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Thomas Reydon

Wissenschaftsethik

Eine Einführung

Verlag Eugen Ulmer Stuttgart

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Prof. Dr. Thomas Reydon, Jahrgang 1969, Doppelstudium der Physik und der Wissenschaftsphilosophie an der Universität Leiden (Niederlande), Promotion am Lehrstuhl für Philosophie der Biologie am Institut für Biologie der Universität Leiden.
Seit 2004 an der Leibniz Universität Hannover tätig, zuerst als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der dortigen Zentralen Einrichtung für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik (ZEWW), derzeit als Juniorprofessor für Philosophie der Biologie am Institut für Philosophie. Associate Editor für den Bereich Philosophie der Biologie der Fachzeitschrift Acta Biotheoretica, Mitherausgeber der Buchreihe History, Philosophy and Theory of the Life Sciences.

Impressum

ISBN 978-3–8252–4032–5 (Print)

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2013 Eugen Ulmer KG
Wollgrasweg 41, 70599 Stuttgart (Hohenheim)
E-Mail: info@ulmer.de
Internet: www.ulmer.de

ISBN 978-3-8463-4032-5 (E-Book)

Inhalt

Vorwort

1 Die Bedeutung der Wissenschaftsethik

1.1 Was ist Wissenschaftsethik?

1.2 Was kann die Wissenschaftsethik leisten?

1.3 Abschließende Bemerkungen

2 Was ist Ethik?

2.1 Moral und ethische Theorie

2.2 Eine kleine Typologie ethischer Theorien

2.3 Pflichten, Folgen und Tugenden

2.4 Abschließende Bemerkungen

3 Wissenschaft ist nicht wertfrei

3.1 Die traditionelle Trennung zwischen Wissen und Werten

3.2 Epistemische und nicht-epistemische Werte

3.3 Robert Mertons Formulierung des wissenschaftlichen Berufsethos

3.4 Die Aktualität des Mertonschen Berufsethos

3.5 Abschließende Bemerkungen

4 Die wissenschaftsinterne Verantwortung des Wissenschaftlers

4.1 Worin kann Verantwortung bestehen?

4.2 Beispiel: Die wissenschaftliche Veröffentlichungspraxis

4.3 Abschließende Bemerkungen

5 Die wissenschaftsexterne Verantwortung des Wissenschaftlers

5.1 Wissenschaft im Dienste der Menschheit: Hans Jonas und Francis Bacon

5.2 Verantwortungsethik und die Heuristik der Furcht

5.3 Das Vorsorgeprinzip und der Umgang mit Risiken und Unsicherheiten

5.4 Die Risikogesellschaft: Ulrich Beck

5.5 Abschließende Bemerkungen

6 Was ist gute wissenschaftliche Praxis?

6.1 Gute wissenschaftliche Praxis und wissenschaftliches Fehlverhalten

6.2 Was wissenschaftliches Fehlverhalten ausmacht: Die FFP-Definition

6.3 Verhaltenskodizes für die Wissenschaft?

6.4 Abschließende Bemerkungen

7 Ethik im Wissenschaftsmanagement

7.1 Eine Ursache von Fehlverhalten: Interessenkonflikte

7.2 Wohlgeordnete Wissenschaft als Ideal

7.3 Abschließende Bemerkungen

Literatur

Vorwort

Dieses Buch richtet sich primär an Studierende und Promovierende in den Naturwissenschaften, die nicht bereits über Grundwissen der Wissenschaftsethik verfügen. Es ist als kurze erste Orientierung in die Wissenschaftsethik als Schlüsselkompetenzbereich in naturwissenschaftlichen Studiengängen konzipiert und soll sowohl für den Gebrauch in der akademischen Lehre als auch zur selbständigen Lektüre in der Promotionsphase geeignet sein.

