Die Autorin

Anni Deckner – Foto © Privat

Anni Deckner, geboren 1961 in Winnert bei Husum, lebt mit ihrer Familie in Hanerau-Hademarschen. Ihre Liebe zur »Grauen Stadt am Meer« kann man in ihren Werken spüren. Die kreative Luft des Nord-Ostsee-Kanals inspiriert die Autorin genau wie damals den berühmten Dichter Theodor Storm, der an diesem Ort seinen Schimmelreiter zu Papier brachte. Ihre Leidenschaft zum Schreiben entwickelte sich schon in früher Jugend, ihr erstes Buch »Heimathafen Husum« erschien jedoch erst im März 2014, gefolgt von »Knocking Out« 2015. In ihrer Freizeit geht die Autorin gern mit ihrem Mann auf Reisen. Ihr Beruf und gleichzeitig Berufung ist ihre Arbeit bei der Kirchengemeinde Hanerau-Hademarschen.

Das Buch

Eine neue Liebe an der Nordseeküste?

Die 40-jährige Swantje Hansen hat sich ihren Traum erfüllt: Sie arbeitet als Krabbenfischerin auf ihrem eigenen Kutter. Als einzige Frau unter den Büsumer Fischern muss sie sich oft beweisen. Während eines Sturms verliert sie fast die Kontrolle über ihr Schiff, doch zum Glück ist die Seenotrettung in Person des attraktiven Jannis zur Stelle, der ihr hilft, das Schiff sicher in den Hafen zu bringen. Swantje kennt Jannis seit vielen Jahren und hat das Gefühl, dass er mehr als Freundschaft für sie empfindet. Doch nach einer bitteren Enttäuschung glaubt sie nicht mehr an die Liebe. Als dann auch noch das Navigationsgerät ihres Schiffes verschwindet, wird Swantje langsam klar, dass es doch nicht so leicht ist, frischen Wind in die Büsumer Fischerei zu bringen …

Von Anni Deckner sind bei Forever by Ullstein erschienen:
Barfuß am Strand
Leuchtturmtage
Die Sehnsucht der Inselärztin
Friesenglück
Sylter Meeresrauschen
Die Krabbenfischerin
Das kleine Blumencafé am Strand

Anni Deckner

Die Krabbenfischerin

Ein Nordsee-Roman

Forever by Ullstein
forever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever
Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Oktober 2018 (1)

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018
Umschlaggestaltung:
zero-media.net, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © privat
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ISBN 978-3-95818-382-7

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Sturmzeiten


Swantje Hansen schwitzte unter ihrem Ölzeug, welches zum Schutz gegen die Nässe diente. Hohe Wellen schlugen auf das Deck der MS Helene. Sie musste die automatische Navigation ausschalten und folgte ihrem Instinkt mit Unterstützung eines Kompasses. Der Wetterbericht hatte es so schlimm nicht vorhergesagt, trotzdem hatten die anderen Fischer den sicheren Hafen nicht verlassen. Sie hatten auf ihre Erfahrung vertraut. Swantje hatte sich jedoch nicht so schnell beirren lassen, schließlich kannte sie das Wattenmeer und vor allem ihren Kutter. Doch nun befürchtete sie, ihre letzte Fahrt angetreten zu haben.

Mit gewaltiger Wucht schlugen die Wellen über das Dach der Brücke. Die Gischt sorgte zusätzlich für schlechte Sicht. Sie hoffte, dass ihr Deckshelfer Anton sich in Sicherheit gebracht hatte. Er war ein Draufgänger, für ihn konnte die See nie rau genug daherkommen. Nervös zupfte sie an ihrem Ohrläppchen mit dem goldenen Ohrstecker. Ein Geschenk der Familie Hansen, zum bestandenen Kapitänspatent. Der Schmuck war in früheren Zeiten das Sparbuch der Seeleute gewesen. Er diente auch zur Deckung der Beerdigungskosten, für den Fall der Fälle. Swantje hoffte, dass er nach diesem Sturm nicht zum Einsatz kommen musste. Ihr Vater persönlich hatte mit heißer Nadel und einer Kartoffel dafür gesorgt, dass das Löchlein für den Ohrring an richtiger Stelle platziert wurde. Zum Entsetzten des Familienhausarztes. Denn der hatte die Entzündung, die daraufhin unweigerlich entstanden war, behandeln müssen. Die Geschichte wurde später bei Familienzusammenkünften immer gern zum Besten gegeben und trug zur allgemeinen Belustigung bei.


