Die Autorin

Julia Rogasch – Foto © Privat

Julia Rogasch, geboren 1983, lebt mit ihrem Ehemann und ihren Töchtern in Hannover. Seit 2010 sorgt ihr Leben als Mama mit Job täglich für Inspirationen. Ihr großes Glück ist die Familie, welche sie nun mit der Arbeit und der Leidenschaft fürs Schreiben vereinbaren kann, da man ihr die Chance bot, im Marketing via Homeoffice für das Autohaus ihre Kreativität auszuleben, für das sie bis 2010 Autos verkaufte. Wann immer der Familientrubel es zulässt, widmet sie sich privat dem Schreiben.

Das Buch

Mia ist am Boden: Ihr Verlobter hat eine Neue, ihr Job ist weg und sie sitzt in der grausten Wohnbausiedlung von Hamburg. Um wieder auf die Beine zu kommen nimmt sie einen Buchhaltungsjob beim gut aussehenden wie mysteriösen Laurenz von Hofbacher in dessen Villa an. Ihr Chef gibt wenig von sich Preis, und doch ist Mia fasziniert von dem Mann, der niemanden in sein Leben lässt. Nach und nach schafft sie es ihn aus der Reserve zu locken und erkennt, dass ein schwerer Schicksalsschlag Laurenz belastet. Und auch Mia selbst bekommt neue Probleme, als jemand bei ihr einbricht und sie Drohungen erhält sich nicht in Familienangelegenheiten einzumischen. Es scheint, dass Mias und Laurenz‘ Leben stärker miteinander verbunden sind, als sie ahnen. Und die Lösung aller Geheimnisse liegt anscheinend in einem kleinen Haus auf Sylt…

Von Julia Rogasch sind bei Forever by Ullstein erschienen:
Honigmilchtage
Mit dir am Horizont
Das Geheimnis vom Strandhaus

Julia Rogasch

Das Geheimnis vom Strandhaus

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Oktober 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
E-Book powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-95818-381-0

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Widmung

Für meine Herzensmenschen
Für meine wundervollen Leser

Prolog


Die Worte aus dem Brief klangen immer wieder in seinen Gedanken nach und wirkten dabei wie scharfe Speerspitzen, die sich in sein Herz bohrten.

Du und dieser Versager, dein Freund, ihr kommt schon zurecht. Das habt ihr doch immer gesagt. Dabei ist schon jetzt klar, dass dich mit ihm nur ein erbärmliches Leben erwartet. Wenn das deine Vorstellung von der großen Liebe ist, wie du immer wieder betonst, so geh diesen Weg. Aber erwarte nicht, dass ich euch in irgendeiner Form unterstütze. Ich bin dankbar, dass es deinen Bruder gibt für mich. Für dich schämen wir uns. Deine Entscheidung für diesen Mann ist eine Schande für unsere Familie. Und jetzt auch noch diese elendige Lüge – sei dir gewiss, dass Laurenz und ich uns deine Hirngespinste nicht länger anhören. Begib dich in eine Klinik, bevor du noch an deinen Wahnvorstellungen zugrunde gehst.

Er kämpfte mit den Tränen. Die Worte seiner Mutter waren so hart, dass sie ihn tief in seinem Innern trafen. Wie musste Larissa sich gefühlt haben, als sie diese Zeilen las?

Er faltete den anderen Brief auf, er war von seiner Schwester an ihn gerichtet:

Du wirst die Frau finden, die deinem Leben einen Sinn geben wird. Ich wünsche dir von Herzen, dass es sie gibt und bin mir dessen ganz sicher. Wenn es dir gelingt, dich von unserer Mutter freizumachen, wird die Liebe für dich da sein. Du musst mir versprechen, dass niemand sie dir nehmen wird, egal was passiert. Mutter hat es schon geschafft, mein Leben zu zerstören und hat mir meine Liebe nicht gegönnt. Versprich mir, lass es nicht zu. Lass dir die Liebe niemals nehmen. Von niemandem! Ich werde dir beweisen, dass das alles eine abscheuliche Lüge ist. Ich bin nicht verrückt, bitte glaub’ mir. Gib mir nur ein wenig Zeit. Es tut mir leid, dass wir uns so verloren haben.