Für ein so kompaktes Buch wie das vorliegende stellt sich die Frage, was angehende Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler, die sich höchstwahrscheinlich nur kurz während ihres Studiums oder ihrer Promotionszeit mit Wissenschaftsethik befassen, eigentlich über Wissenschaftsethik wissen sollten, um in ihrer weiteren Laufbahn für den Umgang mit moralisch kniffligen Situationen in der Wissenschaftspraxis gewappnet zu sein. Was primär benötigt wird, so scheint es, ist nicht so sehr vertieftes theoretisches und faktisches Wissen als vielmehr eine Sensibilisierung für die Problematik. Diese Antwort entspringt sowohl pragmatischen als auch theoretischen Überlegungen: Erstens ist das Arbeitsgebiet der Wissenschafts­ethik viel zu breit gefächert, als dass es im Rahmen einer kurzen Einführung vollständig erörtert werden könnte. Außerdem ist es insbesondere im Rahmen der Ethik nicht unplausibel, dass eine Person über eine entsprechende Sensibilität für die Problematik – gewissermaßen einen „Riecher“ für möglicherweise auftretende Problem­situationen – verfügen muss, um vertieftes theoretisches und faktisches Wissen überhaupt einsetzen zu können. Umgekehrt sollten sich für die Problematik sensibilisierte Wissenschaftler(innen) mit einem Mindestmaß an theoretischem und faktischem Wissen ausgerüstet in wissenschaftsethischen Problemsituationen zurechtfinden können. Ein solches Mindestmaß an wissenschaftsethischem Wissen soll im vorliegenden Buch bereitgestellt werden.

Dieser Ausrichtung des Titels entsprechend bietet der Text weder detaillierte Diskussionen theoretischer Ansätze noch einen vollständigen Überblick über alle Themen, Fragen und Probleme, die in der Wissenschaftsethik erörtert werden. Vielmehr werden nur einige ausgewählte Themen angesprochen, um dem Leser einen Einstieg in die Thematik zu bieten, von der aus er sich selbständig weiter vorarbeiten kann. Dabei soll es nicht um vertiefte philosophische und philosophiehistorische Erörterungen der angesprochenen Themen oder um detaillierte argumentative Begründungen möglicher Positionen gehen. Auch passgenaue Problemlösungen, beispielhafte Fallanalysen und direkt in der Praxis umsetzbare Richtlinien werden nicht angeboten, da jeder konkrete Fall einzigartig und die Wissenschaft ein veränderliches Phänomen ist und es dementsprechend keine passgenauen Lösungen und allgemeingültigen Richtlinien geben kann. Stattdessen soll das Buch den Leser zum eigenen Nachdenken über wissenschafts­ethische Fragen und Probleme anregen und stellt entsprechendes ­Basiswissen sowie Anreize bereit. Wenn das Buch die Aufmerksamkeit des Lesers auf Probleme lenkt, dessen Existenz er bislang übersehen hat und für ihn einen Anlass darstellt, sich über diese Probleme einige Gedanken mehr zu machen, hat es sein Ziel erreicht.

Im Rahmen der akademischen Lehre soll das vorliegende Buch als Grundlage eines einführenden Kurses in die Wissenschaftsethik dienen können. Die hier vorgesehene Verwendung wäre die eines Rückgrats oder eines Skeletts, das für eine vertiefte Arbeit zu einzelnen Themen mit Artikeln aus der aktuellen wissenschaftsethischen Forschungsliteratur sowie mit Materialien zu Fallstudien aus der Praxis ergänzt werden kann.

 

Hannover, im Juli 2013 Thomas Reydon


Anmerkung zur Schreibweise der weiblichen und männlichen Form:

Ausschließlich aufgrund der besseren Lesbarkeit wird in diesem Werk auf die ­jeweilige Doppelnennung oder Anpassung der Schreibweise bestimmter Bezeichnungen verzichtet. So stehen u. a. Wissenschaftler, Forscher, Ärzte, Studierende, Autoren, Philosophen, Ethiker etc. selbstverständlich für alle Frauen und Männer, die diese Berufe ausüben oder vertreten.

1 Die Bedeutung der Wissenschaftsethik

Die Wissenschaftsethik ist ein Teilbereich der Wissenschaftsphilosophie: Als praktische Wissenschaftsphilosophie macht sie zusammen mit der theoretischen Wissenschaftsphilosophie, die manchmal auch als Wissenschaftstheorie bezeichnet wird, das Fach Wissenschaftsphilosophie aus (Reydon und Hoyningen-Huene, 2011, S. 131–132). Sie ist ein Teilbereich der akademischen Philosophie, und ihre Ziele, ihre Arbeitsweise und ihre Ergebnisse müssen dementsprechend verstanden werden. Als geisteswissenschaftliches Fach verfolgt die Wissenschaftsethik ihre eigenen Fragestellungen und Ziele und sollte nicht primär als Hilfswissenschaft bzw. Dienstleistungsbereich für die übrigen Wissenschaften verstanden werden, obwohl sie durchaus für die anderen Wissenschaften relevante und brauchbare Ergebnisse erzielen kann. Die Frage nach der Bedeutung der Wissenschaftsethik – die Frage danach, was den Themen- und Problembereich ausmacht, mit dem sich die Wissenschaftsethik befasst; danach, was die Wissenschaftsethik leisten kann bzw. leisten soll; und danach, für wen die Wissenschaftsethik überhaupt etwas leisten soll und kann – muss demnach im Kontext der allgemeinen Frage erörtert werden, was die Geisteswissenschaften überhaupt leisten können und sollen. Nun ist dies eine Frage, die weder pauschal für die Geisteswissenschaften noch für den spezifischeren Bereich der Philosophie befriedigend beantwortet werden kann, da sowohl die Geisteswissenschaften als auch die Philosophie extrem diverse Arbeitsbereiche sind und die unterschiedlichsten Projekte umfassen.

