzen schlich sie den dunklen Flur entlang, um in ihr Zimmer zu gelangen.

»Alice?« Das Licht ging an, und Alice riss den Arm hoch.

Ihre Mutter stand im Nachthemd vor ihr, abgeschminkt und bleich. Ihre Augen waren geschwollen, sie hatte geweint.

»Lass uns reden. Bitte.«

»Nein. Nicht heute.«

»Es tut mir alles so unglaublich leid. Ich …«

Doch Alice schlüpfte an ihr vorbei. Sie war nicht bereit zu sprechen. Noch nicht.

Und auch in den nächsten Tagen ging sie ihrer Mutter aus dem Weg. Nach der Schule lief sie immer direkt in ihr Zimmer, legte sich mit Kopfhörern aufs Bett und machte dort ihre Hausaufgaben. Die Musik half ihr, sich auf die Arbeit zu konzentrieren und die Begegnung mit ihrer Großmutter zu verdrängen. Ed Sheeran, Shawn Mendes, Tom Walker und allen voran »You need to calm down« von Taylor Swift, das sie stundenlang in Dauerschleife laufen ließ, ließen sie ruhiger werden.

Später am Nachmittag ging sie meist mit Bobby joggen, um die vielen Gedanken zu sortieren, die ihr durch den Kopf rasten. Bobby schien zu spüren, dass sie unglücklich war, und trottete brav neben ihr her, ohne auch nur einmal an der Leine zu zerren.

Ob es das viele Grübeln war oder die Meeresfrüchte-Pizza von ihrem Lieblingsitaliener Giovianni oder einfach Zufall – nach zwei Wochen lag sie mit einer Magenverstimmung im Bett.

Die Bettruhe half ihr, in sich zu gehen und sie fasste einen Entschluss: Sie würde herausfinden, wer ihre biologischen Eltern waren. Damit sie wusste, wer sie wirklich war und wo ihre Wurzeln lagen. Ihr Plan war allerdings nicht ganz einfach in die Tat umzusetzen. Zuerst musste sie mit ihrer Mutter reden.

An einem Freitagabend half sie ihr in der Küche, dem Ort, an dem sich Tina am wohlsten fühlte, da sie gerne kochte.

In den letzten Tagen hatten sie nur das Nötigste besprochen und Tina genoss es sichtlich, dass Alice ihre Nähe suchte. Vorsichtig sprach diese das heikle Thema an: »Mama, ich würde gerne mehr über meine Herkunft erfahren. Gibt es da irgendwelche Möglichkeiten?«

Tina ließ ihr Küchenmesser sinken und schaute sie nachdenklich an. »Prinzipiell ist es möglich, an mehr Informationen zu kommen. Ich denke, mit meinem Einverständnis kannst du auch vor dem sechzehnten Lebensjahr Einsicht in die Vermittlungsakten bekommen«, erklärte sie. »Sicher, dass du nicht noch eine Weile warten möchtest?«

»Nein!« Das klang schärfer als beabsichtigt, aber Alice nervte die Bevormundung.

»Okay, ich mache uns einen Termin.« Ihre Mutter nahm sich die nächste Kartoffel und schälte so wild drauflos, dass von der Kartoffel nicht viel übrig blieb.

Hinter dem Schreibtisch des Amtes saß eine ältere Frau mit Nickelbrille und grauer Strickjacke. Steif, aber freundlich erklärte sie Alice, dass es sich um eine Inkognito-Adoption gehandelt hatte. »Das heißt, deine Herkunftsfamilie hat keinerlei Informationen über euch bekommen. Somit konnte deine biologische Mutter dich nicht kontaktieren.«

»Können wir denn umgekehrt meine Mutter kontaktieren?«, fragte Alice und vermied es dabei, ihre Adoptivmutter anzusehen, die neben ihr saß.

