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Das Buch

Fesselnde Romantasy in einer Welt voller Gefahren – ist Liebe stärker als der Feind?

Sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Lilly, Streetart-Künstlerin aus dem Trailer Park in Detroit und Jonah, Nerd und Bücherwurm aus dem eleganten Grosse Pointe Woods, und doch sind die beiden unzertrennlich. Während Lilly das Knistern zwischen ihnen gekonnt ignoriert, wünscht sich Jonah schon lange mehr. Und als die beiden eines Tages das Portal zu einer fremden Welt entdecken und in Willow landen, bekommt Jonah die Chance, Lillys Herz zu erobern. Dafür aber muss er erst ihr Leben retten, und das eigene …

Die Autorin

© privat

Kirsten Greco wurde in Iserlohn geboren und ist in Hagen aufgewachsen. Irgendwann hat sie das Schreib- und Reisefieber gepackt und bis heute nicht losgelassen. Ob quer durch Europa oder nach Australien, Bücher sind immer mitgereist, ebenso wie Papier und Stifte zum Ideen sammeln. Kurz vor der Jahrtausendwende ist sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern nach Michigan in die USA gezogen.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Kirsten Greco

Shine
Das Licht zwischen den Welten

Prolog

Zurückkehren und leben oder bleiben und sterben? Es will ihr kaum gelingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, doch der vertraute kräftige Druck im Rücken treibt sie voran. Verdammt, der Abschied bricht ihr das Herz! Ein letztes Mal noch das funkelnde Glänzen der Zweige bewundern … ein letztes Mal staunen, wie sich die Äste umeinanderwinden, miteinander verflechten, um plötzlich zu einem Tunnel aus goldenem Licht zu verschmelzen. Diese wenigen Sekunden will sie bewusst erleben. Der Druck nimmt zu, ihr bleibt nichts anderes übrig, als schneller zu laufen. Mit einem Mal wünscht sie sich nichts sehnlicher, als umzukehren. Zurück zur Magie, zurück zu den Menschen, die sie dort lieb gewonnen hat. Doch dieser kurze Weg führt nur in eine Richtung: hinaus in eine Welt, die sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hat … eine Welt, die sich verändert hat in all den Jahren. Ob sich das Bild immer noch dort befindet, wo es sich damals für sie geöffnet hat? Die Luft wird eng. Das Licht blendet sie, etwas raubt ihr den Atem. Jetzt! Gleich ist es so weit. Ein heftiger Stoß und sie landet hart auf dem Boden. Der Dachboden ihrer Eltern … sie hat nichts anderes erwartet. Keuchend dreht sie sich um. Sie kämpft den Impuls nieder, die Hand nach dem Ölgemälde mit dem magischen Baum auszustrecken, schließt erschöpft die Augen und hofft, dass die, die nach ihr kommen werden, die Kraft haben, Gillians Nachkommen zu trotzen. Der Gedanke, dass sie nicht die Letzte ist, beruhigt sie.

1

Lilly

Freiheit! In diesem Moment schmeckte sie köstlicher als Moms Brownies, duftete verführerischer als das sündhaft teure Parfum, das Jonah mir letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte, klang besser als Kurt Cobains Stimme und fühlte sich erfrischender an als der Maiwind, der gerade durch meine Haare wirbelte. Die Welle meiner Mitschüler erfasste mich und trug mich nach draußen. Noch nicht einmal Suzie Gibbons affektiertes Kichern konnte in diesem Moment das Glücksgefühl schmälern, ebenso wenig wie der sicher nicht unabsichtliche Rempler ihrer Freundin Marge. Ein letztes Mal lief ich über den hellbraunen Kopfsteinpflasterweg zwischen der großzügigen Parkanlage, bevor ich stehen blieb, auf die Wiese trat und mir einen Blick über die Schulter gönnte. Die Sonne stand hoch über dem roten riesigen Backsteingebäude, Strahlen glitten wie silberne Speere die grauen Giebel hinab. Als mich ein Lichtfetzen blendete, drehte ich mich entschieden um. Das war‘s! Nie wieder diese hässliche Schuluniform tragen, nie wieder das langweilige Geschwätz meiner Klassenkameraden ertragen, nie wieder durch die Gänge der exklusiven Eastside Academy hasten und darauf achten, bloß mit niemandem einen Streit anzufangen. Der allerletzte Schultag meines Lebens lag hinter mir. Freiheit! Nie wieder Highschool! Ich unterdrückte den Freudenschrei, der schon meine Kehle kitzelte, und sprang stattdessen stumm auf den Weg zurück – direkt vor Ben Flechters Füße.

„Ey, Goldberg. Kannst du nicht aufpassen?“

Er musterte mich abschätzig von oben bis unten und strich sich eine blonde Strähne aus der Stirn.

„Du kannst es wohl gar nicht abwarten, uns nicht mehr zu sehen.“ Die Betonung lag auf uns, denn das ich noch nie dazugehört hatte, war nichts Neues. Binnen Sekunden hatte er mich aus der Freiheitseuphorie gerissen. Dabei hatte ich mir so geschworen, mir von niemandem diesen besonderen Tag versauen zu lassen. Ausgerechnet Fletcher! Reich, blond, muskulös, dumm. Der Schwarm aller Suzies und Marges. Lässig strich er sich ein zweites Mal die halblangen Haare aus dem Gesicht.

„Sogar am letzten Schultag muss man sich vor dir in Acht nehmen, Goldberg. Sag bloß, das war die Spur eines Lächelns in deinem Gesicht vorhin?“

„Ey, Fletcher“, äffte ich ihn nach und trat einen Schritt nach vorn. „Dir wird glatt was fehlen, wenn du dich nicht mehr täglich über mich ärgern kannst.“ Ich zog eine finstere Grimasse und freute mich, dass er zurückwich. „Verschwinde.“

„Keine Sorge. Nichts lieber als das.“ Er hielt inne, garantiert um sicherzugehen, dass seine Groupies diesen Schlagabtausch auch nicht verpassten. Und tatsächlich, hinter ihm versammelte sich binnen kürzester Zeit seine Fangemeinde. Marge zückte ihr Handy und begann zu filmen.

Ich tat ihr den Gefallen und schenkte ihr ein falsches Grinsen, um sie nicht zu enttäuschen. Also gut … ein letztes Mal, Fletcher. Doch bevor ich loslegen konnte, strahlte Ben in die Kamera.

„Nur für den Fall, dass du es immer noch nicht geschnallt hast, Lilly: Du brauchst schon ein bisschen mehr als ein paar gute Noten, um dazuzugehören. Aber keine Sorge, im College findet sich sicher gleichgesinntes Trailerpark-Pack.“

Mit einem Lächeln schluckte ich den bitteren Geschmack im Mund hinunter.

