Güner Balci
Arabboy
Eine Jugend in Deutschland
oder Das kurze Leben des Rashid A.
Sachbuch
Fischer e-books
Güner Yasemin Balci, deren Eltern in den sechziger Jahren als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kamen, ist 1975 in Berlin-Neukölln geboren und aufgewachsen. Sie hat Erziehungs- und Literaturwissenschaft studiert und im Modellprojekt »Kiezorientierte Gewalt- und Kriminalitätsprävention« im sozialen Brennpunkt Neuköllns, im Rollbergviertel, und im Mädchentreff MaDonna mit vielen Jugendlichen aus türkischen wie arabischen Familien gearbeitet. Heute ist sie Redakteurin für das ZDF-Magazin Frontal21.
Covergestaltung: Hißmann & Heilmann, Hamburg
Coverabbildung: Marty Nascimento/REA/laif
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2008
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ISBN 978-3-10-400003-9
Für Fatma und Mahmut
Manchmal treffe ich sie noch zufällig auf der Straße im Berliner Rollbergviertel – Sami, Hussein, Yussuf und Farid, die inzwischen alle älter geworden sind. Ich treffe sie immer dann, wenn sie gerade einmal wieder aus dem Gefängnis entlassen wurden oder wegen guter Führung Freigänger geworden sind, die für den Rest ihrer Haftstrafe nur abends eingesperrt werden. Nur Rashid fehlt, die Hauptperson der Geschichte, die ich hier erzähle, und der Anführer der Clique von »Arabboys«. Ich kenne sie alle, die Jungen und Mädchen, die in dieser Geschichte unter verändertem Namen eine Rolle spielen. Ich bin mit ihnen aufgewachsen, mit manchen von ihnen war ich vor vielen Jahren einmal befreundet.
Als ich mit meinen Eltern und meinen drei älteren Geschwistern 1978 aus einer kleinen Gartenlaube ins Berliner Rollbergviertel zog, konnte noch keiner ahnen, dass sich diese Gegend in den darauffolgenden Jahren zu einem Problemkiez mit hoher Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Gewalt entwickeln sollte. Ich hatte damals viele deutsche, aber auch türkische, jugoslawische, griechische Freunde – mein Vater ermunterte mich und meine Geschwister zu vielfältigen Kontakten. Sie waren ihm wichtig, er sah in ihnen den notwendigen sozialen Kitt, um hier in Deutschland wirklich anzukommen. So dachten nicht alle in der türkischen Nachbarschaft, viele mieden besonders die Deutschen, sie hatten Angst, ihre Herkunftskultur zu verlieren, sie wollten lieber unter sich bleiben, ihre Muttersprache pflegen.
Als Kind habe ich mich oft über meinen Vater geärgert, der immer so nett zu den Deutschen war, so freundlich über sie sprach und mich in den katholischen Kindergarten schickte, der für mich ein angstbesetzter Ort war. Hier – wie auch später in der Schule – galt ich als »Türkin«, dabei sprach ich damals kaum Türkisch, meine Muttersprache war Deutsch. In der Grundschule war das mein Glück, sonst wäre ich noch in der »Türkenklasse« gelandet und die galt unter uns Schülern als Looser-Verein. Für diese Klasse wurde eigens ein türkischstämmiger Lehrer abgestellt, der selbst kaum des Deutschen mächtig, dafür aber sehr autoritär war und seinen eingeschüchterten Schülern laut brüllend Befehle erteilte. Ich weiß nicht, was sich die zuständige Schulbehörde dabei gedacht hat – vermutlich entsprach das der damals immer noch vorherrschenden Erwartung, »die Türken« würden eines Tages wieder zurück in die Türkei gehen. Sie sind aber geblieben. Wenn ich heute Schüler aus der »Türkenklasse« treffe, dann sind diese meist Gemüsehändler geworden oder betreiben eine Dönerbude, haben früh geheiratet und sprechen zu Hause Türkisch mit ihren Kindern. Sie haben es nicht anders gelernt und so geben sie an ihre Kinder weiter, was schon ihr eigenes Ankommen in Deutschland verhindert hat.
Die ersten Jahre in der Grundschule dachte ich auch, wir seien Türken. Meine Eltern redeten miteinander oft in einer Sprache, die ich nicht verstand. Erst als ich anfing, Fragen zu stellen, erfuhr ich, dass es nicht Türkisch war, was sie sprachen, sondern dass meine Eltern weder türkisch noch kurdisch, sondern zaza, eine bis in die 1980er Jahre in der Türkei verbotene Sprache, pflegten, zu der eine ganz eigene Kultur gehört. Um uns zu schützen, sprachen sie mit uns Kindern nicht darüber.
Meine Eltern waren in den 1960er Jahren als Teil der ersten Gastarbeitergeneration aus einem kleinen ostanatolischen Dorf nach Deutschland gekommen. Mein Vater war Ende zwanzig, als er, den Verlockungen der modernen Welt folgend, die neue Heimat betrat. Meine Mutter, die ein Jahr später mit meiner älteren Schwester nachkam, war gerade zwanzig geworden. Ihre Gastarbeiter-Karriere, die in Bayern begonnen hatte, wo sie wie so viele andere in verschiedenen Fabriken arbeiteten, brachte sie eines Tages auch nach Berlin-Neukölln, wo mein Vater als Fahrer eines Krankenwagens und meine Mutter als Raumpflegerin arbeitete. Als sie ihre Arbeit nach 25 Jahren aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste, schenkte man ihr einen Blumentopf.
