Silvia Bovenschen
Verschwunden
Prosa
Fischer e-books
Silvia Bovenschen, geboren 1946, lebt in Berlin. Literaturwissenschaftlerin, Essayistin. 2000 wurde sie mit dem Roswitha Preis der Stadt Gandersheim und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet, 2007 erhielt sie den Ernst-Robert-Curtius-Preis. Zuletzt erschienen: »Älter werden (2006), »Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie« (2000) und »Schlimmer machen, schlimmer lachen« (1990)
Covergestaltung: Hißmann & Heilmann, Hamburg
Coverabbildung: Sarah Schumann
Das Motto stammt aus:
Emily Dickinson. Gedichte. Englisch und deutsch.
Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Gunhild Kübler
© 2006 Carl Hanser Verlag, München
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2009
ISBN 978-3-10-400008-4
Each that we lose takes part of us;
A crescent still abides,
Which like the moon, some turbid night,
Is summoned by the tides.
Wen wir verlieren, nimmt ein Stück
Von uns; ein halbes Rund
Bleibt stehn, das nächtliche Gezeiten
Anrufen wie den Mond.
Emily Dickinson
Das vorliegende Buch versammelt Erzählungen, die ich meinen Freunden abnötigte. Vom Verschwinden sollte in beliebiger Weise die Rede sein. Das war meine Vorgabe. In diese Sammlung gehören notwendig die letzten Niederschriften, die meine Freundin Celia ihrem Tagebuch anvertraute und mir ausdrücklich als Beitrag für dieses Buch zueignete. Schließlich entschloß ich mich, auch die längeren Ansprachen (»Monolog«) aufzunehmen, die meine Freundin Frederike ihren Freunden bei Gelegenheit unserer regelmäßigen Zusammenkünfte (»Jour fixe«) vortrug, sowie den Mitschnitt einiger Gespräche, in denen meine Sammlung bewertet wurde.
Daniela Listmann
ANTON:
Hat sie dich auch um eine Geschichte gebeten?
BEA:
Nein, was ist das für eine Geschichte mit einer Geschichte?
ANTON:
Daniela will, daß man ihr eine Geschichte schenkt. Vom Verschwinden soll sie handeln.
BEA:
Und was will sie damit machen?
ANTON:
Sie will frei darüber verfügen können, sie verwerten, verwandeln, verwerfen – da ist sie undeutlich. Wichtig ist ihr, daß man keine Ansprüche erhebt. Sie hat sogar so etwas wie eine juristische Erklärung aufgesetzt, die man unterschreiben muß.
BEA:
Ist das nicht ein wenig seltsam?
ANTON:
Allerdings. Aber du solltest ihre Situation bedenken. Sie ist krank, »angeschlagen«, wie sie selbst immer sagt, sie sitzt da Tag für Tag in ihrem Rollstuhl und kommt kaum noch in die Welt. Die große Geschehensflut schwappt natürlich medial gefiltert auch ihr ins Haus. Das nimmt sie schon zur Kenntnis: die Schlachten, die Katastrophen, die Reisen der Politiker. Aber sie selbst unternimmt keine Reisen mehr. Ihr fehlen, so sagt sie, die leisen Erlebnisse, das vermeintlich Belanglose, sie brauche diesen Feinschnitt, die kleinen Entzündungen, die berührenden Details, das seltsame Zusammenspiel von seltsamen Begebenheiten, sie könne zum Beispiel nicht erzählen von denkwürdigen Erfahrungen, die ihr vielleicht zuteil würden, in einem Café in Lissabon, in dem natürlich schon Pessoa gesessen haben müßte.