So befasst sich die Philosophie u. a. mit der Gesellschaft und ihren Strukturen, der Politik, dem guten Leben, der Richtigkeit und Falschheit von Handlungen, der Natur des Menschen, der Natur des Bewusstseins und der Verbindung zwischen Geist und Körper, der Beschaffenheit der Welt, der Theorie des gültigen Schließens und Argumentierens, dem Wesen von Kunstwerken, der Verlässlichkeit unseres Wissens über die Welt und mit noch vielen anderen Themen – und eben auch mit dem Phänomen Wissenschaft. Außerdem stellen sich Philosophen zu diesen höchst unterschiedlichen Themen sehr unterschiedliche Fragen und haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was es genau für ein „Produkt“ ist, dass sie mit ihrer Arbeit hervorbringen. Die Diversität der Teilbereiche der Philosophie und ihrer Bezugsfelder, Themen, Probleme, Ansätze, Herangehensweisen usw. lässt sogar die Frage aufkommen, ob die gegenwärtige Philosophie als solche überhaupt als ein Fach gesehen werden kann.

Solche Überlegungen zum Wesen der Philosophie, zu ihrem Ziel und zur Natur der von ihr erzielten Ergebnisse sind Gegenstand der so genannten Metaphilosophie. Die Metaphilosophie, die selbst ein Teilgebiet der Philosophie ist, tritt gleichsam als Wissenschaftsphilosophie der Philosophie auf.1 Sie stellt Fragen, wie: Was sind Aufgabe und Ziel der Philosophie? Was ist ihr Nutzen? Gibt es eine etablierte philosophische Methode bzw. gibt es für die philosophische Forschung spezifische methodische Vorgehensweisen? Was für Wissen liefert uns die Philosophie? Liefert sie überhaupt Wissen oder sind ihre Ergebnisse einer anderen Natur? Eindeutige Antworten auf diese Fragen gibt es jedoch nicht: Sogar auf eine anscheinend sehr einfache Frage zu ihrem eigenen Beruf – Was ist Philosophie überhaupt? – geben professionelle Philosophen oft sehr unterschiedliche Antworten (siehe dazu Edmonds und Warburton, 2010, S. xiii-xxiv). Die vielleicht beste, interessanteste und auf jeden Fall meist zitierte Antwort auf diesen Fragenkomplex stammt von dem Philosophen Wilfrid Sellars, der in einem Aufsatz mit dem Titel „Philosophy and the scientific image of man“ schreibt: „Das Ziel der Philosophie, abstrakt formuliert, ist es, zu verstehen, wie Dinge (im breitmöglichsten Sinne des Begriffs) zusammenhängen (im breitmöglichsten Sinne des Begriffs)“ (Sellars, 1962, S. 37; eigene Übersetzung). Diese Aussage gibt durchaus eine gute Beschreibung des Projekts der Philosophie – und dennoch bleibt für Außenseiter völlig unklar, was Philosophen eigentlich machen.

Dieser kleine Exkurs zur Natur der Philosophie sollte verdeutlichen, dass sich Fragen nach der Zielsetzung der Wissenschaftsethik, nach den möglichen Ergebnissen der Arbeit von Wissenschaftsethikern, nach deren Nutzen, nach der Bedeutung der Wissenschaftsethik usw. nicht eindeutig beantworten lassen – genauso wenig, wie sie für die Philosophie überhaupt eindeutig zu beantworten sind. Als Teilbereich der Philosophie kann die Wissenschaftsethik unterschiedliche Projekte beinhalten, die für unterschiedliche Gruppen von unterschiedlicher Bedeutung sein können. Dennoch sollen in diesem Kapitel die Fragen erörtert werden, was die Wissenschaftsethik beinhaltet und was ihre verschiedenen „Kundengruppen“, darunter insbesondere Naturwissenschaftler, von ihr erwarten können und was nicht.