Auch meine Eltern dachten lange Jahre daran, eines Tages wieder zurückzukehren in die Türkei. Sie wollten hier, in Deutschland, Geld verdienen, um sich dort, in der Türkei, eine eigene Existenz aufzubauen. Als ich 1975 in Berlin als Letztes von vier Kindern auf die Welt kam, war von Rückkehr nicht mehr die Rede, auch wenn die Sehnsucht nach der Heimat, in der sie aufgewachsen waren, ein Leben lang blieb. Als mein Vater vor sieben Jahren plötzlich starb, entschieden wir, ihn nicht in die Heimat zu überführen, sondern hier beizusetzen. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens in Deutschland verbracht, seine Kinder lebten hier und seine Enkelkinder würden sich kaum auf den Weg zu einem Friedhof in den Bergen Ostanatoliens machen.
Die Entscheidung, hierzubleiben, hing auch mit der mangelnden Qualität des staatlichen türkischen Schulsystems zusammen, das meine Eltern ihren Kindern nicht zumuten wollten. Mein Vater hatte nur vier Jahre lang die Grundschule besuchen können, meine Mutter hatte nie die Möglichkeit erhalten, lesen und schreiben zu lernen. Der Schulerfolg ihrer Kinder war beiden wichtig. Mein Vater erschien zu jedem Elternabend in seinem besten Anzug und meine Mutter ließ uns nie ohne Frühstück und ein großes Paket Butterbrote in die Schule. Ihre ganze Hoffnung galt uns Kindern, wir sollten studieren, um es einmal besser zu haben als sie. Schon als Schulmädchen fiel mir auf, dass es in meinem Freundeskreis Kinder gab, deren Eltern sich weitaus weniger um sie kümmerten. Kinder, die oft bis spät in den Abend vor dem Briese-Eck, der Stammkneipe ihrer Eltern, warteten – so wie Bea in dieser Geschichte – und morgens zu spät und unausgeschlafen in die Schule kamen, meist ohne Frühstück und ohne Pausenbrot.
Anfang der 1980er Jahre veränderte sich die soziale Mischung in unserem Viertel. Viele arabische Familien zogen zu. Ein großer Teil von ihnen kam aus dem Libanon, sie waren vor dem Krieg geflohen, der das Land zerstörte. Viele von ihnen lebten in einem heruntergekommenen Altbau in der Kopfstraße, das im Sprachgebrauch der anderen bald das »Araberhaus« hieß. Sie waren arm, das konnte man ihnen schon an der Kleidung ansehen, und sie waren zahlreich. Jede Familie hatte mindestens vier Kinder, oft mehr, und die waren den ganzen Tag auf der Straße. Zumindest die Jungen.
Ihre Schwestern bekam ich kaum zu Gesicht, erst später erfuhr ich, dass die arabischen Mädchen mit Beginn der Pubertät nicht mehr allein auf die Straße, erst recht keine Freundschaften pflegen durften – daran hat sich bis heute nichts geändert. In vielen türkischen Familien war das nicht anders. Unter meinen Freundinnen gab es nur wenige türkische Mädchen, die mussten zu Hause bleiben, und viele von ihnen flüchteten in die Ehe und in die Mutterschaft. Nur wenigen gelang es, sich über den Bildungsweg von ihren Familien und den patriarchalischen Geboten zu emanzipieren – die aber kamen fast nie aus Arbeiter- oder Flüchtlingsfamilien. Ihre Brüder hingegen flohen vor den engen Verhältnissen zu Hause, in denen die Frauen das Regiment hatten, auf die Straße.
Die arabischen Familien waren lange Jahre nur geduldet, als Flüchtlinge erhielten sie keine Arbeitserlaubnis. Ihre Söhne, die in einer Umgebung aufwuchsen, die im Verhältnis dazu geradezu wohlhabend war, schufen Abhilfe. Sie wollten haben, was andere Jugendliche auch hatten. Die Mittel dafür wussten sie sich zu beschaffen. Anfangs war es der Griff in die Kasse eines Zeitschriftenkiosks, der Handtaschenraub oder der Überfall auf kleinere Kinder, denen sie das Taschengeld »abzogen«. Aber im Laufe der Jahre entwickelte sich aus den gelegentlichen Diebstählen immer stärker eine organisierte Kriminalität. Den Status des Einzelnen konnte man an seinem Auto ablesen, wer das teuerste Fahrzeug fuhr, stand in der Rangordnung am höchsten. Ihre Eltern schauten weg – sie waren mit anderen Problemen beschäftigt, mit der dauernden Erneuerung der Aufenthaltsgenehmigung, mit den Bittgängen zum Sozialamt, um endlich eine menschenwürdige Wohnung zu erhalten, mit den kleinen Schwarzarbeiten, um die Familienkasse aufzubessern. Ihre Söhne entglitten ihnen mehr und mehr – solange sie sich nicht mit einer »Deutschen« einließen, keine Drogen nahmen, abends zu Hause waren, dem für die Moschee zuständigen Hoĉa ehrerbietig begegneten und sich auf den Familienfesten anständig zu benehmen wussten, wurden keine Fragen gestellt, was sie den Tag über machten.
Meine älteren Brüder passten auf mich auf, aber nie hat mich einer von ihnen – so wie ich es von anderen Mädchen kannte – beleidigt oder geschlagen, sie haben mit mir geredet, wenn ich mal wieder zu spät nach Hause kam oder mit den falschen Leuten herumhing. Dafür bin ich ihnen bis heute dankbar, es hätte auch anders kommen können. Denn ich wusste oft mehr von den kriminellen Machenschaften im Viertel, als ich wissen sollte. Ich bekam viel aus erster Hand mit – wer weswegen verhaftet wurde, wo sich gerade eine Fehde zwischen den arabischen Clans anbahnte. Ich erfuhr im Dönerimbiss, warum jemand halb totgeschlagen worden war und weshalb der Palästinenser von nebenan seinen Schwager mit einem Küchenmesser abgemetzelt hatte. Im Kiez brodelte die Gerüchteküche, aber nach außen hielt man dicht, aus Furcht vor Rache oder auch aus Sympathie mit den Tätern, die ohnehin oft aus dem eigenen Verwandtenkreis kamen.