„… und für dich ganz bestimmt genug neue Mäuschen, die dich trotz deines Erbsenhirns anhimmeln werden.“ Ich zeigte Marge den Stinkefinger, bevor ich fortfuhr. „… und nur für den Fall, dass du es noch nicht geschnallt hast, Benny: Dein Daddy konnte sein Geld zwar für die Zulassung zu deinem exklusiven Privatcollege verschwenden, aber Verstand oder gar Intelligenz kann man eben nicht erkaufen. Have a nice life.“

Ich warf ihm einen letzten vernichtenden Blick zu und wandte mich an Marge.

„Hast du das?“

Bens Fan Nummer eins hatte zwar das Handy immer noch auf uns gerichtet, betrachtete aber inzwischen angestrengt ihre Fußspitzen. Ihr war die Auseinandersetzung sichtlich peinlich, das puterrote Gesicht passte gerade ausgezeichnet zu den bordeauxrot gefärbten Haaren.

Ich zuckte mit den Achseln, kehrte ihr und Ben den Rücken und setzte meinen Weg wortlos in Richtung Parkplatz fort.

Dieses Duell hatte ich gewonnen, doch die überschäumende Freude versickerte gerade irgendwo zwischen den Ritzen des Kopfsteinpflasters. Verfluchte Academy! Hätte Mom mich damals nicht mit Tränen in den Augen darum gebeten, das Stipendium für die beste Schule der Stadt anzunehmen, hätte ich diese Zeit in der durchschnittlichen Highschool um die Ecke abgesessen und mich nicht vier Jahre lang mit verwöhnten High-Society-Kids herumplagen müssen. Doch meine Eltern wollten sichergehen, dass mir der Besuch der Eliteschule Türen zu guten Colleges öffnen und ich für alle Zeiten auf niemanden angewiesen sein würde. Und sie hatten recht gehabt. In ein paar Wochen würde ich mein Medizinstudium in einem der besten Colleges Amerikas beginnen. ALS-Forschung, Amyotrophe Lateralsklerose, eine degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems … etwas anderes kam für mich nicht infrage. Dads Krankheit hatte nicht nur unsere Ersparnisse, sondern auch Moms Seelenfrieden aufgefressen. Und nicht nur das … auch unser hübsches, kleines Haus in Royal Oak war den Arztrechnungen zum Opfer gefallen. Seit einer gefühlten Ewigkeit wohnten wir deshalb in dieser schrecklichen Wohnschachtel am Stadtrand Detroits. Ich hasste den Trailerpark über alles.

Amyotrophe Lateralsklerose … Die Lebenserwartung ab Diagnosestellung betrug im Durchschnitt dreieinhalb Jahre. Ob ich dankbar sein musste, dass sich Dad bereits seit knapp fünf Jahren quälte? Dahinsiechte.

„Kopf hoch, Lillian Goldberg.“

Ich fuhr zusammen. Jonah! Ich blieb abrupt stehen und drehte mich um. Täglich trafen wir uns nach Schulschluss und liefen gemeinsam zu seinem altersschwachen grünen Mazda und ausgerechnet heute hatte ich meinen besten Freund vergessen. Jonah Cooper. Leidensgenosse, Nerd, Klassenbester … Doch nicht nur sein messerscharfer Verstand imponierte mir, in seiner Brust schlug außerdem das größte Herz, das man sich vorstellen konnte.

„Ich suche dich schon überall. Gerade am letzten Tag läufst du mir davon?“ Er runzelte die Stirn und griff zum ersten Mal auf dem Schulgelände nach meiner Hand.

Ich ignorierte meinen Kopf, der mich mahnte, sie zurückzuziehen. Wir waren Freunde. Die besten. Nicht mehr und nicht weniger.

„Weißt du noch?“ Er grinste und zog mich sanft hinter sich her, während ich den vorbeilaufenden Schülern finstere Blicke zuwarf.

„Was?“ Bens gönnerhaftes Grinsen hatte mich mehr geärgert, als ich mir eingestehen wollte. Verdammt, ich war immer noch sauer.

„Als du vor vier Jahren vor der Schultür gestanden hast. Da hast du genauso traurig ausgesehen wie gerade.“ Er blieb stehen und musterte mich kritisch. „Ist was passiert?“

„Ben. Wie immer. Aber ich habe gewonnen.“ Ich atmete tief durch und die Wut verrauchte langsam.

„Klar hast du gewonnen.“ Er hob den rechten Daumen, ohne die linke Hand von meiner zu lösen. „Also … nun sag schon, weißt du noch?“

„Ich bin Jonah und habe genauso viel Schiss wie du …“

„Du erinnerst dich an meine Worte?“

Mein bester Freund schenkte mir ein typisches Jonah-Lächeln. Eines, das mein frostiges Herz wie so oft augenblicklich erwärmte. Es passte so wunderbar zu den dunklen Augen und zu den zwei Grübchen in seinen kaffeebraunen Wangen.

„Natürlich. Was denkst du denn?“

Als wäre es gestern gewesen … Plötzlich hatte er neben mir gestanden, als ich mit Tränen kämpfend vor der Schultür mit dem Schicksal gehadert hatte. Mein erster Academy-Tag war auch der Tag gewesen, an dem Dad aufgehört hatte, sich gegen den Rollstuhl zu wehren. Inzwischen verließ er sein Bett kaum noch, wurde mit einer Ernährungssonde versorgt, unterhielt sich mit uns über das sündhaft teure Augensteuerungsgerät am Computer.

Jonah hatte mir eine Packung Taschentücher in die Hand gedrückt und sie mir samt seiner Freundschaft geschenkt. Eine Freundschaft, die mich vier lange Highschool-Jahre irgendwie überstehen ließ. Eine Freundschaft, die mir wichtiger war als das zweitbeste Abschlusszeugnis der Academy. Eine Freundschaft, die für immer halten würde. Jonah war der Erste, der mir nach dem Aufstehen mit einer fröhlichen SMS Guten Morgen wünschte und der Letzte, der abends Gute Nacht simste.

„Als wäre es gestern gewesen“, wiederholte er meine Gedanken.

Ich wunderte mich nicht mehr darüber. Wir verstanden uns blind. Und das, obwohl wir eigentlich wie Feuer und Eis waren. Während ich Konflikte nun wirklich nicht mied, ging er jedem Streit aus dem Weg. Wir waren wie Heiß und Kalt. Wie Schwarz und Weiß. Das Letztere sogar sprichwörtlich.