1.1 Was ist Wissenschaftsethik?

Wie der Philosoph Julian Nida-Rümelin bemerkt, „ist es nicht ausgeschlossen, dass für verschiedene Bereiche menschlicher Praxis unterschiedliche normative Kriterien angemessen sind, die sich [. . .] nicht auf ein einziges System moralischer Regeln und Prinzipien reduzieren lassen“ (Nida-Rümelin, 1996, S. 63). Dementsprechend würden für diese verschiedenen Bereiche der menschlichen Praxis unterschiedliche moralische Systeme gelten, die in verschiedenen Ethiken, d. h. in verschiedenen Teilbereichen der akademischen Ethik, thematisiert werden. Wie in Kapitel 2 ausführlicher thematisiert wird, wird mit „Ethik“ üblicherweise das akademische Fach bezeichnet, in dem moralische Systeme, Urteile und Überzeugungen erforscht werden, während mit „Moral“ diese Systeme, Urteile und Überzeugungen selbst gemeint sind. Ethik ist also, kurz gesagt, das Fach, das Moral erforscht. Eine „Bereichsethik“ (Nida-Rümelin, 1996, S. 63) ist dementsprechend ein Teilbereich der Ethik, in dem die für einen bestimmten Bereich der menschlichen Praxis geltende Moral erforscht wird.

Als Bereichsethiken können u. a. die Bioethik, die Tierethik, die Umweltethik, die Medizinethik, die Genethik, die Nanoethik, die Rechtsethik, die Medienethik, die Wirtschaftsethik sowie die Technikethik genannt werden. Auch die Wissenschaftsethik kann als eine solche Bereichsethik aufgefasst werden. Zum Teil kann die Existenz dieser verschiedenen Bereichsethiken dadurch erklärt werden, dass bestimmte wissenschaftliche Erkenntnisse und technologische Anwendungen in der Gesellschaft als höchst problematisch angesehen werden, während viele andere Erkenntnisse und Anwendungen durch die Gesellschaft unbemerkt bleiben. Dass z. B. die Genethik oft als eigenständige Bereichsethik neben der Bioethik und der Medizinethik besteht, ist wahrscheinlich dem Umstand geschuldet, dass die moderne Gentechnologie in der Gesellschaft als besonders problematisch angesehen wird und dass es diesbezüglich einen großen Diskussionsbedarf und somit einen Bedarf an einer spezialisierten Ethik gibt.

Die verschiedenen Bereichsethiken sind nicht deutlich von einander getrennte Arbeitsbereiche, sondern überlappen sich teilweise und stehen untereinander in einer Vielzahl von Verbindungen. So hat die Wissenschaftsethik als Bereichsethik, die sich mit moralischen Fragen zu den Wissenschaften auseinandersetzt, große Überlappungsbereiche mit der Technikethik, der Bioethik, der Nanoethik sowie den sonstigen wissenschaftsbezogenen Bereichsethiken. Sie grenzt sich jedoch gleichzeitig von diesen durch einen eigenen Fragenbereich ab, der Fragen umfasst, die in Bezug zu allen Wissenschaften auftreten können, während sich die Bioethik, die Nanoethik, die Genethik usw. ausschließlich auf Fragen richten, die spezifisch für bestimmte Teilbereiche der Wissenschaft auftreten. Diese allgemeinen Fragen beziehen sich zumeist auf Aspekte des Betreibens von Wissenschaft, während sich die spezifischeren Fragen der Bioethik, der Nanoethik usw. typischerweise mehr auf die Folgen neuer wissenschaftlichen Erkenntnisse oder neuer technologischen Anwendungen richten. Obwohl es nicht unüblich ist, die Bioethik, die Nanoethik usw. als Teilbereiche der Wissenschaftsethik zu sehen, umfasst die Wissenschaftsethik diese Bereiche nicht vollständig.

Die folgende Beschreibung der Wissenschaftsethik kann zur Erläuterung des soeben gesagten dienen:

„Die Wissenschaftsethik beschäftigt sich mit moralischen Fragen, die in der wissenschaftlichen Handlungspraxis und als Folgen von wissenschaftlichen Innovationen auftreten können. Zum einen sind dies z. B. Fragen zur Verantwortung des Wissenschaftlers, oder die Frage danach, was gute wissenschaftliche Praxis ausmacht und was genau als wissenschaftliches Fehlverhalten angesehen werden muss. Zum anderen sind dies Fragen zu möglichen gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Entdeckungen und neuer Technologien“ (Reydon und Hoyningen-Huene, 2011, S. 132).

