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  Christof Lenzen– Lass dich fallen und flieg! Wie der Glaube vom Kopf ins Herz gelangt– SCM R.Brockhaus

    Lieber Gott.–…– Na ja, du weißt ja.– Amen.

Elias Hauck & Dominik Bauer

INHALT

Vorwort

 
1. Teil:Der feste Boden, auf dem wir leben und wachsen können
 
Einleitung: Was läuft eigentlich schief in unserem Glauben?
Kapitel 1:Spiritualität – was ist denn das?
Vom Gummibegriff zu einem hilfreichen farbigen Bild
Kapitel 2:Der Tanz auf der Fontäne
Spiritualität in allen Dimensionen leben
Kapitel 3:Alles Wichtige ist letztlich einfach!
Warum uns Gemeinschaft weiterhilft
 
2. Teil:Hilfreiche Spannungsfelder
 
Einleitung: Wo geht es hier bitte zum praktischen Teil?
Kapitel 4:Sünder oder Gerechter?
Leben im Spannungsfeld zwischen Himmel und Erde
Kapitel 5:Mysterium oder alles klar?
Leben im Spannungsfeld zwischen Glauben und Wissen
Kapitel 6:Machen oder machen lassen?
Leben im Spannungsfeld zwischen Kontemplation und Aktion
Kapitel 7:Immer in Bewegung bleiben
Praktisch mit den Spannungsfeldern arbeiten
 
3. Teil:Eine fruchtbare innere Haltung
 
Einleitung: Jetzt geht es um Ihr Herz!
Kapitel 8:Ob Gott es wirklich immer gut mit mir meint?
Vertrauen lernen
Kapitel 9:Gott ist Gott und du bist du!
Zu einem entspannten Umgang mit sich selbst finden
Kapitel 10:Einfach zugreifen!
In dem leben lernen, was uns bereits geschenkt ist
 
4. Teil:Ganzheitliche geistliche Übungen, die uns bewegen
 
Einleitung: Auf Entdeckungsreise im Neuland ganzheitlicher Spiritualität
Kapitel 11:Spiritualität aus dem Geist
Geistliche Übungen gelassen praktizieren
Kapitel 12:Oasen im Alltag
Anders in der Bibel lesen
Kapitel 13:Leidensweg oder Leidenschaft?
Anders beten lernen
 
5. Teil:Wie der Glaube ins Leben kommt
 
Einleitung: Hatte denn das Bisherige nichts mit dem Leben zu tun?
Kapitel 14:Los geht’s auf Entdeckungsreise!
In den guten Werken wandeln, die Gott schon für uns bereitet hat

Nachwort, Danksagungen

Vorwort

Ich bin ziemlich nachtblind. Etwas konkreter gesagt: Meine Augen gewöhnen sich nur quälend langsam an die Dunkelheit. Während der Nachtwanderungen bei der Bundeswehr bin ich immer wieder gegen Äste und Bäume gerannt. Und als meine Frau Isa und ich uns befreundet haben, da hat diese Eigenart meiner Augen ebenfalls eine Rolle gespielt:

Wir waren auf einer christlichen Freizeit in Domburg und hatten uns entschieden, noch einmal zum Strand zu gehen, um miteinander zu reden und so. Wenn man das holländische Örtchen Domburg kennt, weiß man, dass man an manchen Stellen erst durch einen kleinen Waldgürtel muss, bevor man den Strand erreicht. Der Horror für mich: Da war es stockfinster, keine Sterne, nichts. Der Wind toste, Regen begann zu peitschen, durch den dunklen Wald wühlte sich der Sturm. Und ich? Ich habe etwas Panik bekommen, da ich nichts mehr sah. Also habe ich Isa gebeten, mich an die Hand zu nehmen und zu führen. Vermutlich wird sie gedacht haben: »Ziemlich plumpe Anmache …« Aber es war wirklich notwendig für mich, sonst wäre der Abend unschön verlaufen. So war das Gegenteil der Fall …

Aber auch ohne Nachtblindheit: Es ist einfach schwierig, im Dunkeln einen Weg zu finden, geschweige denn unvorhergesehenen Hindernissen effektiv auszuweichen. Selbst bekannte Wege können zur Stolperfalle werden, wenn Dunkelheit uns umgibt und uns den klaren Blick raubt.

Was das mit dem Glauben im Kopf und im Herzen zu tun hat? Ganz viel, denn ich nehme bei mir selbst und bei vielen anderen Christen eine große Nachtblindheit wahr, wenn es darum geht, den Glauben ins Herz zu bekommen und schließlich mitten im manchmal beschwerlichen, immer aber komplexen Alltag umzusetzen. Tagsüber, wenn wir Stille Zeit machen (wenn – denn diese wird doch oft als langweilig empfunden), wenn wir im Gottesdienst oder im Hauskreis sitzen oder gerade eine ermutigende Freizeit erlebt haben, dann scheint alles so klar und deutlich zu sein. Erfahrungen mit Gott sind greifbar und realistisch. Doch dann erstickt wieder alles unter einer eigentümlichen Mischung aus inneren und äußeren Dornen. Der frischen Luft einer neuen Einsicht und der damit verbundenen Hoffnung auf lebendige Spiritualität wird der Hahn abgedreht – und es beginnt zu muffen.

Immer wieder von Neuem entsteht die Frage: Wie kann ich sehend werden? Nicht nur in der religiösen Nische, nicht nur da, wo ich von meinem Alltag wie abgeschnitten in einem frommen Biotop aufgebaut werde. Sondern mitten im Leben. Daran hat sich Glaube letztlich zu messen – aber genau diese Messung fällt bei nicht wenigen Christen frustrierend aus. Bei Ihnen auch? Bei mir auch! Doch ich habe mich auf die Reise gemacht und möchte Ihnen erzählen, was ich entdeckt habe.

Es gibt im 119. Psalm einen bekannten Vers (105): Dein Wort ist meines Fußes Leuchte! Er könnte geradezu als Motto über diesem Buch stehen, denn durch ihn bin ich zu diesen Gedanken gekommen.