Jonah war einen Kopf größer als ich, sportlich, hatte einen schwarzen Wuschelkopf und ein freundliches Gesicht mit warmen dunkelbraunen Augen. Ich hasste Sport, schenkte niemandem in der Academy ein Lächeln und fand, Freundlichkeit hatten die wenigsten hier verdient. Doch eines hatten wir gemeinsam: Wir waren vom ersten Tag Academy-Außenseiter gewesen.

„Ob es uns fehlen wird?“ Jonah zwinkerte mir zu.

„Was? Die Schule? Ben? Ganz bestimmt nicht!“, erklärte ich entschieden. „Freiheit!“

„Freiheit!“, bestätigte Jonah und riss triumphierend meinen Arm hoch.

„Hey, Cooper.“

Ich fuhr zusammen. Du meine Güte. Ben Fletcher. Schon wieder. Ich dachte, ich hätte ihn vergrault mit meinem Mörderblick. Musste er zum krönenden Abschluss tatsächlich auch noch Jonah anblaffen?

„Was willst du denn schon wieder?“ Ich zog meine Hand aus Jonahs und blitzte ihn an.

„Hallo Ben. Was gibt‘s?“, erkundigte sich Jonah freundlich.

Eine Spur zu freundlich …

„Händchen halten am letzten Schultag? Ich dachte, ihr wärt nur Freunde.“

„Die besten“, entgegnete Jonah. „Was dagegen?“

Huch. So kannte ich den allzeit höflichen Jonah Cooper gar nicht. Der drohende Unterton war unüberhörbar gewesen.

„Manche mögen eben kleine schlecht gelaunte Kratzbürsten. Vielleicht lächelt sie ja, wenn du sie …“

Weiter kam er nicht. Die schwarze Faust traf Bens Kinn, bevor er sich ducken konnte. Er fiel zwar nicht, strauchelte aber und fing sich erst in letzter Sekunde wieder.

„Verzieh dich“, zischte Jonah, griff demonstrativ ein zweites Mal nach meiner Hand.

Über einen Schneesturm im Hochsommer hätte ich mich weniger gewundert als über das, was gerade geschehen war. Jonah prügelte sich nicht. Nie!

Und Ben war entweder genauso überrascht wie ich, oder Jonah Cooper, der freundlichste, hilfsbereiteste Außenseiter der Academy hatte ihm tatsächlich gerade so etwas wie Angst eingejagt, denn er drehte sich um und entfernte sich leise fluchend.

Schweigend erreichten wir seinen grünen Mazda, der auch heute so gar nicht zwischen die vielen Luxusautos passen wollte. Schüler der Eastside Academy fuhren selbst oder wurden abgeholt … von Eltern oder Chauffeuren. Doch Jonah hatte an Wochenenden und während der Schulferien im Home Depot an der Kasse gestanden, bis er genug zusammengespart hatte. Nicht, dass seine Eltern ihm keinen Audi oder BMW kaufen konnten. Das bekannte Bauunternehmer-Ehepaar hätte ihm mit Leichtigkeit jährlich einen neuen Schlitten spendieren können. Doch weder sie noch Jonah wollten das. Ich entzog mich seinem sanften Griff, lehnte mich gegen die Motorhaube und schüttelte verwirrt den Kopf.

„Nun komm schon, Lilly. Ist ja nichts passiert.“

Er öffnete die Tür und schob mich auf den Beifahrersitz.

„Nichts passiert? Du hast Ben die Faust ins Gesicht gehauen“, rief ich ihm hinterher, als er das Auto umrundete, und zog die Tür zu.

Mit einem schiefen Grinsen und stolzgeschwellter Brust setzte er sich hinters Steuer, schob den Zündschlüssel ins Schloss und ließ den Motor aufheulen.

„Gut gemacht!“ Ein bisschen Lob hatte er auf jeden Fall verdient.

„Ich weiß. Hätte ich längst tun sollen.“ Damit war für ihn das Thema offenbar abgeschlossen.

„Das war‘s also. In ein paar Wochen bin ich schon in Afrika.“ Jonah reihte sich in die Autoschlange ein und seufzte leise. Seine Stimme klang ein wenig belegt und das lag nicht an dem Kinnhaken. Auch mir wurde plötzlich eng ums Herz.

„Ja, das war‘s.“

Freiheit. Hatte ich mich vor einigen Minuten tatsächlich darüber gefreut? Hatte ich vergessen, dass sie einen Preis hatte? In acht Wochen würde Jonah sich für zwölf lange Monate verdrücken. Er würde ein soziales Jahr in Kenia einlegen, bei Freunden seines Vaters wohnen und dort in einer Schule arbeiten. Und ich würde in der Nähe meiner Eltern bleiben, denn die beiden brauchten mich mehr als Jonah. Aber ich … ich brauchte Jonah. Ohne ihn würde der graue Alltag noch grauer werden. Er war der Farbklecks in meinem beschissenen Leben. Er füllte die blasse Lilly-Lebensleinwand täglich mit allen Farben des Regenbogens.

„Und ich darf mich in ein paar Wochen auf der University of Michigan mit neuen Bens und Marges herumschlagen“, sagte ich und strengte mich sehr an, wenigstens einigermaßen fröhlich zu klingen.

Er durfte mich einfach nicht verlassen. Seit Wochen brütete ich über einem Plan, um genau das zu verhindern. Ein Plan, den ich heute noch in die Tat umsetzen würde. Heute würde ich ihn meinen Eltern vorstellen. Genau das hatte ich nämlich bis jetzt vermieden. Jonah kannte Mom und Dad nur vom Erzählen und von den Fotos auf meinem Handy. Nicht, dass ich mich für unseren Trailer schämte oder gar für meine Eltern. Nein, ich schämte mich eigentlich für gar nichts. Aber ich wollte kein Mitleid. Von niemandem. Und von Jonah schon mal gar nicht. Bis jetzt. Denn genau das sollte er empfinden, wenn er später unsere Wohnschachtel betrat. Wenn er jetzt sah, wie schlecht es Dad ging, wie traurig Mom war, wie hässlich mein Leben war, dann würde er erkennen, wie sehr ich ihn brauchte. Als Freund. Ja, mein Plan war nicht besonders fair, im Gegenteil.

„Ich musste gerade an unser Projekt denken“, sagte ich stattdessen und war mir des Themawechsels bewusst. Ich musste den richten Augenblick für mein Vorhaben erwischen, und noch war er nicht gekommen. „Eigentlich schade, dass unser Kunstwerk in ein paar Tagen verschwindet.“

Ich hatte mit dem Sprayen schon vor Dads Krankheit begonnen und irgendwann Jonah mit meiner Leidenschaft angesteckt. Seit drei Jahren verzierten wir gemeinsam die Abbruchhäuser seiner Eltern mit unseren Streetart-Bildern.

