Die Autorin

Lurleen Kleinewig – Foto © privat

Lurleen Kleinewig, geboren 1975 im niedersächsischen Langenhagen, ist seit ihrer Kindheit von Pferden fasziniert. Bereits als Teenagerin schrieb sie ihr erstes Manuskript für einen Roman, in dem sie ihre Leidenschaft für Irland zum Ausdruck brachte, die sie bis heute nicht losgelassen hat. Nach einem Studium der Germanistik und Anglistik wechselte sie zum Tourismus und bewarb jahrelang ihre Wahlheimat Ostfriesland als Feriengebiet. Sie blieb ihrer Liebe zum Lesen und Schreiben treu, betrieb einen Blog und veröffentlicht als Hobbyautorin regelmäßig Fachartikel in einem lokalen Tierschutzmagazin. Sie lebt heute mit sechs Katzen und einem Pferd in ihrem eigenen „Minihaus“ im Nordharz.

Das Buch

Das Glück wartet hinterm Deich

Die 34-jährige Róisín, halb Irin, halb Ostfriesin, steht vor den Scherben ihrer Ehe. Von einem Tag auf den anderen hat ihr Mann ihr eröffnet, dass er sie nicht mehr liebt. Zum Glück kennt ihr bester Freund Sean die Lösung für den Neuanfang: Er vermietet Róisín und ihren Katzen sein winziges Häuschen mit verwildertem Garten in Ostfriesland. Das Minihaus, wie sie es tauft, ist der einzige Lichtblick in ihrem tristen Alltag. Um Róisín auf andere Gedanken zu bringen, stellt Sean ihr seinen attraktiven Kumpel Enda vor. Der ist gebürtiger Ire und hat gerade einen alten Hof in der Nähe gekauft, auf dem er Pferde gewaltfrei ausbilden möchte. Mit Endas Hilfe lernt Róisín das Leben wieder zu schätzen. Doch obwohl die beiden von Anfang an eine besondere Vertrautheit verbindet, ist Róisín sich nicht sicher, ob sie es schafft, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und ihr Herz neu zu öffnen …

Lurleen Kleinewig

Das kleine Haus am Deich

Ein Nordsee-Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Januar 2019 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-410-7

Auf einigen Lesegeräten erzeugt das Öffnen dieses E-Books in der aktuellen Formatversion EPUB3 einen Warnhinweis, der auf ein nicht unterstütztes Dateiformat hinweist und vor Darstellungs- und Systemfehlern warnt. Das Öffnen dieses E-Books stellt demgegenüber auf sämtlichen Lesegeräten keine Gefahr dar und ist unbedenklich. Bitte ignorieren Sie etwaige Warnhinweise und wenden sich bei Fragen vertrauensvoll an unseren Verlag! Wir wünschen viel Lesevergnügen.

Hinweis zu Urheberrechten
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Kapitel 1


Ich heiße Róisín. Das ist irisch und bedeutet »kleine Rose«. Ich bin vierunddreißig, halb Irin, halb Ostfriesin, und mein Leben – oder zumindest der Teil davon, der meine Ehe betrifft – ist nur noch ein Haufen Schrott und Asche.

Als ich ungefähr fünf war, war das mein Lieblingsausdruck. Wenn etwas kaputtging oder mir nicht mehr gefiel, dann nannte ich es »Schrott und Asche«. Dass meine eigene Ehe irgendwann ein Schrotthaufen sein würde, wäre mir als Kind glücklicherweise nie in den Sinn gekommen. Jedenfalls, das ist die Kurzfassung.

Mittlerweile gibt es den einen oder anderen Silberstreif am Horizont, womit ich schon fast nicht mehr gerechnet hätte. Vielleicht ist auch bloß genügend Zeit vergangen, die ja angeblich alle Wunden heilt. Ha! Was für ein zynischer Schwachsinn. Ich behaupte, Zeit macht es höchstens leichter, mit den Wunden zu leben. Weil man sich an sie gewöhnt. So sieht's aus.