Mein großes Vorbild war meine Schwester. So wie sie, die als Erste unter den Balcis und Mirzanlis das Abitur in der Tasche hatte, wollte ich auch werden. Nach dem Abitur fing ich an, Erziehungswissenschaft zu studieren und mit Kindern und Jugendlichen im Rollbergviertel zu arbeiten. Ich wollte dazu beitragen, dass besonders die Mädchen mit mehr Selbstbewusstsein auftreten konnten. Wie sie – auch unter den Jugendlichen selbst – oft behandelt wurden, die vulgären Kellergeschichten, die man herumerzählte, und die erniedrigenden Rufmorde, die betrieben wurden und für die Betroffenen den sozialen Tod bedeuteten, hatten mich schon während der Schulzeit verstört. Dagegen wollte ich etwas tun.
Für viele meiner Schützlinge war ich sowohl Vertraute wie Vorbild – eine, die es »geschafft« hatte und die in diesem Viertel aufgewachsen war und damit immer noch direkten Zugang zu ihrem Milieu hatte. Ich kannte ihre Väter und Mütter, ich kannte die Orte, an denen die Jungen sich trafen, und ich wusste von den Problemen innerhalb der Familien, von der physischen Gewalt, der manche Kinder und Jugendliche ausgesetzt waren. Die Jugendlichen hatten großes Vertrauen zu mir, sie kannten mich seit Jahren und für viele war ich eine Art Brücke zur Außenwelt. Es kam immer wieder vor, dass sich Mädchen und Jungen an mich wandten, wenn sie Hilfe oder nach einer Möglichkeit suchten, von zu Hause wegzukommen, weil ihre Väter und Mütter sie brutal prügelten oder eine Zwangsehe drohte. Dann habe ich ihnen professionelle Hilfe vermittelt und sie ein Stück auf ihrem Weg begleitet.
Über die Jahre konnte man in dem Viertel beobachten, dass die Jungen aus den arabischen und türkischen Familien zunehmend die öffentlichen Plätze besetzten. Die meisten deutschen Familien zogen weg. Sie kapitulierten vor dem Faustrecht, das hier die Straße beherrschte, vor den Machtkämpfen, durch die schwächere Jugendliche, die keinen Familienclan hinter sich hatten, verdrängt wurden. Eine Clique von hauptsächlich arabischen Jungen tyrannisierte die Anwohner und organisierte ihre kriminellen Machenschaften immer unverhohlener. Wer keinen Stress mit ihnen wollte, machte einen großen Bogen um die Plätze, an denen sie sich aufhielten.
Ich war eine von zwei jungen Frauen in einer Jugendeinrichtung, die damals auch für die arabischen Jungen offen war. Zusammen mit zwei männlichen Mitarbeitern, die wie ich als Honorarkräfte dort arbeiteten und ebenfalls im Rollbergviertel aufgewachsen waren, und meiner Kollegin, die als Einzige von uns eine bereits abgeschlossene pädagogische Ausbildung hatte, hielten wir die Einrichtung aufrecht. Von Zeit zu Zeit arbeiteten wir mit Sozialarbeitern und Streetworkern zusammen, die in dieses Viertel kamen und oft bald auch wieder gingen. Viele von ihnen hatten allzu romantische Vorstellungen, wie man mit den Jungen reden und umgehen müsse, um sie »von der Straße zu holen« und von ihren kriminellen Geschäften abzubringen. Ihre Schützlinge dankten es ihnen nicht – für sie waren solche »Gutmenschen« einfach nur »Opfer«, die man wunderbar für eigene Zwecke instrumentieren konnte. Sie verachteten diese hilflosen Helfer, die aus Angst über vieles, was hinter ihrem Rücken vorging, den Mund hielten – auch um ihren eigenen Ruf als erfolgreiche Streetworker nicht zu gefährden. Die meisten Sozialarbeiter verschwanden wieder, ohne etwas zum Besseren gewendet zu haben, einige von ihnen – wie Oliver und seine beiden Kollegen in dieser Geschichte – am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Wir in der »Waschküche« blieben einige Jahre. Die Front der gewalttätigen Jungen mit ihren sexistischen Übergriffen, die auch uns die Arbeit schwer machten, schweißte uns zu engen Verbündeten zusammen. Gerade für die kleineren Jungen im Viertel war die »Waschküche« oft der einzige Rückzugsort vor der Gewalt zu Hause und auf der Straße. Wir spielten und malten mit ihnen – die Möglichkeit, mit Pinsel und Farbe umzugehen, kannten die meisten höchstens aus der Schule. Sie kamen immer pünktlich und hatten große Freude am Malen. Manche brauchten auch einfach nur ein warmes Glas Tee und ein Toastbrot und waren damit glücklich. Heute sind die meisten dieser »Kleinen« im Knast. Weder der Malkurs noch das Toastbrot haben sie davor bewahren können.
Was aus ihnen im Laufe der Jahre werden würde, konnte man an den Lebenswegen der älteren arabischen Jungen zwischen 14 und 19 Jahren studieren. Sie waren für uns schon verloren, als wir mit der Arbeit anfingen. Sie konnten wir nie erreichen, sie folgten dem Vorbild ihrer großen Brüder, die sich im Viertel bereits einen kriminellen Ruf erworben hatten, oder einem wie Aabid, der es vom armen Flüchtlingsjungen zu einer kriminellen Kiezgröße gebracht hatte und unter ihnen als »Mega-Checker« galt. Für den Jungen, den ich in dieser Geschichte »Rashid« nenne, war er das große Vorbild.