„Finde ich auch. Das hast du tatsächlich unglaublich gut hinbekommen. Die Trauerweide ist genial geworden. Und der Wald und die Tiere. Die Häuser und die kleinen Pfade … Ob ich Dad fragen soll, ob er die Renovierungsarbeiten verschieben kann?“

„Natürlich musst du ihn nicht fragen, Jonah“, antwortete ich. „Deine Eltern sind schließlich an Terminpläne gebunden. Sie finden sicher ein neues Haus … eine neue Wand für uns. Das machen wir doch schon seit Jahren so.“

Ab und zu erinnerten mich Jonahs Eltern an Robin Hood. Das Bauunternehmerpaar nahm von den Reichen, denen es wahre Schlösser andrehte, und gab den Armen ihre eigenen vier Wände. So wie denen in dem Detroiter Projektviertel, in dem sie gerade Häuser renovierten, teils abrissen, Grünanlagen errichteten und dafür sorgten, dass sogar Bürgersteige und Straßen ein Makeover bekamen. Die Seite eines dieser Häuser musste seit einiger Zeit als Leinwand für unser aktuelles Bild herhalten.

„Das stimmt. Aber dieses … Projekt … ist irgendwie anders. Findest du nicht?“

Er warf mir einen Blick zu, der mich schlucken ließ. Oft geschah es nicht, dass ich etwas anderes als Freundschaft in den dunkelbraunen Augen entdeckte, doch gerade war es wieder so weit. Etwas, das dafür verantwortlich war, dass Bens Kinn sicher auch morgen noch wehtun würde. Etwas, für das ich nicht bereit war. Ich würde niemals jemanden so in mein Herz reinlassen wie Mom Dad. Wozu das führte, sah ich jeden Tag. Das brauchte ich nicht. Nicht heute, nicht in zehn Jahren. Niemals. Liebe tat weh. Verdammt weh. Mit größter Anstrengung kämpfte ich das Flattern in der Kehle nieder, so wie immer, wenn die Mauer, die ich so gekonnt um mein Herz gezogen hatte, Risse bekam. Verflucht. Verzweifelt hielt ich mich an der Tasche auf meinem Schoß fest. Darin befanden sich meine schwarze Lieblingslochjeans und mein graues Schlabber-Tanktop … Kleidung, die ich, sobald wir an dem Haus angekommen waren, zum letzten Mal gegen den elenden karierten Schuluniformrock und das hässliche blaue Poloshirt tauschen würde, ebenso wie die biederen Mary-Jane-Schuhe gegen die verschlissenen schwarzen Schnürstiefel, die ebenfalls in der Tasche steckten. Ich warf einen Blick auf die Sprühdosen und die zwei Atemschutzmasken in dem Pappkarton auf dem Rücksitz neben Jonahs Jeans – selbstverständlich ohne Loch – und einem sauberen weißen Shirt, das selbst nach stundenlangem Sprayen noch strahlend sauber aussehen würde.

Jetzt oder nie!

„Ich möchte, dass du meine Eltern kennenlernst“, platzte ich heraus, als er gerade den Blinker setzte und vom Schulgelände fuhr.

„Jetzt? Sofort?“ Er räusperte sich und strahlte.

Ich hörte genau, wie sehr er sich über dieses Angebot freute … und wie sehr es ihn überraschte.

„Nein, Jonah. Später. Erst geht es zu unserem Haus.“

Ich musterte ihn flüchtig von der Seite. Einen winzigen Moment lang wünschte ich mir, es würde ihm gelingen, den Mauerriss zu vergrößern, sie ganz einzureißen und Luft an mein Herz zu lassen. Irgendwann erstickte es sonst.

2

Jonah

Hin und wieder warf ich einen hastigen Blick auf meine rechte Hand, die vor ein paar Minuten auf Bens Kinn gelandet war. So etwas war mir noch nie passiert. Ich hatte gehandelt, ohne zu denken, doch im Gegensatz zu Lillian Goldberg reagierte ich eigentlich nie unüberlegt. Lilly war kein Kopfmensch, nein, meine beste Freundin hörte auf ihren Bauch. Immer. Selbst jetzt konnte ich kaum glauben, wie sauer mich Bens Scheißspruch gemacht hatte. Vielleicht lächelt sie ja, wenn du sie … Wenn ich was? Meine Hände umkrampften das Lenkrad. Arsch! Ich hatte Ben noch nie leiden können, doch bis heute hatte ich seine blöden Sprüche gekonnt ignoriert.

„Und? Tut es noch weh?“

Lillys Stimme ließ mich zusammenfahren. Sie tippte auf die Finger meiner rechten Hand, die sich spontan noch fester um das Lenkrad klammerten.

„Ist ja nichts passiert“, brachte ich hervor und unterdrückte das erleichterte Aufatmen, als sie sich zurücklehnte. Vorhin hatte es mich alle Kraft der Welt gekostet, um vor der Schule nach ihrer Hand zu greifen. Aber ich hatte es geschafft … doch jetzt bereitete mir ihre flüchtige Berührung beinahe körperliche Schmerzen. Ob sie ahnte, warum ich die Beherrschung verloren hatte? Vermutlich. Ich selbst wusste es genau. Ich mochte Lillian Goldberg. Sehr. Wenn es nach mir ging, wären wir längst mehr als Freunde. Vier Jahre kannte ich Lilly nun … und seit vier Jahren brachte sie mein Herz zum Stolpern. Seit vier Jahren bemühte ich mich vergeblich, diese Gefühle niederzukämpfen. Denn ich wusste, Lillian Goldberg wollte Freundschaft. Nicht mehr und nicht weniger. So traurig wie meine Mom will ich niemals sein, hatte sie mir ein halbes Jahr, nachdem wir uns kennengelernt hatten, offenbart. Und so versuchte ich, Kribbeln im Bauch, Herzklopfen und Atemlosigkeit so gut es ging zu ignorieren. Ich hatte ihre Freundschaft. Um nichts in der Welt würde ich diese riskieren, nur weil mein Puls raste, wenn ich in diese faszinierenden smaragdgrünen Augen sah. Kaum zu glauben, dass die Jungs in unserem Jahrgang so blind waren und nicht sahen, was ich sah. Eigentlich müssten sie ihr hinterherrennen wie Edward hinter Bella. Die Stille dröhnte plötzlich in meinen Ohren. Sag was, du Idiot!

