Die Autorin

Julia Niederstraßer – Foto © privat

Julia Niederstraßer wurde 1992 in Norddeutschland geboren und studiert in Kiel momentan Deutsch und Philosophie. Zuvor hat sie eine Ausbildung zur Kauffrau für Marketingkommunikation abgeschlossen. Sie sitzt aufgrund einer Muskelerkrankung im Rollstuhl und liebt es daher die Charaktere ihrer Texte die Dinge erleben zu lassen, die sie selber nicht machen kann.

Das Buch

Lotte lebt ihr Leben für Max. Ihren großen Bruder, der viel zu früh gestorben ist. Der sie als einziger verstanden hat und der sie vor ihren strengen engstirnigen Eltern verteidigt hat. Jetzt ist er tot und Lotte lebt dort weiter, wo er aufgehört hat, selbst wenn sie im Grunde etwas ganz anderes in ihrem Leben tun will. Sie zieht zu Hause aus und studiert Medizin, genau wie Max. Sie nimmt einen Nebenjob in einer Tagespflege für alte Menschen an. Wie Max. Und sie lernt dort Nick kennen. Den ehemaligen besten Freund ihres Bruders. Doch sie wird nicht schlau aus ihm: Einmal ist er nett und hilfsbereit, dann wieder kühl und zurückweisend. Nur langsam kommen sie sich näher, doch schließlich vertraut sie ihm an, was wirklich in ihr vorgeht. Aber Nick erzählt ihr nicht die ganze Wahrheit über sich und sein Leben…

Julia Niederstraßer

Wenn ich dich sehe

Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Oktober 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-323-0

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Widmung

Für all diejenigen, die sich auf der Suche nach beruhigender Sicherheit selbst verlieren. Was würdest du tun?

Prolog


Was passiert, wenn die eifrig um sich geworfenen Floskeln ihren Inhalt verlieren? Zu weniger als abgedroschenen Lückenfüllern verkommen? Nicht einmal ein mildes Lächeln hervorrufen, weil sie schon zu häufig verwendet wurden? Und ihre aufbauende Wirkung einbüßen? Was passiert, wenn »Du kannst alles schaffen, wenn du nur darum kämpfst« und »Die Liebe besiegt alles« keinerlei Bedeutung mehr in sich tragen und zu Worthülsen werden? Ganz genau, es wird merklich düsterer in der Welt, in dir und deinem Herzen. Plötzlich ist die Erkenntnis da, dass sich ein Mensch nicht gegen alles auflehnen kann, nicht alles niederringen wird. Manches kann nicht aufgehalten werden, selbst wenn wir uns anstrengen. Das Einzige, was bleibt, ist die Hoffnung selbst. Dass sie uns unaufhörlich antreibt, nach dem einen Funken zu suchen, der uns belebt. Der all den verdammten Floskeln den Sinn wiedergibt.

Kapitel 1


Im Hier und Jetzt

»Heute Abend müssen wir auf jeden Fall skypen, damit ich unsere Wohnung auch endlich mal sehe«, forderte meine beste Freundin Emilia Wagner am mindestens tausend Kilometer entfernten Ende der Leitung, während ich Kitty in ihre Transportbox lockte.

»Wenn ich deine liebreizende Katze endlich abfahrbereit bekäme, könnten wir das sogar machen.« Stirnrunzelnd drapierte ich ein Leckerli in der Box und hoffte inständig, dass sich dieses langhaarige weiße Fellknäuel bewegte. Meine Zeit bis zu der Abreise war genau geplant, widerwillige Katzen passten da gar nicht rein.

»Sie wird schon mitkommen. Das macht sie immer, also entspann dich.«

»Sicher nicht. Ich bin jetzt ihr Frauchen, da sage ich, wo es lang geht. Wir werden nicht zu spät zu der Schlüsselübergabe kommen.« Entschlossen baute ich eine kleine Straße aus Leckerlis bis zu der Transportbox und setzte mich auf den gepackten Koffer.

»Ganz ehrlich, Lotte, das schaffst du nicht. Lass sie in Ruhe. Sie ist eben eine echte Lady«, kicherte Lia und fügte traurig hinzu: »Ach Mann, ich vermisse euch zwei. Vielleicht sollte ich doch zurückkommen. So toll ist die Familie hier nicht. Und Sri Lanka ist auch nicht gerade tierisch spannend. Ich könnte dir beim Studieren zugucken und dafür sorgen, dass du dich nicht nur auf die Uni konzentrierst.« Ihr diabolisches Grinsen konnte ich förmlich sehen und mir gut ausmalen, wie sie beinahe täglich versuchen würde, mich auf Partys zu schleppen.