Der Vers setzt voraus:

Erstens: Ich befinde mich in der Dunkelheit. Es fängt also damit an, dass wir diese Tatsache anerkennen und Gott sagen, dass wir Licht benötigen. Dunkelheit kann man prächtig leugnen, man kann so tun, als sähe man alles, man kann selbst kräfteraubend versuchen, Licht zu erzeugen. Das alles wird nichts nutzen. Denn ohne Gott können wir nichts tun. Ich halte an dieser Stelle kurz inne, weil ich in mir selbst einen inneren Widerstand gegen diese deutliche Aussage spüre. Wirklich nichts? Genau: nichts. Das geht mir immer wieder neu gegen meinen Stolz. Doch dieser innere Widerstand ist nur allzu menschlich, zeigt aber auch klar an: Hier gibt es Wachstumspotenzial im Leben und Glauben. Da gibt es noch eine Menge zu entdecken und vor allem: loszulassen.

Mut zur Dunkelheit also. Fatal wäre es nun, die Dunkelheit einfach loswerden zu wollen. Denn in dem Maße, wie ich sie loswerden will, wird sie sich verlängern. Gehe ich aber an Gottes Seite durch sie hindurch, kann ich von ihr lernen und reifen und hindurchschreiten zum Licht.

Manchmal ertappe ich mich aber auch dabei, dass ich solche Grundaussagen der Bibel einfach abnicke und sie gar nicht mehr an mich heranlasse. Ich habe die Sachen gerne im Griff und durchdenke meine Lehre sauber und sorgfältig. Trotzdem bleibt das Herz dann leer, weil ich die eigentlichen Lektionen der Dunkelheit intellektuell auf Distanz halte – letztlich aus Angst, in ihr zu versinken …

Zweitens bedeutet dieser Vers, dass wir geführt werden. Aber wie? Mit einem Leuchtstrahl? Zumindest einer Taschenlampe? Zu biblischen Zeiten gingen die Bauern manchmal sehr früh am Morgen schon hinaus auf die Felder, und sie kamen oft erst nach Hause, wenn es schon wieder dunkel geworden war. An jedem Morgen wurde dann ein öffentliches Feuer für das ganze Dorf angezündet, und die Bauern versammelten sich darum, um Hände und Füße zu wärmen. Die Wege und Straßen waren nicht besonders gut und eben, und manche waren gerade so breit, dass ein Mensch den Pfad gehen konnte. Wenn es noch dunkel war, nahmen die Bauern ein Seil aus Kokosfaser und zündeten dieses Seil an einem Ende im Feuer an. Wenn sie dann losgingen, löschten sie die Flammen am Seilende, hielten dieses Seil in der Hand und bliesen hin und wieder auf das glühende Ende, damit ein paar Funken aufstieben und ein wenig Licht geben konnten. Dann hielten sie das Seil vor sich, um im funzeligen Lichtschimmer dieser Funken zu sehen, wohin sie gerade traten.

Das ist die Leuchte des Fußes, auf die sich hier der Psalmbeter bezieht. Mehr nicht. Ein paar Funken in finsterster Nacht. Das ist irgendwie ein bisschen beunruhigend, oder? Mehr kann uns der Glaube nicht bieten, mehr Gehsicherheit ist nicht drin, wenn wir uns brav an die Bibel als Wort Gottes halten? Ich denke, Ja! Tatsächlich reibt sich unsere Vorstellung von Führung und Sicherheit mit der Vorstellung Gottes, wie sie uns die Bibel vermittelt, und das ist gut so. Denn um was geht es hier, oder besser: Um was geht es nicht? Es geht bei Gottes Führung nicht um eine Absicherung zu allen Seiten, es geht nicht um eine Risikolebens-, Haftpflicht-, Rechtsschutz-, Krankheitsversicherung göttlicher Art. Es geht um einen dynamischen und aufregenden Weg an der Hand Gottes. Es geht um eine Entdeckungsreise in die neue und unbekannte Welt Gottes hinein, in das, was er Königreich nennt.

So ist dieses Buch entstanden. Als Entdeckungsreise. Vieles in mir ist zerbrochen und Gott hat Neues geschaffen. Manches musste ich loslassen und Frisches, Unverbrauchtes finden, und manchmal hat mich Gott lange Zeit nichts finden lassen, damit ich nur auf ihn vertraue, ihn und sein kleines Licht. Lassen Sie die Inhalte dieses Buches zum Licht für Ihren Weg werden. Ein kleines, schwaches Licht. Mehr kann ich nicht versprechen – weniger aber auch nicht. Ich werde Sie mit hineinnehmen in meine Kämpfe und auf meine Wege aus den Kämpfen heraus. Manchmal auch nur: in mein Durchhalten in den Kämpfen. Es geht dabei um ein großes, farbiges Bild, das unseren Glauben prägen kann: um innere Einstellungen, die heilen, die korrigiert werden und sich an Gott ausrichten; um das Bestehen mitten in den Spannungsfeldern des Glaubens und des Alltags, in denen wir meinen, keine Sicherheit mehr zu haben; um praktische geistliche Übungen, die helfen, das Geglaubte ganzheitlich in Geist, Seele und Körper zu verankern. Kann das Abenteuer beginnen?

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1. Teil Der feste Boden, auf dem wir leben und wachsen können1. Teil Der feste Boden, auf dem wir leben und wachsen können

EINLEITUNG

Was läuft eigentlich schief in unserem Glauben?

Ich möchte Ihnen zu Anfang dieses Buches von meinen Kämpfen mit der sogenannten »Spiritualität« erzählen. Das mache ich nicht, um mich selbst in den Mittelpunkt zu stellen, sondern um am Anfang dieses Buches deutlich zu machen, was für Reife- und Entwicklungsschritte ein ganz normaler Christ im Laufe der Zeit durchmachen muss.

»Durchmachen muss« deshalb, weil ich mir diese Momente nicht ausgesucht habe. »Das Leben kommt von vorne« – so singt es Herbert Grönemeyer treffend. Meiner Meinung nach ist nichts Wesentliches reiner Zufall. Ausgenommen vielleicht die Frage, ob das Brot auf die Marmeladenseite fällt oder nicht – da und in ähnlichen Fällen dürfte Gott den Naturgesetzen seinen Lauf lassen. Aber was unser Herz betrifft? Unsere Glaubenspraxis? Unsere Freude oder eben mangelnde Freude und Kraft im Glauben? Sollte da nicht Gott schon aus Liebe zu uns nicht zufällig, sondern sehr bewusst handeln?