„Ich hätte nie gedacht … dass … dass …“, brach Lilly endlich das Schweigen, bevor sie innehielt und sich räusperte.

„Dass so etwas in mir steckt?“

Sie lachte laut auf. „Genau. Genau das wollte ich sagen. Und wenn ich ehrlich bin, hat mir dein Kinnhaken eigentlich geschmeichelt. Es hat sich noch nie jemand um … oder für mich geschlagen.“

Ich würde mich täglich für dich prügeln, Lillian Goldberg. Mein Hals war mit einem Mal staubtrocken. Mein Gott. Wo war meine Stimme hin? Ich überlegte krampfhaft, wie ich die Unterhaltung wieder in Gang bringen konnte. Aber … verdammt … mir fiel nichts ein. Gerade fegte sie sich ihre haselnussbraunen langen Haare aus der Stirn, wie sie es so oft tat, wenn sie nachdachte. Sie passten unglaublich gut zu den vielen Sommersprossen auf der schmalen Nase und zu dem vollen Mund, den ich leider noch nie geküsst hatte. Bei dem Gedanken daran, dass wir uns bald nicht mehr jeden Tag sehen würden, wurde mir schlecht. Doch ich hatte einen Plan. Genau gesagt zwei. Als Erstes würde ich ihr vorschlagen, mich nach Kenia zu begleiten. Mom und Dad hatten spontan zugesagt, als ich sie gebeten hatte, Lilly dieses Jahr zu ermöglichen. Sie wussten, dass sie meine einzige Freundin in der Schule gewesen war, und halfen gerne. Und das, obwohl sie Lilly nur flüchtig kannten, denn meine beste Freundin weigerte sich, auch nur einen Fuß in unser Haus in Grosse Pointe Woods zu setzen. Lass unsere Eltern einfach aus unserer Freundschaft raus. Nicht nur einmal hatte ich diesen Satz gehört. Umso erstaunter war ich, dass sich das wohl heute ändern sollte.

„Du meine Güte! Was ist denn los mit dir?“

Ich zuckte unwillkürlich zusammen, als Lilly erneut das Wort ergriff. Ziemlich einseitige Unterhaltung …

„Ich meine, du bist ja noch nie ein großer Redner gewesen“, fuhr sie fort, „… aber so schweigsam wie jetzt kenne ich dich nun doch nicht. Mach dir keine Sorgen … nach dem Kinnhaken wird sich Ben zweimal überlegen, ob er sich an dir rächen will.“

„Davor habe ich auch keine Angst. Ich habe überhaupt keine Angst vor dem Arsch.“ Na also. Reden ging wieder. Einigermaßen. Schimpfen auch. Dabei fluchte ich nie.

„Mr Cooper. Am letzten Schultag wird doch nicht plötzlich noch ein ganz normaler Mensch aus dir werden? Einer, der sich prügelt und flucht?“

Lilly kicherte. Dieses leise Lachen mochte ich ganz besonders. Wie von selbst jagten meine Gedanken zu Plan Nummer zwei, und so wie immer hob sich dabei mein Magen. Ihre Hand zu nehmen war der Anfang gewesen. Immerhin hatte sie ihre nicht weggezogen. Später … heute noch … würde ich mich trauen, das zu tun, was ich längst hätte tun sollen, nämlich ihr meine Gefühle gestehen. Vielleicht wartete sie ja nur darauf.

Ich musterte sie flüchtig, bevor ich meinen Blick wieder auf die Straße lenkte. Keine zwei Blocks hinter der Academy befanden wir uns in einer anderen Welt. Verfall und Armut waren hier allgegenwärtig. Ich umrundete ein besonders großes Schlagloch und lenkte den Mazda endlich in Dads Projektviertel.

„Unglaublich, wie viel sich hier schon verändert hat.“ Lilly deutete auf die Häuser links und rechts. Diese hier am Anfang der Straße waren bereits fertig, ebenso wie die Bürgersteige davor und die Gärten dahinter. Sie waren hell, bunt, freundlich und kosteten weniger als einen Bruchteil des Geldes, das Mom und Dad hineinsteckten … und sie waren bewohnt.

„Deine Eltern haben hier verdammt viel Gutes geleistet“, fuhr Lilly fort und deutete auf das rege Treiben auf und vor den Veranden. „Ich wette, die Hälfte aller Häuser im Viertel stehen immer noch leer. Wenn ich an die ganzen eingeschlagenen Fenster denke …“

„… oder die Löcher in den Dächern, durch die die Waschbären ein und aus gehen.“

„Schade, dass nicht mehr Leute das Glück haben, so ein schönes Haus zu bekommen.“ Nun klang ihre Stimme ein wenig traurig.

„Deine Eltern sollten an der Verlosung teilnehmen“, versuchte ich es nicht zum ersten Mal. Mom und Dad hatten sich für ein Lotterieverfahren entschieden, denn natürlich gab es nicht genug Häuser für all die Menschen, die sich sonst niemals ein eigenes Dach über dem Kopf leisten konnten. „Ich wette, man kann dem Losglück in eurem Fall ein wenig nachhelfen.“

„Machen sie aber nicht.“

Auch diese Antwort kam nicht zum ersten Mal. Kurz und knapp.

Wie so oft bekam ich ein schlechtes Gewissen bei dem Gedanken, wie ungerecht das Schicksal Glück und Erfolg verteilte. Zwar hatten es meine Eltern ganz bestimmt auch nicht immer leicht gehabt, denn Dads Wurzeln lagen in Kenia und selbst als Migrant der x-ten Generation hatte er sich vieles erkämpfen müssen, was für andere, die nicht so schwarz waren wie er, selbstverständlich war. Moms Eltern hatten ihr den Rücken gekehrt, nachdem ihre weiße Tochter den Afrikaner geheiratet hatte. Trotzdem … Lillys Familie hatte das Schicksal keine Steine, sondern Felsbrocken vor die Füße geworfen. Im Gegensatz zu ihrem war unser Leben nahezu perfekt verlaufen. Mom und Dad hatten sich im College kennen- und lieben gelernt. Als Dad dann das winzige Bauunternehmen seiner Eltern in Detroit übernahm, hatte er Mom als Architektin eingestellt. Gemeinsam hatten sie es irgendwie fertiggebracht, es zu dem zu machen, was es heute war: eine erfolgreiche, anerkannte Firma.

„Mom will keine Almosen“, fügte Lilly entschieden hinzu. „Weißt du doch, Jonah. Der nächste Umzug geht ins Krankenhaus.“

Ich nickte und seufzte leise. Ungerecht. Unfair. Scheiß Schicksal.