Der Kutter geriet in gefährliche Schieflage und Swantje hatte Mühe, das Steuerrad auf Kurs zu halten.

»Verdammter Mist«, fluchte die Fischerin. »Wenn ich hier heil rauskomme, schmeiß ich eine Runde in der Fischereikneipe.«

Vorher würde sie allerdings die Sprüche der Kollegen über sich ergehen lassen müssen. Sie hätte auf die Alten hören sollen und den Hafen nicht verlassen dürfen. Nun war es zu spät für Einsichten, sie musste es irgendwie schaffen, ihren Kutter nach Büsum zu bringen.

Reflexartig zog Swantje den Kopf ein, als eine Welle auf die Brücke einschlug. Die Fensterscheiben knirschten unter der Last der tosenden Wellen. Innerlich beweinte Swantje bereits ihren Kutter und befürchtete, Schiffbruch zu erleiden.

Dann riss sie sich jedoch zusammen, so schnell gab eine Hansen nicht auf. Die Wetterkapriolen im Frühjahr waren ihr täglich Brot. Gerade jetzt im April sorgte die See für manche Überraschungen mit ungewissem Ausgang.

Als Swantje an Steuerbordseite eine Bewegung wahrnahm, blinzelte sie durch das Fensterglas. Sie glaubte, sich getäuscht zu haben, doch dann erstarrte sie augenblicklich. Sie hatte sich nicht geirrt. Anton! Der Sturm rüttelte an seinem Ölzeug, als ob er jeden Moment mitgerissen werden sollte.

»Teufel, Anton, was tust du da draußen?« Der Schweiß lief an ihrem Rücken herunter, ihre Schutzkleidung ließ zwar kein Wasser herein, aber auch nicht heraus. Anton trug mal wieder keine Schwimmweste, er freute sich über die Naturgewalten, die an seinem Körper zerrten, als ob der Klabautermann nur auf ihn gewartet hätte.

Swantje überlegte fieberhaft, wie sie ihm Einhalt gebieten sollte. Wenn sie ihn von Deck holen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn persönlich aus der Gefahrenzone zu befördern. Dazu musste sie die automatische Navigation wieder einschalten und zum Deck hinuntergehen. Ihre Rufe erreichten ihn nicht, der Sturm trug sie ins Nirgendwo.

Mit aller Kraft stieß sie die Tür auf, ein fast unmögliches Unterfangen. Dann warf sie ihren Körper dagegen und es gelang ihr tatsächlich, hindurch zu schlüpfen. Der Sturm verschluckte den Knall der zuschlagenden Tür.

Swantje umklammerte die Reling, dann rief sie aus Leibeskräften: »Anton, du Idiot!« Unterdessen nahm der Sturm ihr gnadenlos die Luft zum Atmen. Die Worte blieben Swantje im wahrsten Sinne des Wortes im Halse stecken. »Mach, dass du da verschwindest.« Sie wedelte mit einem Arm durch die Luft, mit der anderen Hand versuchte sie, sich festzuhalten.

Aber Anton lachte vergnügt, mit weit geöffnetem Mund. Ihm gefiel der Sturm, Swantjes Warnungen interessierten ihren Helfer nicht.