BEA:
Vorsicht! Sie führt euch hinters Licht! Ich kenne sie schon lange, feinsinnige Pessoa-Anspielungen sind ihr ein Graus, und auch als es ihr körperlich noch möglich war, schien sie mir nicht sonderlich reisefreudig. Sie ist listig. Ihr fallt alle auf sie herein. Es gibt einen doppelten Boden. Wenn sie euch vor sich warnt, wenn sie immer sagt, daß ihr vorsichtig sein sollt im Umgang mit ihr, wenn sie von der fiesen Berechnung der Behinderten spricht, die, kündigt ihr einen Besuch an, sofort kalkuliert, ob sie euch nicht, die Gelegenheit nutzend, zuvor noch bei ihrem Zigarettenhändler oder Schuster vorbeischicken könnte, wenn sie euch also mit der Beschreibung ihrer List amüsiert, dann tarnt sie damit ihre List. Nomen est omen.
ANTON:
Ich mag solche Namensbestätigungen nicht. Kann es sein, daß du etwas beleidigt bist, weil sie dich nicht in die Schar der Erzähler aufgenommen hat?
Eine Entscheidung
Heute habe ich eine merkwürdige Erklärung unterschrieben. Daniela hat diese abstruse Idee, sich mit Erzählungen ihrer Freunde anzureichern, sich stofflich zu füllen. Narrative Bulimie. Ich reagiere darauf möglicherweise etwas ungerecht, weil ich mich ein Leben lang mit fremder Leute Geschichten herumgeschlagen habe. »Verschwinden«, das ist das Generalthema. Von irgendeinem Verschwinden soll erzählt werden. Sie verläßt das Haus jetzt nicht mehr ohne dieses kleine Aufnahmegerät. Mich interessiert, soweit mich überhaupt noch etwas interessiert, ihr Vorhaben in seiner Fatalität. Eitelkeit. Vergeblichkeit. Ich habe in dem Sammeln von was auch immer stets den hilflosen Versuch gesehen, Bollwerke zu schaffen gegen Zufall und Endlichkeit. Untaugliche Schutzwälle, armselige Materialbastionen.
Frederike, beispielsweise, die Regentin unserer regelmäßigen Geselligkeiten, sammelt alte Gläser und Dosen. Das gibt doch zu denken. Ich aber gehe einen anderen Weg, den Weg in die Lethargie, ins heilsame Vergessen.
Ich werfe Ballast ab. Ich möchte leicht werden. Ganz leicht. Ich will nichts mehr sammeln und nichts mehr erzählen. Niemandem, allenfalls mir selbst noch. Manche schneiden sich ins eigne Fleisch. Um sich zu spüren. Schnitte zwischen Tod und Leben. Geht der Schnitt zu tief, ist er endgültig; ist er gemäßigt, weiß man im Schmerz, da ist noch Leben. Eine Scheidung. Eine Entscheidung. Ich verstehe das, aber es ist nicht meine Entscheidung. Ich suche die Abgeschiedenheit, das Vergessen meiner selbst, die Weltenlosigkeit, die radikale Abkehr.
Ich habe beschlossen, ein Tagebuch zu führen auf der letzten Strecke. Ich bin über mich erstaunt. Ich habe zuvor nie ein Tagebuch geführt. Im ganzen Leben nicht. Obwohl auch ich in meiner Jugend mehrfach diese mit einem Schloß versehenen Blankobüchlein geschenkt bekam. Ich mochte sie nicht, die biographischen Tagesbilanzen. Und es gab sie nicht, die abschließwürdigen Geheimnisse, die ich mir selbst erzählen wollte. Warum fange ich jetzt, ausgerechnet jetzt, damit an? Den Anstoß bewirkte der verrückte Mann. Der Rufer. Zunächst wollte ich nur täglich einiges vom dem notieren, was er wirr hervorstößt. Die pure Vehemenz. Ich bilde mir ein, daß darin irgendeine geheimnisvolle Botschaft für mich liegen könnte. Glaube aber nicht wirklich an diese müde Magie. Oder nur in dem Maße, in dem man gegen jedes bessere Wissen dem Horoskop in der Zeitung Beachtung schenkt. Eine unglaubwürdige Voraussage, die man dann sofort wieder vergißt. Aber da ist doch ein Unterschied: einige Fetzen seiner Schmährufe schleichen sich unabwendbar in mein Gemüt und bündeln sich dort zu einer Art Tagesdevise. Na ja, Tagesdevise ist vielleicht doch zuviel gesagt. Genauer: zu einem atmosphärischen Fingerzeig. Und schon schäme ich mich vor mir selbst. Idiotischer Gespensterkram!
