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Das Buch

Packende Romantasy: Kann wahre Liebe Grenzen überwinden?

Schon der erste Blick in Jacks meeresblaue Augen, lässt Lizzies Herz höher schlagen. Doch sie kann die Zeit mit ihm nicht richtig genießen, denn in dem kleinen Küstenort Lavender verschwinden immer wieder Menschen spurlos – und Lizzie wird das Gefühl nicht los, dass Jack etwas damit zu tun hat. Kann sie ihm überhaupt vertrauen? Als ihre beste Freundin Sophie verschwindet, stellt Lizzie Jack zur Rede. Das Geheimnis, das er ihr offenbart, stellt ihr Leben auf den Kopf. Ist ihre Liebe zum Scheitern verurteilt?

Die Autorin

© privat

Johanna Rau ist 1995 im Ruhrgebiet geboren, wo sie zusammen mit ihrer Familie lebt. Zurzeit studiert sie Jura an der Ruhr-Universität Bochum. Schon immer hat sie gerne gelesen und sich kleinere Geschichten ausgedacht. Wenn sie nicht gerade Musik macht, rezensiert sie Bücher auf ihrem Blog „Unendliche Geschichte“. „Tiefseeherz“ ist ihr Debütroman und weitere Ideen warten bereits darauf, bald aufgeschrieben zu werden.

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Johanna Rau

Tiefseeherz

Für meine Familie

Prolog

Nichts ist so wie das Meer.

So unsagbar weit, so unendlich tief,

so wild und so wunderschön.

Nichts ist so wie das Meer.

So faszinierend, so unbegreiflich und

so beängstigend mächtig.

Nichts ist so wie das Meer.

Ein Mysterium, das sich den Menschen nie vollständig

erschließen wird.

Das Meer kann Leben zerstören,

dennoch kann es kein Leben geben,

ohne das Meer.

1. Kapitel

Vom Meer verschluckt

„Ich möchte nicht, dass du weiterhin in den abgelegenen Buchten schwimmen gehst!“ Mum ist völlig aufgebracht und gestikuliert wild mit den Armen in der Luft, als dirigiere sie gerade ein neunzig Mann großes Sinfonieorchester kurz vor einem sich ins fortefortissimo steigernden Finale. „Und schon gar nicht alleine!“

Genervt rolle ich die Augen und stoße betont geräuschvoll Luft aus. Keine Ahnung, wie oft wir diese Diskussion schon geführt haben.

„Ich kann sowieso nicht verstehen, warum du nicht wie jeder normale Mensch einfach zum Badestrand gehst. Sag du doch auch mal was, Martin!“ Mum verschränkt die Arme vor der Brust und sieht Dad herausfordernd an.

„Deine Mum hat recht“, pflichtet er ihr bei, wie er es eigentlich immer tut. Dann legt er sein Besteck zur Seite und schaut mich direkt an. Kleine Sorgenfältchen bilden sich auf seiner Stirn, die mir bedeuten, dass es in diesem Fall um mehr geht als nur darum, Mum zu besänftigen. „Es ist erneut ein Schwimmer vor der Küste von Farefax spurlos verschwunden und wir haben keinen blassen Schimmer, was mit ihm passiert ist. Auch von ihm fehlt jede Spur. Er ist einfach weg, als hätte das Meer ihn verschluckt, genauso wie die anderen.“ Nachdenklich schüttelt er den Kopf. „Wir sind in der Sache immer noch nicht weitergekommen. Wir wissen nicht einmal, ob die verschwundenen Personen noch am Leben oder bereits tot sind. Leichen haben wir jedenfalls keine gefunden.“

„Das ganze Salzwasser ist sowieso nicht gut für die Haut. Und was es erst mit den Haaren anstellt“, wirft meine Schwester Kate mit einem angeekelten Blick ein. „Ich gehe sowieso lieber ins Schwimmbad!“ Verständnisvoll nickt Mum ihr zu, doch Dad sieht mich weiterhin beharrlich an und würdigt Kates unqualifizierten Kommentar mit keiner Reaktion. Ihm ist die Sache ernst. Das kann ich deutlich erkennen. Dad arbeitet bei der Wasserschutzpolizei und sein gesamtes Team ist den mysteriösen Vermisstenfällen schon eine ganze Weile auf der Spur. Allein im letzten halben Jahr sind in den umliegenden Küstenorten zwölf Menschen auf geheimnisvolle Weise verschwunden.