Innerhalb der Wissenschaftsethik können dieser Definition entsprechend vier Arbeitsbereiche unterschieden werden (die im Folgenden diskutierte Unterscheidung entstammt Hoyningen-Huene, 2009, S. 11–13; Hoyningen-Huene und Tarkian, 2010, S. 3028).

Erstens befasst sich die Wissenschaftsethik mit moralischen Problemen, die in spezifischen Bereichen der wissenschaftlichen Forschung auftreten können und unmittelbar mit den Gegenständen der Forschung verbunden sind. In diesem Bereich fallen Fragen zur Zulässigkeit der verbrauchenden Embryonenforschung, zum Umgang mit Menschen als Versuchspersonen in Experimenten (z. B. in der medizinischen und psychologischen Forschung), zum Gebrauch von Tieren in Experimenten und zur allgemeinen Zulässigkeit von Tierversuchen, zu den Risiken von Freilandversuchen mit genetisch modifizierten Pflanzen usw. Fragen dieser Art treten nur für spezifische Teilbereiche der Wissenschaft und in spezifischen Forschungskontexten auf und sind stark an den momentanen Stand der Forschung gebunden. So tritt die Frage nach der Zulässigkeit der verbrauchenden Embryonenforschung – d. h. Forschung, in der menschliche Embryonen für die Gewinnung von Stammzellen vernichtet werden – nur für spezifische Forschungsprojekte und außerdem nur dann auf, wenn es keine anderen und besseren Möglichkeiten gibt, um menschliche Stammzellen für Forschungszwecke zu gewinnen. Diesbezüglich ist jedoch absehbar, dass der technologische Fortschritt ermöglichen wird, menschliche Stammzellen zu gewinnen, ohne dafür menschliche Embryonen vernichten zu müssen (z. B. durch die Reprogrammierung adulter Stammzellen zu so genannten induzierten pluripotenten Stammzellen). Mit dem technologischen Fortschritt hätte sich das moralische Problem erledigt und bräuchte nicht mehr durch uns gelöst zu werden, weil es sich aufgelöst hat.

Der zweite Arbeitsbereich der Wissenschaftsethik befasst sich mit der Thematik der guten wissenschaftlichen Praxis, d. h. mit moralischen Aspekten der Wissenschaft als Beruf. Hier geht es darum, was gute wissenschaftliche Praxis ausmacht und diese von wissenschaftlichem Fehlverhalten unterscheidet. Viel diskutierte Themen, wie die Plagiatsproblematik und die Veröffentlichung von gefälschten oder gar völlig frei erfundenen Ergebnissen, gehören ebenso in diesen Bereich wie Fragen zur Aufbewahrungspflicht von Rohdaten, zum fairen Umgang mit Kollegen und Studierenden, zum Recht auf Co-Autorschaft von Veröffentlichungen und den mit einer Co-Autorschaft verbundenen Pflichten, zur Grenze zwischen wissenschaftlichem Fehlverhalten einerseits und „lediglich“ unsorgfältiger bzw. fehlerhafter Arbeit usw.

Als dritter Arbeitsbereich kann die Problematik der Verantwortung des einzelnen Wissenschaftlers sowie der wissenschaftlichen Gemeinschaft als Ganzes genannt werden. Die Fragen, die in diesem dritten Bereich erörtert werden, lassen sich oftmals nicht deutlich von Fragen trennen, die typischerweise dem zweiten Bereich zugeordnet werden. Gute wissenschaftliche Praxis und wissenschaftliches Fehlverhalten einerseits und das Übernehmen von Verantwortung für die eigenen Taten (oder die Weigerung, eine solche Verantwortung zu übernehmen) scheinen zwei Seiten der gleichen Problematik zu sein. Die Frage, wie man in einer fairen Weise mit seinen Kollegen und Studierenden umgeht, kann auch in der Weise gestellt werden, dass man fragt, welche Verantwortung Wissenschaftler ihren Kollegen und Studierenden gegenüber haben.