»Mir tut es leid. Es tut mir so verdammt leid«, presste er schluchzend hervor und ballte die Faust um den zerknüllten Briefumschlag in seiner Hand. Auch sein Herz fühlte sich an, als lege sich eine Faust darum. Tränen liefen seine Wange herunter und brannten dabei wie flüssiges Feuer.

»Was würde ich dafür geben, dich noch einmal zu sehen?«, flüsterte er.

Sein Flüstern klang laut in der Stille, die um ihn herum herrschte. Es war kalt und begann zu nieseln. Einzig die auf den Boden fallenden Kastanien lenkten ihn für einen Moment von dem tiefen Schmerz ab, der sich in seinem Hals ausbreitete und seine Brust so eng werden ließ, dass er fürchtete, ohnmächtig zu werden.

Kastanien hatte sie geliebt. Handschmeichler hatte sie sie genannt und immer eine davon in der Tasche gehabt, wenn es Herbst wurde. Unter Tränen lächelnd nahm er eine der glänzenden, braunen Früchte, tastete, wie glatt und weich sie sich anfühlte, umschloss sie mit beiden Händen und legte sie neben den anthrazitfarbenen Grabstein.

Heute vor fünf Jahren war es passiert. Und in diesem Moment kam es ihm vor, als wäre es gestern erst geschehen, so präsent und mächtig war das drückende Gefühl in seiner Brust.

Kapitel 1


Mia

Affektiertes Gestikulieren, zur Schau stellen des kugelrunden Babybauches vor einer ansonsten perfekten Figur-Silhouette. Was ich sah, war bühnenreif.

Die High Heels an langen, schlanken Beinen, eingehüllt in teure Cocktailkleidern. Die Damen waren gestylt wie auf einer Dinner-Party, denn man war selbstverständlich schwanger mit Stil. Überall teure Geschenke, verpackt in Tragetaschen mit Luxus-Label, die am Handgelenk baumelten, an dem auch die mit Brillanten besetzte Luxusuhr Platz fand. Champagnerglas in der anderen Hand.
Diese Bilder trafen mein gebrochenes Herz wie kleine, spitze Geschosse. Sie versetzten mir deswegen einen Stich, weil das, was ich sah, mein Wohnzimmer war. Im Haus meines Ex-Freundes. Es waren meine kuscheligen Sessel, meine Küche, in der wir jeden Abend gemeinsam Köstlichkeiten gezaubert hatten, und mein Zuhause. Zum ersten Mal in meinem Leben war es sogar ein Zuhause gewesen, wie ich es mir immer erträumt hatte.

Von mir ausgesuchte Windlichter standen im Fenster, dekoriert mit einer rosa-weiß karierten Schleife, wie ich es liebte. Duftkerzen darin, die nach Marshmallow-Vanille und Glück dufteten. Ich erinnerte mich noch daran, wie ich sie in dem kleinen Laden in Eppendorf gekauft hatte, der so besonders liebenswerte Dinge führte.

An der Wand meine Fotografien. Sylt im Sommer, Sylt im Winter. Alles Aufnahmen unserer Lieblingsinsel, jedes Motiv ein Ort voller zauberhafter Erinnerungen und Glücksmomente.

Sie da zu sehen war, als zerbrach etwas in mir. Ich konnte kaum noch atmen, brachte flüsternd ein paar Worte hervor. »Ich bin im falschen Film, es muss so sein. Das darf einfach nicht wahr sein. Das kann nicht mein Leben sein.« Als ich gerade mit einer Träne kämpfte, wurde im ersten Stock über mir krachend ein Fenster geschlossen. Mein panisches Zusammenzucken hatte zur Folge, dass ich das Gleichgewicht verlor. Daraufhin landete ich mit nach allen Seiten rudernden Armen und einem satten Platsch direkt im vor dem Haus sprudelnden Springbrunnen.