»Lia, du bleibst schön da. Du ziehst das durch. Und ich auch. Danach sind wir wieder zusammen. Wir leben sogar zu zweit in einer Wohnung. Da werden wir uns gegenseitig so nerven, dass wir die Einsamkeit vermissen werden.« Was unmöglich war, zumindest für mich. Ich brauchte Gesellschaft, Menschen, die ich kannte. Oder eben Katzen, bis Lia zurück war.

»Meinst du, du schaffst das? Allein in Anden?«, fragte sie zaghaft und sprach damit direkt mein mit Schmerz besetztes Herz an. Max. Morgen hätten wir zusammen zur Uni gehen sollen. Er wäre mit mir an der Seite in das vierte Semester seines Medizinstudiums spaziert und hätte mir wie am Anfang jedes neuen Semesters alles gezeigt. Bis auf seine Freunde, denn er wollte die kurze Zeit, die wir die nächsten paar Wochen miteinander verbringen würden, nur uns widmen.

»Den Haufen sehe ich jetzt ständig, da werde ich ja wohl einen Nachmittag mit meiner kleinen Nervschwester verbringen können«, hätte er ernst gesagt und mir kurz die Schulter gedrückt, bevor die Führung weitergegangen wäre. Ich hätte währenddessen gelächelt, mir die riesigen Säle angeguckt und mich dabei gewundert, wie Hunderte verschiedene Menschen sich für ein und dasselbe interessieren konnten. Mit ruhiger Stimme hätte er unaufgeregt die Seminare aufgezählt, die er besuchen würde, und anschließend unser völlig überfülltes Lieblingscafé angesteuert, um gemeinsam einen großen Kakao mit Sahne, auf der winzig kleine braune Flocken des Schokopulvers versanken, zu trinken. Wache, kristallklare blaue Augen würden sich damit begnügen, dem beinahe unsichtbar aufsteigenden Dampf zu folgen, statt sich zu unterhalten, damit ich das Geschnatter der umliegenden Tische aufsaugen konnte. Um den unstillbar neugierigen Kindern meiner Nachhilfegruppe in der Grundschule neue Geschichten präsentieren zu können, die ich mit abenteuerlichen Helden und tapferen Prinzessinnen ausschmückte. Dadurch konnten sie sich alle mathematischen Fragen besser vorstellen.

Diese Prozedur hatten wir in den letzten drei Semestern durchgezogen, damit ich mir bei unseren Telefonaten genau ausmalen konnte, wovon er sprach. Um ihn genau zu verstehen, wenn er von seinem Tag erzählte. Einzig und allein, um ein Teil seiner Welt zu sein, zeigte er mir alles und schwieg, damit ich jedes Detail verinnerlichte. Beim ersten Mal hatte Lia nur mit dem Kopf geschüttelt und grinsend gemeint, dass wir mit diesem »Geschwisterliebe-ich-weiß-genau-was-du-brauchst«-Ding absolut übertrieben. Das mochte sogar sein, doch Tatsache war, dass ich mich niemals so verstanden und sicher gefühlt hatte wie bei Max. Meinem Bruder, der mich, anders als die Jahre zuvor, in den nächsten Tagen nicht in seine Welt holen würde. Mir nicht stumm versichern würde, dass wir uns niemals verlieren würden. Auch wenn er in der fünfhundert Kilometer entfernten Großstadt Anden studierte und ich als erfolgreiche Abiturientin so langsam meinen Eltern mitteilen musste, dass ich nach wie vor an dem Plan festhielt, Tanzlehrerin zu werden. Und doch war genau das passiert und hatte mein Herz zu einem riesigen Klumpen Schmerz und Einsamkeit werden lassen. Weil er unbedingt waghalsige Stunts mit einem Longboard vollführen musste, die ihm das Leben gekostet hatten. Mit einem bleischweren Gefühl, das mich morgens weckte und den ganzen Tag begleitete, würde ich nun in die Fußstapfen meines brillanten Bruders treten. Weil er es so gewollt hätte. Genau wie meine Eltern. Und ich.

»Lotte?«

»Ich muss jetzt auflegen. Wir reden später«, wimmelte ich meine Freundin ab und konnte mich noch zusammenreißen, nicht einfach aufzulegen.