Ich denke, Gott leitet uns manchmal bewusst hinein in Phasen des Zerbruchs und der inneren wie äußeren Krise. Und das aus Liebe, weil er unser Wachstum fördern möchte und uns eben nicht in apathischer Gleichgültigkeit laufen lässt. Wie ein guter Vater seinen Kindern hier und da Grenzerfahrungen zumutet, damit sie sich ausprobieren und ihre Grenzen kennenlernen können, so handelt Gott auch in unserem Leben. Dabei habe ich manchmal das Gefühl gehabt, dass das alles andere als Liebe ist, die mir da entgegenkommt. Da war zum Beispiel ein Konflikt in der Gemeinde, bei dem sich die Menschen zutiefst verletzten, und ich war zwischen diesen Fronten plötzlich der praktische Rammbock – andere würden sagen: Esel. Wie hat das an meinem Harmoniebedürfnis, aber auch an meinem Verständnis von Gemeinde als Schutzraum genagt! Worte wurden wie Schwerter und trieben mich hinein in so manche tränenreiche Nacht. Dort habe ich wie ein Psalmist Gott angeklagt!

Viele Beispiele könnte ich noch nennen und Sie könnten sie wahrscheinlich aus Ihrem Erfahrungsschatz reichlich ergänzen. Aber eins habe ich inmitten dieser Dunkelheit verstanden: Diese Liebe war trotzdem immer da – ich aber hatte meine Lektionen zu lernen. In mir waren Mauern, in mir mussten bestimmte Haltungen zerbrechen und Schuld zum Vorschein kommen, damit mein Herz weicher werden konnte. Der Weg dahin war schmerzhaft und nicht immer von einem Wissen um die Liebe Gottes geprägt …

Doch unabhängig von meinem Erleben: Ich denke, es gibt sie immer wieder, diese Phasen, in denen das Bild des Glaubens nicht mehr tragfähig erscheint, Schlagseite bekommt und ergänzt werden muss. Gott sorgt dafür. Denn er will, dass mein Glaube, dass Ihr Glaube in die Weite geführt wird, dass wir Freude und Kraft empfangen. Da, wo das nicht geschieht, wo Muff und Enge, wo Traurigkeit und Fragezeichen das Regiment übernehmen, da läuft etwas schief.

Bei mir ist manches im Glauben schiefgelaufen. Vielleicht finden Sie sich ja hier und da wieder?

Ich spreche das Unfassbare aus: Seit ich Christ bin, also seit nunmehr zwanzig Jahren, kämpfe ich mit der sogenannten Stillen Zeit und kriege sie einfach nicht hin. Als ich frisch zum Glauben gekommen war, gab man mir bestimmte Tipps, z.B. zu ihrem Ablauf: zuerst Dank, dann Umkehr, dann Bibellese … Das müsse man als guter Christ machen, um zu wachsen, so sagte man mir. Dazu am besten noch zentrale Bibelverse auswendig lernen mit dem sogenannten »Schrifteinprägekurs«. Der Begriff der Stillen Zeit erschien mir als Frischling im Glauben zwar seltsam und abstrus (denn ich sollte doch mit Gott reden, oder?), aber nun gut, ich war von meinem katholischen Hintergrund und einem buddhistischen Intermezzo von fast zehn Jahren einiges gewohnt und wunderte mich nicht weiter. Und doch …

In den letzten zwanzig Jahren meines Glaubensweges habe ich mit dieser klassischen Form nicht viel anfangen können. Das hat mir lange ein schlechtes Gewissen bereitet: »Liebe ich Gott genug, wenn ich es nicht schaffe, wenn ich mich nicht überwinde zur Stillen Zeit? Warum schaffen das andere – und ich nicht? Und da! Meine ›Lieblingssünde‹ verschwindet auch nicht. Das wird daran liegen, dass ich meine Stille Zeit einfach nicht auf die Reihe kriege und stattdessen planlos und einfach so bei Gott herumhänge, über dieses und jenes nachdenke und so vor mich hin bete!«

Als Nächstes kam eine Phase der Abstumpfung. Dann halt keine Stille Zeit. Die Ansprüche an die Spiritualität wurden heruntergeschraubt. Irgendwann las ich in der christlichen Jugendzeitschrift dran die unerhörten Worte (und der Artikel steht mir noch heute inklusive Layout plastisch vor dem inneren Auge) des christlichen Leiters und Autors Floyd McClung, der spürbar grinsend in einem Interview erzählte, er sei endlich befreit von der Stillen Zeit und könne nun immer mit Gott reden.

»Darf der das?«, fragte ich mich sofort. Ein wichtiger Moment: An solchen spannungsreichen Stellen fallen immer wichtige Entscheidungen. Passe ich die Realität meinem bisherigen Dogma an oder überdenke ich meine Dogmatik? Zweifel mischten sich in meinem Herzen und Denken mit einer frischen Brise der Freiheit. Ich begab mich in dieses Spannungsfeld der widerstrebenden Gefühle hinein und lernte mit der Zeit verschiedene Lehrmeister des geistlichen Lebens kennen, und der Wind wurde stärker. Er wuchs sich zu einem ungeheuren Sturm aus. Wie gut. Ich begann, mich bewusst von der Stillen Zeit und dem damit verbundenen schlechten Gewissen zu lösen, und machte lange Gebetsspaziergänge, in denen ich freundschaftlich mit Gott plauderte. Ich erlebte Gemeinschaft mit ihm vor Prüfungen an der Universität, wenn plötzlich und geheimnisvoll Ruhe einkehrte und meine Angst weggewischt wurde. Ich pflegte mit ihm einen Gedankenaustausch beim Bahnenziehen durch das 25-Meter-Becken in der Schwimmhalle Aachen-Süd. Das Gespräch mit ihm wurde alltäglicher, doch das Lernen war und ist nicht zu Ende …

Doch immer wieder – gerade wenn ich in schweren Lebensphasen steckte – fiel ich hier und da zurück in diese alte, teuflische Spur der Machbarkeit und Leistung. Der Gedanke kroch dann quälend in mir hoch, dass das alles hohl sein könnte und leer. Ich hatte gute Formen der Begegnung mit Gott entwickelt, aber sie waren nicht mehr innerlich gefüllt. Was machte ich? Ich verstärkte die Anstrengung. Plötzlich wurde die Methode wieder wichtiger als die Begegnung mit Gott, mit dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Warum? Ich habe lange darüber nachgedacht und gebetet und kam zu einem ernüchternden Schluss: Meine innere Haltung war irgendwo auf der Strecke geblieben. An der Umsetzung mochte es manchmal auch noch hapern, aber die Methode, ja, die funktionierte! Die hatte ich zumindest im Griff. Mein Herz, meine Seele, dieses verzagte Ding, das nur Gott ergründen kann, war irgendwo auf dem Weg stehen geblieben, hatte an den Ritualen aber festgehalten, wodurch sich diese hilfreichen Methoden und Gewohnheiten Stück für Stück entleert hatten. Denn weder an der Stillen Zeit noch am Auswendiglernen von Versen noch an jeder anderen Form von geistlicher Übung ist etwas Falsches (solange sie mit Gottes Wort korrespondiert). Wenn aber eine Methode zum Königsweg wird und nicht nur zum König führen will, dann wird es grundsätzlich gefährlich für den Glauben.