Verzweifelt klammerte sie sich an die Reling. Warum hatte sie nur die Brücke verlassen? Für diesen Vollidioten? Eine heftige Welle schleuderte Swantje übers Deck. Am Kragen des Ölzeugs lief kaltes Nordseewasser ihren Rücken herunter. Wenn nur das Deck nicht so glitschig wäre. Auf allen vieren kroch sie zur Tür zurück. Unter größter Kraftanstrengung erreichte sie ihr Ziel. Sie musste das Ruder übernehmen, sonst machte der Sturm mit ihnen, was er wollte. Wenn er das nicht ohnehin schon tat.

Hektisch zog sie an der Klinke, aber der Sturm drückte so stark gegen die Tür, dass es unmöglich für Swantje war, sie zu öffnen. Die Naturgewalten gaben ihr keine Chance, die Tür blieb verschlossen.

Plötzlich war Anton hinter ihr, sein beängstigendes Lachen drang an ihre Ohren. Mit Swantje im Arm riss Anton die Tür auf und schob sie hinein, gleichzeitig stolperte er hinterher.

Swantje rappelte sich mühsam auf, dann schlug sie wütend auf ihn ein.

»Bist du von allen guten Geistern verlassen? Was sollte die Aktion da draußen? Willst du dich umbringen?« Sie funkelte ihn vor Wut schäumend an. Triefend nass übernahm sie das Ruder.

»Das ist doch ein riesen Spaß, Käpten, du musste dich nur in den Sturm werfen, du kannst es mit ihm aufnehmen. Dann bist du die Stärkere. Glaub mir.« Anton strahlte sie an, offenbar, hätte ihn ein Lottogewinn nicht glücklicher machen können.

»Verschwinde von der Brücke, ich will dich nicht mehr hier sehen«, schrie Swantje.

Die Helene machte einen Satz durch die nächste Welle und Anton stürzte zu Boden. Eine hässliche Wunde klaffte an seiner Stirn.

Mit klammen Fingern schnappte Swantje sich das Funkgerät. Es blieb ihr nun nichts weiter übrig, als die Seenotrettung zu rufen. Es war unmöglich, den Kutter auf Kurs zu halten und gleichzeitig Erste Hilfe für Anton zu leisten.

»Mayday Mayday! Die MS Helene hat einen Verletzten an Bord. Süd-Süd-West vor Büsum!«

»Verstanden Helene, ich sehe deine Koordinaten auf dem Bildschirm. Einsatz läuft!«

Trotz der schwierigen Situation grinste Swantje. Benny hatte die Funkdisziplin schon immer ignoriert. Aber ihr war das egal. Hauptsache es kam Hilfe, um diesen Verrückten von Bord zu schaffen.

Ihre Kräfte ließen nach und Swantje begann zu zittern. Sie konnte nicht einordnen, ob die Wut oder die Kälte ihren Körper rebellieren ließ. Zusätzlich nagte die Angst um ihren Kutter an ihr und hielt sie unerlässlich gefangen. Es wäre nicht auszudenken, wenn die Helene Schiffbruch erlitt. Ihre Existenz stand dabei auf dem Spiel. Warum hatte sie auch ihren Dickkopf durchsetzen und bei Sturmwarnung aufs Meer fahren müssen?

Die Helene war einer der größten Kutter im Büsumer Hafen und sie hielt auch hohen Wellengang aus. Swantje musste nicht in Küstennähe fischen wie die meisten kleineren Fischkutter. Weiter draußen war das Fischen erfolgreicher.

Bereits als kleines Mädchen war sie mit ihrem Vater zum Fischen rausgefahren. Er hatte sie bei ruhiger See oft mitgenommen. Dann stand sie mit einem Lutscher in der Hand auf der Brücke und sah ihrem Vater und Lothar, seinem Helfer, dabei zu, wie sie die Schalentiere kochten und sortierten. Schon bald hatte Swantje den Lutscher über Bord geworfen und frische Krabben verlangt. Jeden Handgriff beobachtete sie und verinnerlichte die Reihenfolge. Mit größtem Interesse hatte sie sich die Abläufe eingeprägt. Eines Tages hatte sie ihren Vater gebeten, für sie ebenfalls Ölzeug zu besorgen, damit sie an Deck mithelfen konnte. Denn bei der Krabbensortierung wurde man triefend nass. Laufend wurden die Winzlinge in Salzwasser gewaschen, gekocht und sortiert. So lange bis die begehrten Schalentiere fangfrisch für den Transport zum Großabnehmer Klaas Trulsen in die vorgesehenen Körbe verfrachtet werden konnten.

