Die Autorin

Teresa Wagenbach – Foto © Privat

Teresa Wagenbach ist das Pseudonym der jungen Autorin Teresa Nagengast, unter dem sie bewegende Liebesgeschichten veröffentlicht. Sie wuchs als Drillingskind im ländlichen Gebiet in Unterfranken auf. Schon damals verschlang sie zahlreiche Bücher. Nach dem Abitur entschied sie sich für ein Journalismusstudium. Heute arbeitet sie bei einem Bildungsverlag in Nürnberg.

Das Buch

Was würdest du tun, wenn du deine erste große Liebe wiedersiehst und sie sich vollkommen verändert hat – doch du spürst immer noch diese Verbindung?

Lola hat bei einem Unfall alles verloren: das Gefühl in ihren Beinen, die Erinnerungen an ihre erste große Liebe Nick und ihre Zukunft. Sie fühlt sich eingesperrt in ihrem Leben. Als Nick eines Tages plötzlich wieder vor ihr steht, erkennt sie ihn nicht. Deshalb ist sie alles andere als begeistert, dass ihr Vater ihn einstellt und ihm sogar ein Zimmer in der luxuriösen Villa überlässt, in der sie lebt. Er hofft offenbar verzweifelt, dass ein wenig Abwechslung und Gesellschaft Lola ihren Lebensmut zurückgeben. Der Plan scheint zunächst aufzugehen, denn Lola fühlt sich zu Nick hingezogen. Doch das stürzt sie nur in ein noch größeres schwarzes Loch: Denn wie sollte ein kerngesunder Mann wie Nick jemals eine Querschnittsgelähmte wie sie lieben können?

Von Teresa Wagenbach sind bei Forever by Ullstein erschienen:
Dem Leben so nah
Wenn das Schicksal einzieht

Teresa Wagenbach

Wenn das Schicksal einzieht

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Januar 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-423-7

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Zitat

Zwischen den Seiten steht mehr, als die Buchstaben sagen. 
Und liest man es quer, wird man in andere Welten getragen.

Prolog


Das Gesicht ihres Arztes war ernst, als er eintrat. Lola wusste intuitiv, dass das nichts Gutes bedeuten konnte. Sie hatte in ihrem Leben bereits genug Zeit im Krankenhaus verbracht, um das zu erraten – zumal sie es bereits ahnte, seit sie ihre Beine nicht mehr spürte. Sie biss sich auf die Lippe, um das Zittern in ihrem Körper in den Griff zu bekommen, und schluckte kräftig, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie hatte sich vorgenommen, tapfer zu sein, sie hatte sich vorgenommen, nicht zu weinen – egal, was kommen mochte.

»Frau Maiser, Lola, ich habe die Diagnose«, sagte der Arzt leise.

Lola hielt die Luft an. Ihr Herz pochte so laut, dass sie befürchtete, seinen Worten nicht folgen zu können. Hilfe suchend wanderte ihr Blick zu ihrem Vater, der mit leichenblassem Gesicht neben ihr saß und ihre Hand hielt. Seine Augen waren auf den weißen Kittel des Arztes gerichtet, der Blick trüb und seine ausdruckslose Miene starr wie eine Maske. Lola kannte diesen Anblick. Sie hatte ihn vor vielen Jahren so häufig gesehen, damals, als ihr Leben sich zum ersten Mal für immer verändert hatte.

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas anderes sagen, aber durch Ihren Unfall ist es zu einer inkompletten Schädigung des Rückenmarks gekommen. Es tut mir leid, aber …«

Lola schlug die Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien. Das Rauschen in ihren Ohren nahm zu, es hörte sich an wie das ohrenbetäubende Dröhnen der Brandung vor vielen Jahren, als sie mit ihren Eltern in Irland gewesen und ein grauenvoller Sturm aufgekommen war. Damals hatte sie die Befürchtung gehabt, mit einem weiteren Windzug über die Klippen zu stürzen – und jetzt fühlte sie sich, als befände sie sich in ebenjenem Fall, der mit einem knochenzersplitternden Aufprall auf den scharfen Felsvorsprüngen enden würde. Sie schlug die Zähne in ihre Lippe, bis sie Blut spürte, und ballte ihre Hände zu Fäusten, doch die Tränen, die unaufhaltsam in ihr aufstiegen, konnte sie nicht unterdrücken.

Die Worte des Arztes hatten ausgereicht. Sie wusste genau, was sie bedeuteten. Immer wieder hatte sie in den vergangenen qualvoll langen Minuten zwischen ihrer Rückkehr aus der Bewusstlosigkeit und dem Erscheinen des Arztes jegliche Möglichkeit durchgespielt. Jetzt war es gewiss: Sie würde nie wieder laufen können – und nie wieder reiten, zumindest nicht so, wie sie es vor ihrem Unfall getan hatte.