Vor einer Woche bin ich in ein winziges Haus mit einem verwilderten Garten gezogen, das ich unbegreiflicherweise mieten konnte. Unbegreiflich deshalb, weil ich in der Regel nicht so viel Glück habe. Wenn man sich etwas schon sehr lange wünscht und es nie bekommt, dann hört man irgendwann auf, an die Erfüllung dieses Wunsches zu glauben. Desillusioniert ist das richtige Wort dafür, schätze ich. Desillusioniert ist mein Wort! Und nun ist das Wunder wahr geworden: Simsalabim, da ist das Häuschen, ganz für mich allein. Obwohl der Plan eigentlich immer auch den dazu passenden Ehemann vorsah. Aber anscheinend kann ich nicht beides haben.

Das Universum hat echt einen seltsamen Humor. Wenn es dir etwas wegnimmt, gibt es dir dafür etwas anderes. Nicht unbedingt exakt das, was du dir in diesem Moment erträumst, aber immerhin. Friss oder stirb, und dann mach das Beste draus.

Das Haus gehört einem Freund von mir namens Sean. In den vergangenen Jahren hatte ein älteres Ehepaar darin gelebt, doch die beiden waren vor Kurzem ins Altersheim übergesiedelt. Zurück blieben reichlich verwohnte, nikotingelbe Räume und ein alter Kater, der im Geräteschuppen hauste und mich von der ersten Sekunde an mied wie der Teufel das Weihwasser.

»Tu mir einen Gefallen«, bat Sean mich bei der ersten Besichtigung, als ich mit großen Augen die schiefen Wände, das tiefgezogene Dach und den in Pink- und Lilatönen blühenden Garten bestaunte. »Stell es dir vor, wie es aussieht, wenn ich hier erst mal eine Putzkolonne und die Maler durchgejagt habe, ja? Ich brauche jemanden, der sich ein bisschen um das Haus kümmert. Und um den Garten natürlich. Der alles in Schuss hält. Die beiden Alten haben am Ende überhaupt nichts mehr getan außer im Sessel zu sitzen und wie die Schlote zu qualmen. Kaum zu glauben, dass sie überhaupt noch leben.«

Er verzog säuerlich das Gesicht, während mein Herz einen Luftsprung machte und jubelte. Zum ersten Mal seit ich weiß nicht wann fühlte ich etwas anderes als Traurigkeit oder Wut. Euphorie, das traf es ziemlich gut.

Aufgeregt wandte ich mich an Sean: »Ich nehme es. Mach mir einen vernünftigen Preis, und ich miete es auf der Stelle!«

Jetzt war es an Sean, mich erstaunt anzustarren. »Den auch?«, fragte er und zeigte auf den struppigen schwarz-weißen Kater, der gerade durch den Garten schlich und dabei einen möglichst großen Bogen um uns schlug. Sein Blick drückte abgrundtiefe Verachtung aus.

»Natürlich«, erwiderte ich ungeduldig. »So ein altes Tier kann man doch nicht mehr umsiedeln.«

Ich war vernarrt in Katzen. Mein eigener Bestand war vor Kurzem von fünf auf drei Tiere geschrumpft – ein weiterer trauriger Meilenstein in einem durch und durch beschissenen Jahr. Zwei Katzen innerhalb von acht Wochen unerwartet zu verlieren, war an sich schon mehr, als ein Mensch ertragen konnte, aber im Kielwasser meiner kürzlich gescheiterten Ehe brachte es mich fast um den Verstand. Mein Leben fiel in sich zusammen wie eine Sandburg. Einer nach dem anderen schien mich zu verlassen.

Aber ich bekam mein Haus. Das Minihaus, wie ich es im Stillen taufte, gerade mal sechzig Quadratmeter groß. Das hielt mich aufrecht. Auf meine Bitte hin ließ Sean es drinnen komplett weiß streichen. Die alten Fußbodendielen bekamen eine Generalüberholung, ebenso das Badezimmer, das eindeutig noch aus den Siebzigern stammte. In die lila Kacheln an den Wänden war ich sofort verknallt und verbot Sean, sie anzurühren. Dafür kümmerte er sich höchst selbst um tropfende Wasserhähne und undichte Fenster. Und schließlich war es so weit: Ich konnte einziehen.