Der Rufer erscheint regelmäßig, wenn ich im Viertel einkaufen gehe oder wenn ich in warmen Jahreszeiten morgens am Stuttgarter Platz in einem der besonnten Straßencafés sitze und Zeitung lese. In seinem Kopf ist etwas kaputt. Er streunt herum und pöbelt die Leute an. Überschüttet sie mit einem zotigen Wortschwall. Unverständliche Laute, Obszönitäten, durchsetzt mit absurd verkürzten Zitaten, auch die meist nur in Form von Wortwiederholungen, Verdoppelungen, Reimpaaren, Lautfolgen, dazwischen ein infernalisches Gelächter und immer mal ein verständlicher ganzer Satz. Er war einmal schön, das ist noch zu sehen, jetzt aber ist sein Antlitz entstellt durch Haß, Hohn und Häme. Eine Fratze. Er ist noch nicht alt. Ich schätze ihn auf Mitte vierzig. Er hat dichtes, etwas verblichenes blondes Haar und einen wohlgestalteten, schlanken Körper. Er ist gut gekleidet. Er muß einmal über Bildung verfügt haben und verfügt noch immer über sie, allerdings nur noch in dieser zerhackten, verstümmelten, für Fluch und Drohung abrufbaren grotesken Verzerrung. Er kann die abgebrühten Großstädter nicht wirklich erschrecken, sie fühlen sich nur ein wenig belästigt. Sie schauen gelangweilt und leicht angewidert weg, wenn er, halb erwartet, auftaucht. Das liegt wohl daran, daß sein Vokabular unzeitgemäß ist. Seine Schmähungen haben etwas Altmodisches, sie sind gewissermaßen von gestern.
Der Rufer:
(Für heute habe ich mir notiert.):
Ich kotz euch an. Ich spring euch an. Ich pfeif auf euch. Ich hol euch ab. Ich mach euch kalt. Sieg. Sieg. Tod. Stachel. Hechel. Hechel. Rache. Rache. Schleim. Heil. Gebein. Gemein. Dreimal schwarzer Kater. (Direkt an mich gerichtet.) Schau nicht so blöd, du alte Fotze.
Der Bankräuber
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Soll ich jetzt beginnen? Hast du dein Gerät eingeschaltet?
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1975, Ischia: ein schäbiges Hotelzimmer. In der Nähe von Forio. Die Herberge: ein heruntergekommener Familienbetrieb, ein maroder Bau, unzuverlässige sanitäre Einrichtungen, dunkles, überdimensionales Mobiliar. Aber ein großzügig geschnittener Raum und ein fabelhafter Blick aufs Meer.
Du mußt wissen: Es ist gar keine richtige Geschichte, allenfalls das Bruchstück einer Geschichte. Die Geschichte einer unerzählten Geschichte, über die ich nie Genaueres erfahren werde. Eine Szene nur, die ich aber so deutlich vor Augen habe, als hätte ich sie gerade erst erlebt. So gegenwärtig will ich sie auch erzählen.
Ich sitze auf dem Bett. Später Nachmittag. Draußen ein märchenhaftes Licht. Eine Licht- und Farbenmischung, das behaupte ich, wie es sie nur im Golf von Neapel gibt.
(Ich werde nicht versuchen, dieses Licht wortmächtig zu bebildern, weil ich ein altes Scheitern vor Augen habe. Um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert verbrachten dort viele reiche Engländer die Sommerzeit, und einige von ihnen erlagen auch dieser Lichtfaszination und versuchten, ihre Begeisterung zu aquarellieren. Sie waren Dilettanten, aber keine Banausen. Sie verfügten über Geschmack und Kunstfertigkeit. Mich faszinierte dieses Mißlingen. Man konnte vor einigen Jahrzehnten solche Versuche noch in den Antiquitätenläden Neapels und Sorrents aufstöbern. Ein sympathisches Scheitern.)