Wie gut, dass Gott uns dieses falsche Vorgehen in Liebe, aber doch sehr deutlich zeigt. Denn diese Leistungsbezogenheit höhlt aus … und drängt uns an den drohenden Abgrund des Ausbrennens. Da stimmt dann vielleicht noch die äußere Form, innen drin tobt aber bereits der Kampf in einem verwaisten Herzen, das nicht mitkommen konnte oder gar vernachlässigt wurde.

In die nächste Schieflage meines Lebens haben Seelsorge, Coaching und Supervision hineingeführt, lauter gute und hilfreiche Dinge. Ich entdeckte: Meine Seele, meine Gefühle, mein Innenleben sind unendlich reich, wichtig und außerdem spannend. Man kann tatsächlich lernen, sich selbst besser zu verstehen. Zweite Entdeckung: Das alles ist auch ziemlich verbogen und verletzt durch das Leben und die Menschen und nicht zuletzt durch mich selbst. Jahre ohne Gott und auch mit Gott haben ihre Spuren hinterlassen. Als Christ in einer gefallenen Welt zu leben, kann mindestens genauso verletzen, wenn man nicht gelernt hat, aus dem Zentrum heraus zu leben. Liebe Mitchristen hatten mich – wie weiter oben beschrieben – massiv verletzt und ich sie andersherum vermutlich auch, das Gottesbild war an manchen Stellen angeknackst oder gar zerbröselt und somit in die Krise geraten, und das war gut so. Aber schmerzhaft.

Es begann eine wertvolle Zeit der Neubesinnung. Geistliche Übungen in dieser Zeit? Mangelware. Stattdessen Fokussierung auf das Innenleben. Ich hatte immer noch nicht meinen Zugang, meinen Weg gefunden, und so versuchte ich dieses oder jenes, aber ohne echte Überzeugung, ohne eine eigene heilsame Struktur gefunden zu haben. Spätestens das schlechte Gewissen, »es« wieder mal nicht geschafft zu haben, trieb mich in die Rebellion gegen jede Form der Bevormundung durch eine geformte Spiritualität.

Ich spürte aber gleichzeitig: Die einseitige Betonung des Innenlebens und die Vernachlässigung der geistlichen Übungen trieben mich in eine neue Schieflage! Denn: Analyse ist ja gut. Aber was prägt mich, verändert mich? Was lasse ich gewollt an mich heran? Um ein Bild zu verwenden: Wie trainiere ich für den Langstreckenlauf, der noch vor mir liegt, diesen Lauf des Glaubens? Doch wohl nicht nur durch Nachdenken und Nachsinnen über das eigene Seelenleben?

Es entwickelte sich langsam die Erkenntnis: Aus sich selbst heraus wird kein Mensch frei. Der eigene Kopf, das eigene Herz als begrenzender Faktor ist einfach zu stark, zu blockierend. Die Weite Gottes und seiner Gedanken fehlte. Übrig blieb zunehmend das Gefühl, ein Fähnchen im Wind zu sein, schwankend und unsicher im Glauben.

Eine Beobachtung, die ich im Übrigen nicht nur bei mir, sondern bei vielen Menschen mache, die sehr sensibel sind oder sich häufig um sich und ihre Befindlichkeit drehen: Die starke Verankerung beim mächtigen Gott fehlt. Stattdessen lauert da Unsicherheit und eine ungesund entgrenzte Offenheit für alle möglichen Formen der Spiritualität und der Theologie, denn: Man hat ja nicht gelernt, an Gedanken von außen stabile, biblisch fundierte Maßstäbe anzulegen … Solche Menschen denken häufig über sich nach, reflektieren viel und gründlich, zweifeln an sich und fragen sich, ob sie gut genug sind … Gleichzeitig schrumpft vermutlich die Freude am Glauben und es ist kein fester Stand in Christus vorhanden. Der Glaube wird entfernter, wattiger, unklarer, seltsam entrückt …

Bei mir fehlte lange Zeit die Balance aus innerer Wahrnehmung und äußerer Verankerung. Natürlich gilt: Wenn der Glaube sich an der Wirklichkeit reibt, werden Dunkelheiten und Verletzungen schnell sichtbar, und es ist wichtig, diese dann wahrzunehmen und auszuhalten. Da ich aber ein kritischer Geist bin (was ich durchaus kritisch sehe …), führte jede Erkenntnis eigener Dunkelheit hinein in eine tiefe Traurigkeit. Dabei bemerkte ich gar nicht, wie wenig das Gottes Willen entsprach, der doch meine Heilung und meine Freude in ihm wollte. Das aber nahm ich durch die unterbelichteten geistlichen Übungen viel zu wenig wahr – weil ich mich Gott zu wenig und wenig regelmäßig aussetzte. In dem Moment, wo ich diese Schieflage bewusst unterbrochen habe, konnte ich aufatmen, konnte mich in Gottes Arme werfen und mir sagen lassen: »Auch ich kenne deine Verletzungen und deine Dunkelheit, aber genau dafür bin ich gekommen.« Ich brauchte es, dass mir liebe Mitchristen das kraftvoll zusprachen, denn an einigen Punkten meines Lebens war ich so in mir gefangen, dass die Freude immer weniger wurde und damit die Kraft schwand …

Als Nächstes sah ich mich mit Schieflage Nummer drei konfrontiert … Glaube ohne Werke ist tot (vgl. Jakobus 2,14-26). Diese Worte hatten mich lange gequält. Doch diesmal war es anders und die Worte quälten mich nicht mehr mit (von mir so gedeutetem) überzogenem und krankem Leistungsdenken, sondern sie hielten mir einen lebendigen und kraftvollen Spiegel vor. Ich merkte, dass da bei mir tatsächlich etwas fehlte …

Jakobus 1,23-25 beschreibt ja genau das: dass wir in Gottes Wort wie in einen Spiegel schauen, um geprägt und auch geprüft zu werden. Unser Gewissen ist Teil des seelischen Bereichs und durchaus in einem gehörigen Maße schief geprägt durch ebenso schiefe und schlicht menschliche, sprich: sündhafte Autoritäten. Manche Christen glauben, ihr Gewissen sei quasi die göttliche Instanz in ihrem Leben. Doch dagegen spricht bereits die simple Beobachtung, dass manche Menschen ohne Gewissensbisse töten können – weil das Gewissen durch Fehlprägung genügend abgestumpft ist.

