Die Autorin

Claire Bonnett – Foto © privat

Claire Bonnett, geboren 1997, wuchs in einem lebhaften Bibliothekars-Haushalt auf und schreibt seit ihrer Kindheit eigene Geschichten. Inspiration findet sie dabei in der Musik, ebenso wie auf Reisen nach Schottland und Nordeuropa. Große Gefühle und kleine Katastrophen spielen sich in ihren Romanen ab, deren wichtigste Geheimzutat die Autorin auch durch den Alltag begleitet. Eine gehörige Portion Humor. 

Das Buch

Neuanfang im kleinen Café in Edinburgh

Greta hat die Nase voll. Seit dem Tod ihrer Mutter kümmert sie sich nicht nur um ihre Zwillingsschwester, die in einer Lebenskrise steckt, sondern unterstützt auch ihre Großmutter Pru im familieneigenen Café Honeybee in Edinburgh. Als wäre das nicht stressig genug, will Gretas Freund auch noch unbedingt die bröckelnde Beziehung retten. Als Greta nach einem Unfall plötzlich mit Gedächtnisverlust im Krankenhaus aufwacht, ist das ihre Chance, den Zwängen zu entkommen, die ihr ihre Familie auferlegt. Doch leichter gesagt als getan. Wie soll sie ihre eigenen Träume verwirklichen und gleichzeitig die Probleme ihrer Familie lösen? Greta schmiedet einen riskanten Plan. Sie ahnt nicht, welche Folgen dieser nicht nur für das Honeybee, sondern auch für ihr Herz haben wird …

Claire Bonnett

Café Honeybee

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
November 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-392-6

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Kapitel 1


Greta

Ich mochte keine Bienen, und das nicht einmal aus den üblichen Gründen. Ihre Stiche machten mir keine Angst, auch nicht das pulsierende Summen. Nein, der eigentliche Grund war weiß, ziemlich unförmig und aus altem Polyester: Grandma Prus Schutzanzug. Mit fünf dachte ich, ein Riesen-Marshmallow hätte meine Grandma gefressen, wodurch ich das Imkern unwiderruflich als »gemeingefährlich« abgestempelt hatte.

»Hältst du das mal?«

»Was ist das?«

Pru blieb mir eine Antwort schuldig und drückte mir einfach den wuchtigen Holzkasten in die Arme.

»Nichts zu danken«, erwiderte ich ächzend und federte das Gewicht mit den Knien ab. »Hättest du nicht wenigstens das Ding ausziehen können, bevor ich komme? Du siehst aus wie ein Yeti.«

»Reiß dich zusammen, Greta! Ich wollte noch mal nach dem Rechten sehen. Wenn die Erntesaison wieder so kläglich ausfällt, muss ich auf die Notvorräte zurückgreifen.«

Ich blickte in die Kiste und sah jetzt die goldgelb gefüllten Gläser unter dem karierten Tuch. »Wie viel ist denn noch da?«

Pru antwortete mal wieder nicht, stattdessen nahm sie ihren Schutzschleier ab. Ihre dunkelgrünen Augen schenkten mir einen durchdringenden Blick, dann zuckte sie mit den Schultern. Das war ihre bevorzugte Art »Mach dir keine Sorgen und frag besser nicht weiter nach« zu sagen.

»Schon gut«, grummelte ich.

Pru legte den Schleierhelm auf dem Gartentisch ab und begann sich aus ihrem Schutzanzug zu schälen.

Ich seufzte leise und blickte in den wolkenlosen Himmel. Eine sanfte Frühlingsbrise kitzelte in meiner Nase.

Es war Anfang Mai, also bereits früh genug, um sich wegen der Ernte Gedanken zu machen. Pru lebte schon seit Jahrzehnten nicht mehr nach unserem schnöden Menschenkalender. Ihr Rhythmus richtete sich nach den Bienenvölkern am Rand ihrer Dachterrasse.

Sonnenstrahlen fielen auf die quadratische Fläche mit den Terrakotta-Fliesen. Rechts und links wurde die Terrasse von den Wänden der Nachbarhäuser umschlossen. Pru pflegte immer zu sagen, dass sich Imkern und Nachbarschaft nicht vertrugen. Ich hingegen war der Ansicht, dass sich eher Grandma und die Nachbarschaft nicht vertrugen.

»Steh nicht herum, Greta! Komm, hol lieber den Schlüssel, wir haben nur noch eine Stunde.« Pru hatte sich aus dem Schutzanzug befreit und steuerte den rostigen Metallspind an der rechten Wandseite an. »Greta! Komm in die Gänge!«, rief sie über die Schulter.

»Ja-ha«, antwortete ich und verdrehte die Augen.

Mit der Kiste im Arm absolvierte ich einen Slalomlauf um die zahllosen Topfpflanzen, die meine Großmutter zusätzlich zu ihren Bienen züchtete. Ich trat mit dem Fuß die Luke im Boden auf und stieg so vorsichtig wie möglich die steilen Stufen hinunter.

Wie immer herrschte in Prus Wohnung ein einziges Chaos. Ich stellte die Kiste mit den Honiggläsern auf der Küchentheke ab und sah mich kritisch um, gespannt, wo Pru heute den Schlüssel versteckt haben könnte.

Mein Blick streifte die durchgesessene Couch, den papierübersäten Schreibtisch und das Holzradio an der Stelle, wo eigentlich der Fernseher stehen sollte. Pru verweigerte sich größtenteils moderner Technik, weshalb meine Schwester Shawna sie oft als »Grandma Hardliner« bezeichnete.

Tatsächlich entdeckte ich den gesuchten Schlüsselbund auf dem Radio. Nachdem ich mir einen Weg durch das Chaos gebahnt hatte, steckte ich ihn ein. Pru würde sich wohl nie zur Anschaffung einer schönen, biederen Ordnungsschüssel überreden lassen.

»Können wir los?« Sie erschien auf den Stiegen zur Dachterrasse und verschränkte die Arme. Das kurze pfeffergraue Haar stand ihr zerzaust vom Kopf ab.

»Gehen wir«, antwortete ich und klopfte auf die Ausbuchtung in meiner Hosentasche.

Pru kam die Treppe herunter und schnappte sich ihren Mantel, der über der Rückenlehne eines Stuhls hing. Sie hob die Kiste mit den Honiggläsern von der Küchentheke herunter, und ich sperrte die Eingangstür auf.