Nach vier Jahren in der »Waschküche« kapitulierte ich. Die eigenen Ansprüche an unsere Arbeit waren im Laufe der wachsenden Aggression im Viertel immer bescheidener geworden. Wir atmeten schon auf, wenn die Jungen den Jugendtreff nicht überfielen und sich nicht, wie so oft, einen Schwächeren, ein »Opfer« schnappten, um es heimlich oder auch offen zu quälen. Irgendwann sah ich keinen Sinn mehr darin, durch zwanzig Stunden Freizeitgestaltung in der Woche einen Entwicklungsprozess aufhalten zu wollen, der seinen unvermeidlichen Gang nahm. Der Endpunkt war für mich erreicht, als meine Kollegin eines Tages angegriffen wurde und ich selbst Gewalt anwenden musste, um Schlimmeres zu verhindern. Dieser Vorfall beschäftigte mich lange. Ich hatte keine Lust mehr auf die Gewalt, die ständig in der Luft lag, auf die Zerstörungswut von Jungen ohne Zukunftsperspektive, die sich wie geprügelte Hunde benahmen und jeden bissen, der ihnen nahe kam. Ich zog mich zurück. Ein Jahr später wurde die »Waschküche« geschlossen, die Finanzierung eingestellt.
Verlorene Jahre waren es für mich bei aller Frustration nicht gewesen. In meiner Zeit im Rollbergviertel habe ich mehr über das Leben gelernt als an irgendeinem anderen Ort. Ich habe gelernt, wie Macht entsteht und wie Menschen sich entrechten lassen, wie subtil und variantenreich die Formen von Gewalt sein können, und ich habe mit angesehen, wie Menschen zerstört werden. Aber ich habe auch gesehen, wie zerbrechlich zuweilen selbst die härtesten Typen sind, wenn man hinter ihre Fassade schaut.
So einer war auch Rashid, den ich kennenlernte, als er zehn Jahre alt war. Rashid war ein auffällig schöner Junge, einer, der bei den Mädchen ankam, sich sorgfältig kleidete und smarter war als die meisten seiner Freunde. Er stammte aus einer palästinensisch-libanesischen Familie, die zeitweilig im Araberhaus wohnte. Ein Junge wie er hätte es vielleicht auch in der deutschen Gesellschaft zu etwas bringen können, für seine Familie und sein soziales Umfeld aber war alles Deutsche verachtenswert. Seine Eltern waren Fremde in diesem Land geblieben. Sich mit den Deutschen gemeinzumachen, galt und gilt auch heute noch als »haram«, als Sünde. Nie hätte Rashid es gewagt, seine deutsche Freundin Bea mit nach Hause zu bringen. Vor den Eltern musste er diese Beziehung ebenso geheim halten wie seine Drogensucht, die ihn immer tiefer ins kriminelle Milieu verstrickte. Ich wusste, mit welchen Schwierigkeiten er zu kämpfen hatte. Eine Hilfe konnte ich ihm dennoch nicht sein. Denn je tiefer Rashid fiel, desto mehr Lügen musste er verbergen. Zuletzt wurde er durch seine Drogensucht selbst für Aabid, seinen Chef, zum unkalkulierbaren Risiko. Er betrog ihn um Geld. Vor der Rache des Zuhälters rettete Rashid die Verhaftung und die anschließende Abschiebung.
Ich habe mich entschieden, die Geschichte von Rashid und seinen Freunden wie einen Roman zu schreiben. Alle Namen der hier auftretenden Personen habe ich geändert; manche habe ich mit anderen äußerlichen Attributen ausgestattet; Schauplätze habe ich in andere Straßen von Neukölln verlegt. In Rashids Geschichte habe ich einige wenige Episoden aus dem Leben anderer Jungen hineinmischen müssen, um andere nicht zu gefährden oder die, die inzwischen anderswo ein neues Leben aufgenommen haben, wie auch Rashids Familie, nicht noch wieder mit der Vergangenheit zu konfrontieren. Diese Verfremdungen waren notwendig, um die Beteiligten und auch mich selbst zu schützen.
21 Uhr, die Lichter gehen aus. Rashid hört sein Herz wummern. Er presst sein Ohr auf die Pritsche und hört es immer lauter und schneller schlagen. Es ist dunkel in der kleinen Zelle der Jugendvollzugsanstalt. Er hat Angst.
Es ist Ende Januar, in einigen Tagen wird er 18. Vor wenigen Stunden hat man ihn verhaftet, beim Bruch in die Apotheke in der Niemetzstraße, gemeinsam mit zwei anderen. Rashid wurde erwischt, als er gerade die vielen Medikamentenpäckchen in seine Reisetasche stopfte. Er war der Einzige, der sich in der Apotheke aufhielt, Hamudi und Sami standen draußen Schmiere. Damit galt er als der Hauptschuldige, obwohl die anderen zwei die Anstifter waren.
Sie hatten den Laden schon einmal ausgeräumt. Ein zweites Mal wollte Rashid dort nicht mehr mitmachen, aber Sami hatte ihn getreten, beschimpft und gedroht, Fuad, Rashids Vater, zu erzählen, dass sein Sohn Drogen nimmt. Sami und Hamudi hatten ihn so lange terrorisiert, ihn erpresst, bis Rashid keinen Ausweg mehr sah. Jetzt war er Samis Handlanger und Sami genoss diese Macht, schließlich war es früher einmal umgekehrt gewesen, damals, in Rashids Glanzzeit, als er der Chef im Kiez gewesen war. Ein kleiner Teil der Beute sollte für Rashid sein, schließlich brauche er doch das Zeug, hatten die beiden gehöhnt. Mindestens 50 Milliliter Tilidin musste er nehmen, um den Tag zu überstehen und abends schlafen zu können. Ohne den Stoff kam er auf Entzug, hatte Schweißausbrüche und Schmerzen im ganzen Körper. Dann musste er sich im Keller verstecken, damit die Eltern nichts merkten. Erst wenn alle schliefen, schlich er in sein Zimmer.