Das Wort aber ist der perfekte Spiegel für unseren Geist. So wie wir beim Rasieren oder Make-up-Auftragen in den Spiegel schauen und streng genommen gar nicht uns selbst sehen, sondern nur ein seitenverkehrtes Spiegelbild, so wie wir trotzdem diesem Spiegelbild trauen und uns mutig rasieren (oder schminken), so dürfen und sollen wir auch dem Spiegel des Wortes Gottes trauen. Auch wenn wir nichts spüren, wenn es vielleicht dem sogenannten gesunden Menschenverstand widerspricht …

Dieses Wort traf mich also eine Ebene tiefer als an meinen überempfindlich eingestellten seelischen Leistungssensoren. Ich arbeitete an meinem Innenleben (und das teilweise intensiv), ich übte mich – so gut es ging – in geistlichen Übungen, ja, ich predigte bereits und war in der theologischen Ausbildung, der Alltag aber blieb davon meist seltsam unberührt. Glaube ohne Werke ist tot.

Gott beruhigte mich in einer intensiven Gebetszeit in seiner unglaublich sanften und liebevollen Art: »Nein, du bist nicht ohne Werke, kein Stress, lieber Christof – aber da klafft eine doch immer größer werdende Lücke zwischen Anspruch und Realität, sei achtsam und wirke dem entgegen, balanciere deine Spiritualität neu aus, damit du nicht stürzt.«

Leichter gesagt als getan! Aber wichtig, denn sonst drohen Pharisäertum und fromme Heuchelei, und die ist bekanntlich die schlimmste. Da wird anders gebetet und geredet als gehandelt. Das ist nun – ich will hier keinen falschen Druck aufbauen – bis zu einem gewissen Maße unvermeidbar; die Balance zu finden heißt ja gerade, dass man sie nicht hat und dass diese Balance eine empfindliche, instabile ist, die immer wieder hier und da ein Ungleichgewicht aufweisen wird. Um genau diesen lebendigen Prozess geht es und nicht um festgemauerte Dogmen, die umklammert werden.

Doch ab einem gewissen Punkt wird es gefährlich. Zumeist spüren wir das recht deutlich. Gerade dann, wenn wir gute Freunde haben, die uns sagen dürfen, wenn uns die sprichwörtliche Nudel im Gesicht hängt. Eine Schieflage wird gerade dort offenbar, wo wir in Beziehungen leben, in ehrlichen und authentischen Beziehungen. Wehe, wenn nicht, wenn Einzelkämpfertum unser Christsein prägt. »Mich hinterfragt niemand, das kann ich selbst!« – diese Haltung ist der Sargnagel der lebendigen Spiritualität. Nur eine gründliche Spiegelung im Wort Gottes und ein Leben in ehrlichen und lebendigen Beziehungen gewährleisten, dass ich wachse und nicht zum Heuchler werde …

So weit ein Blick in mein geistliches Vorwärtsstolpern. Immer wieder habe ich bestimmte Schieflagen in meinem Glauben erlebt. Da habe ich die geistlichen Übungen überbetont, später mein Innenleben, und dabei nicht bemerkt, dass die alltägliche Umsetzung irgendwie auf der Strecke blieb. Vielleicht geht es Ihnen ähnlich und Sie wünschen sich endlich einen anderen Zugang zum Glauben? Sie wollen besser verstehen, was da eigentlich »abgeht«? Wie sich Inneres, geistliche Praxis und Umsetzung im Alltag zusammen verstehen lassen? Das wollte ich auch und das will ich immer noch.

Ich bin der Überzeugung, dass diese Fragen für die westliche Christenheit drängend sind. Denn wir leben in einer komplexen und äußerst fordernden und belastenden Welt. Unsere Spiritualität muss Antworten finden und sie muss sie einbetten in die Spannungsfelder des Glaubens und des Lebens. Ich habe in den Momenten des Lebens, in denen ich die Komfortzone zähneknirschend verlassen musste (rückblickend würde ich sagen: durfte), erfahren, ob mein Lebenshaus auf Sand gebaut ist oder auf Fels. Gott will in seiner Liebe einen stabilen Bau auf stabilem Grund für Sie und mich. In den Grenzfällen des Lebens, und die sind heute häufiger und intensiver als noch vor 20 Jahren, wird unser Lebensbau durchgeschüttelt. Gott verhindert nicht den Sturm, er will Stabilität geben.

Dabei handelt es sich um einen ständigen und sich selbst erneuernden Prozess. Denn wir haben es mit einem lebendigen Gott zu tun, der nicht ein für alle Mal gesprochen hat und nun kalt und hart schweigt und auf sein Buch verweist, sondern der sich neu in jede Zeit hineingibt und die starken Worte der Bibel frisch vor unseren Augen aufleuchten lässt. Deswegen ist dieses Buch nur der Anfang, ein Pflock, von dem aus wir gemeinsam weitergehen können.

Es ist tatsächlich an der Zeit, neue Pflöcke einzuschlagen. Ich fürchte, Glaube wird in der westlichen Christenheit zur Bestandsverwaltung. Das dürfen wir nicht hinnehmen, sondern müssen Gott in den Ohren liegen nach Antworten. Meine große Frage seit über zehn Jahren ist: »Herr, wo müssen wir ansetzen?« Dieses Buch ist eine erste Antwort.

Wir leben in einer Zeitenwende. Es geht um weit mehr als um ein gelingendes, persönliches Glaubensleben. Viele Menschen haben Sehnsucht nach Glauben, nach Religion, aber nur wenige entdecken in dieser Sehnsucht Jesus. Das macht mich unruhig und ich beginne zu ahnen, dass uns hier Missionsappelle und noch aufwendigere Evangelisationen nicht weiterhelfen. Die Menschen müssen spüren und erleben, dass die Christen kraftvoll und verletzlich, schwach und kämpferisch, authentisch und bereit zur Veränderung, standhaft und barmherzig, kurz: gefüllt von Gottes Geist etwas leben, das man einfach unbedingt haben muss. Wonach das Herz sich sehnt!