Pru zufolge beruhte ihre gute Kondition auf dem Fehlen eines Aufzugs in dem alten Regency-Haus am Ende der Knox Street. Ich wiederum wusste nicht, wie oft Dad schon geschworen hatte, dass er nicht eines Tages derjenige sein würde, der sie vier Stockwerke hoch in ihre Wohnung trug. Pru war das ziemlich egal. Eher würde sie lernen, wie man Treppengeländer hochrutschte, als dass sie sich von Dad irgendwohin tragen ließ.

»Wie geht es deinem Vater?«, fragte sie über die Schulter, als hätte ich meinen Gedankengang laut ausgesprochen.

»Hm«, antwortete ich vage. Ich hatte keine Lust, darüber zu sprechen. »Passt schon, denke ich.«

»Das klingt ja wunderbar«, sagte Pru trocken.

Wie immer fragte sie nicht nach Shawna.

Als sie unten ankam, nahm ich Pru den Honig ab und lud ihn in den Kofferraum unseres alten Fords. Ich setzte mich ins Auto, Pru ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder, und ich startete den Motor.

»Wir haben noch eine Viertelstunde«, sagte sie.

»Ja.« Ich klopfte genervt mit dem Handballen auf das Lenkrad, als wir allmählich Richtung Innenstadt vordrangen.

Pru fuhr nicht Auto. Sie besaß zwar einen alten VW, aber sie verließ sich lieber auf die Chauffeurdienste ihrer Familie. Shawna meinte, dass sei die verlässlichste Methode, uns bei der Stange zu halten.

Eigentlich wäre die Wartezeit eine ideale Gelegenheit gewesen, Pru beizubringen, dass ich heute früher gehen musste. Ich hatte es Fin fest versprochen, und es schien ihm diesmal besonders wichtig zu sein. Zumindest schloss ich das aus den hunderttausend Erinnerungsnachrichten, mit denen er mich am Morgen bombardiert hatte.

»Wir haben noch …«

Prus Live-Stoppuhr wurde von einem aufgebrachten Hupen unterbrochen, als ich kurz entschlossen einen Bus in der Haltestellenbucht überholte.

Am Hillwood Park vorbei, die Telford und Ferry Road entlang, bog ich schließlich am Botanischen Garten ab. Eher versteckt an der rechten Seite, dort, wo der Leith entlangfloss, parkte ich den Wagen vor unserem Ziel und dem Grund, warum ich seit zwei Jahren Honiggläser durch die Gegend kutschierte: dem »Honeybee«. Prus Café. Wir hatten noch fünf Minuten.

»Ich glaube nicht, dass wir pünktlich fertig werden«, sagte ich und stellte den Motor aus. »Aber ich glaube auch nicht, dass uns die Leute um Punkt neun Uhr die Tür eintreten.«

Pru machte ein beleidigtes Geräusch und stieg aus. Sie schlug die Tür so energisch zu, dass das Holzkreuz mit den billigen Glasperlen am Frontspiegel heftig hin und her schwang. Mum hatte es gekauft, als wir zusammen nach Kroatien in den Urlaub gefahren waren. Ich wartete immer noch darauf, dass es eines Tages irgendjemanden vor Unglück bewahrte.

Ein dumpfes Pochen ließ mich zusammenzucken. Pru klopfte mit den Fingerknöcheln gegen die Scheibe. Wurde Zeit, dass ich aufhörte zu träumen. Ich schnallte mich ab, stieg aus und zog den schweren Schlüsselbund aus meiner Hosentasche.

Das weiße Türschloss war schon recht alt. Eigentlich war alles am Honeybee alt. Nicht Vintage, nicht Shabby Chic, nicht Retro. Nein, einfach nur alt. Von der weißen Fassung des breiten Bogenfensters blätterte die Farbe ab, und die stilisierte Biene auf dem runden Holzschild über dem Eingang machte auch einen etwas mitgenommenen Eindruck. Ich bezwang das bockige Schloss und stieß die Tür auf.

Drinnen empfing mich die gewohnte Mischung aus Flohmarkttischen und knallgelben Holzstühlen. Ich drückte den Lichtschalter, und der riesige Leuchter an der Decke sprang flackernd an. Von den elektrischen Kerzen baumelte ein Schwarm Korkbienen. Sie warfen winzige Schatten an die Tapete mit dem sechseckigen Muster, das an Honigwaben erinnerte. Alles in allem war es ein schönes (wenn auch etwas biederes) Café, doch da ich darin aufgewachsen war, konnte ich das nicht mit unvoreingenommenen Augen beurteilen.

Ich zog meine Lederjacke aus und hängte sie über einen Stuhl. Pru marschierte mit der Kiste Honiggläser zur Mahagonitheke. In den letzten Monaten hatte der Vorrat ein besorgniserregendes Minimum erreicht.

Ich ging an Pru vorbei und schob einen Schnurvorhang aus Perlen beiseite. In der Küche schaltete ich das kalte Neonlicht an. Ich musste kontrollieren, wie es um den Teig stand.

Die riesige Kühlschranktür war übersät mit billigen Plastik-Magneten, die zahlreiche Familienfotos an Ort und Stelle hielten. Ich stoppte kurz und betrachtete ein Bild, das unter einem klobigen Dudelsack klebte.

Mum stand in der Mitte, die Arme um Shawna und mich gelegt. Wir strahlten um die Wette in die Kamera. Dad hatte einmal gesagt, auf diesem Bild würden wir auch als Drillinge durchgehen. Nun, Shawna und ich waren wirklich Zwillinge, eineiige, um genau zu sein. Beide hatten wir karamellfarbenes Haar, braune Augen und ein für meinen Geschmack etwas zu herzförmiges Gesicht. Es stimmte, wir kamen nach Mum. Pru hatte das Foto genau in die Mitte platziert und mich damit gezwungen, es jeden Morgen anzusehen.

Ich wandte den Blick ab und öffnete die Kühlschranktür. Kälte schlug mir entgegen, und ich betrachtete die Stapel Plastikschüsseln, die sich darin türmten. Für heute würde das mit Sicherheit reichen. Hoffentlich würde Shawna Nachschub liefern … auch wenn ihre Waffeln seit einiger Zeit nicht mehr dasselbe waren.

»Greta? Hast du schon Kaffee gemacht?«

Ich warf die Kühlschranktür wieder zu.


»Nichts zu danken«, sagte ich, als ich ein paar Minuten später eine dampfende Tasse auf der Theke abstellte. Pru stand dahinter und behielt die Eingangstür im Auge. Sie rechnete jeden Morgen damit, dass heute der Tag sein könnte, an dem sich das Honeybee zum Hotspot Edinburghs entwickelte und ähnlich viele Besucher anzog wie die Royal Yacht Britannica.