Der Problembereich der wissenschaftlichen Verantwortung erstreckt sich jedoch deutlich weiter als Fragen dieser Art. Ein wichtiger Aspekt dieses Problembereichs bezieht sich auf Fragen nach der Verantwortung von Wissenschaftlern sowie von der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Gesellschaft gegenüber. Diese Fragen sind insbesondere im Zuge der zerstörerischen Folgen der Anwendung neuer Technologien in den beiden Weltkriegen aufgekommen und durch die Wahrnehmung von neuen, mit der Anwendung neuer Technologien verbundenen Risiken verstärkt worden. Zu denken wäre hier an die Entwicklung von Giftgasen im Ersten bzw. der Atombombe im Zweiten Weltkrieg oder auch an die mit der Gentechnologie verbundenen Risiken für die Umwelt und die menschliche Gesundheit. An die Entwicklung neuer Technologien beteiligte Wissenschaftler fühlen sich manchmal der Gesellschaft gegenüber für die zerstörerischen Folgen dessen Anwendung verantwortlich. Diesbezüglich ist eine wichtige Frage, ob einzelnen Wissenschaftlern oder der wissenschaftlichen Gemeinschaft tatsächlich eine solche Verantwortung zugesprochen werden kann: Kann die Wissenschaft in einer sinnvollen Weise für die Opfer der im Zweiten Weltkrieg abgeworfenen Atombomben oder für den auf den Zweiten Weltkrieg folgenden nuklearen Rüstungswettlauf verantwortlich gehalten werden? Oder ist nicht sie, aber die Gesellschaft selbst für diese Folgen verantwortlich? Und wie steht es um die Risiken der Gentechnologie? Diesbezüglich haben mehrere Autoren darauf hingewiesen, dass die Wissenschaft zumindest eine Verantwortung der Gesellschaft gegenüber dafür hat, der Gesellschaft bei der Entscheidungsfindung über die Implementierung solcher Technologien beratend zur Seite zu stehen (siehe dazu Kapitel 5).

Der vierte Arbeitsbereich der Wissenschaftsethik ist, mit einem Begriff des Wissenschaftsphilosophen Paul Hoyningen-Huene, die Sozialphilosophie der Wissenschaft (Hoyningen-Huene, 2009, S. 11–13; Hoyningen-Huene und Tarkian, 2010, S. 3030). Hier steht, so Hoyningen-Huene (2009, S. 13; Hoyningen-Huene und Tarkian, 2010, S. 3030), die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft im Mittelpunkt. Die Fragen, die in diesem Arbeitsbereich erörtert werden, beziehen sich u. a. auf die Selbstbeschränkung der Forschungsfreiheit durch die wissenschaftliche Gemeinschaft, z. B. wenn es um Forschungsprojekte geht, deren Ergebnisse gravierende negative soziale Effekte herbeiführen könnten. Auch wäre eine im Rahmen dieses Arbeitsbereichs zu verortende Frage, ob sich die Wissenschaft als „Dienerin der Menschheit“ sehen sollte – d. h., inwiefern sie ihre Forschungsthemen auf die Bedürfnisse der Gesellschaft ausrichten sollte oder sich autonom ihre Forschungsziele setzen kann. Diesbezüglich überlappt sich dieser Arbeitsbereich zumindest teilweise mit dem oben angesprochenen dritten Arbeitsbereich.

Der erste Bereich der Wissenschaftsethik soll im vorliegenden Buch nicht angesprochen werden, da für diesen Arbeitsbereich primär einige der anderen Bereichsethiken innerhalb der Ethik, wie die Bioethik und die Medizinethik, zuständig sind. Die Frage, wie mit Versuchspersonen in der Medizinforschung (Patienten in klinischen Studien) umgegangen werden soll, ist vielmehr eine medizinethische als eine allgemein wissenschaftsethische Frage. Der Fokus dieses Buchs liegt hauptsächlich auf Fragen, die dem oben diskutierten zweiten und dritten Bereich der Wissenschaftsethik zuzuordnen sind, also auf Fragen, die für alle Wissenschaften gleichermaßen oder zumindest für den Großteil der Wissenschaften auftreten. Fragen und Probleme aus dem zweiten Bereich finden sich überwiegend in den Kapiteln 3, 4 und 6, Fragen und Probleme aus dem dritten Bereich in den Kapiteln 4 und 5. Dass Kapitel 4 mit dem unterschiedenen zweiten und dritten Bereich überlappt, zeigt, dass sich die Fragen nach der wissenschaftlichen Verantwortung und nach der guten wissenschaftlichen Praxis nicht gut voneinander trennen lassen. (Andere Autoren fassen beide Bereiche unter dem Titel der wissenschaftlichen Verantwortung; z. B. Lenk und Maring, 1998, S. 295.) Die Thematik aus dem vierten Bereich soll in Kapitel 7 kurz angesprochen werden.