Dass ich zuvor die riesige Altbauwohnung, die ich jahrelang gemeinsam mit meinem Mann bewohnt hatte, quasi im Alleingang auflösen musste, verschwieg ich Sean. Ebenso, dass jedes Treffen mit meinem Ex in Geschrei und Tränen endete. Vermutlich konnte er sich das selbst zusammenreimen.

Dabei gab es nicht mal Streit um Möbel, Bücher oder Küchengeräte. Wir konnten einfach nicht mehr miteinander reden, und das war eigentlich das Schlimmste. Wenn ich Marco vorwarf, dass er sich fernhielt und mir die Drecksarbeit überließ, brüllte er mich an, dass er meine ewigen Anschuldigungen satthätte. Und schon steckten wir mitten in der schönsten Grundsatzdiskussion. Es war wie ein Albtraum.

Die Organisation meines eigenen Umzugs hatte mich meine letzte Kraft gekostet. Ich schaffte es gerade noch, einen Heulkrampf abzuwenden, als sich nach der letzten Möbelfuhre Kisten und Kartons unter freiem Himmel türmten und sich ein Wolkenbruch ankündigte. Im Minihaus war nicht mehr genügend Platz, und das war im wahrsten Sinne des Wortes der Tropfen, der das Fass – beinahe – zum Überlaufen brachte.

Sean, der wie meine Schwester und einige wenige alte Freunde zum Helfen gekommen war, sah meinen verzweifelten Gesichtsausdruck und stellte sich mir in den Weg. »Hey«, sagte er eindringlich. »Es ist nur Wasser! Alles halb so wild.«

Ich starrte ihn an und fragte mich, was zur Hölle ich hier eigentlich tat. Ich wollte das alles nicht. Ich wollte nicht allein in diesem Haus leben, nicht ohne meinen Mann. Ich hatte das wilde Bedürfnis, alles rückgängig zu machen, damit mein Leben wieder war wie früher.

Stattdessen musste ich es durchziehen. Diesen mörderischen Tag hinter mich bringen. Ich hatte keine Wahl; es gab keinen Ausweg, kein Schlupfloch zurück in die Vergangenheit. Das Ganze war so endgültig wie der Tod, und ich war nur einen Atemzug davon entfernt, zusammenzubrechen und zu brüllen wie ein sterbendes Tier. Aber irgendwie schaffte ich es, mich noch einmal am Riemen zu reißen. Wahrscheinlich war es nur der Anwesenheit meiner Helfer zu verdanken, dass ich durchhielt.

Der Umzug war nun eine Woche her. Ich hatte mich beruhigt und meine Nerven wieder einigermaßen im Griff. Der Gedanke, allein im Minihaus zu wohnen, verursachte mir keine Erstickungsanfälle mehr. Es war Samstagmorgen, die Sonne schien, und ich hatte ein langes freies Wochenende vor mir, das ich ganz in Ruhe beginnen wollte.

Mit einem Pott Kaffee in der Hand und noch im Nachtshirt schlurfte ich durch die Hintertür auf die Terrasse hinaus und ließ mich in einen der alten Holzstühle fallen, die noch von den Vormietern stammten. Es war Anfang Juni und herrlich warm. Ich schloss die Augen und kostete ein paar Minuten lang den unglaublichen Luxus aus, dass ich hier in meinem eigenen Garten hinter meinem eigenen Haus sitzen und tun und lassen konnte, was ich wollte. Auch wenn alles nur gemietet war – das Minihaus schien auf mich gewartet zu haben. Es war wie für mich gemacht.

Hierfür würde ich Sean ewig dankbar sein, selbst wenn ich noch vor einer Woche ganz und gar nicht den Anschein erweckt hatte. Als ich ihm das sagte, wollte er nichts davon hören.