»Leider nein. Sie hat den eindeutigen Wunsch geäußert, anonym zu bleiben, das müssen wir respektieren.« Sie schaute Alice mitleidig über den Rand ihrer Brille an. »Da kann man nichts machen.«

Es klopfte an der Tür. Ein junger Mann mit einem Aktenberg kam herein. »Entschuldigen Sie die Störung. Wo sollen die hin, Frau Schiebler?«, fragte er und kämpfte mit den Ordnern auf dem Arm, die bedenklich schwankten.

»Die gehören ins Archiv. Warten Sie, ich helfe Ihnen. Einen Moment, ich bin gleich wieder bei Ihnen«, rief sie Alice und ihrer Mutter zu.

Sobald die Beamtin aus dem Zimmer war, sprang Alice auf und umrundete den Schreibtisch. Zielsicher griff sie nach der Maus und öffnete das Dokument, das Frau Schiebler gerade geschlossen hatte.

»Was machst du da?«, fragte ihre Mutter entsetzt, aber Alice ignorierte sie. Schnell scrollte sie den Bildschirm entlang, bis sie fand, was sie suchte: Den Namen ihrer biologischen Mutter. Gerne hätte sie noch mehr in dem Bericht gelesen, aber sie hörte, wie sich Schritte näherten. Sie schloss das Dokument und sprang auf ihren Stuhl, gerade rechtzeitig, bevor Frau Schiebler das Zimmer betrat.

Nun stand ihre Mutter hektisch auf, Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Wir machen uns jetzt wieder auf den Heimweg.«

Frau Schiebler schob sich ihre heruntergerutschte Brille wieder auf die Nase und betrachtete sie skeptisch. »Ich schicke Ihnen alle Berichte zu, die wir herausgeben dürfen, Frau Winkler.«

Sie beeilten sich, den langen Flur zu durchqueren, und hetzten über den Parkplatz, bis sie ihr Auto erreichten. Die Fenster des grauen Betongebäudes schienen sie vorwurfsvoll anzustarren, und Alice sank tiefer in ihren Sitz, als könnte sie sich dadurch unsichtbar machen. Erst als sie die Kreuzung zur Hauptstraße hinter sich gelassen hatten, stieß ihre Mutter einen Seufzer der Erleichterung aus.

»Alice, die hätten uns fast erwischt. Das war echt leichtsinnig.«

»Mag sein. Aber was wäre das Schlimmste, das hätte passieren können?«

»Du bist ein Dickkopf.« Sie fuhr um eine weitere Ecke, hielt an einer Eisdiele und stellte den Motor ab. »Und? Was hast du herausgefunden?«

»Sie heißt Andrea Müller.«

»Oh.«

»Ja, ich weiß. Ein häufiger Name. Das macht es nicht leichter, sie zu finden. Aber ich habe auch den Namen der Klinik gelesen, in der ich geboren wurde. Es ist das städtische Marienkrankenhaus in Kronstadt.«

Die Informationen brachten Alice nicht wirklich weiter, aber zwei Tage später kam die versprochene E-Mail von Frau Schiebler. Und die enthielt den anonymisierten Adoptionsbericht. Alices Vater war als unbekannt eingetragen worden, aber an einer Stelle hatte ihre leibliche Mutter erwähnt, dass es ein Reitlehrer aus dem Taunus gewesen sein konnte, den ihre Mutter auf einem Hoffest kennengelernt hatte.

Alice machte sich auf die Suche. Es gab tatsächlich unzählige Frauen mit dem Namen »Andrea Müller« und es war hoffnungslos, die Richtige zu finden. Also konzentrierte sie sich erst mal auf ihren Vater.

Ganze Nächte verbrachte sie vor dem Rechner, die Neugier stachelte sie an und weckte ihren Kampfgeist. Akribisch durchpflügte sie sämtliche Internetseiten, die etwas mit Pferden im Taunus zu tun hatten, sie schaute sich Profile von allen möglichen Reitlehrern in den sozialen Netzwerken an und wertete ihre Informationen aus. Ein paar Mal war sie kurz davor aufzugeben. Doch dann, mitten in der Nacht, wurde sie endlich fündig. Auf Facebook entdeckte sie das Profil eines Mannes namens »Oliver Bernstein«, der unweit von Kronstadt einen Reiterhof führte. Das Foto zeigte einen attraktiven Mann Anfang vierzig mit blauen Augen und blonden Haaren. Er postete wenig, teilte aber gerne Artikel zum Thema Dressur und Pferdetraining. Und das, was Alice plötzlich wissen ließ, dass dies ihr Vater sein musste, waren das schmale Gesicht und die Grübchen auf den Wangen, nur fehlten ihm die Sommersprossen, die ihre eigene Nase zierten.