Also, ich sitze auf dem Bett. Sie steht am Fenster in einem mattglänzenden schwarzen Unterrock, der bis an ihre Knie reicht und in einem starken Kontrast zu ihrer sehr hellen feinporigen Haut steht. (Dieser Unterrock! Für einen kurzen Moment wird die Szene von einem anderen Bild überlagert. Ich sehe Liz Taylor, auch in einer Rückenansicht, sie steht in dem gleichen Unterrock auf einer Südstaatenveranda. Ein ganz feiner Schweißfilm bedeckt ihre Haut, die sich hell von der Schwärze des Unterrocks und dem dunklen Haar abhebt. Ich weiß nicht, ob es diese Filmszene gibt, ich weiß nicht, ob ich sie je sah, aber ich sehe sie in diesem Moment genau.)
—
Ich höre jetzt auf mit den Abschweifungen.
Ich bin jetzt wieder bei der Ischia-Szene.
Also noch mal: Ich sitze. Sie steht.
Sie wendet mir den Rücken zu und sie schaut über eine große etwas bröcklige Terrasse hinweg auf das Meer. Ich sehe sie im Gegenlicht. Ihr linker Arm graziös angewinkelt, die Hand liegt in Schulterhöhe locker an der Einfassung der Terrassentür, der andere Arm zwar unangestrengt hängend, aber in der unteren Partie doch formgewillt leicht vom Körper abstrebend, sie könnte einen Olivenzweig in der Hand halten, hält sie aber nicht. Eine tradierte Pose, in der Art, wie ich sie an ihr liebe, in der Art, wie sie sie vielleicht bei der Callas abgeschaut hat, in der Art, wie sie die Callas sicherlich von den Posen altgriechischer Statuen abgeschaut hatte.
Ich weiß, was sie sieht. Ich weiß von der gemütsprägenden Wirkung des Meeres und des Himmels zu dieser Tageszeit. Das erscheint mir aus einem Grund, den ich nicht weiß, wichtig für meinen Vorstoß, ihr ein biographisches Detail zu entlocken. Ich vergöttere diese Frau, aber ich weiß fast nichts über sie bis auf diese kleinen lebensgeschichtlichen Splitterinformationen, die sie mir gelegentlich wie einen Knochen zuwirft.
Ich knüpfe meine Fragen an eine Erzählung, eigentlich war es nur eine dieser kurzen Bemerkungen, die sie vor elf Tagen zu Beginn unserer Reise machte. Ich frage: »Ein Bankräuber? Wirklich? Du hast mit ihm gelebt? Er war dein Geliebter? Du hast ihn versteckt?« Sie zeigt keinerlei Regung. Sie verharrt in der starken Pose. Um sie aus dieser Pose zu lösen und mich aus dem ganzen Assoziationsgewirr (in dem auch der Vesuv und Pompeji eine ungute Rolle spielen) zu befreien, entschließe ich mich zu ein wenig Humor. »Einer von der Panzerknackerbande – du weißt schon, diese ulkigen Figuren aus der Disney-Familie mit dem Pflaster auf der Backe und der kleinen schwarzen Maske.«
Sie löst die Pose auf, aber nur, um herablassend, sehr herablassend, zu entgegnen: »Ich habe nie auch nur ein einziges dieser Hefte in die Hand genommen.«
Ich aber habe die Sache vermasselt, richtig vermasselt, überdies habe ich vergessen: sie ist ja dreizehn Jahre älter als ich, Disney-Figuren hatte es in ihrer Kindheit noch nicht gegeben.
—
(Nein, die Zeit, da auch Ältere sich das Ensemble dieser Hefte aneignen würden wie wir uns einst das Personal der griechischen Mythologie, brach erst viele Jahre später an.)
Ich habe es wirklich vermasselt. Ich weiß, da ist kein Land mehr zu gewinnen.
Eine Frage wage ich aber doch noch: »Was ist aus ihm geworden?«
»Eines Tages war er verschwunden«, sagt sie und geht.
Intermezzo
—
Über diese Geschichte wirst du dich freuen.