»Ist okay. Aber versprich mir, dass du dich den Leuten öffnest. Vergrab dich nicht. Du kannst nicht nur mit meiner Katze reden, bis ich wieder da bin. Such dir Freunde, wie früher. Das hilft dir.«

Gepresst erwiderte ich: »Dafür werde ich keine Zeit haben, das weißt du. Außerdem habe ich doch Kitty und dich. Noch mehr Freunde, die gleißendes Licht in mein Leben bringen, und ich explodiere als Stern.«

Hastig legte ich auf. Verdammt, jetzt hatte ich es doch getan. Ich war ein unmögliches Miststück. Lia versuchte zu helfen und ich kanzelte sie einfach ab. Wie jedes Mal, wenn ich Gefahr lief, den Vortrag über die Macht der Liebe und Freundschaft zu hören. Laut Lia hatte ich nämlich vor genau einem Jahr eine Festung um mich errichtet, durch die nur besagte Liebe und Freunde durchdringen konnten, da sie feine Risse entdeckten und durchbrachen. Wie gleißendes Licht. Tja, zu schade, dass ich ein sehr genauer Mensch war, der keine blöden Risse zuließ.

Sauer funkelte ich Kitty an, die mich aus dunklen Augen musterte, in denen für mich alle Lebensweisheiten der Welt verborgen lagen. Regungslos sah sie mir direkt in die Augen, als ob sie mir genau diese gern an den Kopf werfen würde. Als ich langsam nervös wurde, setzte sie eine Pfote voran und ging mit wippendem buschigen Schwanz gemächlich in die Box. Die Leckerlis rührte sie nicht an. Unheimlich.


Unpünktlichkeit, wie ich sie hasste. Minutenlang hatte ich meine Nerven und etliche Leckerlis geopfert, um das heiß geliebte Satansknäuel rechtzeitig in die Box zu verfrachten. Mit dem Resultat, dass Lias Katze kein einziges davon anrührte und wir gemeinsam vor verschlossener Tür standen. Auf den Hausmeister wartend, in einer Straße, die ungefähr genauso einladend wirkte wie die Orte, in denen ein einsamer Strohballen über die Prärie wehte. Mit dem Unterschied, dass mir die Sonnenstrahlen nicht wärmend die Nase kitzelten, sondern unzählige Regentropfen, keine Tröpfchen, auf die Haut klatschten. Wieso musste es selbst im Sommer noch so kalt sein, dass ich mir für die wenigen warmen Tage im Jahr eigentlich nie Sommerkleider kaufen brauchte?

Obwohl einige Klingelknöpfe in dieser Straße mit Namen versehen waren, wirkte sie wie ausgestorben. In den Fenstern der ebenerdigen Wohnungen hatte ich keine Dekorationen oder Licht gesehen, geschweige denn Menschen. Das war mir schon bei dem ersten Treffen mit dem Eigentümer aufgefallen und trotzdem hatte ich unterschrieben, obwohl Lia nichts von all dem je gesehen hatte. Lediglich hier und da hängende weiße Häkelgardinen bewiesen, dass an meinem neuen Wohnort Lebewesen hausten, in welcher Form auch immer. Die Haustüren strahlten allesamt in einem einladend abblätternden Grau, als ob die Bewohner bloß nicht auffallen wollten und auch niemanden hereinbeten würden. Die Schlösser waren von Rost zerfressen. Nur vor dem Eingang, vor dem ich stand, schien beinahe alles abzuweichen. Zwar hingen in den Fenstern auch leblos weiße Häkelgardinen, die Tür aber blinkte schon fast inmitten der grauen Tristesse. Hellgrün lackiertes Holz und ein glänzend goldenes Schloss waren wirklich eine schöne Abwechslung, doch es roch nur so nach Eigenartigkeit.

Kitty jaulte in ihrer Box, die von Minute zu Minute schwerer wurde. Sie einfach abzustellen, fand ich herzlos, immerhin teilten wir das gleiche Schicksal. Außerdem traute ich es ihr durchaus zu, sich für ein liebloses Abstellen zu rächen. Man bedenke ihren dramatischen Gang in die Box. Beherzt presste ich das harte Gehäuse an meine Brust und ließ mich auf meinem dicken Koffer nieder. Dann warteten wir eben gemeinsam auf den unglaublich pünktlichen Hausmeister, der bereits fünf Minuten auf sich warten ließ.