Vor ihrem inneren Auge sah sie all ihre Lieblingsbeschäftigungen wie Seifenblasen zerplatzen: reiten, shoppen gehen, Rollschuh fahren, Thomas …

Wie durch einen Nebel nahm sie wahr, wie ihr Vater sie in die Arme zog und der Arzt den Mund bewegte, als würde er etwas sagen. Doch sie spürte weder den Körper ihres Vaters, noch vernahm sie die Worte des Arztes. Sie nahm nur noch die Leere wahr, die sich anfühlte wie das eisige Wasser Irlands, das sie immer tiefer hinabzog, bis alles um sie herum verschwamm.

Kapitel 1


Nick atmete tief durch.

»Dann los«, flüsterte er und krempelte die Ärmel hoch. Auf Zehenspitzen schlich er sich an den sorgfältig geschnittenen Buchsbäumen entlang zur Eingangstür. Sein Herz pochte, er spürte das Adrenalin in seinen Adern und das leichte Beben seines Körpers. Doch sein Kopf und seine Hände waren ruhig – so ruhig, wie sie nur bei jemandem sein konnten, der schon öfter in fremde Häuser eingestiegen war.

Leise zog er sein Werkzeug hervor. Er war etwas aus der Übung, es war einige Zeit verstrichen, seit er das letzte Mal das schmale, gebogene Messer und den Draht benutzt hatte. Die Aufzeichnungen seines Vaters schwirrten in seinem Kopf herum.

Besitzer: Mann um die fünfzig, scheint keine Familie zu haben.
Tagesablauf: Verlässt das Haus immer um Punkt 7.30 Uhr, kommt zurück um 17 Uhr.
Haus: Scheint keine Alarmanlage zu besitzen, Tür lässt sich leicht öffnen.

Nick holte tief Luft und setzte sein Werkzeug an. Er schloss die Augen und betete stumm – ein Ritual, das er vor jedem Einbruch durchführte. Mit einem leisen Knacken sprang das Schloss auf.

Nick zählte langsam bis fünf, doch nichts deutete darauf hin, dass ihn jemand gehört hatte. Vorsichtig öffnete er die Tür. Es knarrte leise, aber in einem Haus wie diesem knarrte es immer irgendwo.

Im Flur war es stockdunkel, doch Nick war gut vorbereitet. Er hatte während seiner Recherchen eine grobe Skizze des Grundrisses gefunden – das Anwesen hatte früher wohl einem Adeligen gehört. So gelang es ihm, ohne Taschenlampe zum Arbeitszimmer zu schleichen. Er hoffte, der Raum wurde nach wie vor dafür genutzt. Seiner Erfahrung nach bewahrten reiche Männer ihr Hab und Gut meistens im Arbeitszimmer auf. Um sicherzugehen, drückte Nick sein Ohr gegen die Tür und hielt die Luft an, doch nur das Pochen seines Herzens durchdrang die Stille.

Er wiederholte sein Ritual, schloss die Augen und betete stumm, dann drehte er langsam den Türknauf und stieß die Tür auf. Wie erwartet stand er in einem geräumigen Büro. Trotz der Dunkelheit nahm er das tiefe Mahagoni des Tisches wahr, der genug Platz für zwei Personen bot, sowie den dazu passenden Holzschrank mit der gläsernen Vitrine. Bingo – dort würde er sicherlich etwas finden, um seinen Vater zufriedenzustellen und ihm nie wieder auch nur irgendetwas schuldig zu sein. Es war das letzte Mal, dass er für ihn die Drecksarbeit machte, es war das letzte Mal, dass er für ihn eine Straftat begehen würde.

Leise schlich Nick sich näher an die Vitrine. Er streckte die Hand aus, drehte den Knauf und stockte.

»Wer ist da?!«, hörte er die Stimme eines Mannes. Schritte klangen vom Gang zu ihm.

Nick biss sich auf die Lippe und zog die Hand zurück. Mucksmäuschenstill stand er da und lauschte. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. War der Hausbesitzer doch zu Hause? Was sollte er nun machen?

Die Schritte wurden lauter. Panisch blickte Nick sich in dem düsteren Raum um. Das Fenster, fuhr es ihm durch den Kopf, und vor seinem inneren Auge sah er das Foto des Grundrisses. Das Fenster müsste zum Garten hinausführen, der an einen der umliegenden Gärten grenzte. Wenn er es schaffte, dorthin zu gelangen und ungesehen in den angrenzenden Garten zu rennen, konnte er entkommen, ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Vielleicht konnte er dann an einem anderen Tag noch einmal zurückkehren und den Job beenden.

»Ich habe eine Waffe, und wenn sich irgendein Dreckskerl hier in meinem Haus versteckt, scheue ich nicht davor zurück, diese auch einzusetzen!« Das Knurren des Mannes ließ keine Zweifel daran, dass er seine Drohung wahr machen würde.

Nick holte tief Luft, nahm all seinen Mut zusammen, rannte zum Fenster und stieß es auf. Wie von Sinnen sprang er hinaus, sprintete über die freie Rasenfläche, die Hände auf dem Kopf, als fürchtete er, jeden Moment von einer Kugel getroffen zu werden. Er überquerte die halbhohe Steinmauer, die das Grundstück zum anliegenden Haus abgrenzte, und rannte einfach weiter, ungeachtet der Tatsache, dass er weder wusste, wo er war, noch, ob Hunde, Alarmanlagen oder Sonstiges das Gelände schützten.