Ich hatte ihr schon oft geraten, mit dem Honeybee mehr auf die Hipster-Schiene zu gehen, um Besucher anzulocken. (Keine Ahnung, wie lange ich daraufhin versucht hatte, ihr zu erklären, was ein Hipster ist.) Pru jedenfalls hatte meinen Ratschlag dahingehend interpretiert, einen ziemlich lahmen Karaoke-Abend zu veranstalten. Am Kühlschrank hing immer noch ein Bild davon, auf dem Shawna und ich ziemlich angetrunken Unconditionally grölten.

Pru nahm den Kaffee entgegen, dann zog sie eine Schublade der Theke auf und fischte eine flache Metalldose heraus. Sie öffnete sie, warf sich zwei Pillen in den Mund und spülte das Ganze mit einem kräftigen Zug aus ihrer Tasse hinunter.

»Pru, ich …«

»Greta, wie oft eigentlich noch, es ist meine Angelegenheit, wie ich …«

»Dass du deine Herztabletten mit Kaffee nimmst, wollte ich ausnahmsweise gar nicht bemängeln. Es ist wegen Fin. Ich muss heute früher gehen. Ich hab es ihm versprochen.«

Pru schnaubte. »Ist es wieder wegen einer seiner politischen Veranstaltungen? Kann er nicht irgendwas Vernünftiges mit seiner freien Zeit anstellen? Ich hasse es, ihn jedes Wochenende auf Leutefang an der Princess Street zu sehen.«

Zugegeben, das hasste ich auch, aber das würde ich Pru ganz sicher nicht auf die Nase binden. »Also?«, sagte ich herausfordernd.

»Kommt nicht infrage, Greta. Wenn du immer noch studieren würdest, könntest du schließlich auch nicht ein und aus gehen, wie es dir gerade passt.«

Ich wollte zu einer Antwort ansetzen (zum Beispiel, dass sie ein wirklich naives Bild vom Studentenleben hatte), als die Klingel ertönte. Während unserer Diskussion hatten wir überhaupt nicht bemerkt, dass sich die ersten Kunden ins Honeybee verirrt hatten. Zwei asiatisch aussehende junge Frauen betrachteten interessiert die Korkbienen an der Decke.

»Mach die Waffeln fertig«, zischte Pru mir zu. »Und die Musik an.«

»Aber …«

Pru setzte ihren Keine-Widerrede-Blick auf, und ich verzog mich zähneknirschend in die Küche. Es hieß ja immer, Familienunternehmen wären eine feine Sache. Im Falle des Rubin-Clans waren sie es definitiv nicht. Ginge es nach Grandma Prudence, könnte ich bis in alle Ewigkeit in der Küche stehen und Waffeln backen, weil das ja meine familiäre Pflicht war.

Wir hatten momentan allerdings kein großes Sortiment zu bieten, und das würde sich auch erst ändern, wenn mir drei Arme mehr wuchsen – oder meine Schwester zurückkam.


Den Vormittag hielt ich noch durch, blieb in der Küche und konnte nur anhand von Prus Stimme erraten, wer das Café besuchte. Manche kamen jeden Tag, und Pru behandelte sie stets mit einer Freundlichkeit, die sie ihrer Familie höchstens an Sonn- und Feiertagen zuteilwerden ließ.

Im Radio lief Happy Together, während ich Honigwaben-gemusterte Teller im Geschirrspüler verstaute. Ich warf einen Blick auf die Uhr über dem Herd. Kurz vor zwölf. Ich wollte Fin um eins treffen. Langsam musste eine Grundsatzentscheidung her.

Ich kratzte die Plastikschüssel aus und machte einen Stapel Waffeln fertig, den ich in Frischhaltefolie einwickelte.

»Pru!«, rief ich dann.

Der Perlenvorhang raschelte.

»Was ist denn?«, fragte sie ungeduldig.

»Ich muss los, okay? Es ist noch Teig im Kühlschrank, vielleicht kann ich gegen vier noch einmal reinschauen.«

Prus pfeffergraue Augenbrauen zogen sich zusammen. »Das ist nicht dein Ernst.«

»Du schaffst das einen Nachmittag auch ohne mich«, antwortete ich und griff nach dem Waffelstapel.

»Greta, ich finde diese Unzuverlässigkeit …«

»Mein Gott, du könntest gefälligst eine echte Aushilfe einstellen!«

Pru sagte nichts, sondern sah mich nur missbilligend an. »Das ist nicht fair, Greta. Ich brauche hier Hilfe, und das weißt du …«

»Fair? Wie fair ist es, sein Studium hinzuschmeißen, um in diesem gelbsüchtigen Laden zu schuften?«

»Das nennt man Hilfsbereitschaft, Greta.«

»Nenn es, wie du willst, aber ich versetze Fin jetzt nicht, tut mir leid.«

Ich atmete tief durch, dann schob ich mich an Pru vorbei. Das schlechte Gewissen begann bereits jetzt in mir zu arbeiten. Ich fühlte Prus bohrenden Blick noch zwischen meinen Schulterblättern, als ich ins Café trat.

Ich schnappte meine Jacke von einem Stuhl und schob mich an den Tischen vorbei.

»Greta – warte!«

Mit einem geräuschvollen Scheppern der Klingel riss ich die Tür auf und stürmte ins Freie.

Kapitel 2


Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang ich die Treppe hinunter und fand gerade so das Gleichgewicht auf dem Bürgersteig wieder. Pru würde mir morgen gehörig den Marsch blasen.

»Hey!«

Der Aufprall kam hart und unvermittelt. Ich taumelte zurück, und die Waffeln in meiner Hand segelten in den Rinnstein. Ich stürzte hinterher, wohl wissend, dass selbst die großzügigste Auslegung der Drei-Sekunden-Regel mein Mitbringsel nicht retten konnte. Ausgerechnet heute mussten mir irgendwelche Passanten im Weg stehen.

»Verdammt!«, fluchte ich, las das Päckchen vom Boden auf und wischte es notdürftig an meiner Jacke ab. »Können Sie nicht – Mr McEwans!«

Erst jetzt sah ich richtig, wen ich da gerade über den Haufen gerannt hatte.