Beruhigend lege ich meine Hand auf seine. „Dad, ich verspreche dir, dass ich auf mich aufpasse, aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich nicht mehr im Meer schwimmen werde …“ Einen kurzen Moment halte ich inne, um ihn eindringlich anzusehen. Dann füge ich fast flüsternd hinzu: „Das weißt du doch …“ Genauso gut könnte er mich bitten, nicht zu atmen oder sonst eine überlebenswichtige Vitalfunktion vorübergehend einzustellen.

Dad seufzt. „Ich weiß, mein Schatz.“ Behutsam umfasst seine große warme Hand meine zarte und kleine. „Versprich mir nur, dass du nicht außerhalb des Badebereiches schwimmst und dass du Sophie oder wen auch immer mitnimmst, damit du nicht alleine bist!“

„Ich verspreche es, Dad!“, lüge ich schweren Herzens, obwohl ich weiß, dass keine der hier im Raum anwesenden Personen, einschließlich mir selbst, auch nur ein einziges Wort von dem glaubt, was ich sage.

„Mum, ich muss dir noch unbedingt dieses wunderschöne Hochzeitskleid zeigen, das ich heute im Internet gefunden habe“, ruft Kate in einem plötzlichen Anflug von Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, holt ihr Smartphone aus der Tasche und zieht Mum hinter sich her ins Wohnzimmer auf die Couch. Meine Schwester Kate ist all das, was ich nicht bin. Sie hat langes hellblondes Haar und ist immer perfekt gestylt. Seit zwei Jahren ist sie mit der Schule fertig und macht jetzt eine Ausbildung im Touristikbüro von Lavender, dem kleinen Küstenort, in dem wir leben. Seit ich denken kann, gehört Kate zu den coolen Mädchen. Während der Schulzeit waren sie und ihre drei besten Freundinnen die Clique gewesen, zu der alle anderen normalsterblichen Mädchen gerne gehören wollten. Schon seit der achten Klasse geht sie mit Steven, einem der beliebtesten Jungen der Stadt, und seit Kurzem sind die beiden sogar verlobt. Mum ist unsagbar entzückt darüber, dass wenigstens eine ihrer Töchter wohlgeraten ist und in naher Zukunft für zuckersüße Enkelkinder sorgen wird, die sie dann nach Strich und Faden beturteln und verwöhnen kann. Überhaupt sind Mum und Kate ein unschlagbares Team, zu dem ich mich noch nie zugehörig fühlte.

„Ich gehe noch eine kleine Runde am Strand spazieren oder brauchst du hier meine Hilfe?“ Fragend sehe ich Dad an, der in aller Ruhe den Tisch ab- und die Teller in den Geschirrspüler einräumt.

„Nein, geh nur, ich komme zurecht“, sagt er und lächelt mich müde an. In letzter Zeit ist er meistens ziemlich abgespannt, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kommt. Der ganze Stress wegen der verschwundenen Personen und dass es bei den Ermittlungen kein Vorankommen gibt, machen ihm schwerer zu schaffen, als er es uns gegenüber jemals zugeben würde. „Ich werde wohl eh gleich ins Bett gehen und noch ein bisschen lesen. Mein Krimi ist gerade super spannend.“ Sicher wird es keine fünf Minuten dauern, bis ihm sein Buch auf die Nase fällt und er einschläft. Erschöpft reibt er sich die Schläfen. „Außerdem weiß ich nicht, ob ich noch mehr Gerede über Spitze und Tüll ertragen kann.“

Bekräftigend nicke ich und grinse ihn an, denn ich kann nur zu gut verstehen, was er meint. Mir geht es ähnlich. Seit Kate und Steven vor einigen Wochen ihre Verlobung bekannt gegeben haben, ist die hysterische Hälfte meiner Familie einem beinahe unerträglichen Hochzeitswahn verfallen. Und ich befürchte, dass da noch deutlich Luft nach oben ist.

„Sei aber zurück, bevor es dunkel wird, und pass auf dich auf!“

„Natürlich, Dad. Danke.“ Beruhigend drücke ich ihm einen Kuss auf die Stirn. Dad und ich sind ein Herz und eine Seele. Für Mums und Kates Hang zu Sensationen und dem neuesten Klatsch und Tratsch haben wir beide nicht viel übrig. Dad ist eher ein ruhiger Zeitgenosse und was andere tun oder nicht tun und vor allem, was sie von ihm denken oder über ihn reden, ist ihm herzlich egal. Zum Glück bin ich ihm in dieser Hinsicht sehr ähnlich. Alles andere wäre mir viel zu anstrengend.