»Wir Iren müssen zusammenhalten«, hatte er auf Englisch im breitesten Kerry-Dialekt genuschelt und mir grinsend auf die Schulter geklopft. Doch ich wusste, dass er es nicht nur deswegen getan hatte. Sean war eine gute Seele, auch wenn man das hinter seiner robusten, rotblonden Paddy-aus-Irland-Fassade nicht unbedingt vermutete. In Wahrheit hieß er auch gar nicht Sean, sondern Sven und war ein waschechter Ostfriese, aber dazu später mehr.

Ich kannte ihn erst seit einem guten halben Jahr. Damals hatte er gerade die reichlich heruntergekommene Kneipe im alten Bahnhof übernommen und einen zünftigen irischen Pub daraus gemacht, in dem ich mich nach der Trennung von Marco jedes Wochenende systematisch volllaufen ließ. Dabei kam ich mit Sean ins Gespräch. Er konnte es kaum fassen, mitten in der ostfriesischen Provinz eine echte Irin – na ja, Halbirin – zu treffen.

Wir hatten einander unsere verworrenen Familiengeschichten erzählt, während er Bier zapfte und ich mich meinem Wodka-O widmete. Und auch als ich mein Leben wieder so weit unter Kontrolle hatte, dass ich mich nicht mehr jeden Samstagabend bis kurz vorm Filmriss betrank, hatte ich die Gewohnheit beibehalten, Sean mindestens einmal die Woche im Pub zu besuchen. Er gab mir ein leises Gefühl von Geborgenheit, so als würde ich bei einem Familienmitglied im Wohnzimmer sitzen und über die Ereignisse der Woche plaudern.


Ein unwirsches, lang gezogenes Maunzen unterbrach meine Gedanken. Ich blickte auf und entdeckte den alten schwarz-weißen Kater der Vormieter, den ich Fred getauft hatte. Er stand nur zwei Meter von meinem Gartenstuhl entfernt und starrte mich missbilligend an. Mittlerweile hatte er zwar begriffen, dass er bei mir gefüttert wurde wie ein König, aber das bedeutete noch lange nicht, dass ich ihn anfassen durfte. Im Gegenteil, seinem Blick nach zu urteilen hielt er mich für eine niedere Spezies, gerade gut genug, ihm erlesene Speisen zu kredenzen. Ich vergötterte ihn jetzt schon.

»Hi, kleiner Opa. Du kannst doch nicht schon wieder Hunger haben?«

Da ich wusste, dass er sein misstönendes Altmänner-Miauen erst einstellen würde, wenn ich seinen Futternapf frisch gefüllt hatte, schnappte ich mir meinen leeren Kaffeepott und begab mich in die Küche, um uns beide zu versorgen. Der Kater folgte mir bis zur offenen Hintertür und blieb dort stehen. Freiwillig setzte er keinen Fuß ins Haus, aber ich wusste, das konnte sich noch ändern. Vorläufig hatte ich ihm in einer geschützten Ecke der Terrasse einen Futterplatz eingerichtet. Auch sein altes Lager im Geräteschuppen hatte ich durch neue Schlafplätze ersetzt, inklusive eines luxuriösen Katzenbettchens auf der ehemaligen Werkbank unter dem Fenster. Dort lag Fred gern in der Sonne und hielt Hof, wie ich beobachtet hatte.

Meine eigenen drei Katzen Hilde, Wilma und Leli lungerten wie zufällig in der schmalen Küche herum. Sie belagerten die beiden Fensterbänke und starrten immer wieder misstrauisch nach draußen, weil sie den Feind in Form von Fred im Auge behalten wollten. Vor die Tür traute sich keine von ihnen, aber lange konnte es nicht mehr dauern, bis sie der Versuchung nachgaben.

Ich war schon immer eine »Crazy Cat Lady« gewesen. Da wiederholt Katzen aus dem Tierschutz bei mir hängen blieben, die keine Chance auf Vermittlung hatten, wuchs ihre Anzahl im Laufe der Jahre. Marco fand meinen Katzenfimmel stets ein bisschen übertrieben. Für ihn hätte es auch eine Katze im Haushalt getan, alles andere hielt er für spleenig.