Wie konnte das nur passieren? Er hatte doch aufhören, die Drecksarbeit anderen überlassen wollen, das hatte er sich geschworen auf alles, was ihm heilig ist!
Mit kleinen Diebstählen hatte alles angefangen. Als Rashid zehn war, hatte er bei »Kaiser’s« zum ersten Mal eine Tüte Haribo eingesackt. Er wurde zum Wiederholungstäter, bis ihn der Filialleiter erwischte und Rashid von der Polizei nach Hause gebracht wurde. Später spezialisierte er sich auf Zigaretten und Alkohol, an guten Tagen kam er auf zwei Stangen. Er zog sich einen extragroßen Pulli an und schob sich die Schachteln mit einer Hand in den ausgeleierten Ärmel, während er mit den Augen die Kassiererin scharf beobachtete. Aber der Erfolg machte ihn nachlässig: Als die Frau an der Kasse ihn eines Tages am Ärmel packte, um ihn zu überführen, rammte Rashid ihr die Faust ins Gesicht. Ihr trug das eine schwere Prellung ein, Rashid die erste Anzeige wegen Körperverletzung.
Als er mit anderen die ersten »Schlecker«-Filialen überfiel, war Rashid 15, Raub und schwere Körperverletzung waren sein Markenzeichen geworden. Immer wieder bekam er Strafarbeiten aufgebrummt, immer wieder wanderte er für einige Monate in den »Kieferngrund«, eine Jugendarrestanstalt mit der Möglichkeit, tagsüber die Schule zu besuchen oder einer Ausbildung nachzugehen. Nach jeder Strafe bezog er zu Hause Prügel von seinem Vater, mal mit dem Besenstiel, mal mit einem nietenbesetzten Gürtel, den Fuad gern als Peitsche einsetzte.
Der Knast war für Rashid das Schlimmste, lieber ließ er sich schlagen. Nie wieder wollte er in einer Zelle landen, das hatte er sich vorgenommen. Aber jetzt ist es zu spät. Jetzt haben sie mich am Arsch, denkt er. Seinen linken Arm kann er nicht bewegen, so sehr schmerzt er, so heftig hat er mit der Faust auf den Boden geschlagen, vor Wut und Verzweiflung seinen Hinterkopf gegen die Zellenwand gehämmert, immer wieder, bis ihm das Blut aus der Nase geschossen ist.
So elend wie jetzt hat er sich nur vor vielen Jahren gefühlt, als er mit Leila, seiner Mutter, und den drei kleinen Geschwistern vor dem Jähzorn des Vaters auf die Straße flüchten musste. Sein Vater hatte mit dem Gürtel auf ihn eingedroschen, weil Rashids Schneeball dem Nachbarn das Fenster zerschossen hatte. Die Mutter war dazwischengegangen, während seine zwei Schwestern und der kleine Ibrahim zitternd in der Ecke neben dem Dielenschrank hockten und sich weinend aneinanderklammerten. Rashid und seiner Mutter Leila war das Blut aus Mund und Nase gelaufen, so hart hatte der Vater zugeschlagen, immer wieder. Seine Augen waren weit aufgerissen und rot vor Zorn gewesen, sein Gesicht grimmig verzogen. »Ihr Ungläubigen, wollt ihr mein Verderben sein?«, hatte er geschrien, ausgeholt und mit dem Lederriemen das Fleisch der Mutter getroffen. Klatsch, klatsch, klatsch. Rashid kann diesen Tag nicht vergessen, die Bilder dieser Nacht ziehen wie in der Endlosschleife eines Films an seinen Augen vorbei.
Damals hat er sich so geschämt, als die Mutter, die Geschwister und er fast nackt, barfuß und nur mit dünnen Nachthemden bekleidet, hinaus in die dunkle Berliner Nacht auf die Straße flüchteten. Es war Winter, das Blut gefror ihnen in den Mundwinkeln und an den Fingern wie dickflüssige Erdbeermarmelade, der Wind peitschte ihnen Schneeflocken ins Gesicht und überzog die langen Wimpern der Kinder mit kleinen Eiskristallen. Sie hatten Zuflucht in der nächsten Kneipe gesucht, wo die Alkoholiker des Viertels ihre Zeit absaßen. »Können Sie uns helfen, können Sie die Polizei rufen?«, hatte die Mutter atemlos gefleht. Wortlos hatte ihr der Kneipenwirt das Telefon rübergereicht, fast widerwillig, ohne sie auch nur anzublicken. »Immer diese Ausländer, die ihre Frauen verprügeln«, hatte jemand aus einer dunklen Ecke gemurmelt. »Man müsste sie alle nach Hause schicken.«
Rashid hatte die neugierigen Blicke auf seinem durchgefrorenen Körper gespürt und vor Verlegenheit und Unbehagen die Kacheln auf dem Boden gezählt, um die vielen Augen der Gäste ausblenden zu können – ausgerechnet hier, bei diesen Pennern, mussten sie um Hilfe bitten. Je länger er zählte, desto schneller müsste dieser demütigende Augenblick wieder vorbei sein, dachte er, und drückte dabei ganz fest die Hand seiner kleinen Schwester Sara.
Es war das erste Mal gewesen, dass Leila die Polizei gerufen hatte, um sich und die Kinder vor ihrem Mann in Sicherheit zu bringen. Rashid war zehn gewesen, und immer, wenn er an diesen Tag zurückdachte, überfiel ihn dieses Gefühl der Hilflosigkeit und Ohnmacht. So wie jetzt auch.