Die Gardine im Nachbaranwesen bewegte sich. Mein Atem stand still. Alle Versuche, mich jetzt noch unsichtbar zu machen, würden nur das Gegenteil bewirken und mich Stück für Stück tiefer versinken lassen in meiner Misere, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich duckte mich hinter die Brüstung des Brunnens. Das war jedoch sicherlich sowieso zu spät.

Sie hatte mich gesehen.

Frau Biensheim, meine Ex-Nachbarin, war dafür bekannt, dass sie über alles und jeden Bescheid wusste und ihre Umgebung wie eine lebendige Überwachungskamera genau im Auge hatte und beobachtete. Tagsüber positionierte sie ihr Kissen so im Fensterrahmen, dass ihr nichts entgehen konnte. In den Abendstunden ertappte ich sie dabei, wie sie hinter der Gardine hervorlugte. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie dazu ein Fernrohr benutzte.

Mein Alltag konzentrierte sich dagegen derzeit darauf, viel Zeit im Selbstmitleid badend auf dem Sofa zu verbringen. Wenn ich mich aus meiner Wohnung wagte, dann, um meinem Ex-Freund hinterherzuspionieren, was mir postwendend wieder genügend Grund geben sollte, in den See voll Selbstmitleid einzutauchen. Wie jetzt gerade. Das hatte ich nun davon. Ich war von oben bis unten klitschnass. Was trieb mich auch dazu, am Fenster der Ex-Villa bei der Baby-Shower der Nachfolgerin stiller Zuschauer zu sein?

Mein Gefühlshaushalt und damit auch mein Denken und Handeln befanden sich jedoch im Ausnahmezustand. Dass ich hier im Vorgarten meines Ex herumkrauchte, entbehrte jeder vernünftigen Grundlage und ließ Sinn und Verstand vermissen.

Das Unvorstellbare war geschehen. Er hatte mich verlassen. Nach zwölf Jahren hatte er mich abserviert. Mein Verlobter, der, mit dem ich gedanklich die Traumhochzeit tausendfach durchgespielt hatte. Eine Feier bei sommerlichen Temperaturen mit weißem Pavillon im Garten und Kutsche zur Kirche. Der Mann, dem ich meine Gedanken und meine Sorgen anvertraut hatte. Aus vollem Herzen und ohne jemals darüber nachgedacht zu haben, einfach, weil es sich richtig anfühlte. Der Mann, der für mich da gewesen war nach dem Tod meines Vaters, als meine Welt zusammenbrach, ließ mich jetzt einfach alleine. Um mich herum war es seitdem dunkel und grau.

Denn dieser Mann hatte sich kurzfristig umentschieden und mich mit meinen nicht vorhandenen Habseligkeiten vor die Tür gesetzt. An sich war das nichts, was nicht hunderttausenden von anderen Frauen auch passiert, und was noch lange nicht erklärte, warum ich mich jetzt wie ein begossener Pudel aus einem pittoresken Brunnen aufrichtete und neben der dicken Engelsfigur knietief im Springbrunnen stand. Aber es ist wie mit Krankheiten oder schweren Schicksalsschlägen: Man wiegt sich in einer naiv trügerischen Sicherheit, dass, während um einen herum Beziehungen in die Brüche gehen, die eigene die Einzige ist, die für immer hält.

Wie eine Dusche aus Eiswürfeln auf einer Sonnenliege am Strand in der Karibik, trifft einen dann die Erkenntnis, dass man plötzlich selbst diejenige ist, die mit zwei Koffern vor der Tür des Traumhauses steht. Oder noch schlimmer, wie in meinem Fall, im Springbrunnen des Traumhauses. Am Boden der Tatsachen. Und nichts, aber auch gar nichts davon hatte ich kommen sehen.