Erst als er direkt vor der geöffneten Terrassentür stand und in ein durch ein warmes Nachtlicht beleuchtetes Zimmer blickte, hielt er inne. Sein Herz klopfte so laut, dass Nick sich sicher war, jeder in seiner Umgebung müsste es hören. Für den Bruchteil einer Sekunde stand er einfach nur da, rang nach Atem, versuchte, seine zitternden Beine zu beruhigen und wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Als er wieder einigermaßen denken konnte, entschied er, es für heute gut sein zu lassen und nach Hause zurückzukehren – nicht, dass der Mann noch die Polizei gerufen hatte.

Nick wollte sich gerade umdrehen, um zurück zum Garten zu laufen, als er die Frau in dem großen Himmelbett bemerkte, das direkt hinter der Terrassentür stand, und innehielt. Ihre langen schwarzen Haare breiteten sich wie glänzende Seide auf der weißen Bettdecke aus, die erleuchtet war vom Lichtstrahl des Mondes, der durch das offene Fenster schien. Die Haut der Frau war weiß, als wäre sie seit Jahren nicht mehr in der Sonne gewesen, und schimmerte wie Porzellan. Und ihre Lippen …

Ein gellender Schrei ließ Nick zusammenzucken. Langsam drehte er sich um und blickte in die aufgerissenen Augen einer pummeligen Frau um die sechzig.

»Ähm … ich kann das erklären«, stammelte Nick perplex und hob beschwichtigend die Arme. Noch immer stand er direkt vor der offenen Tür, im Begriff zu gehen.

»Du perverser Schuft!«, brüllte die Frau mit bebender Stimme, und für einen Augenblick befürchtete Nick, sie würde auf ihn losgehen. Doch dann wanderte ihr Blick Richtung Bett, wo die schwarzhaarige Frau sich gerade verwirrt die Augen rieb.

»Was ist denn hier los?«, murmelte sie schlaftrunken.

Nick starrte sie überrascht an. Diese vollen Lippen, diese großen braunen Augen, der kleine Leberfleck an der linken Wange: Nick kannte die Frau. Er kannte sie nur zu gut, auch wenn er sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte.

»Du!«, keuchte er überrumpelt, ohne auf die polternden Schritte über ihm zu achten, die verrieten, dass noch jemand, vermutlich der Hausbesitzer, den nächtlichen Tumult bemerkt hatte.

Die Frau im Bett runzelte die Stirn und kniff die Augen zusammen, als versuchte sie, Nicks Gesicht einzuordnen, und fragte schließlich leise: »Kennen wir uns?«

Bevor Nick antworten konnte, kam ein Mann in den Raum gerannt, erblickte Nick am Rande des Zimmers und warf sich auf ihn. Stöhnend sank er zu Boden.

»Was machst du im Zimmer meiner Tochter!«, hörte er eine drohende Stimme und spürte gleichzeitig, wie der Mann sich mit seinem gesamten Gewicht auf ihn presste, sodass Nick die Luft wegblieb.

»Um genau zu sein, war ich gar nicht in ihrem Zimmer!«, presste Nick hervor und versuchte sich zu wehren, doch der Mann über ihm war zu stark. Und er drückte ihm die Luftröhre zu.

»Es tut mir leid, ich …«, stammelte er noch japsend, bevor er das Bewusstsein verlor.


»Daddy, du tust ihm weh!«, klagte Lola und setzte sich auf. Ihre Augen hingen noch immer an dem fremden Mann, der reglos unter dem massigen Körper ihres Vaters auf dem Boden lag.

»Du!«, hörte sie noch immer seinen überraschten Ausruf. Nachdenklich betrachtete sie sein Gesicht, die krumme Nase, die aussah, als wäre sie mindestens zweimal gebrochen worden, das dichte dunkle Haar, das bis an seine Schultern reichte, und den Vollbart, der dringend mal geschnitten werden musste. Nichts davon regte ihre Erinnerung an. Für sie war er ein völlig Fremder.

»Na, das hoffe ich doch«, brummte ihr Vater und stand ächzend auf, nachdem er sich vergewissert hatte, dass der fremde Mann sich nicht mehr regte. »Die Polizei müsste gleich hier sein.«

Frau Preuß, die Haushälterin, ließ sich erschöpft auf Lolas Lesesessel sinken.

»Gott sei Dank«, murmelte sie atemlos. »Solche Menschen sollten für immer eingesperrt sein. Ich meine, wer schleicht sich mitten in der Nacht an das Zimmer einer Lady? Mich so zu erschrecken … und Frau Maiser, die arme Frau Maiser … wie können Männer nur …«, brummelte sie weiter.

Polizeisirenen ertönten und überhallten Frau Preuß’ Verwünschungen.