Nun liegt er hier. Im Dunkeln. Auf einer Pritsche. Im Gefängnis. Noch spürt er nichts vom Entzug, noch wirken die Tropfen, die er sich noch schnell auf die Zunge geträufelt hatte, bevor er die Tür der Apotheke aufbrach. Aber die Hochstimmung, in die ihn Tilidin sonst immer versetzte, war heute im Nu verflogen. In seinen Händen bildet sich eine kleine Tränenpfütze. Er denkt an Amal. Alles steht ihm vor Augen, als wäre es erst gestern oder vor einer Woche geschehen.
Vor zwei Wochen hatte ihm seine Mutter Fotos seiner hübschen Cousine Amal aus dem Libanon gezeigt und sein Vater hatte stolz und ein bisschen feierlich zu ihm gesagt: »Junge, du bist jetzt alt genug. Du solltest endlich heiraten, eine Familie gründen und dein eigenes Leben führen. Dein Onkel Karim will dir seine Tochter geben. Ein gutes Mädchen, sie kümmert sich um den ganzen Haushalt. Sie ist nicht nur schön, sondern auch tüchtig. Mashallah.« Rashid war ein wenig mulmig zumute gewesen bei dem Gedanken, eine Fremde zu heiraten, aber schließlich war es üblich, dass die Eltern auf Brautschau gingen. Und dann wurden Hochzeitspläne gemacht, noch bevor sich das Paar zum ersten Mal gesehen hatte. Es wurde schnell geheiratet und ohne lange zu überlegen, eine Heirat war fast so etwas wie ein überstürzter Friseurbesuch. Und mit einer schlechten Frisur lebte man schließlich auch weiter. Und wenn man erst verheiratet ist, das sagten alle, würde sich der Rest schon ergeben. Blut ist immer dicker als Wasser, hatte Rashid alle Zweifel beiseitegefegt, und ein deutsches Mädchen wie Bea wäre für seine Mutter ohnehin nie in Frage gekommen. Selbst manche türkischen Mädchen aus dem Viertel waren ihr zu freizügig – eine Deutsche aber wäre für sie das Allerletzte. Aber Bea war für ihn ohnehin erledigt, auch wenn er manchmal noch ein leichtes Ziehen verspürte, eine unbestimmte Sehnsucht, wenn er an sie dachte.
Schon als er noch ein kleiner Junge war, hatte seine Mutter ihn damit aufgezogen, ihn einer seiner Cousinen zu versprechen. Am Anfang hatte er sich noch gewehrt. Die meisten seiner Cousinen konnte er nicht ausstehen. Doch im Laufe der Zeit gewöhnte er sich an den Gedanken, so wie alle jungen Leute in seiner Verwandtschaft. Die Eltern unterbreiteten so lange Vorschläge, bis die Richtige dabei war. Und als Junge hatte er es besser als die Mädchen, er konnte häufiger nein sagen. Seine Schwestern würden nicht so wählerisch sein können, schließlich waren fleißige Männer, die eine Familie ernähren konnten, Mangelware unter den arabischen Clans. Es gab zu viele Mädchen. Leila würde schon dafür sorgen, dass er eine gute Hausfrau und Mutter bekam. Und wenn er heiratete, würde er seine Eltern glücklich machen.
Aber jetzt ist an Hochzeit nicht mehr zu denken, er hat andere Probleme. Sein Bewährungsverfahren läuft noch und unter drei Jahren Gefängnis wird er nicht davonkommen. Wenn er während des Vollzugs eine Ausbildung macht, darf er vielleicht nach einem Jahr guter Führung sogar in den offenen Vollzug; manche seiner Freunde, die schon einsaßen, haben das geschafft. Im schlimmsten Fall muss er die Strafzeit absitzen und wird danach womöglich abgeschoben.
Rashids Eltern zählen zu den vielen tausend geduldeten Kriegsflüchtlingen, die hier, in Deutschland, Aufnahme fanden, nachdem Israel 1982 Teile des Südlibanons besetzt hatte und bis West-Beirut vorgedrungen war, der Heimatstadt von Rashids Eltern. Sein Vater ist libanesischer Kurde, die Mutter Palästinenserin. Leila war dabei gewesen, als christlich-libanesische Phalange-Milizen das Massaker von Sabra und Schatila mit Billigung der israelischen Armee verübten. Zwei ihrer fünf Brüder wurden auf offener Straße hingerichtet. Ihr selbst war ein solches Schicksal nur erspart geblieben, weil ein Nachbar sie geistesgegenwärtig ins Haus gezogen hatte. Als die Soldaten abgezogen waren, sah sie Bashir und Amin in einer Blutlache am Boden liegen, ihre Augen waren offen, ihre Blicke leer. Leila rannte zu ihnen, warf sich auf den Boden und umarmte beide so lange, bis die letzte Lebenswärme aus den toten Körpern gewichen war. Nur mit Gewalt gelang es dem Nachbarn, sie von den beiden loszureißen.
Rashid selbst kennt den Libanon gar nicht, er war noch nie dort. Der Vater hatte damals die Flucht nach Deutschland organisiert, während die Großeltern mit den übrigen Familienmitgliedern aus Beirut in den Osten der Türkei flüchteten, wo sie inzwischen in einfachen Verhältnissen am Rande der Stadt Iskenderun leben. Heute ist Fuad froh, einen anderen Weg gewählt zu haben als die übrige Familie – ihnen gehe es hier in Deutschland doch viel besser als den Verwandten in der Türkei. Und doch bleibt Beirut, bleibt der Libanon seine Heimat. Ständig schwärmt er seinen Söhnen vor, der Libanon sei das schönste Land auf Erden, ein Land, in dem verschiedene Religionen und Kulturen friedlich nebeneinander leben könnten, wenn es nicht die israelisch-jüdischen Unruhestifter gebe. Im Libanon gingen die Menschen viel herzlicher miteinander um als in Deutschland, behauptet auch Leila. Doch Rashid hat das nie überzeugt – warum sind seine Eltern denn nicht dahin zurückgekehrt? In seinen Ohren klangen solche Schwärmereien verlogen, der Libanon schien ihm keine Alternative zu seinem Leben in Deutschland. Die Erinnerungen seiner Eltern nervten ihn.