Es ist Anfang September und noch sehr mild für diese Jahreszeit. Auch wenn ich nur ein leichtes Top und Shorts trage, friere ich nicht. Der Abend ist ganz klar und ein lauer Wind weht durch Lavender. Die Luft riecht nach Salz, nach Sand und nach Meer. Über den kleinen gepflasterten Weg schlendere ich am Hafen entlang Richtung Strand. Vorbei an den kleinen Geschäften mit ihren bunten Markisen. Vorbei an dem Touristikbüro, in dem Kate arbeitet, an Fischers, dem örtlichen Geschäft für Meeresspezialitäten, und an Lavenders winzigem Souvenirlädchen, in dem man kleine Leuchttürme aus Keramik, Schlüsselanhänger mit Seesternen, T-Shirts und Pullover in blau-weiß gestreifter Marineoptik und alles andere kaufen kann, was das Touristenherz begehrt. Die roten Backsteine der Häuschen, die nur eine autofreie Promenadenstraße vom Hafenbecken trennt, sehen im Licht der untergehenden Abendsonne beinah so aus, als würden sie glühen. Um diese Uhrzeit haben die Geschäfte selbstverständlich alle geschlossen und in Lavender ist Ruhe eingekehrt. Lediglich einige wenige Leute trifft man vereinzelt noch an. Zum Beispiel diejenigen, die sich nach dem Abendessen zu einem entspannten Verdauungsspaziergang aufgerafft haben, oder diejenigen, die mit bunten Wasserbällen und Klappliegen bis jetzt am Strand ausgeharrt haben. Wer abends etwas erleben möchte, der fährt nach Farefax, die nächstgrößere Stadt etwa zwölf Kilometer nördlich von hier.

Die Boote der einheimischen Fischer tanzen mit den Bewegungen der Wellen, die sich mit einem sanften Geräusch an den Hafenmauern brechen. Um vier Uhr heute Nacht werden die Fischer schon wieder aufs Meer hinausfahren und am frühen Vormittag voll beladen mit Fischen, Muscheln und allen anderen Köstlichkeiten des Meeres zurückkehren, die dann bei Fischers und im Tante-Emma-Laden in der kleinen Einkaufspassage fangfrisch verkauft oder mit denen die umliegenden Restaurants beliefert werden.

Neben der Fischerei ist die Haupteinnahmequelle für die Bewohner von Lavender der Tourismus. Unser kleines Städtchen, das trotz zunehmender Besucherzahlen und Modernisierungen im Laufe der Zeit seinen urigen, maritimen Charme nicht verloren hat, ist eine echte Perle unter den umliegenden Küstenstädten. Eigentlich jeder, der in Farefax oder in einer anderen größeren Stadt in der Nähe Urlaub macht, kommt mindestens einmal mit dem Fahrrad über den Deichweg hierher, um sich von Lavenders Charme verzaubern zu lassen. Auch Familien mit Kindern, die etwas weiter im Inland leben, besuchen unser Örtchen an den Wochenenden, um hier den Stress ihrer Arbeitswoche für ein paar Stunden zu vergessen.

Doch zu dieser Zeit im Jahr haben die meisten Urlauber ihren Aufenthalt beendet und wir Einheimischen können nun in völliger Ruhe und ohne größere Menschenmengen die letzen warmen Tage des Jahres genießen.

Als ich den Hafen hinter mir gelassen habe und am Sandstrand angekommen bin, ziehe ich meine Schuhe aus, nehme sie in die Hand und laufe durch den warmen Sand bis zum Wasser. Das kühle Nass umspielt meine Waden und der Wind weht mir um die Nase. Sehnsüchtig strecke ich mein Gesicht Richtung Abendsonne und atme ein. Ganz lange und ganz tief. Mit der Luft, die in meine Lungen strömt, überkommt mich ein Gefühl von Freiheit.