—
Weil es die Geschichte zu deinem Thema ist. Die Geschichte! Eine bessere Geschichte über das Verschwinden kriegst du nicht, und wenn du die halbe Welt befragst.
—
Ja richtig, da kannst du dich wirklich freuen. Ich muß allerdings doch die Bedingung stellen, daß du sie nicht einschneidend veränderst.
—
Was heißt, dann geht es nicht? Hör mir doch erst einmal zu.
—
Natürlich kannst du sie redigieren, sie oberflächlich verändern, sprachlich, stilistisch, in der Wortwahl, meinetwegen auch atmosphärisch, nicht aber inhaltlich, nicht im Ereignisverlauf, nicht im wesentlichen, nicht im Kern.
—
Würdest du mal damit aufhören, den Satz »Dann geht es nicht« zu wiederholen. Du mußt mich da verstehen, es ist eine Geschichte, die für mich eine existentielle Bedeutung hat, mein ganzes armes Leben hätte eine völlig andere Wendung genommen, wäre das, was ich jetzt erzählen werde, nicht geschehen. Und da kann ich, das wird dir einleuchten, irgendwelche schwerwiegenden Eingriffe schlecht vertragen.
—
Dann geht es nicht? Fahr zur Hölle!
Anschließend: Aufzeichnung meiner Schilderung der Begegnung während eines Telephonats mit Konrad.
Dies ist eine Geschichte, die entschwand, bevor sie entstand ... Sie war richtig sauer. »Fahr zur Hölle!«, hat sie gerufen. Kannst du dir das vorstellen? Du hättest sie sehen sollen, wie sie aus der Wohnung gerauscht ist. Nein, sie ist nicht gerauscht, sie ist wütend hinausgestakst, so wie Doris Day in den Lustspielfilmen der sechziger Jahre, wenn sie, körperversteift, mit durchgedrücktem Rücken, empört Tempo aufnahm, weil sie sich über Rock Hudson geärgert hatte. Daran wirst du dich nicht erinnern, dafür bist du zu jung. Sie zauberte dann noch ein rundes Empörungsauge herbei und stieß einen albernen hellen Wutlaut aus. Ein Welpengebell.
—
Ich hatte Bea gar nicht darum gebeten, mir eine Geschichte vorzutragen. Anton hat ihr von meinem Vorhaben erzählt, und daraufhin hat sie mich unaufgefordert aufgesucht und sich narrativ feilgeboten. Und da saß sie nun, Knie an Knie, Füßchen an Füßchen, umklammerte ihr Fenditäschchen, redete mit ihrer Piepsstimme auf mich ein, sprach von ihrem »armen Leben« und versuchte, während mich Schwaden ihres grauenhaften Parfüms umnebelten, mir eine »existentielle« Geschichte aufzunötigen. Ich kenne Bea ungern schon seit Ewigkeiten, habe sie immer auf Distanz gehalten, weil sie es liebt, an mir herumzupsychologisieren. Damit erschleicht sie sich eine interpretatorische Macht. »Man muß das verstehen«, sagt sie, wenn sie über mich spricht, »sie ist behindert«, und so weiter, und dann versteht sie sogleich alles. Freunde haben mir das gesteckt. Die pure Einfühlung. Solch ein rührendes Übermaß an Verständnis. Und jetzt, hoppla, will sie, daß ich zur Hölle gehe, das ist lustig.
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Du hast recht, ich kann sie nicht leiden.
Das kommt erschwerend hinzu. Ich kann sie nicht leiden. Und ich kann ihre Geschichte, die ich nicht kenne, nicht leiden.
Eine Dame ist nervös
Ich kann euch heute keine gute Gastgeberin sein. Ich hätte absagen sollen. Habe zu spät daran gedacht.
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Nein, ich weiß gar nicht, was ihr wollt. Depression? Das ist doch ein immer zu schnell dahergesagter Befund. Schlechte Laune, eine Reizbarkeit vielleicht, eine ungute Stimmung, ja, eine kleine Verstimmung.