Als Swantje das Alter erreicht hatte, sich um ihren beruflichen Werdegang Gedanken zu machen, stand für sie fest, dass nur die Fischerei für sie infrage kam. Sie wollte die Ausbildung zur Kapitänin machen, um in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten und den Beruf des Fischers fortzuführen. Zum Leidwesen ihres Vaters hatte er nur Mädchen gezeugt. Aber Swantje, die jüngste der vier Töchter, hatte die Leidenschaft vom Vater geerbt.

Ihr Vater Tristan Hansen war anfangs dagegen gewesen und hatte gewettert: »Das ist nichts für Frauen. Das ist ein harter Beruf, da brauchst du nicht nur Nerven wie Drahtseile, sondern auch Muskelkraft.« Doch er war schnell weich geworden. Tristan Hansen ließ es sich zwar ungern anmerken, aber er war glücklich darüber gewesen, dass Swantje in seine Fußstapfen treten wollte.

Swantje hatte ihm entgegengelacht und gesagt: »Ich bin stark genug, das werde ich dir schon beweisen!«

Inzwischen fuhr Swantje sechs Jahre zur See und hatte längst den Respekt der männlichen Fischerkollegen erlangt. Doch nun stand sie vor einem schwer lösbaren Problem. Sie brauchte schnell einen Ersatz für Anton. Sie konnte unmöglich weiter mit ihm arbeiten. Aber zuverlässige Helfer zu bekommen, war fast unmöglich.

Konzentriert hielt Swantje den Kurs auf Büsum zu. Sie stand bis zu den Knöcheln im Wasser. Als sie Anton von Deck geholt hatte, war es hineingedrungen. Dadurch war es noch schwieriger, festen Halt zu finden. Die Planken glichen einer Rutschbahn aus Schmierseife. Aus dem Augenwinkel sah sie Anton, wie er aus der Bewusstlosigkeit zu sich kam. Ein kehliges Lachen ertönte.

»Na, Deern, kannst du eigentlich schwimmen?«

Erbost wandte Swantje sich zu ihm. »Bestimmt besser als du. Ich trage nämlich eine Schwimmweste!«

Anton kicherte. »Die nützt dir aber nix. Uns findet niemand.«

Er lachte jetzt lauter, und Swantje fürchtete, dass er den Verstand verloren hatte. Anton versuchte aufzustehen, rutschte dabei aber immer wieder aus. Swantje vermutete, dass ihm das Wasser im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Hals stand. Er störte sich offenbar nicht daran.

»Du bleibst dort liegen, wo du bist, ich kann dich hier nicht brauchen«, schrie sie ihn an.

Die Schiffsschraube röhrte beim Auftauchen über der Wasseroberfläche bedrohlich. In diesen Momenten war ein Lenken des Kutters nicht möglich. Für Sekunden lag ihr Schicksal in Gottes Hand.

Swantje kannte ihren Kutter. Unbekannte Geräusche hörte sie sofort, aber die Helene stampfte erhaben durch die unruhige Nordsee. Alles lief, wie es sollte. Die Helene würde unbeschadet nach Büsum tuckern. Trotzdem wünschte sich Swantje, endlich den sicheren Hafen zu sichten.

Das Knacken des Funkgeräts weckte Swantjes Aufmerksamkeit. Der Seenotretter gab Meldung.

»Swantje, wir sind auf Backbordseite. Wir kommen jetzt an Bord.« Die Stimme krächzte durch die Sprechanlage, und Swantje glaubte, Jannis zu erkennen. Sie nahm Füllung weg, sodass die Helene mit drei Knoten tuckerte. Dadurch hatte die See leichteres Spiel. Die Helene lag wie ein Spielball in der Hand der Nordsee.