Mr McEwans musterte mich verwundert, eine glühende Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger. »Freut mich auch, dich zu sehen, Greta«, sagte er amüsiert. Er schnippte die Zigarette auf den Boden und strich sich eine schlohweiße Haarsträhne aus der Stirn. »Dann lass mal hören, was ist los?«

»Tut mir leid, ich kann jetzt nicht, ich muss zu Fin, weil Pru, also Pru soll nicht, also tut mir wirklich …«

»Beruhig dich«, unterbrach McEwans meinen Redefluss. Er legte eine Hand auf meine Schulter. Entschlossen führte er mich die Stufen in sein Antiquariat hinab, das direkt unter dem Café lag. »Komm, ich mach dir einen Tee.«

»Aber das geht nicht! Fin wartet!«

»Fünf Minuten, Greta. Ich muss dir etwas zeigen.«

Ich tat einen tiefen Atemzug und ließ mich dann durch die Eingangstür bugsieren.

McEwans schritt an mir vorbei und räumte von einem alten Ledersessel einen wackligen Stapel Bücher fort. »Setz dich erst mal.«

»Ich habe es aber wirklich eilig!« McEwans warf mir einen strengen Blick von der Pru-Sorte zu. »Schon gut«, gab ich widerstrebend nach und setzte mich auf die Kante des Ledersessels.

Ich sog den vertrauten Duft von Leder und altem Papier ein und entspannte mich ein wenig. Abwesend betrachtete ich die hohen Regale, die sich bis ins Innere des Ladens schlängelten und enge Korridore bildeten. Mein Blick wanderte zurück zu dem wackligen Tisch, den McEwans als Arbeitsplatz, Kassentheke und Teeküche benutzte. Ein Buch lag halb verdeckt unter einer Box mit Teebeuteln.

»Welcher Teil?«, fragte ich, als ich das Cover erkannte, und lächelte unwillkürlich.

»Der erste.«

»Zum wievielten Mal?«

»Das kann ich beim besten Willen nicht mehr beantworten.« Mr McEwans schaltete den Wasserkocher ein und suchte in aller Ruhe einen Teebeutel heraus. »Für dich«, sagte er und drückte mir eine dampfende Tasse in die Hand. Er lehnte sich an die Kante des Tisches und musterte mich eingehend.

Alistair McEwans war meiner Meinung nach schlicht und schnörkellos der coolste Antiquariatsbesitzer der Welt. Obwohl in Prus Alter, trug er das weiße Haar lang und meist zu einem legeren Zopf zusammengebunden. Er hatte ein verschmitztes Gesicht und hellwache Augen. Außerdem besaß er in bester Buchhändler-Manier ein Jackett mit Flicken an den Ärmeln und eine grün gemusterte Fliege.

»Mal wieder mit Prudence gestritten?«

Obwohl es als Frage formuliert war, brauchte ich nicht zu antworten.

»Mir reicht es so sehr!«

»Dann kündige doch.«

»Um kündigen zu können, müsste man angestellt sein«, antwortete ich und schnitt eine Grimasse. »Ich bin eher so was wie die Haussklavin.«

»Dann probe den Aufstand«, erwiderte McEwans, und ich konnte nicht anders, als zu lächeln.

»Nein«, sagte ich aber dann und schüttelte den Kopf. »Es geht schon, ich musste nur ein wenig Dampf ablassen.«

»Greta, wie lange willst du das noch durchziehen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Es geht nicht anders. Pru braucht die Hilfe im Café, okay? Zumindest bis sie einen guten Ersatz gefunden hat …«

»Den sucht sie schon seit zwei Jahren.«

»… und jemand muss sich um Shawna kümmern. So ist das nun mal in einer Familie, das meinte Mum auch immer.«

»Ich glaube, das siehst du etwas eng«, sagte McEwans geradeheraus. »Aber du bist erwachsen, es ist deine Entscheidung.«

»Ich kann jederzeit weiterstudieren«, setzte ich an, doch McEwans hob die Hand.

»Vor mir brauchst du dich nicht zu rechtfertigen.«

Ich verfiel in missmutiges Schweigen. Ja, natürlich wusste ich, dass Pru bis in alle Ewigkeit nach einer passenden Unterstützung im Café suchen würde. Niemand konnte Mum ersetzen. Nicht mal ich.

»Eigentlich wollte ich mit dir über etwas anderes sprechen«, sagte McEwans und lächelte geheimnisvoll.

»Was denn?«, fragte ich wenig begeistert.

»Du kennst doch den Greyfriars-Friedhof?«

»Das ist, als würde man einen Londoner fragen, ob er den Buckingham-Palace kennt.«

»Oder einen Harry-Potter-Fan, ob er Hogwarts kennt.«

»Ganz genau«, erwiderte ich und grinste jetzt. Es gab da eine Sache, die McEwans und mich vor vielen Jahren zu allerdicksten Freunden gemacht hatte.

»Hast du zufällig deinen Umhang noch?«

»Den, mit dem ich Pru zufolge aussehe wie eine lausige Hexe?«

»Genau den.«

Alistair McEwans und ich, Greta Rubin, waren unbestreitbar die größten (und schlimmsten) Harry-Potter-Nerds auf Erden. »Beste Feinde« könnten wir höchstens über die Frage werden, wie man einen Vielsafttrank richtig braute. Ich war zwar im Café aufgewachsen, doch hatte ich mich früher bei jeder Gelegenheit in McEwans Antiquariat hinuntergeschlichen. Eines Tages hatte er mir dort den ersten Harry-Potter-Band in die Hand gedrückt. Der Beginn einer fast ebenso wunderbaren Geschichte.

»ATE sucht kundige Führer für Harry-Potter-Touren über Greyfriars und Edinburgh«, riss mich McEwans aus meinen Gedanken.

Man konnte einfach nicht in der Stadt wohnen, in der J. K. Rowling gelebt und Harry Potter geschrieben hatte, ohne ein riesengroßer Fan zu sein. Darin waren McEwans und ich uns einig.

Der Antiquar drehte sich um und griff nach dem ersten Harry-Potter-Buch. Zwischen den Seiten zog er einen bunt bedruckten Zettel hervor. »Ein Freund hat mir den hier mitgegeben. Du solltest mal etwas tun, das dir wirklich Spaß macht«, sagte er. »Außerdem wird es gar nicht so übel bezahlt.«

Ich lächelte schief und warf einen Blick auf den Zettel. Die Ernüchterung folgte sogleich.

»Das kann ich unmöglich machen, das fällt genau in die Zeiten, wenn …«

»Ich weiß.«

»Schon klar«, antwortete ich genervt.

In diesem Moment ertönte ein heiserer Eulenschrei. Mein Handyklingelton. Verdammt, wie lange saß ich eigentlich schon hier und schlürfte Tee? Das war eines der Dinge, für die ich McEwans sowohl liebte als auch hasste: Ich vergaß bei ihm die Zeit. Ich stellte meine Tasse auf der hölzernen Lehne des Sessels ab und sprang auf.