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Wer sagt hier Panik? – Nein, Panik ist zuviel. Irritation wäre zuwenig. Dazwischen, etwas dazwischen. Das Gefühl, als wäre man ständig einem kleinen Angriff ausgesetzt, ich verspüre eine kleine Angegriffenheit, oder noch besser: die Gewärtigung vieler kleiner Angriffe, ich lebe in der Stimmung einer leisen, aber doch allgegenwärtigen Angegriffenheit. Sie ebbt fast unmerklich ab und baut sich dann schleichend wieder auf. Wirklich! Ich kann das nicht besser erklären. Manches nistet sich ein, manches verschwindet ...
—
Ob ich da mal anschaulicher werden kann? Was soll die Fragerei? Ihr könnt mir nicht helfen. Ich bin nervös und etwas angegriffen. Das bewegt sich alles noch im Normbereich. Ihr kennt das alle, in eurem Telephonverzeichnis stoßt ihr auf einen Namen, und ihr habt nicht die leiseste Ahnung, wer die Person sein könnte, das macht etwas nervös, ist aber nicht weiter schlimm, ist noch in der Arglosigkeit unterzubringen. Aber dann die Steigerung, ich blättere in meinem nagelneuen Kalender für das nächste Jahr und sehe, daß auf der Seite, die für den dreizehnten des März vorgesehen ist, die Ziffer 33 steht. Ich habe keinen blassen Schimmer, wofür diese Zahl stehen könnte, ich kann mich nicht erinnern, die dort hingeschrieben zu haben. Ich kann mich nicht erinnern, terminierend für irgend etwas oder irgendwen so weit vorgegriffen zu haben. Ich werde zunehmend zur Kriminalpolizei für mich selbst. Selbstüberführung: Wo werde ich am dreizehnten März gewesen sein?
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Ach, wie soll ich euch das erklären?
Diese leisen Angriffe, wenn die Türklingel plötzlich schriller wirkt als je zuvor. Unbeweisbar. Der Bruchteil eines Phons. Oder: wenn der Handschuh, den man seit einem halben Jahr vermißte, plötzlich ebenso harmlos wie hervorstechend mitten auf dem Tisch liegt. Oder (irgendwo habe ich das mal gelesen, vielleicht auch in einem Film gesehen): Jemand kommt in seine Wohnung, und alle Möbel sind einen oder zwei Zentimeter höher, er merkt es gleich, alles ist verändert, aber er weiß nicht, warum.
Oder: Ich will lesen, ich lese, aber nein, ich lese gar nicht richtig, sondern starre immer wieder auf einen unguten Fleck in Form einer kleinen Faust und suche nach harmlosen Erklärungen dafür, wie und durch wen er auf den Kissenbezug gekommen sein könnte, und dann klingelt es erneut etwas zu laut, und der leichenblasse Paketbote sagt ohne Anlaß den Satz: »... nicht, daß ich es Ihnen nicht gönnen würde.« Dann sage ich mir: Das sind nur die Nerven, ihr werdet mir auch sagen: Das sind nur die Nerven. Und dann stelle ich mir vor, daß ich das an eurer Stelle auch zu mir sagen würde und wie das wäre, wenn es nicht bloß die Nerven wären, wenn die Bedrohung real wäre, auch dann würdet ihr sagen: Das sind bloß die Nerven. So gesehen ist mein Versuch, euch irgend etwas erklären zu wollen, wirklich sinnlos.
Daniela, stell bitte dieses blöde Aufnahmegerät ab. Und ihr, steht da nicht so unheilvoll herum wie traurige Krähen. Es ginge mir besser, wenn ihr verschwändet.
Adieu.
Die Amerikanerin
Athen! Die Wiege unserer Kultur, die Akropolis – da wollte ich hin. Die Antike erschauen. Bewegt von einer verkitschten Winckelmann-Sehnsucht: blitzblank strahlend weiße Tempel, Philosophen und Hetären in Chiton und Himation, in Wandelgängen, auf dem Weg zur Agora, zum Areopag oder ins Amphitheater, helle Säulen in gleißendem Sonnenlicht vor tiefblauem Himmel.
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