Doch die Theodor-Storm drehte ab. Bei dem Wellengang war ein Herüberkommen so gut wie unmöglich. In sicherer Entfernung wurde das Tochterboot herabgelassen. Ein erneuter Versuch misslang. Swantje sah, wie das Boot sich langsam näherte, doch ein Knirschen ließ die Retter abdrehen.

Swantje stöhnte. »Auch das noch.« Sie hoffte, der Schaden hielt sich in Grenzen. Aber wichtiger war, dass der Mannschaft nichts passierte. Swantje mochte sich gar nicht ausmalen, dass ihr Dickkopf einen Personenschaden hätte verursachen können.

Ein Poltern ertönte und schon lief ihr der Angstschweiß wieder über den Rücken. Ein Besatzungsmitglied der Theodor-Storm war unter gefährlichen Bedingungen an Bord geklettert.

»Swantje«, keuchte er, »du musst von Bord!« Jannis Clausen stand schwer atmend neben ihr am Ruder.

Swantje zeigte auf Anton. »Den musst du mir von Bord schaffen. Ich komme hier klar!«

»Bist du irre? Die Helene ist verloren, die bekommst du nie über die Priele zurück. Du musst runter!«

»Wenn ich von Bord gehe, ist die Helene verloren. Ich gebe sie nicht auf!«, rief sie, das Ruder fest umklammert.

Die Stimme des Vormannes der Theodor-Storm drang durch das Funkgerät.

»Kommt ihr jetzt von Bord oder braucht ihr noch eine förmliche Einladung? Ich kann die Kiste nicht mehr lange längsseits halten. Die Winde ist ausgefahren, wir bergen zuerst den Verletzten!« Die Nis Puck, das Tochterboot, krängte wie ein Spielball in der Nordsee.

»Siehst du, bring Anton rüber, ich komme schon klar!« Mit der linken Hand fingerte Swantje eine Zigarette aus der Schachtel, die für Notfälle in der Schublade unter dem Kartentisch lag. Sie klemmte sich den Glimmstängel in den rechten Mundwinkel, ohne ihn anzuzünden.

»Ich will auf den Retter!«, grölte Anton, dabei kicherte er kehlig. »Die Gelegenheit kommt so schnell nicht wieder.« Swantje verdrehte die Augen. Sie musste jetzt höllisch aufpassen, nicht mit der Nis Puck zu kollidieren. Offensichtlich konnte Jannis Swantje nicht verstehen, er fluchte leise vor sich hin, als er Anton hochzog und ihn auf das Deck wuchtete. Anton grölte diesmal nicht vor Vergnügen, sondern vor Schmerzen. Swantje vermutete, dass er noch andere Verletzungen davongetragen hatte.

Mein Gott, wer ist mir da nur ins Netz gegangen.

Swantje war erleichtert, ihn endlich losgeworden zu sein.

Der Rettungskreuzer drehte mit Anton an Bord ab. Sie preschten mit voller Füllung durch die Wellen und entfernten sich schnell von der Helene. In sicherer Entfernung nahm die Mannschaft das Tochterboot auf.


Swantje war allein mit ihrem Kutter und der wilden Nordsee. In gewisser Weise war sie erleichtert: Anton war von Bord, und sie würde einen Teufel tun, ihn je wieder einsteigen zu lassen. Natürlich hätte ein Partner auf der Brücke sie entlasten können. Sie brauchte unbedingt eine Pause, daran war aber nicht zu denken. Sie konnte die Helene und sich selbst nicht ihrem Schicksal überlassen. Swantje wollte gemeinsam mit der alten Dame Büsum erreichen. Das war ihr wichtigstes Ziel.

Ihr Sollkonto betrug immerhin eine Million Euro. Die Helene musste noch so einige Krabben ins Netz holen, bis alle Schulden beglichen waren.