Wieso konnten sich Menschen nicht an Abmachungen halten? Konnte doch genauso gut sein, dass ich zu einem Vorstellungsgespräch musste oder einer Freundin helfen sollte. Was voraussetzen würde, dass ich, schon ohne hier zu wohnen, welche gefunden hätte, was bei einigen durchaus der Fall sein konnte. Von daher bewies es einmal mehr die Gleichgültigkeit vieler, wozu der Hausmeister offensichtlich ebenfalls gehörte, denn er versetzte mich. Genervt pustete ich eine blonde Strähne aus meinem Gesicht, die aus meinem zu langen Pony in mein Auge pikte. Einen neuen Friseur würde ich mir also auch bald suchen müssen.

»Na, ich hoffe, Sie ham das Viech auch angemeldet, sonst könn Sie gleich wieder ausziehn.« Eine brummige Stimme lenkte meine Aufmerksamkeit die Straße hinab, in der gut zehn Meter von mir entfernt ein dicker, glatzköpfiger Mann auf die verstaute Kitty deutete und mich ungemein freundlich begrüßte.

»Dafür müsste ich erst mal einziehen«, erwiderte ich patzig und laut genug, damit er mich hörte. Kam zu spät und entschuldigte sich nicht mal.

Schnaufend kam er bei mir an, betrachtete mich und zeigte erneut auf die Box. »Ham Sie jetzt oder nicht?«

»Selbstverständlich. Ich ziehe doch nirgendwo ein, ohne den Vertrag gründlich zu lesen. Katzen sind erlaubt, noch dazu habe ich sie extra erwähnt. Sie können mir also mit gutem Gewissen den Schlüssel geben.« Prüfend musterte er Kitty, während er sich über seinen grauen Schnauzer fuhr. Glaubte er mir etwa nicht? »Sie können gern den Eigentümer anrufen, was Sie Zeit kostet, die übrigens eh schon äußerst knapp ist, weil Sie zu spät waren«, gab ich spitz zu bedenken.

»Immer sachte mit die junge Pferde, junge Dame. Ich will nur keinen Ärger, für uns bede nicht.« Klimpernd zog er einen riesigen Schlüsselring von der Schlaufe seiner Hosentasche, mit dem er mir ohne Weiteres eins überbraten und mich ausknocken könnte. Gemächlich schob er einen messingfarbenen Türöffner nach dem anderen weiter und pfiff dabei. Mit jedem grellen Ton, der direkt von meinen Ohren in mein »Geduldsbecken« geleitet wurde, eine Erfindung seitens Lia, weil ich häufig zu ungeduldig war, schwappte immer mehr davon über. Meine Ungeduld stieg. Um den Hausmeister anzutreiben, starrte ich ihn an. Nonverbale Kommunikation, andernfalls hätte ich ihn nur noch mehr angeblafft.

»Da isser ja.« Triumphierend streckte er mir einen kleinen Schlüssel entgegen, nach dem ich greifen wollte, als ich zögerte. Eine feine Nervosität ergriff mich für den Bruchteil einer Sekunde. Mein neues Leben begann also genau jetzt. Allein. Hastig überging ich diesen Gedanken und schnappte mir den Schlüssel. Nuschelnd bedankte ich mich, stellte die Katzenbox kurz auf den Boden und wandte mich ab, um endlich reinzugehen.

»Wenn Sie immer so hektisch sind, kriegn Sie noch nen Herzkasper. Machn Sie ma langsam«, ertönte es hinter mir, was ich mit einer Handbewegung abtat.

»Ja. Danke, ich werde es mir merken«, antwortete ich möglichst neutral, schloss die Tür auf und hastete mit Kitty durch den Türrahmen. Umständlich versuchte ich, die Box abzustellen. Was durch den engen Flur erschwert wurde, da die Tür nicht bis zum Anschlag einladend aufschwang, sondern gerade breit genug war, um durchzugehen. Zeitgleich hievte ich meinen Koffer mit einer Hand über die niedrige Schwelle, denn natürlich war er nicht wie seine etwa zigtausend anderen Artgenossen mit kleinen geschmeidigen Rollen ausgestattet. Eklig quietschende hätte ich sogar liebend gern in Kauf genommen. Angestrengt bewegte ich ihn einen Millimeter, als mir die massige Hand des Hausmeisters federleicht meinen Koffer abnahm.