»Schnell, Schatz, zieh dir etwas an!«

Karl Maiser warf seiner Tochter einen Bademantel zu und trat dann zu ihr, um ihr in den Rollstuhl zu helfen, der neben ihrem Bett stand.

Lola ließ es ohne Murren geschehen. Ihre Gedanken hingen noch immer dem Gesichtsausdruck des Fremden nach, als er sie angeblickt hatte. Hinter der Überraschung hatte so viel Schmerz gelegen, dass es Lola trotz des warmen Bademantels fröstelte. Wer war er nur, und was hatte er in ihrem Zimmer gesucht?


Langsam kam Nick wieder zu sich und brauchte einen Moment, um sich zu erinnern, wo er war und was geschehen war. Dann brach alles wieder über ihn herein. Der missglückte Einbruch, das Zimmer, das direkt an dem fremden Garten lag, die schwarzhaarige Frau. Er stöhnte leise und schlug die Augen auf. Noch immer lag er auf dem harten Parkettboden, doch das Gewicht, das ihm den Atem geraubt hatte, war weg. Dafür waren seine Arme nach hinten gebogen und gefesselt. Von seiner Position aus konnte er nur die Füße des Betts erkennen, doch er vernahm leise Stimmen.

»Was machen Sie jetzt mit ihm?«, hörte er eine Frauenstimme. Lolas Stimme. Es bestand kein Zweifel, dass sie es war. Automatisch zog sich sein Magen zusammen. Wie konnte sie ihn nur nicht wiedererkennen? Wie konnte sie die Monate mit ihm vergessen haben, selbst wenn es eine Ewigkeit her war? Gut, sie waren Jugendliche gewesen, nicht älter als fünfzehn Jahre, aber dennoch: War er für sie wirklich so unwichtig gewesen?

»Erst einmal nehmen wir ihn mit aufs Revier. Dann muss er eine Aussage machen, und letztendlich kommt es darauf an, ob Sie ihn anzeigen.«

Nick schluckte und hoffte inständig, dass der Mann aus dem anderen Haus nichts von dem Tumult mitbekommen oder ihn gar gesehen hatte. So konnte er immerhin darauf plädieren, ganz aus Versehen in dem Garten gelandet zu sein. Immerhin hatte er dieses Haus nicht betreten. Er kannte die polizeilichen Vorschriften – Hausfriedensbruch, ja, den hatte er begangen, aber keinen Einbruch.

»Aber …«, begann Lola, doch ihr Vater unterbrach sie barsch. 

»Das entscheiden wir dann.«

Nick spürte, wie ihn jemand unsanft hochzog.

»Da sieh einer an! Sie sind ja wach.«

Die Stimme des Polizeibeamten klang höhnisch, die blassen Augen blitzten, als bereitete es ihm Spaß, Menschen festzunehmen. Nick hätte sich gerne zu Lola umgedreht, doch er wusste intuitiv, dass der Polizeibeamte ihm bei jeder noch so kleinen Bewegung eins übergebraten hätte.

»Dann wollen wir mal aufs Revier fahren, Junge.«

Nick spürte, wie ein Ruck durch seinen Körper ging und die alte Wut hochkochte. Seine Augen blitzten, seine Hände ballten sich zu Fäusten.

»Was ist denn los, Junge? Willst du mir irgendetwas sagen?«

Die Stimme des Polizeibeamten klang drohend. Er packte Nick noch fester am Arm und verdrehte ihn leicht. Nick presste seinen Kiefer fest zusammen und zählte langsam bis zehn, so, wie es ihm vor Jahren gezeigt worden war. Langsam ebbte das übermächtige Gefühl in seinem Bauch ab.

»Nein«, sagte er leise. »Es ist nichts.«

Während die Polizisten ihn nach draußen führten, hingen seine Gedanken in seiner düsteren Vergangenheit fest. Wie in seinen nächtlichen Albträumen sah er seinen Pflegevater auf sich zukommen, den Gürtel in der einen, den Schlagstock in der anderen Hand. Er fragte ihn lächelnd: »Tja, du hast deine Aufgabe nicht richtig erledigt. Was darf es heute sein, Junge?«

Kapitel 2


»Du bist also NICHT in das Haus eingebrochen«, wiederholte der Polizeibeamte Nicks Worte.

Nick schüttelte den Kopf.

»Ich habe mich verlaufen, ich wollte eigentlich zu meiner Freundin«, log er. »Aber vor ein paar Tagen habe ich beim Fußballspielen eine ziemlich üble Gehirnerschütterung erlitten, und allem Anschein nach bin ich wohl doch noch nicht ganz so fit, wie ich dachte.«

Das mit dem nächtlichen Vergnügen muss also noch etwas warten, wollte er sagen, verkniff es sich aber in letzter Sekunde. Der Beamte, der sich um ihn kümmerte, schien zwar nicht ganz so übel zu sein wie derjenige, der ihn aufgegriffen hatte, doch auch er sah aus, als würde er zum Lachen eher in den Keller gehen.