Für Rashid gibt es nur eine Heimat und das ist Berlin, genauer gesagt der Berliner Bezirk Neukölln. Hier ist er geboren, hier ist er aufgewachsen, hier hat er sein ganzes Leben verbracht. Und nun muss er ernsthaft darüber nachdenken, was aus ihm werden soll, wenn er für immer gehen muss. Eine schreckliche Vorstellung, Rashid wird ganz übel bei dem Gedanken, so übel, dass er Brechreiz verspürt. Vorsichtig stützt er sich mit dem rechten Arm auf den Boden, lässt den schmerzenden linken Arm von der Pritsche gleiten und schleppt sich langsam auf allen vieren zum Klo, das links neben der Zellentür steht. Ein niedriges Klo ohne Brille. Noch bevor er es erreicht, übergibt er sich auf den Boden, seine Knie schleifen durch sein Erbrochenes, bis er endlich den Kopf in die Kloschüssel schieben kann. Ätzender Uringeruch steigt ihm in die Nase.
Rashid hat das Gefühl, er müsse sich die Seele aus dem Leib kotzen, all den Dreck, der in ihm steckt, seine Speiseröhre hochquillt und ihn zu ersticken droht. Er will es loswerden, möglichst schnell, damit er endlich gereinigt ist und erleichtert einschlafen kann.
Als er noch klein war, wurde er einmal von einem schlimmen Fieber erfasst; da hielt ihn sein Vater, als er brechen musste. Die warmen, schützenden Hände auf seinem kleinen Kreuz hatten ihm so gutgetan. Er will kotzen, damit alles wieder gut wird, damit dieser Albtraum bald vorbei ist.
Ein Ruck geht durch seinen Körper und schleudert seinen gesamten Mageninhalt auf einmal nach draußen. Rashid umklammert mit dem rechten Arm krampfhaft das Klo, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und drückt sein Kinn ganz fest an den inneren Rand der Keramikschüssel. Nach einigen kurzen Krämpfen im Bauch ist sein Körper bis auf den bitteren Magensaft endlich entleert. Seine Nase blutet wieder stärker und in seinem Mund vermischt sich der Geschmack von Kotze und Blut. Rashid stöhnt, lässt die Kloschüssel los und krümmt sich auf dem Boden vor Ekel und Schmerz.
Im schwachen Mondlicht, das durch die kleine Luke am Kopfende der Zelle fällt, kann er seinen linken Arm erkennen, er scheint gebrochen zu sein. Er tastet ihn vorsichtig ab und fühlt, dass er geschwollen ist. Rashid lässt sich neben der Toilette auf den Boden gleiten und dreht sich erschöpft auf den Rücken. Seine Zähne klappern, so kalt ist der Betonboden. Doch er hat keine Kraft mehr, um sich wieder auf die Pritsche zu ziehen, sein Körper ist ihm fremd, sein Kopf dröhnt und er ringt nach Luft. Er könnte versuchen aufzustehen, sich das Gesicht waschen, den Notknopf drücken und einen Wärter rufen, um seinen Arm überprüfen zu lassen. Aber Rashid fühlt sich so elend, so hundeelend, dass er nichts mehr kann, außer auf dem Boden liegen und wimmern. Er spürt den Entzug in seinem Körper, er braucht Tilidin.
Er erinnert sich nicht mehr, wann er die Droge zum ersten Mal genommen hat, bis vor kurzem belog er sich noch, jederzeit wieder damit aufhören zu können. Inzwischen weiß er, dass es nicht so ist. Er liegt noch eine ganze Weile so da, auf dem Boden. Wie schön es jetzt wäre, zu Hause im Bett zu sein, in seinem Zimmer, das er sich mit seinen Brüdern teilt. Was die jetzt wohl machen? Er träumt von dem heißen Tee, den seine Mutter ihm früher abends immer gemacht hat, und von Amal, dem zarten Mädchen, das er nicht kennt und das seine Frau werden sollte, nun wohl aber doch nicht werden wird. Die Glückliche, denkt er noch, mit so einem Penner wie mir hätte sie ohnehin kein gutes Leben gehabt, als er endlich mit der rechten Hand unter seiner Wange einschläft.
Als die Kälte ihn wenig später aus dem Schlaf reißt, dämmert es draußen schon. Er streicht sich eine dicke Haarsträhne aus dem Gesicht, seine Augenringe sind jetzt noch dunkler als sonst, aber die Schönheit seiner großen schwarzen Augen können sie dennoch nicht mindern. Umgeben von dichten Wimpern und zwei sanft geschwungenen Brauenbögen, die wie gemalt wirken, haben sie immer schon die Mädchen betört. Obwohl ihm sein schlechter Ruf als »Mädchenschläger« vorauseilte, bekam er regelmäßig Handynummern zugesteckt. Mit seinen hohen Wangenknochen, dem gleichmäßigen ovalen Gesicht und dem leichten Irokesen-Haarschnitt wirkte er einfach anmutiger als die meisten arabischen Jungen in seiner Klasse.
Sein gutes Aussehen hätte ihm vor knapp zwei Jahren fast einen Werbevertrag mit »Nike« eingetragen; die Firma entdeckte ihn bei einem Straßencasting, als sie auf der Suche nach »echten Gesichtern« für eine neue Street-Soccer-Kampagne war. Wäre Rashid damals rechtzeitig zum Fotoshooting erschienen, hätte sein Konterfei auf Tausenden von Werbeplakaten das Land geschmückt. Aber er verpasste das Casting, weil er vollauf damit beschäftigt war, die vielen geklauten Motorrollerteile, die sein Freund Sami ihm anvertraut hatte, in einem seiner angemieteten Keller zu verstecken.