1.2 Was kann die Wissenschaftsethik leisten?

Als Teilbereich der Philosophie und insbesondere der Wissenschaftsphilosophie teilt die Wissenschaftsethik die Ziele dieser Fächer. Die Ziele dieser Fächer werden jedoch von verschiedenen Philosophen sehr unterschiedlich gesehen. Ein Ziel der Wissenschaftsphilosophie ist es auf jeden Fall, zu verstehen, wie die verschiedenen Wissenschaften funktionieren und was sie charakterisiert, d. h. was Wissenschaft zur Wissenschaft macht. Die theoretische Wissenschaftsphilosophie richtet sich auf die theoretisch-philosophischen Aspekte dieser Fragestellung, wie die Überprüfungs- und Begründungsweisen von wissenschaftlichem Wissen, die Struktur wissenschaftlicher Erklärungen, die Rolle von Naturgesetzen in den Wissenschaften, die Interpretation wissenschaftlicher Theorien, die Analyse wissenschaftlicher Kernbegriffe usw. Durch Klärung dieser Fragen soll ein gutes Bild davon entstehen, was Wissenschaft genau ist und wie sie in der Lage ist, verlässliches Wissen zu produzieren. Ein weiteres Ziel der theoretischen Wissenschaftsphilosophie liegt darin, das von den Wissenschaften produzierte Wissen sowie die gebrauchten Produktionsmethoden kritisch zu reflektieren, Schwächen aufzudecken und in dieser Weise die Wissenschaften bei ihrer Arbeit zu unterstützen (Reydon und Hoyningen-Huene, 2011). In diesem Bild stellt die Wissenschaftsphilosophie die „Selbstverständlichkeiten“ der Wissenschaften – das als verlässlich angenommene Wissen sowie die als gut funktionierend angesehenen Forschungsmethoden – in Frage (ebd.). Die Wissenschaftsethik hat ähnliche Ziele, bezieht sich aber bei deren Erarbeitung auf die moralischen und gesellschaftlichen Aspekte der Wissenschaftspraxis.

Wie alle Teilgebiete der Philosophie muss sich die Wissenschaftsethik jedoch bezüglich ihrer Ziele bescheiden geben. Die Philosophie produziert selbst kein positives Wissen über die Beschaffenheit der natürlichen und sozialen Welt, wie es die Natur- und Sozialwissenschaften tun (ebd.). Vielmehr zeigt sie uns die unterschiedlichen Aspekte der Dinge, d. h. die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt, in der wir leben. Der berühmte Philosoph Bertrand Russell schreibt in seinem Buch Probleme der Philosophie (1912) diesbezüglich:

„Die Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen, wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heißen, aber sie kann uns viele Möglichkeiten zu bedenken geben, die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreien. Sie vermindert unsere Gewissheiten darüber, was die Dinge sind, aber sie vermehrt unser Wissen darüber, was die Dinge sein könnten.“ (Russell, 1967, S. 138).

Mit anderen Worten: Die Philosophie bietet keine endgültigen Antworten auf die Fragen an, die sie stellt, sondern zeigt uns lediglich mögliche Antworten und Positionen und analysiert, was gute Argumente für bzw. gegen diese möglichen Antworten und Positionen sein könnten.

Gleiches gilt auch für die Wissenschaftsethik: Sie kann auf mögliche moralische Probleme bezüglich der Wissenschaften und ihre möglichen Ursachen hinweisen, unterschiedliche Sichtweisen auf solche Probleme vorschlagen und erörtern, was für bzw. gegen diese verschiedenen Sichtweisen gesagt werden könnte. Sie kann jedoch diese Probleme für die Wissenschaften nicht lösen. Hier sind die einzelnen Wissenschaftler selbst gefragt, wie auch die verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen und die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft als Ganzes. Wie im Verlauf dieses Buchs deutlich werden sollte, soll sich die Wissenschaft als (zumindest teilweise) autonomer Bereich selbst ihre Werte und Normen geben. Die Wissenschaftsethik kann den Wissenschaften lediglich als beratende Instanz zur Seite stehen – sie kann nicht für sie ihre Werte und Normen festsetzen.