Wie erstarrt schaute Alice auf den Bildschirm und betrachtete ihren Vater, einen Kloß im Hals und tausend Fragen im Kopf.

Drei Monate später.

Die Regionalbahn hielt an jedem Bahnhof, so klein er auch sein mochte. Alice schaute aus dem Fenster und die Bilder zogen an ihr vorbei wie Fantasiegestalten, die aus dem Nichts auftauchten, um kurz darauf wieder im Schatten zu verschwinden. Grüne Landschaften, unterbrochen von Dörfern und Wäldern, aneinandergereiht wie Perlen auf einer endlosen Kette. In einer Stunde würde sie ihrem Vater gegenüberstehen. Einem Mann, von dem sie ihr ganzes Leben nichts gewusst und mit dem sie bis jetzt nur einige Male telefoniert hatte.

Alice fröstelte und sie zog die Jacke enger um sich. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und obwohl der Sommer fast seinen Zenit erreicht hatte, fror sie bitterlich. Sie war schon immer eine Frostbeule gewesen, aber diese Kälte kam von innen. Nervös knibbelte sie am Lack des Fensterbrettes herum, die Warterei machte sie noch verrückt.

Ihr Vater war aus allen Wolken gefallen, als sie ihn vor drei Monaten das erste Mal anrief. Er wusste nichts von ihr, erinnerte sich aber an einen One-Night-Stand nach einem Sommerfest. Dann kam der Vaterschaftstest. Positiv.

Oliver lud sie ein, die Ferien bei ihm zu verbringen, und nach langen Gesprächen stimmte Tina der Einladung zu.

Alice hatte darauf bestanden, ihrem Vater allein gegen-überzutreten, aber jetzt, wo es so weit war, zweifelte sie an ihrem Entschluss. Vielleicht erhoffte er sich etwas Besonderes, und dann kam nur sie – ein eigenwilliger Teenager, der seine Hobbys wie Unterhemden wechselte. Die Erinnerung an ihre Voltigier-Gruppe kam hoch, die einzige echte Leidenschaft, die sie je gehabt hatte. Sie hatte es bis zur Leistungsklasse L geschafft, bis zu dem Unfall vor zwei Jahren. Dass ihr Vater ausgerechnet einen Reiterhof besitzen musste, kam ihr vor wie Hohn. Sie hatte sich eigentlich geschworen, sich nie wieder mit Pferden auseinanderzusetzen.

Der Zug wurde langsamer und fuhr in einen kleinen Bahnhof ein. Auf einer Weide hinter den Gleisen sah Alice ein paar Stuten mit ihren Fohlen stehen und ihr wurde gleichzeitig warm und kalt ums Herz.

»Waldbuchenheide« stand auf dem breiten Bahnhofsschild und Alice sprang auf. Das war ihre Station. Hektisch wuchtete sie ihren Koffer runter und zog ihn zum Ausgang. Die Türen öffneten sich und gespannt trat sie hinaus.

Kapitel 2

Auf dem Bahnsteig stand nur ein einziger Mann, aber selbst wenn hier Hunderte von Personen gestanden hätten, hätte Alice ihren Vater sofort erkannt. Er sah genauso aus wie auf den Fotos, und alles an ihm erinnerte sie an sich selbst: das schmale Gesicht, die aufrechte Haltung, die sportliche Statur.

Mit schnellem Schritt kam er auf Alice zu, ein Lächeln so breit, dass es fast die Ohrenspitzen erreichte.