Frau Biensheim hätte es mir mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen können. Sie hatte hinter ihrer Gardine den allumfassenden Überblick. Sie wird händereibend vor Sensationsgier registriert haben, dass Paul sich, bevor er zur Tür hereingekommen war, erst noch die Krawatte geradegerückt und den Lippenstift aus dem Gesicht gewischt hatte. Vielleicht hatte sie gesehen, wie er sich umgeschaut hat, aus Angst, ich würde etwas davon mitbekommen. Endlich war was los an ihrem Fensterbrett. Wie viele Jahre hatte hier Harmonie geherrscht – nichts hatte es gegeben, was ihre Freundinnen beim Kaffeeklatsch hätte begeistern können.

Jetzt hatte sie auf jeden Fall was zu erzählen. Nämlich, dass ich samt Sonnenbrille um drei Uhr nachts vom Fenstersims im Erdgeschoss gestürzt war, direkt in den Springbrunnen vorm Wohnzimmer. Einer der Brunnen, in denen sich mehrere dicke Engelsskulpturen räkeln. So in etwa stelle ich mir mein Erscheinungsbild vor. Ich war plötzlich eine von ihnen. Nur das anmutende Räkeln entfiel in meinem Fall.

Während ich gerade damit beschäftigt war, den Brunnen wieder zu verlassen, um den Inhalt meiner Handtasche zusammenzuklauben, die ich in Panik geistesgegenwärtig weit von mir und glücklicherweise nicht direkt ins Wasser geschleudert hatte, gab es einen gewaltigen Knall. Es schepperte ohrenbetäubend und alles um mich herum schien zu beben. Ich sah eine dicke Engelsgestalt auf mich zukommen und ein schrilles Quietschen von Reifen, gefolgt von einem berstenden Geräusch von Glas und knarzendes Metall durchdrang die Dunkelheit. Mir zog ein Geruch von verbranntem Gummi in die Nase. So in etwa stellte ich mir den Weltuntergang vor. Auch meine Stimmung passte ganz gut. Im selben Moment knackte es ohrenbetäubend und ich sah eine Baumkrone mitten in den Springbrunnen krachen, woraufhin dieser noch ein klägliches Plätschern von sich gab und dann verstummte.

Ich stand fassungslos nur etwa zwei Meter davon entfernt und presste meine Handtasche an mich. Ich versuchte, das Wirrwarr in meinem Kopf zu sortieren und zu realisieren, was hier gerade geschehen war. Um ein Haar wäre dieser feudale Springbrunnen der Ort gewesen, an dem ich das Zeitliche gesegnet hätte.

War dies vielleicht tatsächlich der Weltuntergang? Schemenhaft erkannte ich ein Auto. Oder wollte mich jemand umbringen? Und wenn ja, warum? Und woher wusste derjenige dann, dass ich heute Nacht hier vor dem Fenster meines Ex rumlungerte – oder besser gesagt, nachts in dessen Springbrunnen lag? Wenn das ein Mordversuch war, musste es sich wohl um eine Verwechslung handeln, tröstete ich mich. Hatte der Fahrer es eigentlich auf die neue Hausherrin abgesehen, bot es sich eventuell sogar an, mich mit ihm zu solidarisieren, kam mir der bittere Gedanke. Um ein Haar entlockte diese Vorstellung mir ein Lächeln. Ich versuchte, Personen zu erkennen und mit ihnen Blickkontakt aufzunehmen, womöglich war der Fahrer verletzt. Das Fahrzeug stand jedoch so weit entfernt am Baum, dass ich niemanden erkennen konnte. Undeutlich sah ich die Umrisse einer Person hinterm Steuer.

Es war einer dieser schicken Oldtimer. Jedenfalls, bevor der Baum ihm eine neue Form verpasst hatte. Der Fahrer stieg nicht aus. Der Wagen wendete mit quietschenden Reifen und der Fahrer gab Vollgas und brauste davon. Ich sah die beiden roten Rücklichter immer kleiner im Dunkeln verschwinden.