»Wieso sagn Sie denn nix? So kommn Sie auch nich schneller rinn.«

»Danke schön«, gab ich kleinlaut von mir und quetschte mich zügig an die Seite, damit er fast ungehindert an mir und Kitty vorbeikam, um den Koffer abzustellen.

Er musste sich mit stapfend winzigen Schritten auf der Stelle drehen, um sich mir zuzuwenden. Lia und ich würden in Zukunft schön nacheinander den Flur entlanggehen müssen, andernfalls würde eine von uns regelmäßig mit der Wand verschmelzen.

»Ham Sie noch mehr? Oder wars das?« Freundlich schaute er mich fragend an. Jap, ich hatte eindeutig wieder einmal einen Hirnaustausch nötig. Dieser merkwürdige Kauz, so spät er auch gekommen war, war nett und ich bombardierte ihn mit meiner schlechten Laune, nur weil ich mit Unpünktlichkeit nicht klarkam.

»Der Rest kommt morgen mit einem Transporter, aber danke. Und entschuldigen Sie bitte meine Laune, ich bin nur …« Ich stoppte unschlüssig, während der Hausmeister brummig lachte.

»Sehr genau, würd ich ja sagn. Schon gut, junge Dame, komm Sie ersma richtig an un entspann Sie sich. Wenn was is, einfach bei Bo Messner klingln, das bin ich.« Zwinkernd drängte er sich an mir vorbei, sodass ich krachend gegen die Tür geschoben wurde.

Von plötzlicher Stille umgeben, stellte ich Kittys Box so leise wie möglich ab und zuckte trotzdem zusammen, als das dumpfe Aufeinandertreffen von Plastik und Holz zu hören war. Mit einem Klicken öffnete ich die gitternde Versperrung, während Kitty sich nicht rührend geradeaus blickte und nicht einmal blinzelte. Kopfschüttelnd erhob ich mich und zerrte meinen Koffer in mein Zimmer. Diese Katze war noch wesentlich abgedrehter, als ich gedacht hatte. Eine menschliche Diva war nichts dagegen.


»So, pass auf, ich dreh jetzt den Schlüssel um und dann beginnt deine ganz persönliche Wohnungsbesichtigung. Ich hab bisher nur mein Zimmer eingerichtet, bei allem anderen warte ich. Also gebrauche deine Fantasie, sonst ist es wirklich ein bisschen kahl.«

Ich zelebrierte das Öffnen der Tür, indem ich enthusiastisch die Melodie von Our House summte und das Tablet so nah hielt, dass Lia per Videoübertragung quasi im Türschloss saß. Ganz langsam bewegte ich den Schlüssel, als meine beste Freundin aufgeregt quiekte: »Verdammt, Lotte, sieh zu! Ich will unser Lilo-Heim sehen.«

»Geduld ist eine unglaublich hilfreiche …«

»Mach schon! Scheiß auf deine blöde Geduld, die hast du selber nicht. Mein Geduldsbecken ist sogar noch größer als deins«, unterbrach Lia mich nervös, woraufhin ich schwungvoll die Tür öffnete und eintrat.

»Unser Flur, auch gut geeignet als Tanzsaal. Einen Gast hätten wir da schon.« Grinsend schwenkte ich von den beengenden weißen Wänden zu der nach wie vor majestätisch starrenden Katzenstatue in der Box. »Sie bewegt sich kein Stück«, erklärte ich dem tadelnden Blick im Tablet.

»Hast du die Decke etwa nicht ausgepackt? Erst dann fühlt Kitty sich wohl und kommt raus. Das hab ich dir doch gesagt. Oder? Hab ich doch?« Zweifelnd wischte sie sich eine rosa Haarsträhne aus dem Gesicht und klemmte sie hinter ihr Ohr, die jedoch sofort wieder entwischte, weil sie zu kurz war.

»Soll ich ihr die Decke als roten Teppich ausrollen oder reicht es, wenn ich das später erledige?«, schnaubte ich entrüstet und unterbrach Lias aufgebrachtes Mundöffnen, indem ich hastig hinterherschob: »Wohnung oder Kitty?«

Nickend stimmte sie zu und ich drehte das Tablet nach wenigen Schritten nach links. »Unser Spa-Bereich.« Auch hier waren die Wände in Weiß gehalten und erdrückten Besucher dieser Örtlichkeiten. Schlauchförmig bot dieser Raum lediglich Platz für eine Toilette, ein Waschbecken und eine kleine Badewanne, die zur Dusche umfunktioniert werden konnte, die ebenfalls allesamt weiß waren. So wenig Wellness diese paar Zentimeter auch versprachen, genau so wollten wir es. Wir legten mehr Wert auf die Küche und unsere eigenen Zimmer, da konnte man ruhig Abstriche im Badezimmer machen.