»Danke für den Zettel, aber das wird wahrscheinlich nichts«, sagte ich und drückte ihn McEwans entschieden in die Hand, dann griff ich nach meinem Handy.

Fin. Na hurra, ich hatte mich mit Pru gestritten, um pünktlich zu sein, nur um mich dann mit McEwans zu verquatschen.

»Bis dann«, rief ich McEwans zu, der nur seufzte und mir die Tür aufhielt.

Ich stürmte die Treppen hoch und tippte auf den grünen Hörer. Außer Atem hielt ich mir das Handy ans Ohr, während ich den Bürgersteig zur nächsten Bushaltestelle entlangjoggte.

»Cherry?«

Weil die Situation ernst war, verzichtete ich heute darauf, ihm zu sagen, dass er mich nicht mit seiner Verballhornung von »Chérie« ansprechen sollte.

»Fin?«

»Wo bist du?«

»Ich bin …«

»Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass du dich nicht zu stressen brauchst. Der Andrang heute ist einfach der Wahnsinn. Wir sind hier richtig im Flow.«

Und ich war hier richtig im Rush. »Das ist ja super«, gab ich zurück und beschleunigte noch einmal meinen Schritt, als der Bus auftauchte und mich ungeniert überholte.

»Ich bin in zwanzig Minuten bei dir, ja?«, sagte ich und legte, ohne eine Antwort abzuwarten, auf.


Zerzaust und außer Atem passierte ich einige Zeit später die Princess Street. Hier herrschte zu jeder Tageszeit reges Gedränge, denn auf dem Bürgersteig pilgerten große Gruppen von Touristen Richtung Edinburgh Castle. Von fern hörte ich den durchdringenden Klang eines Dudelsacks, der Amazing Grace anstimmte. Nein, ich packte gerade nicht üble Highland-Klischees aus, in dieser Gegend passierte das tatsächlich. Hier, im Herzen der Stadt, wo das Leben pulsierte und jeden Tag Tausende von Reisenden entlangkamen, ließ sich gutes Geld mit einer Dudelsack-Performance verdienen. Und wenn man niemanden um ein paar Pounds erleichtern wollte, dann ging man eben auf Einheimischenjagd, um andere Dinge zu erreichen. Unterschriften zu sammeln beispielsweise – Unterschriften für Petitionen. Politische Petitionen, die man mit riesigen Schottlandfahnen bewarb. Petitionen, für die man Wochen vorher Buttons und Sticker in Auftrag gab, die mein Zimmer in einen patriotischen Souvenirshop verwandelten. Das ließ sich nicht vermeiden, wenn man mit Finley Gilroy zusammen war.

»Greta! Hey, hier sind wir!«

Das war nicht zu übersehen. Ich kam auf einen flaggenverzierten Infostand zu, der direkt vor dem ehrwürdigen Gemäuer des National Archive of Scotland aufgebaut war. Gerade so, dass man Vorbeikommenden perfekt in den Weg springen konnte. Während jeder normale Bürger sein übliches Infostand-Verhalten abspulte (Blick starr geradeaus richten und Schritt beschleunigen), straffte ich die Schultern und hielt direkt darauf zu.

Fin winkte mir erfreut. Eine Windböe erfasste sein wuscheliges blondes Haar und zupfte an dem T-Shirt, das er so stolz trug wie ein Fußballspieler sein Trikot. Es war himmelblau, und in dicken Buchstaben stand »Once again!« darauf gedruckt.

Fin wechselte ein paar Worte mit einem seiner Mitstreiter, dann ging er mit langen Schritten auf mich zu. »Greta! Endlich!«, rief er, drückte mir einen Kuss auf den Mund und schloss mich dann fest in die Arme.

Fin roch zwar weder nach Kaffee, noch nach Moschus oder Sandelholz, aber dafür strahlte er zu jeder Zeit einen unglaublichen Enthusiasmus aus. Den konnte man zwar nicht riechen, aber man konnte ihn sehen, wenn man den Kopf ein wenig in den Nacken legte und in seine strahlend grauen Augen sah. Ja, man konnte wirklich viel Zeit damit verbringen, Finley Gilroy anzuschmachten und selbst seinen kratzigen Dreitagebart irgendwie süß zu finden, besonders, wenn man einmal zwanzig und frisch an der Uni gewesen war. Oder man konnte wie Shawna nach vier Jahren Beziehung plötzlich fragen: »Sei ehrlich, Greta, aus welcher Baywatch-Episode ist er dir zugelaufen?«.

Ich löste mich aus Fins Umarmung und holte aus meiner Jackentasche ein reichlich lädiertes Päckchen Waffeln hervor. »Für dich«, sagte ich mit einem zaghaften Lächeln.

»Danke, Cherry, du bist großartig«, antwortete Fin gut gelaunt und nahm es mir ohne einen weiteren Blick darauf ab. »Komm doch mit rüber zu den anderen.«

Er nahm mich bei der Hand und führte mich hinüber zum Infotisch. Ich meinte fast körperlich die mitleidigen »Eine ist ihnen ins Netz gegangen«-Blicke der Passanten zu spüren.

»George, Michael, Isabell«, grüßte ich Fins Mitstreiter in ihren blauen Uniformen höflich. Alle drei waren in Fins Alter und hatten einen dicken Stapel Flyer in der Hand.

»Hey, Greta«, grüßte mich Isabell. Ihr Lächeln war routiniert.

Fin schnappte sich gerade ebenfalls einen neuen Stapel Handzettel. Den Text brauchte ich nicht zu lesen, immerhin hatte ich beim Schreiben helfen müssen. Once again! Ein neuer Anlauf für Schottland! Wir wollen Unabhängigkeit! Unterschreiben Sie unsere Petition … und so weiter. Es waren nur noch zwei Stapel da, anscheinend waren Fin und sein Team tatsächlich heute Morgen »im Flow« gewesen.

Ich hielt Fin am Ärmel fest, als er sich gerade mit seinen Zetteln auf ein neues Opfer stürzen wollte. »Okay, ich bin hier«, sagte ich. »Also will ich endlich die unglaublichen Neuigkeiten hören, deretwegen du gestern so geheimnisvoll getan hast. Bitte sag, dass es wichtig ist, Pru hasst mich nämlich jetzt.«

Fin blieb stehen und nickte zufrieden. »Du hast dich gegen sie durchgesetzt?«

»Sag nicht, das alles war nur der Aufhänger einer Selbstbehauptungs-Challenge.«

»Quatsch, darauf würde ich nie kommen – auch wenn es dir guttun würde – nein, Mom und Dad haben geschrieben.«

»Ja?«

»Wir sind dieses Wochenende bei ihnen eingeladen.«

Das hieß, ich würde den Samstag und Sonntag im Hostel seiner Eltern verbringen. Was für umwerfende Neuigkeiten.