Marco hasste es, aus der Reihe zu tanzen. Alles, was abwich von dem, was gemeinhin als normal galt, war ihm ein Gräuel. Doch in diesem Punkt ließ ich nicht mit mir reden. Heute war ich froh, seinem Gemurre nie nachgegeben zu haben, denn ohne meine pelzigen Seelentröster hätte ich unsere Trennung nicht überlebt.

Nachdem ich den Kater gefüttert und mir selbst frischen Kaffee gemacht hatte, setzte ich mich mit dem Handy an den Küchentisch, um eine Einkaufsliste zu schreiben. Es war schon fast elf Uhr, und ich hatte noch nicht mal geduscht; der Kühlschrank war so gut wie leer, und ich musste noch in den Baumarkt. Am Abend wollte ich dann bei Sean im Pub vorbeischauen.

Ganz automatisch und ungefähr zum hundertsten Mal an diesem Tag öffnete ich WhatsApp, um nachzuschauen, ob Marco mir in der Zwischenzeit geschrieben hatte. Keine neuen Nachrichten – was ich längst wusste, denn ich hätte sie sonst natürlich in der Vorschau auf dem Display entdeckt. Dieses ständige Nachsehen war wie ein Zwang und frustrierte und deprimierte mich gleichermaßen. Genervt legte ich das Handy auf den Tisch und ging duschen, um mich abzulenken und endlich etwas Produktives zu tun.

Es war über sechs Monate her, seit mein Mann mich verlassen hatte, und ich war nicht mal annähernd bereit zu akzeptieren, dass es wirklich endgültig aus war zwischen uns. Ehrlich gesagt, konnte ich noch immer nicht fassen, dass wir überhaupt getrennt waren. Dass unsere Ehe, unsere Beziehung so ganz und gar hatte schiefgehen können.

Wenn ich mich zurückerinnerte, war unsere Liebe einmal so groß gewesen wie das Universum. Und ebenso einzigartig. Sie konnte nicht einfach tot und vergangen sein. Zumindest weigerte ich mich, das zu glauben. Wir hatten noch nicht über Scheidung gesprochen. Dieses Thema mieden wir beide, wenn auch vermutlich aus unterschiedlichen Gründen. Aber wenn ich ehrlich zu mir selbst war, was selten geschah, gab es nicht das kleinste, nicht das geringste Anzeichen dafür, dass Marco beabsichtigte, zu mir zurückzukehren.

»Ich liebe dich nicht mehr«, hatte er an einem Abend im vergangenen Herbst zu mir gesagt, nachdem er mir eröffnet hatte, dass er darüber nachdachte, sich von mir zu trennen. Er klang halb resigniert, halb verzweifelt. »Schon lange nicht mehr. Diese Ehe ist wie ein Gefängnis. Ich langweile mich und fühle mich eingesperrt. Offen gestanden will ich nur noch weg.«

Aber ich liebe dich noch, wollte ich ihm ins Gesicht schreien, doch ich bekam keinen Ton heraus, weil seine Worte so furchtbar wehtaten und ich nicht glauben konnte, dass er wirklich meinte, was er sagte. Es war unmöglich, dass er mich nicht mehr liebte. Wir waren Seelenverwandte. Unsere Liebe war unzerstörbar. Wir hatten vor zehn Jahren geheiratet, weil wir beide es aus ganzem Herzen wollten.

Und doch war es ihm ernst. Er war nicht mit Absicht grausam, doch er hatte sich längst von mir entfernt, und ich hatte es nicht bemerkt. Oder die Augen davor verschlossen. Wie sonst hatte es so weit kommen können? Ich hätte bis zum letzten Atemzug um unsere Ehe gekämpft, denn ich konnte und wollte nicht ohne ihn leben. Allein der Gedanke löste Panik in mir aus. Wenn er mich verließ, würde ich sterben. Ich war bereit, alles zu ändern, und damit meinte ich wirklich alles. Aber er wollte nicht. Nicht mehr. Ungefähr sechs Wochen und zahllose Streits später, inklusive nächtlicher Diskussionen, halbherziger Annäherungsversuche und dramatischer Szenen, zog er aus.