»Wenn das stimmt, wie kommt es dann, dass Sie die junge Frau in dem Zimmer kennen? Herr Maiser meinte nämlich, dass sich seine Tochter in keiner Weise an Sie erinnert. Wie bitte schön ist das möglich? Sind Sie so etwas wie ein verrückter Stalker?«

Nicks Blick verfinsterte sich.

»Ja, genau. Ich … ein Stalker … vielleicht sollten Sie lieber einmal mit Lola sprechen, darüber, warum Sie sich nicht an mich erinnert«, sagte er unwirsch. Seine Schultern bebten und am liebsten wäre er aufgesprungen, wenn ihn seine Fesseln nicht daran gehindert hätten. Wenn er daran dachte, wie Lola und er … und jetzt … sie hatte ihn einfach aus ihrem Gedächtnis gelöscht.

Der Polizeibeamte schwieg einen Augenblick. Seine grauen Augen bohrten sich in Nicks grüne, als würde er gut überlegen, ob er ihm glauben sollte. Dann sagte er ruhig: »Okay, dann erzählen Sie mir doch einfach, woher Sie Lola kennen.«

Nick schluckte und zählte stumm bis zehn, bis sich das Brausen in seinem Kopf etwas legte, dann begann er dem Polizeibeamten von Lola und ihm zu erzählen, es war das erste Mal überhaupt, dass er über Lola sprach.


»Ich war was?«

Lola zog scharf die Luft ein. Nein, das war unmöglich. Die Ärzte hatten gesagt, es wären alle Erinnerungen zurückgekommen.

»Er lügt. Er muss lügen! Das kann gar nicht sein!«

Ihr Vater kniete sich vor ihr auf den Boden, genau dorthin, wo dieser fremde Mann, Nick, vor ein paar Stunden noch gelegen hatte. Sanft griff er nach ihren Händen, die wie Espenlaub zitterten, und hielt sie fest.

»Ich weiß, mein Engel. Aber ich habe darüber nachgedacht. Ich erinnere mich an einen Nick. Du hattest ihn mir zwar nie vorgestellt, aber deine Mutter hat mir von ihm erzählt. Und sein Bericht stimmt haargenau mit den Beschreibungen deiner Schule, deiner früheren Klasse und diesem einen Sommer überein.«

Ihr Vater seufzte erschöpft.

»Ich weiß, das ist viel, und du bist sicherlich durcheinander. Aber wir müssen der Polizei sagen, ob wir Anzeige gegen ihn erstatten wollen. Soll er den Tag über in der Zelle bleiben?«

Lola zuckte mit den Schultern, nickte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Ich weiß es nicht«, schluchzte sie. »Ich weiß gar nichts mehr.«

Nach ihrem schlimmen Reitunfall, der sie nicht nur an den Rollstuhl gefesselt, sondern auch ihr Leben völlig umgekrempelt hatte, hatte sie sich nur mühsam an ihren neuen Alltag gewöhnt – und noch immer gab es Tage, an denen sie am liebsten das Küchenmesser ergriffen und es sich in die Brust gerammt hätte. Ihre Beine waren nach wie vor gelähmt, doch immerhin konnte sie mittlerweile ihre Organe rund um den Darmausgang wie den Schließmuskel, aber auch die Blase und theoretisch auch ihre Geschlechtsteile, wieder verwenden – auch wenn sie bei Letzteren bezweifelte, dass sie je zum Einsatz kommen würden.

»Ich bin ein Krüppel!«, hatte sie früher in ihrer Verzweiflung häufig gebrüllt. »Wer würde schon ernsthaft einen Krüppel lieben?«

Dennoch hatte sie objektiv betrachtet Glück gehabt. Ihre Lähmung betraf keine weiteren Organe, ihre Atmung und ihre Lungenfunktion waren intakt, das Einzige, was sie ab und zu plagte, waren Schwellungen in ihren Beinen. Und den Ärzten nach hatte sie sich auch von ihrer schweren Kopfverletzung wieder erholt, was sie nun jedoch in Zweifel zog. Wenn es stimmte, dass sie diesen Nick komplett aus ihrem Gedächtnis gelöscht hatte, was konnte sie dann noch alles vergessen haben?

»Ich bin erschöpft. Ich werde mich etwas hinlegen«, sagte Lola stumpf. »Gute Nacht, Daddy!«


Karl betrachtete nachdenklich das Gesicht seiner Tochter. Sie wirkte so friedlich, so zart und engelsgleich, wenn sie wie jetzt tief und fest schlief. Er hätte ihr gerne über die blasse Wange gestrichen, doch er traute sich nicht. Er wollte sie nicht wecken, auch wenn die Wahrscheinlichkeit sehr gering war. Im Badezimmer hatte er das angebrochene Päckchen Schlaftabletten bemerkt, und die altbekannte Angst hatte sich wie so oft um sein Herz gelegt.