»Hallo, Alice!«, rief er ihr fröhlich zu. »Toll, dass du da bist.«

»Hallo, Oliver. Schön, dich kennenzulernen.« Unsicher stellte Alice ihren Koffer ab und hielt ihm höflich die Hand hin.

Oliver aber breitete die Arme aus und zog sie stürmisch an sich. Er drückte ihr fast die Luft ab, dabei grunzte er ein fröhliches: »Willkommen in Waldbuchenheide im wunderschönen Taunus!«

Er schob sie etwas von sich weg, sah sie an und umarmte sie wieder, seine Augen wirkten nun wässrig und er lachte: »’tschuldigung, ich hab nahe am Wasser gebaut. Ich freue mich einfach unglaublich, dich zu sehen!«

Jetzt löste sich auch Alices innere Anspannung, Tränen schossen ihr in die Augen und sie vergrub ihren Kopf an seiner Schulter.

»Ist gut, mein Kind«, beruhigte Oliver sie und tätschelte ihr vorsichtig den Rücken, aber Alice hörte, wie auch seine Stimme zitterte.

Nach einer Weile lösten sie sich voneinander und betrachteten sich. Er hatte ein einnehmendes Lächeln, verstärkt durch die Grübchen auf seiner Wange. Nur sein Geruch war ihr sehr fremd, eine Mischung aus Heu und einem Aftershave mit Meeresaroma.

»Wir werden bestimmt eine klasse Zeit miteinander haben! Hattest du eine gute Fahrt?«

»Ja, lief alles glatt.«

»Dann ist ja gut. Komm, wir bringen dich auf den Hof. Da können wir in Ruhe bei einem Abendessen reden. Es gibt so vieles zu besprechen.« Er nahm ihren Koffer und wies Richtung Ausgang. Draußen wartete ein Jeep auf sie.

»Coole Karre«, murmelte Alice anerkennend und strich mit dem Zeigefinger über den schwarzen Lack, auf dem allerdings viele Schlammspritzer zu sehen waren.

»Der ist praktisch, ich brauche ein Fahrzeug mit Allrad-Antrieb bei den Straßen hier.«

Kurz darauf verstand Alice, was ihr Vater damit gemeint hatte. Sobald sie den kleinen Ort hinter sich gelassen hatten, bog er auf einen staubigen Feldweg ab. Der Wagen rumpelte über den unebenen Boden, führte sie an eingezäunten Weiden vorbei, voneinander abgetrennt durch weiß gestrichene Holzzäune. Sie näherten sich einer Ansammlung von Gebäuden und passierten ein Holzgatter, an dem ein Willkommensschild hing. Kurz darauf hielt Oliver vor einem alten Steinhaus, dessen Fassade mit Moos bewachsen war.

»Willkommen auf Gut Buchenberg!«, sagte er stolz. Die Anlage des Reiterhofs war gepflegt und hübsch angelegt. Der Geruch von Heu, Stroh und Pferden stieg in ihre Nase und weckte Erinnerungen. Die meisten davon waren sehr schön, aber es gab eben die Sache mit dem Voltigieren, und die legte sich wie ein Schatten über alle anderen.

»Die meisten meiner Pferde sind für die Dressur ausgebildet«, erzählte Oliver, während er ihren Koffer aus dem Wagen hievte. »Früher bin ich auch viel gesprungen, aber die wilden Zeiten sind vorbei.«

»Von Dressur verstehe ich ungefähr so viel wie von Raketentechnik.« Alice hatte vorsichtshalber bisher noch nicht erwähnt, dass sie gut reiten konnte. Aber auch wenn sie zwischen den Voltigierstunden normalen Reitunterricht genommen hatte – die Dressur war ihr wirklich völlig fremd. Sie drehte sich einmal im Kreis und sog die Atmosphäre des Reiterhofs in sich auf.

Am liebsten hätte sie Gut Buchenberg sofort erkundet, aber Oliver steuerte direkt auf das Haus zu.

»Komm rein, du hast sicher Hunger.« Er hielt ihr die schwere Eichentür auf. Innen war das Haus einfach, aber gemütlich eingerichtet. Antike Echtholzmöbel, dicke weiche Teppiche. Auf mehreren Kommoden entdeckte Alice Pokale und Medaillen.