»Das ist nett von ihnen, aber – ist da noch was? Ich meine, das hättest du mir auch einfach schreiben können. So besonders ist das nicht.« Allmählich begann ich doch, an die Selbstbehauptungs-Challenge zu glauben.

»Ja, da ist noch etwas«, sagte Fin. Er griff nach meiner Hand und sah mich verheißungsvoll an.

»Und was?«, antwortete ich mit pochendem Herzen.

Ein Eulenschrei ertönte. Ich löste rasch meine Hand aus Fins und griff in meine Jackentasche. Dads Nummer.

Ich warf Fin einen entschuldigenden Blick zu, den er stirnrunzelnd erwiderte und entfernte mich ein paar Schritte vom Stand.

Als ich wieder zurückkam, brauchte ich nicht einmal mehr den Mund zu öffnen. Fin las einfach meinen Gesichtsausdruck.

»Shawna«, sagte er.

Kapitel 3


Das Shawna-Support-Team. So hatte Fin unsere Familie einmal genannt, und der Begriff war mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf gegangen. »Support-Team« klang für das, was wir derzeit bewerkstelligten, viel zu professionell. Es klang eher nach der Zeit, als Mum noch gelebt hatte.

Shawna war vor vierundzwanzig Jahren zwanzig Minuten vor mir auf die Welt gekommen, und sie schien sich in diesen Minuten in die Rolle des Einzelkinds verliebt zu haben. Sie hatte stets eine Menge Aufmerksamkeit in Anspruch genommen – Asthma-Phase als Kind, Leserechtschreibschwäche, Probleme in der Schule –, unsere Mutter war für sie in die Rolle der Tiger-Mum hineingewachsen. Sie hatte sich voller Entschlossenheit um Shawnas Probleme gekümmert, vorzugsweise mit meiner Hilfe oder der richtigen Mischung aus Nahrungsergänzungsmitteln. Für Mum waren alle Probleme dieser Welt immer durch das passende Vitamin lösbar gewesen. Ich konnte fast schon wieder ihre energische Stimme hören, die mich das Gesundheits-Alphabet abfragte. Von »Habt ihr heute schon Vitamin A genommen?« bis »Euer Vater leidet eindeutig an Zinkmangel«.

Ich weiß nicht, wie oft ich sie in meinem Leben den Satz sagen hörte: »Sie braucht uns nun einmal, Greta.« In Mums Augen war Shawna immer das Küken der Familie gewesen und ich die Kämpferin. Aber jetzt, wo Mum nicht mehr lebte, wusste ich nicht mehr, was wir beide eigentlich noch waren. Eines wusste ich trotzdem: Ein Küken durfte man niemals unvorbereitet aus dem Nest schubsen …

Mit einem leisen Pling hielt der Aufzug an, und die Tür glitt auf. Einen Moment lang wünschte ich, ich wäre einfach stehen geblieben und hundert Stockwerke weiter hoch in die Wolken gefahren, wo Mum irgendwo sitzen musste. Wir hätten es uns in der Watte bequem gemacht, und Mum hätte einen ihrer Pläne aufgestellt, der alles wieder ins Lot brachte. Im Himmel roch es allerdings nicht so penetrant nach Rauch.

Ich kräuselte die Nase und ging langsam den Flur hinunter. Der Qualmgeruch wurde durchdringender, und er führte direkt zu unserer Wohnung. Hoffentlich hatte Dad bei seinem Anruf nicht ein paar wichtige Details verschwiegen.

Die Wohnungstür war nicht abgesperrt. Ein Zeichen dafür, wie aufgelöst Dad war, denn normalerweise hatte er eine Heidenangst vor Einbrechern. Bis auf unseren Kater Caramell gab es bei uns allerdings wenig zu holen.

»Dad? Shawna?«, rief ich unsicher, als ich in den Flur trat.

»Ist das die zweite Miss Rubin?«, antwortete eine fremde Stimme.

»Hier drüben«, kam es von Dad aus der Küche.

»Würden Sie sich bitte zu uns gesellen?«

Ich stockte kurz, als ich Dad zusammen mit einem Polizisten am Esstisch sitzen sah. Von Shawna keine Spur.

Ich setzte mich neben Dad, der noch müder aussah als sonst. Sein grünes Coop-T-Shirt war ganz zerknittert. Vor ihm stand eine dampfende Tasse, die er mit beiden Händen fest umschlossen hielt.

»Sie sind also die Schwester«, bemerkte der Polizist.

»Zwillingsschwester«, korrigierte ich unwillkürlich.

Der Polizist sah freundlich aus. Es war ein junger Mann, und seine gelassene Miene beruhigte mich ein wenig.

»Shawna hat etwas angestellt?«, fragte ich ohne Umschweife.

»Ein Nachbar hat uns verständigt. Es sieht so aus, als wäre ihre Schwester drauf und dran gewesen, einen kleinen Küchenbrand auszulösen.«

Ich atmete prustend aus. »Sie war wohl müde, das kann doch schon mal passieren«, antwortete ich. »Vielleicht hat der Backwecker nicht geklingelt oder so was. Sie backt nämlich ziemlich viel, wissen …«

»Nun, der Rauchmelder ging schon eine ganze Weile, aber ihre Schwester reagierte nicht auf das Klopfen der Nachbarn, darum hat man uns verständigt«, unterbrach mich der Polizist.

Unsinnigerweise war das Erste, das ich daraufhin fragte:

»Warum nicht die Feuerwehr?«

»Keine Sorge, die Kollegen waren auch zugegen, aber glücklicherweise war noch kein Brand entstanden.«

»Nein?«

»Nein, wir haben die Tür aufgebrochen und ihren Herd ausgestellt, auf dem ein Haufen leerer Cornflakes-Schachteln qualmte. Eine Menge Rauch und Gestank, aber glücklicherweise kein Feuer.«

»Und Shawna?«, fragte ich durch zusammengebissene Zähne.

»Ihre Schwester haben wir in ihrem Zimmer vorgefunden, wo sie in ihrem Bett lag und schlief.«

Mir fiel auf, dass der Polizist seine Sätze wie ein Einsatzprotokoll formulierte.