„Entschuldige. Doof von mir, das schon wieder anzusprechen.“

„Schon gut. Dafür machen wir später ein tolles Video von unserem Projekt für Mom und Dad. Darüber freuen sie sich immer ganz besonders.“

Das Sprayen würde uns guttun. Lilly und ich hatten schon verdammt viele Wände besprüht, doch dieses Bild war … anders. Noch nie hatte ich empfunden, was ich beim Arbeiten an dem Wandbild fühlte. Es war, als würde jemand ein warmes Licht in mir anzünden, sobald ich es nur ansah. Ein Licht, das jede Dunkelheit vertrieb. Ich hatte Lilly nichts davon erzählt, doch ich hatte so eine Ahnung, dass es ihr nicht anders erging.

„Und schon sind wir da. Du erst?“ Ich nahm den Fuß vom Gaspedal und parkte vor unserem Haus. Gott sei Dank. Diese Autofahrt lag hinter mir.

„So wie immer.“ Lilly schnallte sich ab und drehte sich um.

Ich stieg aus, schlug die Tür zu und lehnte mich dagegen. Lilly würde jetzt nach hinten klettern, die Fensterscheiben mit Papier abdecken und sich umziehen. Sie hatte es immer ziemlich eilig, die Schuluniform loszuwerden. Heute war es das letzte Mal so weit.

Keine zwei Minuten später öffnete sich die Tür hinter mir, und aus der biederen Schülerin war auch heute die wilde dunkle Graffiti-Künstlerin geworden. Schwarze Lochjeans, graues XXL-Tanktop, verschlissene Schnürstiefel … Sie hatte ihre graue Beanie-Mütze aufgesetzt, damit sie die langen Haare beim Sprayen nicht störten. Schwarzes Kajal ließ ihre ohnehin blasse Haut noch blasser erscheinen, die Atemschutzmaske hing statt Kette um den Hals. Sexy. Provokativ. Dieses Punk-Outfit war eindeutig aufregender als jedes Abendkleid samt Pumps. Lilly schnappte sich den Karton mit den Sprühdosen und ließ die Autotür für mich offen. Aufrecht, selbstbewusst, mit energischen Schritten hielt sie auf den Vorgarten unseres Projekthauses zu.

„Gib mir eine Minute“, stieß ich krächzend hervor, rutschte auf den Rücksitz und zog die Tür hinter mir zu. Ich warf einen Blick auf meine Jeans und das weiße T-Shirt und stöhnte. Dass die Punk-Göttin mit dem Graffiti-Karton unterm Arm sich ausgerechnet mich als ihren einzigen und besten Freund ausgesucht hatte, war und blieb mir ein Rätsel.

3

Lilly

Ich überquerte die Straße, ohne auf Jonah zu warten. Er brauchte einen Moment alleine, und den gab ich ihm gerne. Vor genau diesem Augenblick fürchtete ich mich seit vier Jahren. Ich war ja nicht blöd. Er hatte mich während der Fahrt mehrmals so angesehen und … verdammt noch mal … es hatte mir gefallen. Doch ich würde nicht zulassen, dass er sich in mich oder schlimmer noch, ich mich in ihn verliebte. Ein Grund mehr, ihn später Mom und vor allem Dad vorzustellen. Dann würde ihm schon die Lust an der Lust oder an irgendwelchen Gefühlsduseleien vergehen … und alles würde so bleiben, wie es war. Bevor ich den verwilderten Vorgarten betrat, warf ich einen raschen Blick über die Schulter. Jonah befand sich nach wie vor im Auto, das wir am Straßenrand geparkt hatten. Vermutlich hatte er sich längst umgezogen und suchte gerade nach dem locker-flockigen Kumpel-Jonah, der sich unterwegs irgendwie aus dem Staub gemacht hatte.

Long Street Nr. 5. Während am anderen Ende der Straße inzwischen ein reges Treiben herrschte, waren die Häuser hier alle noch unbewohnt. Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei, nur um Minuten später am Ende der Sackgasse zu drehen und umzukehren. Ich stellte den Karton ab, zog mein Handy aus der Hosentasche und schickte Mom eine kurze Nachricht.

Bin hier. Jonah auch. Bis später. Lilly.

Anfangs hatte Mom mich im Dreißig-Minuten-Takt angerufen, und ich musste zugeben, dass ihre Sorgen noch nicht einmal unbegründet gewesen waren. Selbst wenn es gerade in der Downtown-Gegend rund um das GM Renaissance Center aufwärtsging und Detroit auf dem besten Weg war, sich zu einer Metropole zu entwickeln, so waren und blieben die Außenbezirke doch ein gefährliches Pflaster. Die unbewohnten Häuser boten denen, die irgendwann vom Weg abgekommen waren, nach wie vor einen willkommenen Unterschlupf. Immer wieder wurden hier Drogendeals abgewickelt. Immer wieder gab es Polizeikontrollen und Festnahmen. Doch erstens weigerte ich mich, Angst mein Leben bestimmen zu lassen, und zweitens fühlte ich mich hier – und in Jonahs Nähe – tatsächlich ziemlich sicher. Außerdem war es bis zu den bewohnten Häusern oder den Arbeitern nun wirklich nicht weit. Das Hämmern der Dachdecker ein paar Grundstücke weiter konnte man bis hierhin hören.

Viel Spaß und bis später. Love you. Moms Nachricht kam prompt, so wie immer.

Entschieden legte ich das Handy zwischen die Spraydosen, nahm den Karton und folgte dem Trampelpfad, der sich durch das kniehohe Gras um das Haus mit den gesprungenen Fensterscheiben herumwand und vor unserer Projektwand auf der linken Seite endete. Es hatte mir noch nie etwas ausgemacht, wenn unsere Werke der Abrissbirne zum Opfer gefallen waren oder wegrenoviert wurden, doch dieses Mal war es anders. Kaum betrachtete ich das Bild der riesigen Trauerweide, empfand ich etwas, was ich noch nie beim Sprayen empfunden hatte. Hoffnung? Zuversicht? Eine eigenartige Wärme? Sobald ich hier die Sprühdose in die Hand nahm, ging es gar nicht anders, ich musste etwas Gutes, etwas Schönes auf die Wand zaubern. Ich hatte Jonah nicht von diesem besonderen Gefühl erzählt, aber ich hatte so eine Ahnung, dass es ihm nicht anders ging.