Im Gästezimmer stand ein modernes Doppelbett mit einem hübschen weißen Nachttisch mit Lampe, ein Schrank mit Spiegeltüren und ein kleiner Schreibtisch. Eine schmale Tür führte in ein eigenes Bad. Die Wände des Zimmers leuchteten in einem warmen Pfirsichton und waren mit geschmackvollen Schwarz-weiß-Fotografien von Pferden verziert. Ein leichter Farbgeruch lag in der Luft.

»Komm einfach nach vorne, wenn du dich eingerichtet hast«, sagte Oliver und verließ den Raum.

Alice kramte ihr Ladekabel aus dem Koffer und steckte es in ihr Handy. Pflichtbewusst schickte sie ihrer Mutter eine Nachricht, machte sich frisch und ging zurück ins Esszimmer, in dem ein riesiger Tisch mit einer karierten Tischdecke stand. Nebenan in der Küche polterte es.

»Was für ein Mist!«, hörte sie ihren Vater schimpfen, und für einen Moment blieb ihr Herz stehen, bis er weiter-sprach: »Das verflixte Ding treibt mich noch in den Wahnsinn.«

Eine andere Stimme sagte: »Das ist jetzt das dritte Mal in zwei Wochen, dass der Ofen kaputt ist, vielleicht ist es an der Zeit, einen neuen anzuschaffen?«

»Nein, das repariere ich morgen selbst. Liegt bestimmt an den Heizelementen.«

»Gut, wie du meinst. Ich habe improvisiert und euer Abendessen draußen vorbereitet.« Im Kücheneingang erschien ein junger Mann, etwa in Alices Alter. Mit ihm schwappte ein leichter Geruch von Zimt und Nelken herein.

»Hi, ich bin Ben«, sagte er mit amerikanischem Akzent.

Alice musterte den Jungen neugierig. Er hatte kurzes braunes Haar, funkelnde grüne Augen und einen verwegenen Gesichtsausdruck. Plötzlich fühlte sie sich in ihrem schicken Outfit unwohl, das so gar nicht in diese rustikale Umgebung passte.

Ben trug einen beigefarbenen Cowboyhut, dessen Krempe vorne schlaff nach unten fiel und seine halbe Stirn bedeckte. Ihr Blick wanderte an ihm hinunter und blieb an seinen quietschgelben Gummistiefeln haften.

»Ich … ich bin Alice«, stotterte sie, von dem knalligen Schuhwerk aus dem Konzept gebracht.

»Schöner Name.«

»Danke. Den habe ich zum Geburtstag bekommen.«

Ben grinste sie breit an. »Schlagfertig bist du also auch. Essen ist fertig. Kommst du mit raus?«

Verdutzt folgte sie Ben und seinem Zimtduft auf den dunklen Hof. Dort war ein Holzkohlegrill aufgebaut, davor standen eine Bank, ein Klappstuhl und ein winziger Tisch.

»Eigentlich sollte es Lasagne und Salat geben, aber ohne Ofen ist das schwierig. Jetzt gibt es gegrillte Maiskolben und würziges Borstenvieh im Naturdarm.«

»Wie bitte?«

»Würstchen halt.« Ben lachte. »Sorry, war sparwitzig. Und solltest du dich über meinen starken Akzent wundern: Ich komme aus Kalifornien. Aber meine Großeltern sind in den Achtzigern nach Frankfurt ausgewandert. Deshalb sprechen wir alle ganz gut deutsch. Dein Vater hat dir bestimmt erzählt, dass ich eine Ausbildung zum Pferdewirt mache.«

Der Klang seiner Stimme hatte etwas Erdiges, fast wie ein Waldboden voller Tannennadeln, weich und dennoch robust. Verlegen schaute Alice zu ihrem Vater hinüber, der mit einer Grillzange in der Glut herumstocherte, und sagte ausweichend: »Hat er zwar nicht, aber dann werden wir uns ja jetzt öfter sehen.« Sie verschwieg, wie sehr sie Kalifornien liebte: Ein Dutzend ihrer Pferdebücher spielten dort und auch die Ranch des sagenhaften Pferdeflüsterers Monty Roberts war an der Westküste zu finden.