Seit er fort war, herrschte in meinem Inneren eine Art Ausnahmezustand, der einfach nicht enden wollte. Die irrationale, emotional gesteuerte Róisín benahm sich wie eine angekettete Verrückte: Sie wand sich, lärmte, argumentierte wirr und weigerte sich eisern, ihre Situation zu akzeptieren.

Dieser Zustand zerstörte mich. Er fraß mich bei lebendigem Leib auf, doch es gab nichts, was ich tun konnte, um ihn zu beenden. Die Sehnsucht nach Marco behielt Tag und Nacht die Oberhand. Ich wollte ihn um jeden Preis zurückhaben, denn ohne ihn an meiner Seite war mein Leben nichts wert. Ich war nichts wert. Davon war ich felsenfest überzeugt.


Es wurde kein guter Tag. Beim Einkaufen traf ich ein Paar aus Marcos und meinem Freundeskreis. Ich erstarrte förmlich zur Salzsäule, als ich die beiden entdeckte – und sie mich. Mit Begegnungen dieser Art konnte ich zurzeit nicht besonders gut umgehen, weil sie mich zu sehr an die Vergangenheit erinnerten und an das, was nicht mehr war. Hinzu kam, dass ich mich verstellen und gute Miene zum bösen Spiel machen musste, wenn ich die Form wahren wollte. Das ging eindeutig über meine Kräfte.

»Rosh, Mensch, wir haben uns ja ewig nicht gesehen! Du siehst toll aus … und dünn bist du geworden … Wahnsinn. Ich freue mich!« Nina ging sichtlich auf in der Rolle der überschwänglichen und gut gelaunten Freundin, die sich wahnsinnig freute.

Am Arsch, dachte ich. Du hast dich ein beschissenes halbes Jahr lang nicht ein einziges Mal bei mir gemeldet.

»Tja.« Ich gab mir Mühe, mein Lächeln nicht allzu gequält und meine Stimme nicht gekünstelt klingen zu lassen, auch wenn sie sich irgendwie schrill anhörte. »Ich nenne es ›die Trennungsdiät‹. Damit wirst du ruckzuck zehn Kilo los!« Na ja, eigentlich waren es nur neun gewesen. An dieser Stelle jedenfalls bitte fröhlich lachen – nein, das klang eher nach einer Kettensäge. Zumindest reichlich hysterisch. Ich musste hier weg.

Aber Nina drehte nun richtig auf. Nach einer Schrecksekunde, in der sie verstummte, weil ich das Wort »Trennung« in den Mund genommen hatte, fuhr sie übergangslos fort, mich mit einem Wortschwall zu überschütten. Verlegenheitsgequatsche hätte ich es an einem besseren Tag vermutlich genannt, aber heute widerte mich ihr demonstrativ munteres Geplauder einfach nur an. Ihr Mann Jannik stand die ganze Zeit stumm daneben und tat so, als sähe er mich zum ersten Mal. Jedenfalls hätte er nicht teilnahmsloser sein können.

Nach einigen schier endlosen Minuten, angefüllt mit belanglosem Blabla und einsilbigen Antworten meinerseits, war ich erlöst.

»Wir müssen dann auch weiter. War schön, dich zu sehen, Rosh. Bis bald mal wieder. Tschüss!« Nina winkte mir leutselig zu und zog mit einem sichtlich erleichterten Jannik im Schlepptau von dannen. Ich wusste nicht, ob ich kotzen oder in Tränen ausbrechen sollte, und sah zu, dass ich zu meinem Auto kam.