Dieser Moment war einer der Sorte, in denen man sich, mit ein wenig zeitlichem Abstand, gerne selbst beobachtet hätte. Ich war überzeugt, dass ich gar nicht so blöd aus der Wäsche schauen konnte, wie ich mir vorkam.

Ich bahnte mir durch das am Boden liegende Geäst einen Weg Richtung Fußweg, als ich ein verbogenes Kennzeichen am Baumstumpf entdeckte. Ich griff nach dem völlig deformierten Stück Blech.

Kurz überlegte ich zwar, dass ich es eigentlich der Polizei hätte übergeben müssen, befand dann aber, dass diese Weltuntergangsstimmung im Vorgarten gerade recht kam. Sollte er sich doch mit seiner Liebsten darum kümmern und den Unfallflüchtigen ausfindig machen. Ich rechnete sekündlich damit, dass sie zur Tür herausstürzen würden. Augenscheinlich war weder mir noch dem Fahrer etwas Ernsthaftes passiert, das war erstmal das Wichtigste. Kurzerhand steckte ich das Kennzeichen ein. Außerdem rettete ich damit auch mich selbst auf eine Art. Wie hätte ich die Situation rechtfertigen sollen? Wie sollte ich der Polizei erklären, dass ich, als der Unfall geschah, gerade in fahlem Licht bei Nieselregen im Springbrunnen unterm Fenster der Villa stand?

Mein Glück und das des Unfallflüchtigen war, dass im Innern des Hauses so laute Partymusik lief, dass anscheinend kein Geräusch von außen zu ihnen vordrang. Ich sah zu, so schnell wie möglich das Weite zu suchen, bevor die Runde der feinen Ladies doch noch die Verfolgung aufnehmen würde.

Über die Schulter warf ich noch einen Blick auf das Trümmerfeld. Der vom Landschaftsarchitekten in mühevoller und kostspieliger Kleinarbeit angelegte Garten war nicht mehr wiederzuerkennen. Er glich eher einem Acker, auf dem eine Rotte Wildschweine gewütet hatte. So absurd die Situation war, gab sie mir irgendwie eine gewisse Genugtuung.

Als ich einige Meter entfernt war, sah ich, wie ein heller Lichtstrahl vom Inneren des Hauses auf den Weg zur Tür fiel. Ein greller Schrei, der durch Mark und Bein ging, folgte dem Türöffnen. Augenscheinlich hatte meine Nachfolgerin oder eine ihrer Freundinnen sich gerade mindestens genauso erschreckt wie ich. Diese Erkenntnis ließ mich trotz eines rasenden Pulses schadenfroh schmunzeln.

Auf die Gefahr hin, dass Frau Biensheim sah, wie ich das Schild eingesteckt hatte, eilte ich Richtung Bahnstation. Ich war selbst erstaunt, dass ich mir keinerlei Verletzungen zugezogen hatte. Mir war nur recht kühl, weil meine Kleidung größtenteils nass war. Aber da die Temperaturen noch sommerlich warm waren, war es auszuhalten.

Machte ich mich strafbar, weil ich einfach samt Kennzeichen das Weite suchte? Oder war das als Schockreaktion zu werten? Ich sah mich eher als Opfer, weniger als Täter. Aber was hatte ich schon zu verlieren? Wenn ich mir vor meinem inneren Auge über das Ziel der Stadtbahn Gedanken machte und sich die grauen Betonklötze und das kalte Licht in den Gängen zeigten, kam ich zu dem Schluss: Wenig!

Ich betrachtete die Leute, die in dieselbe Richtung wollten wie ich und musste schlucken. Sie schlichen schweren Schrittes in die Bahn, den Kopf gesenkt, einige starrten auf ihr Handy. Die meisten trugen eine Plastiktüte eines Discounters mit sich. Ich stellte mir vor, dass darin einzig Bier in Dosen und Zigaretten lagen. Mir kam es vor, als könne mein Kopfkino nur noch graue, traurige Bilder malen.