Außer der glühenden Kohle war es dunkel auf dem Hof. Hier und da scharrte ein Pferd im Stall, mal raschelte es in einer der Scheunen oder ein Fensterladen klackerte.

Alice fühlte sich wie in einer anderen Welt voller Rätsel und Unbekanntem. Trotzdem übten die frische kalte Luft, die glitzernden Sterne und die alten Gebäude eine tiefe Faszination auf sie aus. Und Bens Anwesenheit verunsicherte sie auf eine Art, die sie sich nicht erklären konnte.

»Kommt Erich heute nicht mehr?«, fragte dieser gerade, als Oliver sich zu ihnen setzte, und schaufelte sich ein weiteres Würstchen auf den Teller.

Oliver hob eine Augenbraue und gab Ben ein unmerkliches Zeichen. »Nein, er hat keine Zeit.«

Alice merkte, dass ihm die Frage unangenehm war und wurde neugierig. »Wer ist Erich?«

»Mein Vater.«

»Also mein Opa? Lebt er auch hier?«

»Ja. Nein.« Oliver stocherte in seiner Wurst und ein Stückchen rutschte ihm vom Teller. »Das heißt, er lebt momentan in einer Pension im Dorf.«

Olivers plötzliche Einsilbigkeit war bedrückend, und Alice entschied, nicht weiter nachzuhaken. Außerdem fühlte sie sich von Ben beobachtet, der immer wieder verstohlen zu ihr herüberschielte. Ein bisschen kam er ihr vor wie ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit. Seine Gummistiefel und der Cowboyhut trotzten jeder Mode. Aber sie passten in die Umgebung und er sah damit lässig aus.

Alice musterte Oliver. Sie hatte ihn auf Anhieb sympathisch gefunden, mochte seine angenehm ruhige Art und die schöne tiefe Stimme.

»Den Hof und die Pferde zeige ich dir erst morgen Mittag«, durchbrach Oliver die Stille. »Denn wir müssen früh raus, zu einer Auktion. Dort werden ein paar gute Pferde versteigert, die ich im Schulbetrieb einsetzen könnte. Und ich dachte, es würde dich vielleicht auch interessieren. Das geht doch für dich in Ordnung, oder? Falls nicht, kann ich immer noch absagen.« Und als ob es ein verlockendes Argument wäre, schob er hinterher: »Ben kommt auch mit.«

Alice runzelte die Stirn, sie hätte ihren Vater lieber erst mal für sich gehabt, und der Gedanke, dass Ben wieder dabei war, irritierte sie. Trotzdem riss sie sich zusammen, sie wollte nicht gleich am ersten Tag der Spielverderber sein.

»Natürlich«, sagte sie, »ist gar kein Problem. Ich komme gerne mit.«

»Tina meinte, du hättest früher mal geritten.«

Alice wurde rot, sie hatte das Thema unter den Tisch fallen lassen wollen. Zumindest vorerst.

»Ja, schon. Ein wenig. Aber das ist lange her«, antwortete sie ausweichend. »Seitdem hatte ich mit Pferden nicht mehr viel zu tun.«

Ben wischte sich mit dem Ärmel über den Mund und grinste.

»Das werden wir hier schnell ändern.« Er boxte sie kumpelhaft in die Seite, aber Alice zuckte bei der überraschenden Berührung zusammen. Ihre Haut kribbelte dort, wo er sie berührt hatte. Oliver hatte eine Anti-Mücken-Kerze auf den Tisch gestellt, die im Wind flackerte und die Schatten in Bens Gesicht noch dunkler erscheinen ließ. Das gab ihm etwas Geheimnisvolles, das gleichzeitig unnahbar wirkte.