Zur Enttäuschung ihres Vaters hatte sie nicht den Kutter der Familie übernommen, sie hatte etwas Eigenes gewollt. Aus eigener Kraft ein Unternehmen führen, auf das sie stolz sein durfte. Die Käthe, auf den Namen ihrer verstobenen Großmutter getauft, hatte die Familie verkauft, als Tristan Hansen in den vorzeitigen Ruhestand gegangen war. Das Herz hatte ihn gezwungen den Beruf aufzugeben, schlussendlich hatte es ihren Vater dann das Leben gekostet, welches er so gerne mit seiner Frau Ilse genossen hätte.

Sie fuhr zusammen, als die Brückentür aufschlug. Das Erste was Swantje sah, war die knallrote Jacke eines Seenotretters. Jannis schob seinen Körper mühevoll herein. »Moin, moin, da bin ich wieder.« Er lachte ihr aufmunternd zu.

»Jannis! Warum bist du nicht von Bord gegangen?«, schrie sie ihn an. Eine Welle beförderte ihn für einen Augenblick aus dem Gleichgewicht. Sofort hielt er sich am Kapitänssessel fest und grinste.

»Immer mit meiner Ruhe«, brummte er der Welle hinterher, die scheinbar wütend von Deck rollte. Swantje sah ihn fragend an. Jannis packte sie an beiden Schultern und schob sie auf den Sessel, der kurz zuvor noch dazu gedient hatte, ihm das Gleichgewicht zu geben. »Setz dich, ich übernehme mal. Du musst dich ausruhen. Dabei rutschte der Südwester, ihre Kopfbedeckung, weg. Ihre lockigen roten Haare klebten feucht am Kopf und verdeckten ihr hübsches Gesicht.

Nach ihrer Geburt vor vierzig Jahren war ihre Mutter entsetzt gewesen beim Anblick des Rotschopfs. Ihr Vater hatte gelacht. »Da kommt Temperament ins Haus, Ilse, am besten du gewöhnst dich gleich daran.«

Warum ausgerechnet sie, das jüngste Kind ihrer Eltern, rothaarig geworden war, wusste niemand. Ihre Schwestern waren honigblond, genau wie die stolzen Eltern. Aufgrund von Swantjes Eigenwilligkeit hatte ihre Mutter oft behauptet: »Da steckt der Teufel drin!«

Swantje verstand nur langsam, was auf ihrer Brücke vorging. Normalerweise duldete sie es nicht, dass jemand ihr den Platz am Ruder streitig machte. Aber Jannis schickte in dieser Situation der Himmel. Ihre Glieder lagen wie Blei irgendwo in ihrem Körper verteilt und ihre Muskeln schmerzten und rebellierten gegen die unmenschlichen Anstrengungen. Sie rümpfte die Stupsnase mit den vielen Sommersprossen.

»Ein Kaffee wäre jetzt gut«, sagte sie tonlos.

»Auch ein Krabbenbrötchen?« Jannis lachte.

»Mit Backwaren sieht es schlecht aus, aber Krabben sind so ungefähr hundert Kilo an Bord.« Sie grinste.

»Schau, dort ist mein Beutel, ich habe der Theodor-Storm eine Kanne gemopst.«

Schwerfällig sah Swantje sich um. Tatsächlich lag da ein Beutel mit begehrtem Inhalt. Sie jubelte: »Jannis! Wir sind gerettet!«

Jannis sah sie seltsam an. »Dazu bedarf es noch etwas mehr. Aber wenn du den Kaffee als Rettung ansiehst, freut mich das natürlich.« Er lachte.

Swantje beobachtete Jannis. Er kannte sich gut aus. Ihren Kutter bediente er leicht und gefühlvoll. Jetzt sang er auch noch:

»Beim ersten Mal tut’s noch weh … beim zweiten …« Swantje lachte.