Vielleicht war es eine Auswirkung des Schocks. Womöglich aber auch die traurige Realität, denn ich wohnte jetzt im absoluten Albtraumviertel. Meine Situation war in jeglicher Hinsicht perspektivlos. Tränen liefen über meine Wangen und der Kloß in meinem Hals wurde sekündlich dicker. Fast hatte ich das Gefühl zu ersticken.

Gerade eben noch war ich in der heilen Welt zu Hause, umgeben von Sorglosigkeit und Leichtigkeit inmitten prachtvollster Anwesen. In meiner Erinnerung spielte leise Klaviermusik im Hintergrund, auf den Terrassen Loungemusik. Im Sommer tanzte man auf Partys in parkähnlichen Gärten, in denen eigens weiße Pavillons für die nahezu alltäglichen Feiern irgendeines herausragenden Ereignisses aufgestellt wurden.

In meiner Erinnerung glänzte diese Welt taghell und sonnig, wie als läge sie auf der anderen Seite der Erde, während da wo ich jetzt war, dunkle Nacht herrschte. Die Welt, in der ich mit Paul gelebt hatte, war eine Umgebung, in der ich meine Kinder in Gedanken hatte aufwachsen sehen wollen – und nun das.

Ich schlich vorbei an einer Gruppe Jugendlicher, die ein Duft von Marihuana und Bier umgab, und klammerte mich an meine Handtasche.

Wie naiv war ich gewesen, tatsächlich an die große Liebe zu glauben? Daran, dass uns eine Zukunft bevorsteht, die unerschütterlich ist. Die nächsten Schritte, Hochzeit, Familie – alles schien mir so selbstverständlich. Und ich hatte es mir so gut vorstellen können, hatte mich in diesem Lebensplan so wohlgefühlt. Vor allem, weil ich nicht alleine war. Nie im Traum hätte ich geglaubt, dass das zu Ende geht und ich noch einmal im Leben so einsam und verlassen dastehe. Diesmal ohne meinen geliebten Vater, der mich schützend in den Arm hätte nehmen können.

Unsere feinen Freunde hatten sich größtenteils auf die Seite meines Ex-Freundes geschlagen. Man sinnierte lieber auf der großzügigen Terrasse seines Anwesens über den Sinn und Unsinn einer festen Beziehung und der großen Liebe. Das Glas teuren Rotweins in der Hand in edlem Ambiente zu schwenken, war angenehmer, als sich selbst in meiner Einzimmerwohnung in spartanischer Atmosphäre mit Wein aus dem Tetra Pak zuzuprosten. Damit verlor ich nicht nur den Glauben an die Liebe, sondern an nahezu alles Positive im Leben.

In was für einer oberflächlichen Scheinwelt ich bisher gelebt hatte, wurde mir nach und nach bewusst. Womöglich würde das früher oder später ein kleiner Trost werden.

Dankbar dachte ich an meine neue Freundin. Sabine gab mir Halt in meinem Alltag, der sich anfühlte, als sei ihm der Boden entrissen worden.


Ich kam am grauen Wohnblock an, in dem sich meine Wohnung befand. Mein Blick wanderte Stockwerk für Stockwerk an der tristen Fassade bis zu meiner Wohnung im fünften Stock hinauf. Bunte Markisen bildeten den einzigen Farbschimmer in dieser Ansicht. Zunichtegemacht wurde dieser durch Heerscharen von Satellitenschüsseln, die auf nahezu jedem der beengten Balkone angebracht waren. Mit hängenden Schultern ging ich auf die Eingangstür zu. Kein grüner Zweig umgab das Gebäude, nicht einmal eine Rasenfläche brachte einen Hauch von Idylle in das Bild. Seufzend schloss ich die Haustür auf und ignorierte dabei die überquellenden Briefschlitze von mehr als vierzig Wohnungen.