»Aha, sie lag in ihrem Bett«, wiederholte ich resigniert. »Dass sie gerade dabei war, unsere Wohnung abzufackeln, ist ihr nicht aufgefallen?«

»Nun, Miss Rubin war bisher recht – wortkarg – bezüglich ihres Unfalls.«

Das war typisch Shawna. So hatte sie es schon immer gemacht. Wenn es ihr schlecht ging, hatte sie sich auf das Fensterbrett in ihrem Zimmer gesetzt und kein Wort gesagt. Meistens hatte Mum dann aus ihr herausgeholt, was los war, aber diese Zeiten waren vorbei.

Ich warf Dad einen unbehaglichen Blick zu. Warum musste ich eigentlich dieses Gespräch führen? Warum musste ich die Familienkarre immer aus dem Dreck ziehen?

»Ich bin mir sicher, Miss Rubin tut das Geschehen furchtbar leid, Madam«, griff mir der Polizist unter die Arme.

»Mir tut es auch leid«, murmelte ich.

»Und ich denke, ich habe meine Pflicht hier so weit getan«, sagte der Polizist liebenswürdig. »Haushaltsunfälle wie dieser passieren jeden Monat zu Tausenden in Großbritannien, aber glücklicherweise sind diesmal alle Beteiligten mit dem Schrecken davongekommen. Bitten Sie Ihre Schwester einfach, in Zukunft ein wenig aufmerksamer zu sein.«

»Ja, das machen wir. Vielen Dank für Ihr Verständnis«, antwortete ich erschöpft und bot dem Bobby pflichtschuldig die Hand an. »Und danke, dass Sie unsere Wohnung gerettet haben«, fügte ich hinzu, als er sie schüttelte.

»Keine Ursache«, antwortete der Polizist. »Würden Sie mich vielleicht noch zur Tür begleiten, Miss Rubin?«

Ich sah ihn stirnrunzelnd an, aber da man der Staatsgewalt besser nichts ausschlug, nickte ich widerwillig.

Wir verließen die Küche und legten die wenigen Meter zur Wohnungstür zurück. Ich schämte mich ein wenig für den Geruch von alten Socken und abgebranntem Pfadfinder-Lagerfeuer, der nun in der Luft lag.

»Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, Miss Rubin, aber bei meinem Gespräch mit Ihrer Schwester hatte ich den Eindruck, es würde ihr psychisch nicht gut gehen. Vielleicht müsste sie in eine …«

»Therapie? Sie will nicht«, antwortete ich müde.

»Dann sorgen Sie dafür, dass sie es möchte«, erwiderte der Polizist ungewöhnlich bestimmt. »Oder finden Sie heraus, warum nicht.«

Weil meine Schwester ein seltsamer Mensch war. Einerseits unglaublich hilfsbedürftig, andererseits fest entschlossen, zu beweisen, dass sie auf niemanden angewiesen war. Nur hatte ich keine Lust, einem Wildfremden diese komplizierten Verhältnisse aufzutischen.

»Vielleicht würde Yoga helfen«, sagte ich matt.

»Was Ihrer Schwester helfen würde, kann ich nicht beurteilen, ich bin kein Arzt«, erwiderte der Polizist und blieb vor mir stehen.

»Danke jedenfalls, dass sie Shawna gerettet haben«, sagte ich, und eine boshafte Stimme in meinem Inneren flüsterte: »Wollte sie das überhaupt?«

»Auf Wiedersehen, Miss Rubin!«

»Wiedersehen!«

Ich hatte die Tür fast geschlossen, da drehte sich der Polizist ein letztes Mal um.

»Ich kann Ihnen nicht sagen, was Ihrer Schwester helfen würde, aber Sie können es vielleicht. Helfen Sie Shawna, herauszufinden, was sie braucht.«

Ehe ich etwas erwidern konnte, nickte er mir ein letztes Mal zu und ging dann zum Aufzug.

Ungefähr drei Sekunden lang starrte ich ihm blinzelnd nach. War das sein Ernst? Reichte es nicht schon, dass ich Prus Café schmiss und für meinen unzurechnungsfähigen Dad in die Bresche sprang? Ich schlug die Tür zu und ging zurück in die Küche. Wenn Dad seine Tasse Tee nicht derart fest umklammert gehalten hätte, hätte ich sie am liebsten genommen und ihm ins Gesicht geschüttet.

»Endlich ist er weg«, sagte ich und seufzte. »Musst du noch mal zurück in den Dienst, Dad?«

Er schüttelte nur stumm den Kopf.

»Dabei wirkte sie heute Morgen doch noch richtig … gut, oder?« Hilfe suchend sah er zu mir hoch. »Ich dachte, sie kriegt allmählich die Kurve.«

»Ähm«, antwortete ich vorsichtig.

»Aber wie kann sie jetzt nur so verantwortungslos sein? Erst lässt mich Marianne allein, und jetzt will sie …« Dads Hände verkrampften sich.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

»Wir dürfen sie nicht mehr aus den Augen lassen«, sagte Dad plötzlich. »Auf keinen Fall. Greta, du musst am Wochenende hierbleiben.«

»Das geht nicht«, sagte ich abwehrend. »Fin hat mich …«

»Herrgott, Greta! Was ist denn deiner Meinung nach wichtiger? Ein Liebeswochenende mit deinem Freund oder deine Familie!«

»Warum kannst du denn nicht ein Mal bei ihr bleiben? Ihr sprecht kaum noch miteinander.«

»Ich muss am Wochenende nachholen, was ich heute verpasst habe. Red du mit ihr darüber! Ich leg mich ins Bett.« Dad schob seinen fast unberührten Tee weg und stand auf.

Ratlos sah ich ihm nach. Red du mit ihr! Er machte es sich wirklich einfach. Dad hatte Angst davor, dass es seine Verantwortung gewesen sein könnte, falls Shawna etwas passierte.

Seufzend zog ich mein Handy aus der Hosentasche. Ich war mir nicht sicher, ob ich Fin absagen sollte. Da er wusste, dass ich wegen Shawna so plötzlich nach Hause geeilt war, hatte er schon prophylaktisch eine Nachricht geschrieben.

Alles okay, Cherry? Wochenende steht noch? <3 Ist echt wichtig!

In diesem Moment hätte ich mein Handy am liebsten aus dem Fenster geschleudert. Was hatte der Polizist noch gesagt? Finden Sie heraus, was Ihre Schwester will. Warum fragte mich das eigentlich keiner?