Stumm nahm Lia dieses unspektakuläre Zimmer auf, sodass ich mit ihr in den gegenüberliegenden Raum schritt. »Halt dich fest, jetzt kommt unsere Küche, und die ist wirklich …«

»Der absolute Wahnsinn«, kreischte sie und übertönte dadurch mein »richtig schön und praktisch«. Ich stellte mich in die Mitte des kreisrunden Raums und musste dabei auf der hellgrünen Kücheninsel Platz nehmen. Die Arbeitsoberfläche war in einem hellen Grau gestrichen, mit feinen Maserungen, die dem modernen Kochtraum ein edles Aussehen verliehen. Im Halbkreis ringsherum warteten hellgraue Küchenmöbel auf ihren Einsatz und ein noch hellerer grüner Kühlschrank auf seine Befüllung.

»Wir werden nur noch kochen, Lotte. Und jeden einladen, der uns gefällt. Wie früher. Es war so eine gute Idee von dir, dass wir die Küche übernehmen und nicht neu kaufen. Das Beste daran ist aber, dass ich jetzt schon sagen kann, dass das alles zu uns gehört. Ich weiß gar nicht, weshalb ich dich überreden musste, die Wohnung zu nehmen, ohne dass ich sie gesehen habe. War doch klar, dass ich sie mag, du kennst mich doch.« Mit großen begeisterten Augen sprudelte Lia los und forderte die Besichtigung unserer Zimmer ein.

Nie im Leben hätte ich mich darauf eingelassen, eine Wohnung zu mieten, ohne dass ich selber drin gewesen war. Abgesehen davon, dass im Original fast immer alles anders aussah, musste man den Ort, den man Zuhause nennen sollte, doch wenigstens einmal gesehen haben. Um ein Gefühl dafür zu bekommen.

Ich trat aus der Küche hinaus, warf einen kurzen Blick auf Kitty, die immer noch in ihrer Box saß, und strebte die rechte Tür hinter der Küche an. Unsere eigenen Reiche lagen am Ende des Flurs, von denen das linke meins war. Zuerst würde ich also Lias betreten, ansonsten würde sie vor Aufregung bald durchdrehen. Das Licht, das bisher nur von einer herunterhängenden Glühbirne gespendet wurde, schaltete ich an und begab mich in die Mitte des Raums, wie zuvor in der Küche.

»Toll, jetzt bin ich enttäuscht«, kam es traurig von Lia, die sich auf ihr Lippenpiercing biss.

»Komm schon, was hatte ich dir gesagt? Fantasie! Wenn du in ein paar Wochen hier bist, krempelst du alles um. Dieser leere, langweilige weiße Raum wird dann explodieren, glaub mir. Du bist gar nicht in der Lage, unsere Wohnung in Ruhe zu lassen«, versuchte ich sie aufzubauen und ging extra aus ihrem kargen Zimmer. Im Flur drehte ich mich mit dem Tablet einmal um die eigene Achse, während ich vorsichtshalber die Arme einzog, um nicht wie eine Windmühle die Flügel von den Wänden gestutzt zu bekommen. »Du hast doch garantiert schon Pläne, wie unser Tanzsaal aussehen soll«, grinste ich sie an.

»Wir könnten Spiegel aufhängen, dann sieht alles größer aus«, überlegte sie und ihr Blick huschte hin und her. Das war hoffentlich nicht ihr Ernst. Das Einzige, was größer aussehen würde, waren unsere zerknautschten Gesichter am Morgen, die uns schlaftrunken von allen Seiten anstierten.

»Und ein wenig Farbe brauchen wir. Was auch definitiv in den anderen Räumen der Fall ist. Dieses permanente Weiß geht gar nicht. Ich hoffe, dein Zimmer ist schon etwas lebhafter.«

»Quasi. Der Kram kommt ja erst morgen, von daher erwarte nicht zu viel«, erwiderte ich zaghaft. Selbst wenn mir die Möglichkeiten sämtlicher Dekorations-, Möbel- und Malerläden zur Verfügung stünden, gäbe es keinen Farbtornado in meinem Zimmer.