»Was soll ich nur machen?«, flüsterte er traurig. »Wie soll ich dir nur helfen?«

Seine Gedanken wanderten zu seiner geliebten Frau, die in Situationen wie dieser immer gewusst hatte, was zu tun war. Doch seine Frau war tot, und er musste alleine entscheiden, was für Lola das Richtige war.

Monatelang hatte er mit angesehen, wie sie in Depressionen versunken war, wie ihre Lebensfreude immer mehr an den Grausamkeiten des Schicksals zerbrochen war. Er hatte gebetet, geflucht und sich jede Sekunde gefragt, was er tun könnte, um seine Tochter aufzumuntern. Und jetzt auch noch das: ein Einbrecher, der einst das Herz seiner Tochter geraubt hatte!

Nachdem er mit den Polizisten geredet und Nicks Geschichte gehört hatte, war ihm wieder bewusst geworden, um wen es sich hier handelte: Um Lolas erste große Liebe. Eine unschuldige, alles umfassende Liebe, wie sie nur Teenager empfinden können, wenn sie das erste Mal in ihrem Leben Herzklopfen haben. Ein Gefühl, das so intensiv war, dass es alle anderen Empfindungen hintenanstellte und man glaubte, den bedeutendsten Moment seines Lebens zu empfinden. Auch wenn ihm klar war, dass dieser unschuldige erste Gefühlssturm eines fünfzehnjährigen Mädchens nicht unbedingt auf die Goldwaage gelegt werden durfte, so wusste er selbst nur zu gut, wie sich die erste Liebe anfühlte.

Und er fragte sich, ob dieser Einbruch in einer Straße voller Villen und teurer Anwesen, die alle noch prunkvoller als das seinige waren, wirklich nur Zufall gewesen war oder ob hier das Schicksal an die Tür seiner Tochter geklopft hatte. Er wusste es nicht und auch nicht, ob sein Vorhaben richtig war, doch er hatte sich entschieden.

Leise stand er auf und verließ das Zimmer. Er musste telefonieren.

Kapitel 3


»Nein, vergessen Sie es!«, war Nicks Antwort, sein erster Impuls, als er von dem Deal hörte. Er wollte schon wieder den Mund öffnen und den Beamten seine Meinung dazu deutlicher sagen, als er stockte. Was für eine Wahl hatte er denn? Sie hatten ihm klar und deutlich gesagt, dass er aufgrund einiger vorheriger Delikte einer Gefängnisstrafe oder dem betreuten Wohnen für »junge Menschen wie ihn« – damit waren kleinkriminelle Waisen gemeint – nur entgehen konnte, wenn er auf Herrn Maisers Angebot einging. Und Nick kannte zu viele Leute, die das bereits hinter sich hatten, um das Leben im Gefängnis zu unterschätzen. Er wusste, wie hart es darin zugehen konnte, und ihm war klar, dass er trotz seines muskulösen Körpers keine Chance gegen die meisten Insassen haben würde. Und er wusste auch, dass eine betreute Wohngruppe ihn zu sehr an die Zeiten im Waisenhaus erinnern würde, das er selbst nach so langer Zeit noch immer nachts vor sich sah.

»Okay, ich stimme zu«, presste er mühsam zwischen den Zähnen hervor.

»Gute Entscheidung, Junge. Und denk dran! Wenn du nur ein bisschen Ärger bereitest, sitzt du sofort ein!«

Der Polizeibeamte grinste ihm noch mal boshaft zu und öffnete dann die Zellentür. Nick konnte in seinen Augen ablesen, dass er nur darauf wartete, ihn erneut einsperren zu dürfen.

»Keine Sorge, ich bin brav wie ein Lämmchen«, murmelte er zynisch und folgte dem Beamten zum Ausgang. Er ließ sich sein Hab und Gut aushändigen, dann machte er sich auf den Weg zu dem schwarzen Mercedes, in dem Herr Maiser auf ihn wartete.


Nick war noch nie in einem derart noblen Auto gefahren. Es war ein schwarzer Geländewagen mit Ledersitzen in derselben Farbe. Selbst das Armaturenbrett war mit schwarzem Leder oder zumindest Lederimitat versehen. Nick fuhr mit den Fingern bewundernd über das weiche Material. 

»Interessierst du dich für Autos?«, fragte Herr Maiser, der seinen Blick bemerkt hatte.

Nick zuckte mit den Schultern und wandte die Augen ab. Was sollte er darauf sagen? Er hatte noch nie ein eigenes Auto besessen.

»Kannst du denn Auto fahren?«, fragte Herr Maiser weiter.

»Ja«, antwortete Nick lapidar. Das war das Einzige, was sein Pflegevater ihm ermöglicht hatte, und auch nur, damit er ihn chauffieren konnte, wenn er zu blau war, um einen Schritt geradeaus zu laufen.

»Wirklich gesprächig«, hörte er Herrn Maiser murmeln, während er den Motor startete. Stumm blickte Nick aus dem Fenster. Chance hin oder her – er würde ganz sicher nicht Small Talk mit diesem Mann führen.