Abgeschreckt vom beißenden Gestank im Fahrstuhl und davon, dass mir der Weg in den fünften Stock darin vorkam, als reise ich zum Mond und bei jedem Halt stiegen gruselige Außerirdische ein, wählte ich lieber die Treppe. An die Wand hatten Jugendliche obszöne Sprüche geschmiert und es roch ekelerregend nach Urin und Zigarettenqualm.

Ich rannte fast bis zu meiner Wohnungstür und sank matt und außer Atem zu Boden, als ich mich von innen gegen die geschlossene Tür lehnte.

Ich weinte, weil ich hier nicht sein wollte. Weil das alles sich wie ein schlechter Scherz anfühlte. Wie ein böser Traum, aus dem ich einfach nur erwachen wollte. Vielleicht weinte ich aber auch aufgrund des einsetzenden Schocks nach diesen dramatischen Szenen im Vorgarten.

Ich weinte, weil Paul mir fehlte. Die Abende mit ihm, die Sorglosigkeit, die ich bei ihm verspürt hatte. Auch, wenn er mich seit Monaten belogen hatte, es war das Nicht-Alleinsein, das Gefühl von Zukunft, welches mir so sehr fehlte. Dass er mich verlassen hatte, hatte mich in ein tiefes Loch fallen lassen. Wortwörtlich. Mehr als ein Loch war diese Einzimmerwohnung nicht. Ich war aber hier eingezogen, damit mein Erspartes aufgrund der niedrigen Miete so lange wie möglich ausreichen würde.

Die mickrige Küchenzeile lud nicht gerade zum Kreieren kulinarischer Gaumenfreuden ein. Ein innenliegendes Badezimmer mit grauenerregend lindgrünen Kacheln und einem Duschvorhang mit Blütenmuster machten die banale tägliche Dusche zu einem Martyrium. Es handelte sich um einen Plastikvorhang der Sorte, die sich penetrant an einen klebt, wenn man ihm beim Duschen zu nahekommt. Nicht, dass ich zwingend die Sechs-Quadratmeter-Dusche mit Vollverglasung und die Whirlpool-Funktion meiner Ex-Badewanne zum Glücklichsein brauchte. Es war eher der himmelweite Unterschied, der mich immer wieder schlucken und mich das Ausmaß meiner Misere spüren ließ. Und unabhängig aller Unzufriedenheit über diese Wohnung, gönnte ich es einfach Madame Bilderbuch-Babybauch ums Verrecken nicht, dass sie jetzt in dieser Wanne vorgeburtlichen Kontakt zum Kind meines Ex-Freundes aufnehmen würde, während ich mit meinem anhänglichen Duschvorhang kämpfte. Der Vorhang stand symbolisch für die erbärmliche Umgebung, die sich an mich geheftet hatte und die ich nicht mehr loswurde, seit dem Tag, an dem ich herausgefunden hatte, dass Paul mich betrog und ich daraufhin ausgezogen war.

Nachdem ich heiß geduscht hatte, fühlte ich mich trotz des aufdringlichen Duschvorhanges wohler. Ich schaute mich im scheußlichen Bad um.

Als meine Welt in Scherben lag, dachte ich alle Gedanken, fühlte Emotionen von Wut über Verzweiflung bis hin zu Hysterie und Trauer. Es war mir im ersten Moment egal, wohin ich kam. Ich wollte einfach nur weg. Weg von dem Mann, der mich hinterhältig belogen hatte, und weg von den wohlhabenden Nachbarsdamen, die sich spätestens von nun an über mich ihre aufgespritzten Mäuler zerreißen würden.

Und da saß ich nun. Abserviert.

Im Nachhinein war ich der Überzeugung, ich habe an seiner Seite nach außen hin ein ganz passables Bild abgegeben. Mein Auftreten war ausgeglichen unspektakulär. So repräsentativ, dass man mit mir nicht negativ auffiel und so unauffällig, dass ich niemand anderen faszinierte. Den Kick schien er sich dann woanders geholt zu haben.