Nach dieser Begegnung war ich mal wieder in absoluter Selbstmordstimmung. Ich wuselte durch die zweieinhalb ebenerdigen Zimmer des Minihauses, durch dessen alte Holzfenster die Sonne hereinschien, und heulte vor mich hin. Das ging prima nebenbei, während ich die Einkäufe verstaute, meine restlichen Bücher aus den Umzugskartons in die Regale im Wohnzimmer räumte, das Bett frisch bezog und dabei Billy Talent auf voller Lautstärke hörte.

Diese Arschlöcher … nicht Billy Talent, sondern Nina und Jannik. Erst scherten sie sich über Monate einen Dreck darum, ob ich lebte oder am nächsten Baum hing, und dann führte Nina eine Schmierenkomödie der Wiedersehensfreude auf. Mit keinem Wort hatte sie Marco oder seinen Auszug erwähnt, obwohl sie natürlich genau darüber Bescheid wusste. Mich hatte sie nicht mal gefragt, wie es mir ging oder wo ich jetzt wohnte. All die Monate nicht ein Anruf, nicht mal eine Textnachricht. War es Feigheit? Oberflächlichkeit? Oder, noch schlimmer, totale Gleichgültigkeit?

Der Gedanke tat weh – so weh, dass ich mich hinsetzen musste. Noch eine bittere Pille, die ich zu schlucken hatte, ob ich wollte oder nicht. Was hatte ich noch nicht mitgekriegt in den letzten Jahren? Was in aller Welt stimmte nicht mit mir?

Abends im Pub hätte ich liebend gern Sean mein Leid geklagt, aber der hatte alle Hände voll zu tun, weil die Kneipe bis auf den letzten Platz besetzt war. Der Abend war schon ziemlich weit fortgeschritten, als er sich schließlich für eine kurze Pause zu mir ans Ende der Bar setzte.

»Okay, Lass. Was ist los? Du siehst nicht gerade glücklich aus.«

Lass war die irische Koseform für »Mädchen«. Es war nett von ihm, mich so zu nennen, aber mich konnte gerade rein gar nichts aufheitern.

Er leerte ein Glas Cola in großen Zügen und wischte sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn. Seine rotblonden Haare, die er halblang trug, wirkten ein wenig zerzaust.

»Irgendwas ist passiert. So gut kenne ich dich mittlerweile.«

»Ach, nichts Dramatisches. Ich habe beim Einkaufen bloß Nina und Jannik getroffen. Mit denen waren wir früher … also, das sind Freunde von Marco und mir. Oder zumindest dachte ich, dass sie das wären«, grollte ich und rührte schlecht gelaunt in meinem alkoholfreien Cocktail. Kein Wodka mehr für Róisín, oh nein! Davon hatte ich in der jüngeren Vergangenheit einfach zu viel konsumiert.

Sean musterte mich aufmerksam. »Und das nimmt dich so mit? Oder haben sie sich blöd verhalten?«

Ich schilderte ihm Ninas Auftritt in Kurzform und hätte schon wieder heulen können. Sean sah mich mitfühlend an. »Lass dich doch von solchen Luftpumpen nicht runterziehen. Scheiß drauf, hörst du? Wahrscheinlich sind sie völlig überfordert mit der Situation und wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Vergiss sie einfach. Du hast genug richtige Freunde.«

Er schenkte sich noch ein Glas Cola ein. Ich schwieg, während ich über seine Worte nachdachte. Vermutlich hatte er recht, aber das machte es irgendwie nicht besser.

»Übrigens …« Sean rülpste ungeniert und fuhr sich durch die Haare, um dann direkt mit der Tür ins Haus zu fallen. Das war so seine Art. »Was hältst du davon, mir hier im Pub zu helfen? Nur so an ein, zwei Abenden in der Woche. Mir ist heute schon die zweite Aushilfe abgesprungen, die machen mich noch wahnsinnig … und du könntest dringend Ablenkung vertragen. Hier kommst du garantiert auf andere Gedanken.«

Sein Lachen klang ein bisschen unheilverkündend, aber vielleicht bildete ich mir das auch bloß ein.