Ich stellte den Karton mit den Spraydosen neben die zwei Leitern und trat einen Schritt zurück. Die Dimensionen passten eigentlich nicht, denn die riesige Trauerweide erstreckte sich fast über die ganze Wand. Über ihr erstrahlte ein azurblauer Himmel, einige Wolken segelten um die Äste herum. In der linken Ecke schimmerte ein See, rechts von der Weide war ein dunkler Wald entstanden, dahinter Wiesen, Felder und Wege. Ein Fluss schlängelte sich von Westen nach Osten durch die Landschaft, während sich am Horizont eine Bergkette erhob. Das Dorf auf der rechten Seite hatten wir zuletzt hinzugefügt: eine bunte Ansammlung von Blockhäusern – ein großes und viele kleine - entlang einer langen Straße.

Eigentlich waren wir so gut wie fertig und heute war Doku-Tag. Ich würde sprechen und Jonah würde filmen. Aber irgendetwas fehlte noch. Ich zupfte an der Mütze und wartete … auf einen Geistesblitz, eine Eingebung, eine Idee. Irgendetwas. Jonah hatte irgendwann einmal gefragt, was ich dachte, wenn ich das Bild eine Weile stumm anstarrte und den Kopf zur Seite neigte. Ich warte, dass die Wand spricht, hatte ich geantwortet und auf sein Lachen gewartet … das nicht kam. Stattdessen hatte er sich neben mich gestellt und mit mir um die Wette gestarrt. Plötzlich wurde mir warm ums Herz. Verdammt, was hatte ich für ein unverschämtes Glück. Kaum zu glauben, dass er ausgerechnet mich zu seiner besten Freundin erkoren hatte.

„Nebel! Wir brauchen Nebel!“, rief ich laut und stellte überrascht fest, dass mein Herz bei dem Gedanken einen Satz machte.

„Und Licht in den Zweigen der Weide.“

Ich fuhr herum. Ich hatte ihn nicht gehört. Er hatte sich und seine Stimme wieder fest im Griff und trat neben mich.

„Und dann filmen wir“, fügte er fröhlich hinzu.

„Und dann filmen wir“, wiederholte ich und schenkte ihm ein Lachen. Gott sei Dank, der Kumpel-Jonah war wieder da. „Du das Licht und ich den Nebel?“

Er nickte, setzte seine Atemschutzmaske auf, griff nach der cremeweißen Sprühdose und stellte eine Leiter neben den Stamm der Weide. „Nicht stören.“

„Niemals.“ Ich hievte die andere Leiter an die rechte Hausecke und griff nach der Dose mit der grauweißen Farbe für den Nebel.

Licht in den Zweigen … was für eine verrückte, geniale Idee. Die Weide musste einfach strahlen! Ich sah das Leuchten überdeutlich vor mir, wusste, dass es keinen und doch allen Sinn der Welt machte. Auch Jonah schien nicht den geringsten Zweifel daran zu haben. Entschlossen sprühte er einen hellen Lichtfetzen an den ersten Ast und noch einen ein Stückchen höher, der nächste Schimmer umschlang den Zweig daneben wie eine Lichterkette den Weihnachtsbaum.

Nun sah auch ich meine Aufgabe klar und deutlich vor mir. Der Nebel würde das ganze Bild umarmen. Nein, er musste das ganze Bild umarmen. Er würde zwar einige Bergspitzen, ein Teil des Sees und ein paar Häuser sowie ein Stück Wald verschlucken, aber er musste auf die Wand. Ich war ganz sicher. Nur die Weide durfte er nicht einmal berühren. Auch das wusste ich genau. Ich setzte die Maske auf und ließ die Farbe aus der Spraydose an die Wand fliegen. Wie von selbst fielen alle Sorgen von mir ab. Ich vergaß jeden Kummer, den Trailerpark, Dads Krankheit, Moms Ringe unter den Augen und sogar Jonahs verliebte Blicke. So wie immer verlor ich mich ganz in meinem Bild. Als ob jemand meine Hand führte und den Nebel an die Wand zauberte. Stumm arbeiteten wir nebeneinander, umeinander herum, wie wir es schon so oft getan hatten. Ich wanderte mit der Leiter von rechts nach links, wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und sprühte grauweiße Schleier zwischen Himmel und Berge, um den Wald und das Wasser herum, bis nach unten auf die Wiese. Fertig!

„Fertig“, hörte ich Jonah zur gleichen Zeit neben mir.

So in Trance hatte ich mich noch nie gesprayt. Atemlos sah ich auf und betrachtete das Bild. Das Leuchten in den Zweigen der Trauerweide trieb mir die Tränen in die Augen.

„Jonah. Das ist wunderschön geworden.“

Mir wollte es nicht gelingen, den Blick von dem Baum zu lösen. Was war das? Ich sah genauer hin.

Ein riesiger Vogel saß in den Zweigen der Weide. Täuschte ich mich, oder drehte er gerade seinen Kopf?

Jonahs lautes Keuchen genügte mir als Antwort. Erschrocken trat ich einen Schritt zurück. Der Vogel breitete seine enormen Flügel aus, stob aus dem Baum … aus dem Bild! Mit einigen kräftigen Flügelschlägen gewann er rasch an Höhe, kreiste über unserem Haus und landete elegant auf dem Dach. Die Spraydose entglitt mir, die Wand drehte sich, ich sank zu Boden. Dunkelheit. Blitze zuckten durch die Finsternis.

Mit aller Macht presste ich die Augen zusammen, nur um sie kurz darauf entschieden aufzureißen. Was zum Teufel war gerade geschehen?

„Lilly?“

Jonahs Stimme neben mir. Leise. Kraftlos.

Ich sah auf und presste die Handflächen gegen die Schläfen. In meinem Kopf tobte ein Orkan.

„Was … war das? Hast du den Adler auch gesehen? Ist der … aus dem Bild geflogen?“ Jonahs Gesicht hatte jede Farbe verloren. Er lag neben mir im Gras und setzte sich mühsam auf. „Ich bin umgefallen, glaube ich. Bist du okay?“

Ich nickte und würgte die Übelkeit hinunter. „Wie kommt der dahin? Warst du das? Hast du den dahingesprüht? Ist der echt gerade aus unserem Bild geflogen?“, stammelte ich. „Verdammt, ist mir schlecht. Siehst du ihn noch?“

Jonah zuckte mit den Schultern, zog die Maske vom Gesicht, legte sie neben sich und deutete ein Kopfschütteln an. „Weg. Der ist weg. Und nein, das war ich nicht. Vielleicht … vielleicht war der nie da und wir haben uns das eingebildet.“

„Quatsch! Wir bilden uns doch nicht zur gleichen Zeit dasselbe ein. Das gibt‘s doch nicht. Wie kommt der gottverdammte Adler in unser Bild?“

„Vielleicht alles ein bisschen viel heute?“

Ich tat es ihm gleich, legte meine Atemschutzmaske neben seine und setzte mich entschieden auf.