Methoden sind kalt. Berechnung stößt ab. Kraft dagegen fasziniert, Wärme zieht an und die spürbare Präsenz des Geistes begeistert! Das verheißt die Bibel. Ich sehne mich danach und ich weiß, dass es viele Christen mit mir tun.

Ich will Ihnen davon berichten, was ich in meinem Glaubensleben erlebt habe und welche Antworten ich von Gott geschenkt bekommen habe. Ich erzähle es Ihnen als Wegbegleiter bei einer Tasse Tee oder Kaffee, nicht als Lehrer von oben herab. Dazu war ich zu oft ganz unten. Lesen Sie weiter und prüfen Sie bitte alles gründlich. Nicht alles trifft auf Ihr Leben zu. Aber leben Sie bitte, was Sie erkannt haben. Stillstand können wir uns nicht mehr leisten. Der Glaube muss endlich ins Herz und von da aus ins Leben. Malen wir ein umfassendes und buntes Bild des Glaubens, der Spiritualität. Lassen Sie sich begeistern!

Konkret gefragt – zum Weiterdenken

Was für Schieflagen haben Sie in Ihrer Glaubensbiografie erlebt?

Wo haben Sie Ihren »Schwachpunkt«? In einer vernachlässigten Berücksichtigung der inneren Haltung? In mangelnden geistlichen Übungen? In der Umsetzung?

Wo sind Sie besonders »stark«?

Wonach haben Sie in Ihrem geistlichen Leben Sehnsucht?

KAPITEL 1

Spiritualität – was ist denn das?
Vom Gummibegriff zu einem hilfreichen farbigen Bild

»Spiritul… Spritua… Spirtu…« – der Mann mühte sich redlich und wer wollte es ihm verdenken? Wir saßen zusammen im Männerkreis (der bei uns in der Gemeinde scherzhaft »Die freien Radikale« heißt) und diskutierten über männliche Spiritualität.

Mir wurde bei diesen unfreiwilligen Sprechübungen deutlich: Kaum etwas macht geistlich offene und interessierte Menschen so neugierig wie das Wort Spiritualität. Auf eigenartig diffuse Weise verheißt es etwas Besonderes, vielleicht sogar Geheimnisvolles. Es scheint, ironisch zugespitzt, einen pawlowschen Reflex auszulösen: Unter dem Label Spiritualität lässt sich der größte Mist als Gold vermarkten und trotzdem sabbern die nach geistlicher Erfahrung Dürstenden. Mich macht das traurig und gleichzeitig hoffnungsvoll: Was für einen geistlichen Hunger erleben wir unter uns!

Gleichzeitig kommt das Wort Spiritualität schwer über die Zunge, es ist unnahbar und seltsam weich, wattig und formbar. Unwillkürlich stellt sich die Frage: Was hat denn das mit meinem Leben zu tun? Meinem Leben als Fabrikarbeiter, Hausfrau, Student oder Manager, der oder die sich eben nicht einfach so in ein Kloster abseilen kann. Dazu kommt: Das S-Wort wird in allen möglichen Kontexten, Religionen, Weltanschauungen und Denkwelten verwendet und vermittelt die Illusion (?) einer ganzheitlichen geistlichen Sichtweise des Lebens. Illusion mit Fragezeichen, denn ich glaube, dass gute Spiritualität das bieten kann. Dazu müsste man sie aber definieren und auf den Punkt bringen. Denn als frei schwebender flaumiger Wattebausch, als fromme Worthülse bringt sie uns nicht weiter.

Bevor wir uns nun an diese Aufgabe begeben, möchte ich eine Bemerkung vorwegschicken: Dieser erste Teil des Buches wirkt erst einmal vermeintlich theoretisch, ist aber letztlich hochgradig praktisch. Um es in ein Bild zu packen: Es hat keinen Sinn, einen stabilen Tisch zu bauen und ihn dann auf Sand zu stellen. Der Boden muss bereitet und fest sein. Wir müssen unseren Standort bestimmen, wenn wir wissen wollen, wohin wir aufbrechen können. Von welchen Seiten wir vom Pferd fallen können. Wo unsere Lieblingseinseitigkeiten lauern. So habe ich bereits diese vermeintlich theoretischen Einsichten in meiner Glaubensgeschichte als äußerst befreiend erlebt, auch wenn sie eher Rohkost und Braten als Softeis und Flüssignahrung waren. Gute Spiritualität ist Analyse und Weg gleichermaßen. Bei den kommenden Seiten habe ich einen Wunsch. Dass wir diese neuen Erkenntnisse auch als Einsichten (in unser Herz) und als Aufsichten (zu Gott) begreifen – und nicht nur als intellektuelle Bereicherung. Im Zentrum steht die Frage: Wo und wie stehe ich gerade da?

Spiritualität – der Versuch einer Definition

Genug der Vorrede, los geht’s. Erste Konturen werden sichtbar.

 Spiritualität (von lat. spiritus ,Geist, Hauch‘ bzw. spiro ,ich atme‘– wie altgr. ψύχω bzw. ψυχή, siehe Psyche) bedeutet im weitesten Sinne Geistigkeit und kann eine auf Geistiges aller Art oder im engeren Sinn auf Geistliches in spezifisch religiösem Sinn ausgerichtete Haltung meinen. Spiritualität im spezifisch religiösen Sinn steht dann auch immer für die Vorstellung einer geistigen Verbindung zum Transzendenten, dem Jenseits oder der Unendlichkeit.

Das sind nicht meine Worte, sondern die Ausführungen der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Diese Definition drückt gleichzeitig die Hilflosigkeit aus, dieses Phänomen Spiritualität zu beschreiben, denn es wirkt irgendwie wie alles und nichts gleichzeitig, sehr weit und sehr diffus, aber doch verlockend – so wie Zuckerwatte. Von der kann man aber nicht leben!

Als ich auf meinem Blog einen Artikel zur Spiritualität geschrieben habe, kamen auch prompt die Reaktionen: Was für ein dummer Gummibegriff! Kann man da nicht einen anderen finden? Ich bemühte mich redlich. »Frömmigkeit« als Ersatzwort – das funktionierte nicht und war mir zu altbacken und auch zu sehr nach innen gewandt. »Glaubenspraxis«, also die gute alte praxis pietatis, war das etwas? Nein, auch das schien mir zu einseitig, denn wo kommt in diesem Begriff die innere Haltung vor?