»Hä? Ich soll für dich arbeiten? Kellnern, meinst du?«

»Kellnern, an der Theke stehen, was so anfällt. Los, gib dir einen Ruck. Ich kann dir kein Staatsgehalt zahlen, aber das Trinkgeld kannst du behalten. Wirst bestimmt reichlich kriegen. Die Tresenschlampe steckt dir doch im Blut.« Diesmal lachte er lauter und obendrein noch ziemlich unverschämt. Ich versetzte ihm einen Stoß, sodass er fast von seinem Hocker fiel. Und damit war die Sache eigentlich abgemacht.

Ich würde also für Sean arbeiten. Na schön, warum nicht? Das mit der Ablenkung war ein Argument. Der Extraverdienst sowieso. Außerdem wurde ich den Verdacht nicht los, dass ich mit diesem Job irgendwie meine Vorsehung erfüllte, denn nicht nur Sean hatte eine Affinität zu irischen Pubs. Und das wusste er natürlich ganz genau.

Dass er in Wirklichkeit Sven hieß und gebürtiger Ostfriese war, hatte ich ja schon erwähnt. Mit Ende zwanzig hatte er von heute auf morgen alles hingeschmissen, war nach Irland gegangen und dort fast zehn Jahre lang geblieben. Er hatte in der Gastronomie und im Hotelwesen gearbeitet und war im ganzen Land herumgekommen.

Der Grund, aus dem er überhaupt in seine alte Heimat zurückkehrte, war eine Erbschaft gewesen. Der jüngere Bruder seines längst verstorbenen Vaters war einem Krebsleiden erlegen und hatte Sven und seinen Geschwistern diverse Immobilien vermacht, darunter ein Hotel und mehrere Ferienhäuser, was an der ostfriesischen Küste einer Art Goldgrube gleichkam.

Abgesehen vom Minihaus, das, wie ich erst später erfuhr, das Geburtshaus seines Vaters war, hatte Sven seine Anteile nach kurzer Zeit an seine beiden Brüder verkauft und sich eine Eigentumswohnung direkt am Wasser geleistet. Dann hatte er sich die alte Bahnhofskneipe des Ortes vorgenommen und sie mit viel Liebe und Geld in einen Pub verwandelt, der den Vergleich mit irischen Originalen nicht zu scheuen brauchte. Als ich das ihm gegenüber einmal erwähnte, platzte er fast vor Stolz.

Mein letzter Besuch in Irland war zwar schon fünfzehn Jahre her – ich war damals knapp zwanzig gewesen und hatte mir eingebildet, ich könnte meinen Vater dazu bringen, von meiner Existenz Notiz zu nehmen -, aber ich hatte genügend Pubs von innen gesehen, um das beurteilen zu können. Vor allem den meiner Großeltern väterlicherseits. In einem abgelegenen Nest im Nordwesten Irlands, direkt am berühmten »Wild Atlantic Way«, führten sie O'Reilly's in der gefühlt fünfzigsten Generation. Damit lag mir das Kneipengeschäft sozusagen offiziell in den Genen.

Als ich Sven von alledem erzählte, war er baff. Von diesem Tag an war ich seine Verbündete. Er vertraute mir an, dass er sich Sean nannte, um als Pubbesitzer authentischer zu wirken. Da wir in einem Küstenort wohnten, wurde der Pub besonders im Sommer von vielen Touristen besucht, die sich beeindruckt zeigten, wenn sie von einem vermeintlich echten Iren bedient wurden. Unnötig zu erwähnen, dass der Laden brummte.

Und weil es so naheliegend war, ging ich selbst dazu über, Sven Sean zu nennen. Dass er nicht wirklich so hieß, hatte ich schon fast vergessen.

Angesichts all unserer Gemeinsamkeiten wunderte es mich kein bisschen, dass er und ich uns so gut verstanden. Wir teilten sogar den seit Langem nicht mehr vorhandenen Vater, auch wenn seiner unfairerweise tot war und meiner quicklebendig. Arschlöcher lebten eben länger.