Er lehnte sich im Klappstuhl zurück und schaute in den Himmel, und Alice tat es ihm nach. Tausende von Sternen leuchteten über ihnen wie funkelnde Diamanten, sie glitzerten hier um einiges heller als in Mühlstadt. Unter ihnen konnte sie die Sternbilder Kassiopeia und den Großen Wagen erkennen.

Ben seufzte. »Schön, nicht? Aber am Nachthimmel erkenne ich immer, dass ich nicht zu Hause bin.«

Alice genoss den Anblick des ungetrübten Firmaments. Im Sommer saß sie abends oft mit ihrer Mutter auf dem Balkon und sie philosophierten über alles, was ihnen einfiel.

»Macht das denn einen Unterschied? Kalifornien liegt doch auch auf der Nordhalbkugel.«

»Ja, aber nicht auf derselben Höhe. Es ist halt alles etwas anders.« Er deutete auf eine Anordnung von Sternen, die knapp über dem Horizont lag. »Das ist der Schütze. In Kalifornien steht er im Sommer hoch am Himmel und ist gut zu sehen.«

Alice beobachtete Bens Blick, als er auf die Sterne zeigte und weitere Unterschiede erklärte. So jemanden wie ihn hatte sie noch nie getroffen. Er war gleichzeitig bodenständig und lässig, aber eben nicht oberflächlich und leicht durchschaubar, wie die Jungs in ihrer Klasse. Und er liebte die Natur und Tiere ebenso wie sie.

Später brachte Oliver Alice auf ihr Zimmer. »Handtücher liegen im Bad für dich bereit und im Nachttisch ist eine weitere Wasserflasche. Brauchst du sonst noch etwas?«

Alice schüttelte den Kopf. »Danke, ich glaube, ich hab alles.«

»Ich freue mich wirklich sehr, dass du hier bist.«

»Ja. Ich mich auch.«

Oliver blickte sie unschlüssig an, hinter seinem freundlichen Lächeln lag ein Schatten, als bedrückte ihn etwas. »Ich hätte nie und nimmer damit gerechnet, dass ich eine Tochter habe.«

Alice horchte auf, etwas an der Art, wie er das sagte, klang gestellt, so als hätte er eigentlich etwas ganz anderes sagen wollen.

Nachts lag Alice noch lange wach und dachte über die erste Begegnung mit Oliver nach. Er war ihr vertraut und fremd zugleich. Dennoch fiel es ihr schwer, sich fallen zu lassen. Seit die Sache mit dem Voltigieren passiert war, misstraute sie allem und jedem. Und nachdem sie von ihrer Adoption erfahren hatte, war auch das letzte bisschen Vertrauen in andere verflogen.

Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten das Gras der taunassen Weiden und ließen den Reiterhof in einem unwirklichen Licht erscheinen.

Neben dem hübschen alten Fachwerkhaus standen die Scheune und ein Hühnerstall. Daneben lagen im rechten Winkel die Reitställe, aus denen es laut wieherte und dumpfes Wummern ertönte, das entfernt an Donnergrollen erinnerte.

»Was ist das?«, fragte Alice überrascht.

»Das ist Gordon, ein Hannoveranerwallach. Er kennt seine Frühstückszeit genau und wird unruhig, wenn sich das Futter verzögert«, erklärte Ben, hinter einem halben Heuballen versteckt, den er vor sich trug. »Normalerweise bin ich eine halbe Stunde früher dran. Gordon war ein schwieriger Fall, dein Vater hat ihn auch auf einer Auktion ersteigert, damals galt er als Härtefall. Unter dem Sattel ist er aber ein Traum. Hier, halt das mal bitte.« Mit diesen Worten presste er Alice den gigantischen Heuberg in die Arme.