Deswegen bin ich dafür, dass wir das Wort Spiritualität biblisch fundiert füllen und seine Verheißung ernst nehmen. Die Verheißung, etwas so Komplexes wie den Glauben in eine ganzheitliche Gesamtsicht zu gießen. Zusätzlich hätten wir den angenehmen Nebeneffekt, über Spiritualität fundierter und pointierter reden zu können und so vielleicht dem einen oder anderen Gesprächspartner aus der einlullenden Magie des nebulösen Sammelbegriffs Spiritualität herauszuhelfen.

So wage ich eine Definition:

Spiritualität ist der Prozess des Glaubenswachstums in den unterschiedlichen Spannungsfeldern des Lebens und Glaubens. Sie kennt drei Dimensionen: innere Haltung, ganzheitliche geistliche Übungen, alltägliche Umsetzung.

Das klingt komplex und ist es zuerst auch. Deswegen steigen wir in die Definition ein und bringen Fleisch an die Worte. Schnell wird deutlich werden: Das ist so praktisch, praktischer geht es nicht …

Die Spannungsfelder des Lebens und Glaubens

Wir hatten im Studium der Theologie in unserer Klasse einen Running Gag. (Wie findet man dafür einen guten deutschen Ausdruck – fortlaufender Witz? Wohl kaum, aber ich schweife ab.) Immer wenn wir in einer Situation oder in einer Diskussion nicht weiterkamen, sondern zwischen zwei Polen festhingen, kam der unvermeidliche Spruch: »Die Spannung muss man wohl aushalten.« Irgendwann nervte es – aber es war die Wahrheit. Immer wieder prallten wir mit unvermittelter Wucht gegen eine Wand der Unauflösbarkeit einer Spannung. Konnte ein System dahinterstecken?

Zugegeben: Das mögen gerade Deutsche, oder genauer: Menschen mit typisch deutscher Denkweise, gar nicht gern. Da muss alles schön geklärt sein, und wenn es geht, schwarz-weiß. Doch kommt man damit weiter? Oder liegt hier schon eine erste, ernst zu nehmende Ursache für die eigene unbefriedigende Spiritualität?

Und wozu Spannungsfelder? Was sollen sie, wozu dienen sie? Eigentlich ist das die falsche Frage: Sie sind einfach da. Verneinen wir sie, werden wir an dieser Stelle immer wieder gegen eine Wand laufen und nicht wachsen, sondern verbittern und hart werden. Nehmen wir sie an, wachsen wir an ihnen und lernen, mit einem Sowohl-als-auch zu leben und nicht nur in einem Entweder-oder zu verharren.

Zur Verdeutlichung ein paar Beispiele. Beginnen wir mit einem Klassiker der Theologie:

Müht euch mit Furcht und Zittern um euer Heil! Denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt, noch über euren guten Willen hinaus (Philipper 2,12b-13; EÜ).

Dieser Vers wird gerne auseinandergerupft und für zwei verschiedene Zwecke eingespannt: Vers 12b alleine, um kräftig Druck zu erzeugen und der störrischen Gemeinde oder sich selbst deutlich zu machen: So ganz nur mit Gnade geht es nun auch nicht. Denn wie oft liest man solche Verse wie das nervige Kleingedruckte zum Evangelium, zur Frohen Botschaft …

Alternativ nimmt man Vers 13 für sich alleine, um zu betonen, dass alles von Gott kommt und wir überhaupt nichts machen können. Also entspannen und alles nicht so ernst nehmen.

Das ist Entweder-oder-Denkweise. Wie fatal, wenn die Bibel selbst uns vorexerziert, was viel typischer für das jüdische Denken ist: das Sowohl-als-auch. »Streng dich an, jawohl, kein passives Opfergetue! Aber letztlich ist es doch Gott, der alles in dir vollbringt.« Beides gilt, auch wenn wir es schön dualistisch nicht zusammenbekommen werden und wollen. Unweigerlich baut sich eine Spannung auf und das ist gut so.

Immer wieder treffen wir in der Bibel auf diese vermeintlichen Widersprüche, die eigentlich nur verqueres und methodisch eingeschränktes Denken auf unserer Seite widerspiegeln. So wollte Luther den eher Aktion und Werke betonenden Jakobusbrief am liebsten aus dem biblischen Kanon werfen. »Eine stroherne Epistel« – so nannte er die Schrift des guten Jakobus, und der konnte sich nicht mehr wehren. Luther sah an dieser Stelle die Gnade gefährdet. Verständlich im historischen Kontext und bei seinem theologischen Schwerpunkt, aber bereits ein Vorläufer des typischen Entweder-oder-Denkens der Moderne, die ja in der Aufklärung des 17. Jahrhunderts ihre Wurzeln hat. Denn klar ist: Paulus und Jakobus widersprechen sich nicht – sie ergänzen sich und werden so zu einem heilsamen Spannungsfeld.

Dieses Denken in Spannungsfeldern verlangt von uns nicht weniger als einen inneren Paradigmenwechsel, der nicht leicht zu vollziehen ist. Wir sind Kinder der Moderne und sind es gewohnt, exklusiv und ausschließend zu denken. Doch sind wir gleichzeitig mitten in der sogenannten Postmoderne, die uns zunehmend prägt. In dieser Epoche ahnen immer mehr Menschen, dass ein neues Denken inklusive sein muss, Spannungen aushaltend, Gegensätze verbindend. Einfache Lösungen haben nicht getragen, haben ihren Dienst versagt. Nun muss eine Ebene höher gedacht werden. Das Leben gleicht mehr einem Tanz auf einer Fontäne verschiedener Strömungen als einem festgelegten und genau definierten Weg.

Das muss nicht jedem gefallen. Gerade sicherheitsbetonte Menschen sehen hier eher die Bedrohung als die Chance. Meiner Meinung nach kommen wir damit aber dem biblischen Denken näher.

Die Moderne hat uns in geradezu teuflische Sackgassen getrieben. Machbarkeitswahn regiert auch in Gemeinden und schließlich im geistlichen Leben, »Glaube dieses und du bekommst von Gott jenes«, »Entscheide dich für Jesus und du kommst in den Himmel«, »Wende diese Methode an und du erneuerst dein Glaubensleben in sieben einfachen Schritten«. Immer wieder die Frage: Was funktioniert? Was muss ich machen?