Die Vorstellung, dass mein Ex mit einer anderen Frau ins Bett stieg, wirkte wie ein Sturz aus tausenden von Metern. Mir wurde eiskalt. Vielleicht aber auch, weil die Kälte dieser Wohnung Besitz von mir nahm und mich anwiderte. Der miefige Geruch aus überfüllten Mülltonnen, das Panorama aus kargen Hochhäusern, zwischen denen lieblose Spielplätze dahinvegetierten, weil schon lange niemand sich mehr darum scherte, erdrückten mich. Wie ein Fremdkörper hockte ich in diesem Loch und verharrte die meiste Zeit wie in einer Schockstarre.

Ich war bei meinem alleinerziehenden Vater aufgewachsen, der als freiberuflicher Autor für ein philosophisches Magazin nicht viel besaß, wohl aber ein großes Herz. Unsere Wohnung war ähnlich meiner jetzigen gewesen. Sie bestand aus nur zwei Zimmern. Mein Vater schlief auf dem Schlafsofa im Wohnzimmer, ich hatte mein eigenes Zimmer. Oft hatten wir abends bis spät in die Nacht gemeinsam gelesen oder uns Geschichten erzählt. Noch heute spürte ich die wohlige Wärme seines Armes, den er liebevoll um mich legte, wenn er mir mit weisem Blick über den Rand seiner Brille hinweg aus seinen Büchern vorlas.

Mit der Wärme und der Herzlichkeit meines Vaters ausgestattet, fühlte sich unsere Wohnung damals trotz ähnlicher Merkmale aber anders an. Sie war unser kleines feines Reich und für mich das schönste Zuhause der Welt. In Gedanken träumten wir uns damals von dort aus so oft an unseren Strand auf Sylt. Mein Vater hatte eine Cousine, die auf der Insel lebte. Manches Mal hatte sie uns ermöglicht, sie für ein paar Tage zu besuchen. Es waren mit die schönsten Tage in meinem Leben, die ich dort mit meinem Vater träumend und philosophierend im Schneidersitz im Sand sitzend verbracht hatte. Beim Gedanken daran spürte ich förmlich den Sand zwischen meinen Zehen und den immerwährenden leichten Wind im Haar. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht.

All das lag Welten von meiner jetzigen Realität entfernt. Mit Paul war ich ein paar Mal nach Sylt gereist, und obwohl mein Vater mir unsagbar fehlte, waren es Tage, an denen ich ihm besonders nah war. Jetzt war auch Paul fort und es erschütterte mich, so einsam zu sein. Einerseits war ich froh, ausgebrochen zu sein aus dem Dunst aus Lügen und falschem Spiel. Andererseits kam ich nun mehr und mehr zu der Erkenntnis, dass ich auf Paul fokussiert war.

Erst einmal sollte ich mir einen Job suchen, mit dem ich ein paar Taler verdienen konnte. Denn als wäre es noch nicht frustrierend genug, dass mein Freund mich verlassen hatte und schon so bald Papa werden würde, dass ich gar nicht genauer darüber nachdenken mochte, wie lange ich schon das Abendessen für ihn zubereitet hatte, während er sich seiner schwangeren Freundin gewidmet hatte. Ich hatte mit der Trennung auch meinen Arbeitsplatz verloren.

Ich war in einem gut gehenden Unternehmen für Beauty und Wellness in der Buchhaltung beschäftigt gewesen, Paul im Vertrieb. Im Job hatten wir uns kennen- und lieben gelernt. Unsere Geschichte glich einem Film. Wie im Film war es noch immer, nur war es weniger ein Kassenschlager mit Happy End, sondern eher ein Anwärter für die goldene Himbeere.

Ich hätte unmöglich noch einen Tag in der Firma bleiben können, in der ich ihm und womöglich seiner neuen Freundin täglich über den Weg stolperte. Das hätte ich nicht überlebt. Oder das frisch verliebte Pärchen hätte es nicht überlebt und das nächstbeste Schreibtischutensil wäre zur Mordwaffe mutiert.