Krampfhaft versuchte sie, gleichzeitig das Heu festzuhalten und sich nicht von den Halmen piken zu lassen. Stocksteif wartete sie, bis Ben ihr den schweren Haufen wieder abnahm. Gemeinsam fütterten sie Gordon und liefen wieder auf den Hof, als Oliver den Jeep vorfuhr, der einen Pferdehänger hinter sich herzog. Sein Fenster stand halb offen. »Seid ihr abfahrbereit?«

»Ja«, rief Alice, und Ben rief zeitgleich: »Nein.«

»Was denn nun?«

Ben wies in Richtung der Hühner. »Gebt mir eine Minute, ich streu noch schnell die Körner aus, damit Findus nicht wieder tagelang schlecht gelaunt ist.«

Alice öffnete die Tür zur Rückbank des Jeeps, aber ihr Vater stoppte sie. »Setz dich doch neben mich, Alice.«

Sie beobachteten Ben, der zwischen Scheune und Hühnerstall hin und her lief.

»Wer ist Findus?«

»Das ist mein Barnevelder-Hahn, der uns alle pünktlich zwei Stunden vor Sonnenaufgang weckt. Hast du ihn heute Morgen nicht gehört?«

Alice schüttelte den Kopf. Wenn sie einmal schlief, schlief sie. Da konnte es gewittern oder Steine regnen, so leicht weckte sie nichts auf. Das Einschlafen hingegen war eine andere Sache.

»Findus ist ein richtig guter Aufpasser. Aber nimm dich vor ihm in Acht, wenn er schlechte Laune hat. Dann fängt er an, meine Reitschüler über den Hof zu jagen.«

Alice beobachtete den imposanten Hahn, der so stolz vor seinen Hennen auf und ab spazierte, als gehörte ihm der Reiterhof.

»Ist komisch, nicht wahr?«, fragte Oliver.

»Na ja, sieht aus wie ein ganz normaler Hahn.«

»Nein, nicht Findus. Ich meine dich und mich. Geht dir das nicht auch so?«

»Doch, ich muss mich erst noch dran gewöhnen«, antwortete Alice und zog am Anschnallgurt, der sich verhakt hatte.

»Weißt du, ich habe die letzten fünfzehn Jahre damit verbracht, mir das hier aufzubauen.« Mit einer ausladenden Geste zeigte er auf die Gebäude vor ihm. »Gut Buchenberg ist mein Lebenswerk. Ich habe nie einen Gedanken an Familie verschwendet. Versteh mich nicht falsch, es ist nicht so, dass ich Kinder nicht mag, aber ich hatte einfach nie Zeit dafür, es gab auch so immer genug zu tun. Und außerdem fehlte mir die richtige Frau an meiner Seite.«

Alice beobachtete, wie Ben gehetzt mit einem Eimer aus der Scheune kam und auf die Hühner zusteuerte. Heute trug er Jeans zu dunkelbraunen Lederschuhen und ein eng anliegendes schwarz-weiß gesprenkeltes T-Shirt, das seinen muskulösen Oberkörper betonte.

»Meine Mum, Andrea, hast du nur einmal gesehen, richtig?«

Oliver seufzte. »Ja. Leider. Ich wünschte, ich könnte dir etwas mehr über sie erzählen, aber ich erinnere mich einfach nicht mehr richtig an sie. Ich habe sie mit meinem Kumpel Tammo auf einem Sommerfest getroffen und es war ein lustiger Abend. Deine Mutter sah gut aus, das weiß ich noch, sie war witzig und charmant. Und sie kam wie ich aus eher ärmlichen Verhältnissen. Ich …«

Da rannte Ben auf sie zu und sprang behände auf den Rücksitz.

Oliver unterbrach seinen Satz. »Später«, versprach er und löste die Handbremse.

Heute ließen sie den Feldweg links liegen und bogen auf eine geteerte Straße ab.

Oliver schaute in den Rückspiegel zu Ben und sagte: »Du solltest dir bei Gelegenheit mal richtig freinehmen. Du hast bis jetzt noch kein Wochenende freigehabt.«

»Nichts da. Bei meinen Eltern gab es auch nie frei. Auf einem Hof hält man zusammen, die Tiere haben schließlich auch kein Wochenende«, entgegnete Ben lachend, anscheinend immun gegen Olivers Stirnrunzeln. »Und außerdem arbeite ich gerne. Was soll ich auch sonst tun?«

»Na, vielleicht mal ins Dorf gehen zum Tanzen?«, schlug Oliver vor.

lich