Beherzt öffnete ich die Tür und lief einmal das kleine Viereck ab, das ab sofort mein neues Heim sein würde. Die Isomatte hatte ich bereits ausgerollt, für eine Nacht würde mein neunzehnjähriger Rücken Verständnis haben müssen, zwei Fotografien von Max und mir bei meiner ersten Party im dorfeigenen Club und von Lia und mir, auf einer Schaukel sitzend, zierten das Fensterbrett. Links daneben befanden sich zwei flauschige große schwarze Kissen, die ein kirschrotes umrahmten. Ich hatte sie mit Klettverschluss an die Wand gepappt. Darunter lag eine ebenso schwarze Kuscheldecke auf dem Boden, sodass ich dort gemütlich lesen und Kakao trinken konnte. Morgen würde dort noch ein niedriger dunkelroter Beistelltisch stehen. Ein schwarzes Bett mit leichten Schnörkeln am Gestell, eine schwarze Kleiderstange und ein Schreibtisch in derselben Farbe vollendeten mein Zimmer. Die Wände würden weiß bleiben, nur unzählige dunkle Regale für meine Bücher würden etwas Abwechslung reinbringen und die weißen Wände verdecken. Mein Bedarf an Einrichtung war damit gedeckt. Lia konnte dann noch ein paar farbige Accessoires reinstellen, wenn sie unbedingt wollte, alles andere ließ sie garantiert nicht zu.

Schweigend sah sie mich aus dem Tablet an und seufzte: »Liselotte, du hast dich wirklich verändert. Nur deine kleine Ecke, die übrigens nicht noch winziger hätte geraten können, schreit nach dir.«

Immer wenn mich jemand bei meinem vollen Namen nannte, hatte ich das Gefühl, gehorchen zu müssen, nicht mehr ich selbst zu sein. Innerlich wirbelten federleichte Schneeflocken durch meinen Körper, die merkwürdigerweise immer schon da waren. In den Untiefen meiner Zellen verbreiteten sie eine stetig feine Kühle, die jederzeit spürbar war. Bei der Erwähnung meines Geburtsnamens verursachten sie Schicht für Schicht eine stechende Kälte, die mich jemand anderes werden ließ. Ich fühlte mich dann nicht länger willkommen in meinem eigenen Körper und reagierte nur. Max hatte ich einmal versucht, dieses Gefühl zu beschreiben. Als ich dreizehn Jahre alt gewesen war, waren mir seine bedauernden Blicke aufgefallen, sobald mich unsere Eltern »Liselotte« nannten, und das geschah häufig. Eigentlich immer.

Sechs Jahre zuvor

Wieder einmal saß ich vor meinen Latein-Hausaufgaben und versuchte, die brennenden Tränen zu unterdrücken. Wenn sie nicht flossen, waren Mutter und Vater glücklich. Ein strebsames Mädchen lernte nun mal. Da konnte ich noch so gern zum Videoclip-Dancing gehen, Latein war einfach wichtiger. Schließlich sahen mich meine Eltern schon gemeinsam mit Max die Medizinwelt revolutionieren. Wenn meine sonst eher geradlinige und nüchterne Mutter beschrieb, was einmal aus ihren Kindern werden würde, konnte sie sogar sehr malerisch werden. Mit entzückten Augen schilderte sie uns beinahe täglich, wie wir wegen irgendeiner bahnbrechenden Entdeckung im Blitzlichtgewitter unsere funkelnden Preise entgegennahmen und strahlend dabei lächelten. Natürlich nicht halb so sehr wie unsere stolzen Eltern. Das war das Ziel. Mit jungen Jahren so erfolgreich zu sein, dass die Medizin durch uns in die Presse kam.

Max schien keinerlei Probleme damit zu haben, ihn mussten sie nicht Maximilian nennen. Gerade erst vor ein paar Minuten musste ich wieder daran erinnert werden, was wichtig war. Max schaute dann neuerdings ganz betrübt und entschied sich gleich darauf, den Boden anzustarren. Das regte mich so auf. Jedes Mal schnürte es mir noch mehr die Kehle zu als ohnehin schon. Wieso fiel es mir so schwer, zu sagen, was ich wollte und dachte? Dann könnte ich meinen Eltern sagen, dass ich Medizin zum Kotzen fand. Und Latein sowieso. Dann könnte ich Max anranzen, dass er gefälligst mit mir sprechen und nicht blöd weggucken sollte. Was mich aufhielt, waren die traurigen Gesichter. Die Enttäuschung in glanzlosen Augen, weil etwas anders lief als erhofft.