»Okay, lassen wir das Geplänkel! Hör mir nun genau zu! Meine Tochter Lola hatte vor einiger Zeit einen schlimmen Unfall. Dabei wurde nicht nur ihr Rückenmark verletzt, wodurch sie ihre Beine nicht mehr bewegen kann, auch ihr Kopf erlitt böse Quetschungen. Die Ärzte hatten zwar gesagt, ihre Erinnerungen seien vollständig zurückgekommen, doch da du ihrem Gedächtnis entfallen bist, stimmt das offenbar nicht. Ich hoffe aber, dass sich das ändert, wenn du bei uns wohnst und sie im Alltag unterstützt. Ach, und, Nick, solltest du sie in irgendeiner Weise verletzen, traurig machen oder Sonstiges, dann werde ich dafür sorgen, dass du die nächsten Jahre nicht mehr aus dem Gefängnis rauskommst, haben wir uns verstanden?«

Sie hatten das Anwesen erreicht, das bei Tageslicht noch imposanter wirkte als bei Nacht. Die Backsteinfassade mit den riesigen Holzfenstern sah gepflegt und majestätisch aus, der Garten war so akkurat geschnitten und angelegt, dass vermutlich mehr als nur ein Gärtner sich darum kümmerte, und allein die Garage, die Herr Maiser per Knopfdruck öffnete, war größer als das Haus von Nicks Pflegefamilie. Er fragte sich, ob Lola schon damals hier gewohnt hatte. Schmerzhaft dachte er daran, dass er es niemals hatte erfahren können, dass sie ihn sang- und klanglos zurückgelassen hatte.

»Haben wir uns verstanden?«, wiederholte Herr Maiser drohend.

»Ja«, flüsterte Nick.

Herr Maiser nickte zufrieden und parkte den Wagen neben zwei weiteren Mercedes-Benz. Nick wollte die Tür aufstoßen, doch Herr Maiser hielt ihn zurück.

»Ach ja, und noch etwas. Solltest du die Finger nicht von ihr lassen können, schicke ich dich auch zurück in den Knast«, zischte er, während sich seine Augen in Nicks bohrten.

Nick erwiderte den finsteren Blick und presste »Niemals« heraus. Dann stieß er die Autotür auf und stieg aus. Dieser Mann sollte auf keinen Fall meinen, dass er sich von ihm einschüchtern ließ. Gefängnis oder Wohngruppe hin oder her – Nick ließ sich von niemanden mehr einschüchtern.


Nick staunte nicht schlecht, als Herr Maiser ihn herumführte. Trotz der hohen Decken, der gepflegten dunklen Parkettböden und der Kronleuchter, die im Gang und im Essbereich hingen, wirkten die Räume überraschend hell.

»Das Obergeschoss ist für dich tabu. Du hältst dich nur in den offenen Räumen auf, das bedeutet Küche, Wohnzimmer, Wintergarten, Badezimmer, Speisesaal. Lolas Schlafzimmer ist für dich ebenso tabu. Wenn Lola dort Hilfe braucht, ruft sie Frau Preuß, die Haushälterin. Und glaube mir – ich merke es sofort, wenn irgendwo etwas fehlen sollte. Das hier ist dein Zimmer. Schau es dir in Ruhe an und komm dann in den Speisesaal. Frau Preuß erklärt dir die wichtigsten Aufgaben.«

Herr Maiser stieß eine Tür auf und trat zur Seite, um Nick vorbeizulassen. Einen Augenblick lang blickte er ihn mit unergründlicher Miene an, als wollte er noch etwas hinzufügen, dann schüttelte er kaum merklich den Kopf und verschwand. Nick trat langsam in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Er ließ seinen Blick über das große schwarze Boxspringbett, den dunklen Holzschreibtisch samt Ledersessel und den dreitürigen verspiegelten Schrank gleiten. Selbst das Gästezimmer, das er nun bezog, war mit nichts zu vergleichen, was er kannte. Seufzend ließ er sich auf die weiche Matratze sinken. In was war er hier nur reingeraten?


»Jo, Nick. Wo treibst du dich rum? Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«

Nick ließ den Kopf auf die Laken fallen, wandte den Blick der weißen Decke zu und drückte sich das Handy ans Ohr.

»Hey, John, sorry, dass ich mich jetzt erst melde. Aber du glaubst nicht, wo ich gerade bin.«

John brummte nur. Den Geräuschen nach zu urteilen war er gerade entweder in der U-Bahn oder in einem Bus. Nick konnte durch den Telefonhörer das Gemurmel weiterer Menschen vernehmen sowie die Geräusche von Motoren.