Widersprüche als Bedrohung für das eigene Glaubensgebäude wahrzunehmen – all das sind Haltungen und Konzepte der Moderne. Sie werden hier und da krampfhaft festgehalten, aber sie tragen definitiv nicht mehr. Denn die Menschen sehen sich einem anderen Alltag gegenüber … einem Alltag voller Spannungsfelder.

Auch in der Begleitung von Menschen und in meinem eigenen Alltag erlebe ich klassische Beispiele für alltägliche Spannungsfelder. Wo früher – als Beispiel – die Ehe fast automatisch lebenslang gelebt wurde, die Familie an einem Ort blieb und Wurzeln schlug, wo der soziale Kontext stabil und identitätsstiftend wirkte, da ist heute ein Haufen der unterschiedlichsten Spannungsfelder am Werk. Das Ausbalancieren von Beruf, Familie, Gemeinde, Freizeit, seelischer und körperlicher Gesundheit erscheint heutzutage allein schon als mittlere Managementaufgabe. Selten kommt es zwischen diesen vielfältigen Polen zu einer echten dauerhaften Ruhe und Stabilität (wobei die in früheren Generationen oft genug nur eine vermeintliche Stabilität war). Menschen erleben sich selbst als auf dem Weg befindlich, ständig auf der Suche nach der Balance zwischen vielen, intensiven Faktoren und Polen. Da ist die Mutter, die nicht nur zwei kleine Kinder zu versorgen hat, sondern nebenher noch in einem Beruf arbeitet, der ihr Freude macht und für den sie ausgebildet ist. Sie managt außerdem die Kindergottesdienstarbeit ihrer Gemeinde und hat im Kindergarten ein Ehrenamt übernommen. Daneben soll sie noch Gesprächspartnerin und Geliebte ihres Mannes sein und regelmäßig kommen die Freundinnen und Nachbarinnen zu ihr und heulen sich aus. Alles wichtige Dinge – die aber überwiegend nicht planbar sind. So mutiert der Alltag zwischen den Spannungspolen nicht zu einer Sache, die man kontrollieren kann, sondern die eher mit einem kreativen, chaotisch erscheinenden, zumeist aber kräfteraubenden Tanz zwischen den Anforderungen zu tun hat.

So sieht die Gesellschaft heute aus. Wir benötigen kreative biblische Antworten auf diese Lebensrealität – denn die Menschen sehnen sich nach etwas anderem, nach einer Alternative. Sie finden jedoch zu häufig Leute, die sich in ihren frommen Kuschelklubs verstecken, und nicht zuletzt, als Beispiel, genauso hohe Scheidungsquoten zwischen Christen wie Nichtchristen (nach einer Erhebung in den USA). Mobbing? Burn-out? Auch in christlichen Kreisen nicht weniger vorhanden. Das Problem sind nicht die Menschen, die »Welt« – das Problem sind Christen, die keinen Zugang zur Kraft haben und nicht wissen, wie sie anders und gegen den Strom leben können. Und es vielleicht auch nicht wollen? Weil sie mehr Kind dieser Welt sind, als sie wahrhaben wollen?

Zurück zur Erfahrungswelt der Menschen und den alltäglichen Spannungsfeldern: Lebenslanges Lernen lautet die Devise – der Beruf, den ich vorgestern gelernt habe, der muss es heute schon nicht mehr sein. Einfache Lösungen, sie tragen nicht mehr, auch nicht in der Politik und Wirtschaft. Das Leben wird undeutlicher und unschärfer. Spannungsreicher und lösungsärmer. Das klingt anstrengend und es ist auch so. Nicht wenige Menschen verweigern sich diesem Weg und resignieren. Denn der Weg in der Postmoderne ist unsicher und herausfordernd. Doch ich bin der Überzeugung, dass die Postmoderne eine neue Spiritualität ermöglichen kann und wird, denn sie ist dem biblischen Denken in manchen, vielleicht sogar in vielen Punkten näher als die Moderne, die sogenannte »gute alte Zeit« – die es nie gab.

Der Mensch in dieser Welt empfindet den Jesus, der von sich sagt, dass er keinen Platz hat, wo er seinen Kopf hinlegen kann (vgl. Matthäus 8,20), seiner Realität weit näher als ein festgezurrtes Sicherheitsdenken der Moderne. Ich möchte Appetit machen auf eine neue Spiritualität. Diese benötigt Spannungsfelder zum Atmen und zum Leben.

Wenn das alles so einfach wäre …

Aber es ist ungemein anstrengend, Spannungsfelder als kreatives Wachstumspotenzial zu betrachten und zu nutzen. Ich spüre selbst beim Schreiben, dass sich etwas in mir wehrt. Weil wir immer noch in einer Zeit leben, die uns vermittelt, dass Erfolg und leichtes Leben ohne Aufwand und Anstrengung machbar seien. Es ist Teil unserer Fast-Food-Kultur, dass wir Veränderung wollen, ohne uns groß um sie zu bemühen, und das als erstrebenswertes Ideal auch vermittelt bekommen. Das widerspricht aber aller Erkenntnis. Wachstum geschieht in Spannungsfeldern. Kinder benötigen Reibungspunkte, damit sie wachsen und ihre Identität entwickeln können. Damit sie lernen, was sie wollen und was nicht. Damit sie Grenzen definieren können. Spannungen des Lebens anzunehmen und auszuhalten – das schafft Veränderung.

Ein Blick ins Tierreich als Verdeutlichung. Das Küken braucht den stundenlangen Kampf, um sich von der letztlich bedrängenden Enge des Eis in die ungewohnte Weite des Lebens hineinzuentwickeln. Der Schmetterling muss sich schwerfällig aus der Puppe herauszwängen, damit sich die Funktionen der Flügel aktivieren können und er fliegen kann. Wenn man ihm bei seinem Kampf hülfe, würde er lebens- und fluguntüchtig sterben.

Eine liebe Studienfreundin hat einmal gesagt: »Manchmal muss man Nöte schaffen, um Lösungen zu finden.« Denn die Not erzeugt eine Spannung, und diese wiederum hilft uns dabei, uns auf einen echten Wachstumsschritt zu konzentrieren. Geistlich gesprochen: In Spannungsfeldern entsteht Energie. Energie, die etwas bewegt, Energie, die auf Gott zurückwirft, wenn wir uns schier zerrissen fühlen und die menschliche Machbarkeit an ihre Grenzen stößt.