„Blödsinn. Das wäre ja noch schöner. Stell dir vor, alle fallen am letzten Schultag um.“ Ich grinste gequält, zog die Mütze vom Kopf und richtete meinen Blick erneut auf unser Werk. Wie von selbst umklammerte meine Hand seinen Arm.

„Jonah! Die Wand. Sie … sie lebt.“ Meine Stimme bebte und mein Herz hämmerte unangenehm in meiner Brust. „Schau hin, verdammt noch mal, und sag mir, ob du das auch siehst.“

„Was zum Teufel …“ Jonah zog den Atem zischend durch die Zähne ein. „Die Weide leuchtet. Lilly! Das Licht … das habe ich doch gemalt.“

Mit einem Satz war er auf den Beinen. Er schwankte ein wenig, hielt mir dennoch seine Hand hin und zog mich mit einem leisen Stöhnen hoch.

„Gesprayt“, verbesserte ich heiser. Wie so oft. „Du hast das Licht gesprayt.“

„Scheißegal. Gesprayt, gemalt. Verdammt, Lilly, die Wand lebt. Die Zweige der Weide … bewegen sich und dein Nebel … wabert.“

Er zog sein Handy aus der Hosentasche und begann mit bebenden Händen zu filmen. „Traust du dich, das … das anzufassen?“ Er warf mir einen skeptischen Blick zu.

Ich holte tief Luft und nickte zögernd. „Natürlich“, antwortete ich und hörte selbst, wie wenig überzeugend ich klang.

„Warte!“ Er schob mich zur Seite. „Lass mich das machen, Lilly!“

„Kommt nicht infrage!“ Ich trat einen Schritt nach vorn und streckte die Hand aus.

„Halt!“ Jonah hielt die Handykamera nach wie vor auf mich gerichtet. „Nicht die Weide!“

Erschrocken sprang ich zurück. „Mensch, Jonah! Was denn nun? Anfassen oder nicht?“

„Ja, schon. Aber vielleicht nicht gerade die Weide … oder den Nebel. Hab ein komisches Gefühl dabei. Das ist alles.“

„Wald ist okay?“ Ich verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.

Ohne auf eine Antwort zu warten, streckte ich die Hand aus und legte meinen Finger auf eine grüne Stelle. So wie vorhin wurde mir schwindelig. Ich holte tief Luft und straffte die Schultern. Die Blätter der Bäume auf der Wand bewegten sich im Wind. Mein Puls raste inzwischen schneller als an dem Tag, als ich zum ersten Mal einen Fuß in die Academy gesetzt hatte. Schneller als nach jedem Sprint von unserem Trailer bis zu Jonahs Auto. Die Stelle unter meinem Finger wurde warm und gab schließlich nach. Ich griff ins Leere. Etwas zog an meiner Hand.

„Lilly!“ Jonahs Stimme neben mir. „Lilly! Shit!“ Lauter, dringlicher.

Seine Hand an meinem Unterarm. Er riss mich zurück, zog mich fort von dem Bild, zurück aus dem Bild, aus dem Wald. „Deine Hand …“, flüsterte er. Als ob das, was er aussprechen wollte, nicht laut gesagt werden dürfte. „Deine Hand war in der Wand.“

„Ich weiß“, stieß ich hervor und schüttelte fassungslos den Kopf.

„Alles okay?“ Jonah strich mir die verschwitzten Haare aus dem Gesicht und musterte mich prüfend.

„Alles in Ordnung. Hand ist noch dran“, antwortete ich und rang mir ein Grinsen ab. „Lass uns das noch mal …“

„Nein!“, rief Jonah. „Wir probieren das nicht noch einmal aus. Wir fahren jetzt nach Hause und schlafen eine Nacht über das … das, was eben geschehen ist.“

„Jonah. Einmal noch. An einer anderen Stelle. Nur mit den Fingerspitzen.“

„Lilly, also ich weiß nicht …“ Er runzelte die Stirn und betrachtete mich aufmerksam. „Na gut … Du gibst sonst sowieso keine Ruhe.“

„Stimmt.“ Meine Mundwinkel zuckten. Er kannte mich viel zu gut. „Einmal noch“, wiederholte ich und hielt inne. Der See. Ich würde den Finger nur kurz auf die blaue Fläche drücken.

„Filmst du bitte weiter?“

Er hielt mir demonstrativ das Handy unter die Nase „Kamera läuft.“

„Und zieh mich zurück, falls …“ Ich ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen, als links von uns Stimmen erschallten … und näher kamen. Laute, zornige Stimmen.

Oh Mann! Das konnte nicht wahr sein. Noch nie hatte man uns beim Sprayen gestört. Und ausgerechnet heute, ausgerechnet jetzt? Ich unterdrückte den Seufzer und sah mich um.

Aus dem leer stehenden Nachbarhaus stürmten zwei Männer. Nein, aus dem Haus stürmte Ben Fletcher, immer noch in Schuluniform. Wurden wir den Schnösel heute denn gar nicht los? Ein Mann mit Sonnenbrille und Baseballkappe folgte ihm. Er trug einen grauen Nadelstreifenanzug, der weder zur Kappe und schon gar nicht zu der Bruchbude hinter ihm passte. Ben hielt ein kleines Päckchen in der Hand und begann zu sprinten. Ich sah genauer hin und wusste nun auch, warum. Der Anzugträger hatte eine Waffe in der Hand … und er hatte es nicht eilig. Langsam hob er den Arm, zielte und drückte ab. Der Knall ließ mich zusammenfahren. Einen Sekundenbruchteil später war Ben im kniehohen Gras verschwunden.

Ich presste die Lippen zusammen, doch der Schrei war draußen, bevor ich ihn runterschlucken konnte. Wie in Zeitlupe drehte sich der Mann zu uns um. Wieder hob er den Arm … zielte. Wie angewurzelt stand ich vor der Wand. Einen von uns würde er treffen.

Zum zweiten Mal heute griff Jonah entschieden nach meiner Hand. Doch im Gegensatz zu heute Morgen auf dem Weg zum Parkplatz dachte ich jetzt nicht eine Sekunde lang daran, sie zurückzuziehen. Im Gegenteil … ich hielt sie fest, als hinge mein Leben davon ab. Mit einem Ruck zog er mich hinter sich her, streckte die andere Hand nach unserem Bild aus … und drückte sie mitten auf den Stamm der Weide. Ein dumpfes Geräusch in meinem Rücken, ein scharfer Schmerz in der linken Schulter. Dann fielen wir. Hinein.

4

Jonah