»Nö, die Helene kommt mit nach Hause, da kannst du noch so laut vom Untergang singen.« Swantje versuchte, den Kaffee in einen großen Becher zu geben, ohne etwas zu verschütten. Sie füllte ihn nur bis zur Hälfte. Trotzdem war es unmöglich, den Kaffee zu trinken. Sie wartete eine Welle ab und trank, bevor die nächste über das Deck rollte. Irgendwie bekomme ich ihn schon in meinen Körper. Ich brauche etwas Warmes.

»Merkst du das? Es wird deutlich ruhiger. Der Himmel hat ein Einsehen mit uns.« Jannis grinste sie zuversichtlich an

Swantje atmete tief durch. Aber sie waren noch nicht im Hafen. Es konnte noch einiges passieren.

»Warum bist du zurückgekommen? Die Theodor-Storm ist doch weitaus sicherer als mein Kahn.«

Jannis zog sie in seine Arme.

Swantje konnte Berührungen nicht leiden. Verärgert wandte sie sich ab. Nähe zulassen war, was ihr schwerfiel, seit sie vor zwei Jahren eine kurze, aber hefige Beziehung mit einem Urlauber gehabt hatte. Die Enttäuschung des Verlassenwerdens hatte sie nie verwunden. Seitdem achtete sie zwanghaft darauf, ihre Gefühle nach außen hin zu verbergen. Ihre eigensinnige Art sollte ihr dabei helfen, die Trennung von der Liebe ihres Lebens, an die sie geglaubt hatte, zu verwinden. Sie sah Jannis verärgert an.

»Weil du Hilfe brauchtest. Weiter nichts«, antwortete er und ignorierte ihren Blick.

Danach starrten beide schweigend auf das tosende Meer hinaus. Bis sich Swantje von ihrem Platz löste und links neben Jannis trat.»Ich übernehme wieder«, sagte sie bestimmt.

»Danke.« Jannis gab das Ruder frei, offensichtlich darauf bedacht, Körperkontakt zu vermeiden, und fiel mit der nächsten Welle auf den Kapitänssessel. Swantje spürte seine Blicke, die ihr trotz der Kälte für einen Moment heiße Schauer bescherten.

Beide waren in Büsum geboren, Jannis war fünf Jahre älter als Swantje. Auch er hatte bereits als kleiner Junge vor den Seenotrettern gestanden und davon geträumt, eines Tages darauf zu arbeiten. Dafür musste er nach Flensburg, um an der Nautiker-Schule sein Patent zu erlangen. Swantje hatte damals ein bisschen für ihn geschwärmt. Ein junger Mann, der genau wusste, wohin sein Weg ihn führen sollte.


Der Leuchtturm von Büsum erschien vor ihnen und zeigte der Helene den Weg in sicheres Fahrwasser. Swantje nahm Füllung zurück und schenkte dem Einfahren in den Hafen ihre volle Aufmerksamkeit. Früher war das Einlaufen in den Büsumer Hafen ein heikles Unterfangen gewesen. Gefährliche Strömungen hatten es den Fischern fast unmöglich gemacht, bei schlecht Wetter unversehrt einzulaufen. Erst durch den Bau einer Mole, die die Naturgewalten abhielt, war die Gefahr abgemildert worden.

»Swantje! Pass auf! Der Poller auf Backbordseite!«

»Ich seh es, aber Helene reagiert nicht so schnell.« Sie schlug das Ruder etwas mehr auf Steuerbord. Nicht zu viel, sonst wartete die Gefahr auf dieser Seite. Swantje blieb ruhig, bei der Hafeneinfahrt machte ihr so schnell niemand etwas vor. Sie kannte die Tücken.

Trotzdem war sie erleichtert, als sie diese Hürde ohne Beulen überwunden hatten.

Jannis pfiff anerkennend durch die Zähne.

»Mit dir würde ich überallhin schippern, Käpten.«

»Na ja, ich wäre mir an deiner Stelle nicht so sicher.« Sie grinste ihn dankbar an.