»Lotte?«

Max kam nach einem kurzen Klopfen herein und gab mir somit einen Moment Zeit, die Tränen erfolgreich zu unterdrücken. Langsam drehte ich mich in meinem pinken Drehstuhl um und sah in sein halb erwachsenes Gesicht, das einige Meter von mir entfernt war und viel älter als siebzehn aussah. Er hatte sich auf mein Bett gesetzt und die Tür geschlossen.

»Was ist? Ich mache Hausaufgaben«, teilte ich ihm neutral mit.

Er musterte mich und lächelte dann. »Komm, eine kleine Pause, um mit deinem Bruder zu reden, wird dich nicht Stunden zurückwerfen. Außerdem hast du eh keine Lust, Hausaufgaben zu machen. Wer will das schon? Von daher kannst du auch gut mit mir reden.«

Richtig. »Doch. Das ist wichtig.«

Ernst zog er meinen Stuhl zu sich und schüttelte den Kopf. »Wieder falsch. Weißt du, woran ich das sehe? Du wirst zu einer Eisskulptur, wenn du was machst, was du nicht willst.«

»Das passiert doch nur, wenn ich ›Liselotte‹ höre«, wisperte ich leise und sah ihn erschrocken an.

»Das ist ständig so. Klar, dann besonders, aber meistens rennst du wie leblos durch die Gegend. Das ist schlimm. Was ist mit dir? Wenn dich die Pläne unserer Eltern so stören, wieso änderst du es nicht einfach?«

Beinahe ätzend fanden die zahlreichen Tränen den Absprung über die Wimpern und flossen über mein Gesicht. Meine Lippen zitterten und meine Hand suchte hastig den Weg zu ihnen, um sie zu verstecken. Gequält schob Max sie beiseite und hielt sie in seiner.

»Rede. Ehrlich, du musst endlich reden. Ich bin dein Bruder, irgendwann ist eine Grenze erreicht, bis zu der ich mich nicht mehr nicht einmischen darf. Aber Lotte, die habe ich schon längst verpasst. Du bist schon immer so gewesen. Und jetzt musst du reden, damit ich dir helfen kann«, flüsterte er ruhig, während er weiter meine Hand hielt. Ängstlich schaute ich ihn an. Was ich gleich sagen würde, klang absolut bescheuert. Einweisungswürdig.

Zitternd holte ich Luft und erklärte: »In mir, da ist was. Immer. Ständig habe ich das Gefühl, nicht ich sein zu können. Nicht komplett. Weil da etwas in mir ist, was wirklich stört. Und wenn man mich Liselotte nennt, bin ich gar nicht mehr ich. Es ist, als würden mich kleine Schneeflocken vereisen. Sodass es mich gar nicht mehr gibt. Wenn ich irgendwas mache, was anderen nicht gefällt, dieser Blick. Max, das kann ich nicht. Vielleicht mag mich dann niemand mehr. Da bin ich lieber eine Eisskulptur.«

Entsetzt betrachtete er mein Gesicht, entschied sich aber offensichtlich, dass mir das nicht half. Er zog kurz an meiner Nase, was er häufig tat, und sagte leicht lächelnd: »Na dann muss ich dich eben zwischendurch erinnern, dass eigene Entscheidungen auch nicht übel sind. Um es mit deinen Worten zu sagen, du hast übrigens eine blühende Fantasie: Dann versuche ich halt, die lästigen Schneeflocken wegzukehren.« Fröhlich wuschelte er mir durch die Haare und drehte mich mit Schwung in meinem Drehstuhl herum.

Im Hier und Jetzt

»Max mochte es ein bisschen nüchterner. Und ich auch. Das Zimmer ist gut so«, antwortete ich knapp und versuchte, die Kälte zu verdrängen. Nur wie sollte das funktionieren, wenn der Schneeflockenschieber nicht mehr da war?

Unergründlich bohrten sich Lias hellbraune Augen in mein Hellblau. »Wenn ich wieder da bin, arbeiten wir an deiner halbneuen Identität, ja?«

Nachdrücklich entgegnete ich: »Was meinst du denn? So bin ich halt, das war doch immer in Ordnung für dich.«

Seufzend nickte meine beste Freundin und murmelte, dass sie jetzt losmüsse, die Kinder sollten geweckt werden. Zügig ging ich zu Kitty und hielt das Tablet vor die Box, damit Lia sie sehen konnte, verabschiedete mich und legte auf.