Sein sonst so starker, in Aabids Fitnessstudio trainierter Körper, die mit Anabolika aufgepumpten Muskeln, alles an ihm ist jetzt schwach. Ganz in sich zusammengesunken, sitzt er zitternd da – als habe man aus einem prall gefüllten Ballon plötzlich die Luft herausgelassen. Als er sich aufzurichten versucht, kann er die Tränen und Flüche über die Schmerzen in seinem Arm nicht mehr zurückhalten. Es fällt ihm schwer zuzugeben, dass er Schmerzen hat, die er nicht erträgt und die ihn zum Heulen bringen. Mühsam schleppt er sich zum Waschbecken, das gleich neben der Toilette hängt, und hält seinen Kopf unter das fließende kalte Wasser. Dann lässt er sich auf die Pritsche fallen, starrt einen Moment lang in die dunkle Zelle, bis er schließlich doch den Notknopf drückt. Er will vor den Bullen keine Schwäche zeigen – diese Hurensöhne sollen mich nicht weinen sehen, denkt er. Hastig bemüht er sich, die Tränen mit seinem schmutzigen Pulliärmel aus dem Gesicht zu wischen. Er ist aufgeregt, sein Herz klopft ihm bis zum Hals, er überlegt, was er sagen soll, wenn sie kommen. Soll er zugeben, dass er Schmerzen hat? Oder soll er so tun, als sei der Arm zufällig angeschwollen, und behaupten, er wisse auch nicht, warum, habe aber vorsichtshalber Bescheid geben wollen?
Noch bevor Rashid sich einen Satz zurechtlegen kann, öffnet sich das Schloss der Stahltür, das Licht geht an und ein gedrungener älterer Mann mit rundem Kopf steht vor ihm: »Na, mein Junge, was haben wir denn für ein Problem?« Ehe Rashid antworten kann, hat der Wärter den geschwollenen Arm entdeckt. »Was ist denn mit dir passiert?« Rashid bleibt stumm. Eigentlich wollte er den Bullen beleidigen, wollte ihm sagen, dass er, Rashid, keine Angst vor ihm habe. Jetzt sitzt er da auf seiner Pritsche und findet den Wärter gar nicht so unsympathisch. Er kann ihm gegenüber nicht wütend werden, so wie er es vorhin war, als er festgenommen wurde. Hätte er ein Maschinengewehr gehabt, hätte er sie alle niedergemäht, diese Schweine. Ohne zu zögern, hätte er sie getötet, da war er sich sicher. Jetzt aber kann er nicht hassen und auch das macht ihn wütend. Die Wut schnürt ihm die Kehle zu, er hat einen Druck im Kopf, als würde der gleich explodieren. Damit hat Rashid nicht gerechnet. Trotzdem will er es nicht zulassen, den älteren Herrn sympathisch zu finden. »Das ist auch nur so ein deutscher Bulle, dem ich egal bin«, denkt er. Der Wärter reicht Rashid wortlos ein Taschentuch und ruft einen Sanitäter.
Das Röntgenbild zeigt einen glatten Bruch. Gab es eine körperliche Auseinandersetzung bei der Festnahme? Nein. Dann habe er sich den Arm wohl selbst gebrochen, stellt der Arzt fest. Rashid lässt das kalt, er bekommt eine Spritze gegen die Schmerzen und dann wird sein Arm eingegipst. Trotzig sitzt er auf der Pritsche, seine Augen wandern immer wieder zu dem kleinen Medizinschränkchen. Ob da wohl Tilidin drin ist?, schießt es ihm durch den Kopf, der Stoff, den er jetzt so dringend bräuchte, dringender als alles andere. Das Mittel, das ihn die letzten Monate glücklich und high, schmerzunempfindlich und aggressiv gemacht hat. Wenn nur der Arzt einen Augenblick lang unaufmerksam sein und sich so eine Möglichkeit bieten würde, in den Schrank zu gucken! Rashid würde die Gelegenheit sofort beim Schopfe packen, ohne lange zu überlegen, auch wenn die beiden Wärter, die an der Tür stehen, ihn dabei packen könnten. Das ist ihm egal, das Risiko wäre es wert. Er hat schon andere Dinger gedreht, um sich seine Glückstropfen zu beschaffen – sogar seine eigene Mutter beklaut. Warum sollte er davor zurückschrecken, einen Knastarzt zu beklauen? Im Gegenteil: Diese blöden Wichser hier im Knast zu verarschen, gibt ihm einen Adrenalinschub und das Gefühl, überlegen zu sein. Aber bevor sich auch nur die kleinste Chance auftut, an den Schrank zu kommen, sitzt Rashid schon wieder in seiner Zelle.
Die Vögel zwitschern, Sonnenlicht dringt durch das winzige Fenster, Blut und Kotze sind beseitigt. Der Geruch von Citrus-Putzmittel erfüllt die Luft. Rashid legt sich auf die Pritsche, gleich soll er dem Haftrichter vorgeführt werden, im Schnellverfahren. Das ist so üblich bei »jugendlichen Intensivtätern«. Das sind solche wie er, die meist schon vor ihrer Strafmündigkeit straffällig geworden sind, ein ganzes Register an Vorstrafen haben und in ihrem sozialen Verhalten keine Besserung erkennen lassen. In den Augen der Justiz sind sie wegen ihrer hohen kriminellen Energie und ihrer Gewaltbereitschaft so etwas wie tickende Zeitbomben – Rashid weiß das, er hat sich diesen Sermon schon wiederholt anhören müssen.