Ihr Vater war einer ihrer größten Fans gewesen, nach seinem Tod hatte Swantje niemanden mehr gehabt, der ihre Arbeit lobte oder sogar stolz auf sie war. Ihre Mutter sähe Swantje lieber an Land. Dennoch verkaufte Ilse Hansen Krabben direkt vom Kutter, an Einheimische und Touristen. Swantje war froh über die Unterstützung. Die Großhändler zahlten für einen Liter Krabben nur einen Bruchteil des Erlöses, den man bei Direktverkauf erzielen konnte. Lohnende Einnahmen, die für die Fischer wichtig waren.


Swantje entdeckte ihre Mutter am Pier. Sie schien aufgeregt und konnte es offenbar nicht erwarten an Bord zu kommen. Zahlreiche Personen beobachteten das Festmachen des Kutters. Swantje hatte den Eindruck, als ob die gesamten fünftausend Einwohner Büsums die Helene begrüßen wollten.

»Auch das noch«, stöhnte Swantje. Gleich würden ihr so einige Vorwürfe um die Ohren fliegen.

Jannis lachte. Er konnte eine gewisse Schadenfreude nicht verbergen. »Die Queen Mary hätte keinen größeren Empfang bekommen«, bemerkte er, bevor er die Brücke verließ.

»Gut möglich, die passt hier aber nicht rein«, zischte Swantje ihm hinterher. Mit geübten Ruderbewegungen beendete sie das Anlegemanöver. Einige Fischer standen bereit, um die Leinen aufzunehmen und das Boot festzumachen. Jannis schob währenddessen die Gangway an Land.

Kaum hatten sie festgemacht, stürmte ihre Mutter an Bord. »Swantje! Gott sei Dank. Was hast du dir nur dabei gedacht, bei diesem Wetter hinaus zu fahren?« Überschwänglich nahm Ilse Hansen ihre Tochter in die Arme.

Swantje entzog sich der festen Umklammerung ihrer Mutter. Sie konnte es nicht ertragen, wenn die sie betüttelte. »Mama! Es ist doch alles gut, jammre nicht rum. Ich muss die Krabben an Land bringen und danach brauche ich eine heiße Dusche!«

Fleißige Helfer packten mit an, die Fracht war schnell an Land befördert und in den wartenden LKW verladen. Beim Verlassen des Kutters klopften ihr viele Fischer auf die Schulter.

»Hast deinen Dickkopf wieder mal durchgesetzt, was Swantje?« Heinrich von Held sah ihr vorwurfsvoll ins Gesicht.

»Ja, ja! Wer den Schaden hat …«, antwortete sie. Eine Träne der Erleichterung füllte ihre Augenwinkel.

»Brauchst dich nicht weiter kümmern, wir schrubben das Deck, geh nach Hause und wärm dich auf«, sagte Justus einfühlsam. Als er ihre Träne entdeckte, fügte er hinzu: »Bist eben doch ne Deern.«

»Jo, und ein Dickkopf, danke dass ihr mir helfen wollt, aber ich dulde nicht, dass ihr das ohne mich macht.«

»Swantje, überleg es dir bitte«, meinte ihre Mutter. Sie tat sich schwer mit ihrer starrsinnigen Jüngsten, die ihre Fürsorge schon lange nicht mehr brauchte. Bis Ilse das endlich verstanden hatte, war es für Swantje harte Arbeit gewesen. Gelegentlich startete Ilse einen Versuch, ihre Tochter dennoch zu beeinflussen, aber Swantje blieb hart.

In dem Gewühl entdeckte Swantje Jannis. Sie steuerte auf ihn zu und zupfte an seinem Jackenärmel. Leuchtend blaue Augen sahen sie an.

»Danke, Jannis«, flüsterte sie, um Worte verlegen.

»Gerne. Wirklich gerne!«

Swantje lächelte. »Hast einen gut bei mir.«

»Ich komm drauf zurück. So, nu mach, dass du ins Warme kommst.«

»Bald, ich muss erst Klarschiff machen.« Verschmitzt grinste sie ihm zu und kletterte an Bord.