»Du weißt doch, das Haus, in das ich gestern einsteigen sollte. Das mir mein Pflegevater aufgedrückt hat. Nun ja, ich wurde erwischt.«

»Oh Bro, was für ein Dreck! Sitzt du ein? Ich hab kein Geld, um deine Kaution zu bezahlen, das weißt du doch!«

»Nein, nein … ich bin nicht im Knast. Also nicht mehr«, unterbrach Nick ihn hastig. »Und ich brauche auch kein Geld. Hör zu, das war alles ziemlich verrückt. Also der Hausbesitzer war wohl doch daheim, deswegen bin ich rasch durch das Fenster geflüchtet und zu einem anderen Grundstück gerannt. Dort stand die Terrassentür sperrangelweit offen, und du glaubst nicht, wen ich dort getroffen habe. Lola!«

»Lola wer?«

»Lola, Lola Maiser. Du weißt schon. Das Mädchen, von dem ich dir damals erzählt habe, als wir uns kennengelernt haben!«

»Ah ja!«

John schien keine Ahnung zu haben, wovon er sprach. Doch das nahm Nick ihm nicht übel. John war noch nie der Schnellste gewesen, und Nick sah ein, dass seine Worte ziemlich verwirrend klingen mussten.

»Na ja, ist ja auch egal. Auf jeden Fall hatte sie einen Unfall oder so etwas, sitzt jetzt im Rollstuhl und hat ihr Gedächtnis verloren – also zumindest den Teil, in dem ich abgespeichert bin. Und ihr Vater hat mich jetzt für die nächsten Monate angestellt, um mich um sie zu kümmern.«

»Okay«, sagte John zögernd. Er schien noch immer nicht zu kapieren, was Nick ihm damit sagen wollte.

»Alter, ich wohne jetzt in diesem schicken Anwesen. Ich habe mein eigenes Reich und bekomme wöchentlich ein Gehalt, das mehr ist als das Monatsgehalt deiner Mutter. Und das Einzige, was ich machen muss, ist ein bisschen Babysitten. Damit kann ich nicht nur endlich meinen Pflegevater loswerden, ich kann vielleicht auch genug für eine Wohnung sparen.«

»Krasse Sache, Bro.« Endlich schien John zu kapieren. »Du schaffst es auch immer wieder, dich aus der Schlinge zu ziehen. Und ist diese Lola heiß?«

Nick schüttelte den Kopf. Typisch John.

»Alter, ja, aber hast du mich nicht verstanden? Wir reden hier nicht über ihren Körper oder ihr Gesicht. Sie sitzt im Rollstuhl, ich meine … das ist doch übel. Na ja, wie auch immer. Ich komm später vorbei und hol meine Sachen. Ich muss jetzt los. Die Haushälterin wartet. Hau rein!«

»Vielleicht ist die ja trotzdem heiß!«, hörte er John noch rufen, bevor Nick das Telefonat beendete.

Kopfschüttelnd steckte er das Handy weg. Allmählich begriff er selbst, was für einen Jackpot er gezogen hatte. Und auch wenn Herr Maiser der Meinung war, er würde es bemerken, wenn irgendetwas im Haus fehlte, so wusste Nick doch, dass das nur leere Worte waren. In einem Haus wie diesem war es schließlich unmöglich, jedes noch so kleine Detail genau zu kennen. Es war einfach zu groß.

Neugierig las er die gekritzelten Initialen der Künstler, die in den Ecken der Bilder zu sehen waren. Vielleicht kannte er ja einen davon? Immerhin interessierte er sich schon seit Kindestagen für Kunst und Kultur.

»Du hast was?«, hörte er sie fauchen.

»Indem du ihn hier anstellst? Indem er meinen Babysitter spielen soll?« Lolas Stimme überschlug sich beinahe vor Empörung.

»Ja, aber das bedeutet nicht, dass ich damit einverstanden bin, dass ein KRIMINELLER auf mich aufpasst – und vor allem nicht er!«

»Ich habe mich entschieden, und wir werden es versuchen. Keine Sorge, sollte er sich auch nur in irgendeiner Weise danebenbenehmen, dann kommt er sofort wieder hinter Gitter. Gib ihm aber bitte eine Chance. Ich muss jetzt los, bis später, Darling!«


Lola war aus ihrem Zimmer gekommen und blitzte Nick wütend an.

Perplex setzte sich Nick langsam wieder in Bewegung. In der aufgekratzten, zornigen Frau vermochte er die sanfte Lola von früher kaum wiederzuerkennen.

»Wo waren Sie denn so lange? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit!«, blaffte Frau Preuß, als er den Speisesaal betrat.

»Tut mir leid«, sagte er mit zuckersüßer Stimme und trat an den Tisch, der so lang war, dass er einer Tischreihe in einer Cafeteria Konkurrenz machen könnte.

Frau Preuß schob ihm einen braunen Ordner zu, der Nick an seine frühere Schulakte erinnerte. Er war ziemlich dick.

Jetzt wurde ihm bereits zum zweiten Mal an einem Tag eingebläut, dass er Lola auf keinen Fall in irgendeiner Hinsicht wehtun durfte. Bei ihrem Vater hatte er noch vermutet, es läge an seinem Beschützerinstinkt, doch die Eindringlichkeit der Haushälterin irritierte ihn.

Frau Preuß zog scharf die Luft ein, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und wandte sich dann wieder dem Ordner zu, ohne seine Frage zu beantworten.

Bevor Nick noch irgendetwas sagen konnte, rauschte sie davon.