Diesbezüglich soll angemerkt werden, dass hier nicht nur die Naturwissenschaften im Blick sein sollen, sondern alle Bereiche der Wissenschaft. Wenn von Wissenschaftsethik die Rede ist, geht es auch immer um wissenschaftliches Fehlverhalten, d. h. um Tatbestände wie die Fälschung von Forschungsergebnissen, die Sabotage der Forschung von Konkurrenten, Ideendiebstahl oder auch Plagiate, die überall in der Wissenschaft vorkommen können und auch tatsächlich auftreten.2 Viele Diskussionen und Ansätze in der Wissenschaftsethik beziehen sich in erster Linie auf die spezifische Situation in den Naturwissenschaften und der medizinischen Forschung, weil sehr viele der bekannten und in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierten Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens gerade in diesen Bereichen der Wissenschaft aufgetreten sind. Ein sehr bekanntes Beispiel ist der Fall des Biologen Paul Kammerer, der sich dem Vorwurf der Fälschung einiger Ergebnisse seiner Forschung zur Vererbung bei Geburtshelferkröten (Alytes obstetricans) ausgesetzt sah und im Laufe der Kontroverse über diesen Vorwurf 1926 Selbstmord beging.3 Ein weiteres sehr bekanntes Beispiel ist der Fall des so genannten „Piltdown-Menschen“, in dem der Amateur-Archäologe Charles Dawson Knochenreste unterschiedlicher Arten bearbeitete, chemisch alterte und zusammen als die Überreste einer bis dahin unbekannten Menschenart (Eoanthropus dawsoni) präsentierte. Obwohl sich dieser Fall schon am Anfang des 20. Jahrhunderts abspielte, wurde er erst in den 1950er-Jahren aufgedeckt (Broad und Wade, 1982, S. 119–122; Weiner, 1955). Und auch in der jüngeren Wissenschaftsgeschichte finden sich einige bekannte Beispiele wissenschaftlichen Fehlverhaltens im naturwissenschaftlichen und medizinischen Bereich. Zu denken wäre an den Fall des Physikers Jan-Hendrik Schön (beschrieben in Reich, 2009) und den Fall des Klonforschers Hwang-woo Suk4, die beide im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts für Schlagzeilen in den Medien sorgten. In beiden Fällen ging es um die nachgewiesene Fälschung von Forschungsergebnissen in Veröffentlichungen in prominenten Fachzeitschriften wie Science und Nature. Die Geschichte hat jedoch deutlich gezeigt, dass das Auftreten von Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens sicherlich nicht auf die Naturwissenschaften und die Medizin beschränkt ist. Bekannte Beispiele aus den Sozialwissenschaften sind die Betrugsfälle der Psychologen Cyril Burt (Broad und Wade, 1982, 203–211) und Diederik Stapel (Commissie Levelt, 2011). Aus anderen Bereichen der Wissenschaft können beispielhaft die Plagiatsvorwürfe zu den Dissertationen des ehemaligen Bundesverteidigungsministers zu Guttenberg (Rechtswissenschaften; der Fall spielte 2011) sowie der ehemaligen Bundeswissenschaftsministerin Schavan (Erziehungswissenschaften; der Fall spielte hauptsächlich 2012–2013 und ist derzeit noch nicht abgeschlossen) erwähnt werden. Im Grunde kann kein Bereich der Wissenschaft für sich beanspruchen, gänzlich frei von Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens zu sein.

1.3 Abschließende Bemerkungen

Abschließend lässt sich sagen, dass die Wissenschaftsethik Wissenschaftlern Orientierungswissen für moralisch knifflige Situationen bieten kann, indem sie mögliche Bewertungen und Positionen aufzeigt. Allerdings sollten hier die Erwartungen nicht zu hoch gesteckt werden. Die Wissenschaftsethik bietet zwar einige Hinweise zur Orientierung in schwierigem Terrain, den richtigen Weg müssen die Wissenschaftler jedoch letztendlich selbst finden.

1 Als weiterführende Lektüre zur Metaphilosophie eignen sich u. a. Joll (2010) oder Williamson (2007). Zu diesen Fragen mit einem spezifischen Bezug zur Wissenschaftsphilosophie, siehe Reydon und Hoyningen-Huene (2011).

2 Eine sehr lesenswerte Geschichte wissenschaftlichen Fehlverhaltens ist Broad und Wade (1982).

3 Der Fall Kammerer ist nach wie vor ein kontroverses Thema in der Wissenschaftsgeschichte. Eine empfehlenswerte Lektüre dazu ist Koestler (1971).

4 Siehe dazu Cyranoski (2004), Check und Cyranoski (2005) sowie eine „news special“ der Fachzeitschrift Nature (online verfügbar auf http://www.nature.com/news/specials/hwang/index.html).