Ich steckte mein Handy wieder ein. Zuallererst würde ich mit Shawna reden müssen. Ich ging in den Flur und öffnete vorsichtig die Tür zu ihrem Zimmer. »Shawna?«, sagte ich und streckte den Kopf hinein. Die Rollläden waren heruntergezogen, sodass ich etwas kurzsichtig ins Dämmerlicht spähte.

Die Wände ihres winzigen Zimmers bestanden hauptsächlich aus Essen. Nein, sie lebte nicht in einem Lebkuchenhaus, Shawna sammelte Backrezepte. Sie schnitt sie aus Zeitschriften aus und beklebte damit ihre Wände, wobei ich mich fragte, wie man nur mit direktem Blick auf eine Tonka-Kirschtorte einschlafen konnte.

Shawna lag in ihrem Bett. Die Hände ruhten gefaltet auf ihrem Bauch. Sie blickte gen Decke und beachtete mich nicht. Am Fußende des Bettes hatte sich Caramell zu einer leise schnarchenden Kugel zusammengerollt und meinen Laptop unter sich begraben.

»Weißt du noch, wie ich dich gebeten habe, keinen Scheiß zu bauen, während ich weg bin?«, sagte ich, stieg über einen Haufen Schmutzwäsche hinweg und setzte mich auf die Bettkante.

Shawna wandte den Kopf und sah mich an, sagte aber nichts. Ihre Augen waren gerötet.

»Mir wäre es lieber, die Polizei hätte dich wieder wegen Marihuana-Missbrauch heimgebracht, wie damals, als du mit Dylan Greenfield hinter dem Pub erwischt wurdest. Wie alt waren wir da? Fünfzehn? Ich weiß noch, dass ich diese schrecklich klobigen Doc Martens hatte.« Ich fragte mich, warum ich Shawna diesen uralten Mist erzählte. Vielleicht, weil es Mums Art gewesen war, peinliche Jugendgeschichten auszupacken.

Immer noch sagte Shawna nichts.

»Shawna, sprich mit mir!«

»Du kannst deinen Laptop mitnehmen. Ich mache nachher noch die Wäsche, wenn du willst.«

»Ich habe gerade mit einem Polizisten geredet, der meinte, du wolltest dich umbringen«, fauchte ich sie an. »Hast du auch nur eine Sekunde an Dad gedacht? Kannst du dir vorstellen, wie fertig er jetzt ist?«

Shawna wandte den Blick ab. »Wir sind alle müde«, sagte sie.

»Dir geht es nicht gut, Shawna, sieh es endlich ein!«

»Lass mich in Ruhe!«

»Jetzt hör mir mal zu!« Vor lauter Aufregung begann ich mit der Hand ihre Bettdecke zu zerknüllen. »Ich würde dich ja gerne in Ruhe lassen, wirklich, aber ich kann nicht. Ich kann nicht, weil ich nicht weiß, was als Nächstes in deinem vernagelten Kopf vorgeht! Ich könnte studieren, ich könnte eine ganz normale Beziehung mit Fin führen, aber ich tue es nicht, weil Dad mich braucht und weil Pru versucht, Mum durch mich zu ersetzen! Wenn du keine Hilfe um deinetwillen annehmen willst, dann tu es doch wenigstens …«

»Gib es ruhig zu, ich ruiniere dein Leben.«

Ich biss die Zähne zusammen und schwieg. Shawna drehte sich zur Wand um.

»Lass mich bitte allein, Greta!«

Sie sagte es vollkommen teilnahmslos. Wenn sie wenigstens geheult hätte oder sauer auf mich gewesen wäre. Das hätte ich besser vertragen.

»Ich muss morgen mit Fin nach Oban. Seine Eltern haben uns eingeladen, aber Pru braucht Hilfe im Café. Ich geh mit dir morgen hin, okay? Ich sage ihr auch vorher, sie soll sich zusammenreißen. Bitte, Shawna, es ist wirklich wichtig.«

»Greta, ich bin müde.«

»Kannst du es mir nicht ein Mal, nur ein einziges Mal, ein kleines bisschen leicht machen? Dann lass ich dich auch wieder allein im Dunkeln, versprochen.«

Shawna brauchte wirklich Hilfe, denn ich war eine komplette Katastrophe. Ratlos betrachtete ich ihren Rücken, über den das pechschwarz gefärbte Haar in ungekämmten Strähnen fiel.

»Ich verspreche, du kannst mich allein lassen, Greta, wirklich. Ich … es war keine Absicht.«

Die Bettkante knarrte, als ich aufstand. Ich konnte Shawna vielleicht in Ruhe lassen, aber helfen konnte ich ihr nicht. Ich war nur ihre Schwester, und so, wie es aussah, das letzte einsame Mitglied im Shawna-Support-Team.

Im Flur prallte ich beinahe mit Dad zusammen. Sein Blick wirkte ein wenig verloren.

»Sie will nicht zu Pru«, sagte ich und schob dann rasch nach. »Aber ich glaube, es ist okay, wenn sie hierbleibt. Es wäre einfach falsch, sie zu zwingen. Das verstehst du doch, oder?«

»Jaja«, antwortete Dad abwesend. »Ich hab nachgedacht, Greta, meinst du, wir sollten lieber …? Also nur für diese Nacht und nur zu ihrer Sicherheit …«

Mein Blick fiel auf den Schlüssel, den Dad nervös von der einen Hand in die andere Hand schob.

»Oh nein!«, rief ich abwehrend. »Du sperrst Shawna nicht in ihrem Zimmer ein.«

»Aber, was, wenn sie …?«

»Dann springt sie eben aus dem Fenster. Merkst du denn gar nicht, wie wenig Sinn das hat?«

Es gab wohl kaum etwas Schlimmeres, als mit seinem Vater in einem staubigen Wohnungsflur zu stehen, um darüber zu diskutieren, ob man seine vierundzwanzigjährige Schwester nun in ihrem Zimmer einsperren durfte oder nicht. Es machte mir klar, wie hoffnungslos es inzwischen um unsere Familie stand.

»Schließ lieber wieder die Wohnungstür ab«, sagte ich und versuchte, meine Stimme ruhig zu halten.

»Aber …«

»Ich tue alles, um auf sie aufzupassen, versprochen.«

Dad nickte, doch er wirkte noch immer am Boden zerstört. Erst zögerte ich, dann umarmte ich ihn vorsichtig. Zaghaft erwiderte er die Geste. Wir waren unbeholfen im Umgang miteinander geworden.

»Mach dir keine Sorgen! Ich kriege das schon hin, Dad.«

Wie ich das schaffen sollte? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich inbrünstig hoffte, Fins Überraschung würde sich nicht als die nächste Katastrophe entpuppen.