Das Meer gehört zu mir wie Adam zu Eva, wie Romeo zu Julia und wie Arielle zu Erik. Dass das Meer meine große Liebe ist, habe ich schon als kleines Mädchen überall stolz erzählt, woraufhin Mum immer nur ungläubig den Kopf schüttelte und entnervt die Augen verdrehte. Schon mein ganzes bisheriges Leben habe ich am Meer verbracht und ich bin mir sicher, dass das auch immer so bleiben wird. Ich liebe dieses Leben, Seite an Seite mit der Natur. Und das jeden Tag ein bisschen mehr. Mein Dad hat seine Leidenschaft für das Meer zu seinem Beruf gemacht und arbeitet bei der Wasserschutzpolizei. Ich werde es ihm gleichtun. Meeresbiologin ist mein Traumberuf, weil ich so das Unergründliche des Meeres erforschen kann, das mich so sehr fasziniert. In Farefax gibt es eine tolle Universität, wo ich meinem Traum näherkommen möchte. Und auch wenn es gar nicht mehr so lange dauert, bis ich meinen Abschluss habe, scheint mir das alles aber noch in sehr weiter Ferne zu liegen.

Während ich unbeschwert durch den weichen Sand schlendere, bücke ich mich hin und wieder, um ein Stückchen Meeresglas aufzuheben, diese kleinen vom Meerwasser und Sand abgeschliffenen Scherben alter Glasflaschen. Meistens findet man weißes und grünes Meeresglas, aber am liebsten mag ich das blaue. Denn das schimmert am schönsten, wenn es im nassen Sand liegt und von der Sonne beschienen wird.

Schon seit Jahren hebe ich jedes Stückchen auf, das ich finde, und nehme es mit nach Hause. Mum füllt noch immer geduldig meine Fundstücke in jede erdenkliche Art von Deko-Gefäß, die im ganzen Haus verteilt sind.

Ich gehe weiter bis zum Ende des offiziellen Badestrandes. Hier wird die Küste steiniger und das Meer rauer. Heute Abend ist Ebbe, sodass das Wasser sich weitestgehend zurückgezogen hat und ich problemlos auf den Steinen zwischen den Gezeitentümpeln weiterklettern kann.

In diesen Bereich des Strandes verschlägt es nur wenige Menschen. Für Urlauber mit kleinen Kindern ist der felsige Untergrund nicht geeignet und das Meer zu unruhig und wild. Aber um diese Uhrzeit hat man hier so oder so seine Ruhe. Die untergehende Sonne wärmt mir den Rücken. Schließlich lasse ich mich auf meinen Lieblingsfelsen sinken. Sofort rückt der Alltag in weite Ferne, und ich schließe meine Augen. Dieser Ort hat eine ultraentspannende, wenn nicht sogar meditative Wirkung auf mich. Oftmals neige ich dazu, zu vergessen, was für ein Glück ich habe, hier zu leben, wo andere Menschen Urlaub machen. Aber hier an diesem Ort, in Momenten wie diesem, wird es mir wieder schlagartig bewusst. Denn auch wenn man als Jugendlicher, der in Lavender wohnt, nicht mal eben ins Kino oder ins Einkaufscenter um die Ecke gehen kann, ist doch eigentlich alles hier, was ich brauche. Nirgendwo auf der großen weiten Welt möchte ich lieber leben als in Lavender.

Erst als die Sonne völlig hinter dem Horizont versunken ist und ich zu frösteln beginne, richte ich mich auf und rekele mich ausgiebig. Wenn ich wenigstens eines der Versprechen halten will, die ich Dad heute gegeben habe, ist es längst Zeit aufzubrechen. Schweren Herzens reiße ich mich los und mache mich auf den Heimweg.

2. Kapitel

Frösche und Prinzen

„Na, schönes Mädchen?“, flüstert mir eine schmierige Stimme, bei deren Klang sich mein Gesicht wie von selbst schmerzverzerrt verzieht, viel zu nah von hinten in mein Ohr. Um Zeit zu schinden und das Unvermeidliche hinauszuzögern, schiebe ich die Tür meines Schließfachs extra langsam zu. Dann drehe ich mich um.

„Hey Phil“, sage ich freundlich, aber so genervt, dass er unmissverständlich verstehen müsste, dass ich kein Interesse an einem Gespräch habe.

Phil ist der jüngere Bruder von Steven und der Mädchenschwarm der Schule. Mit dem typischen Surferboy-Look – blondes, schulterlanges Haar, markante Muskeln, braune Haut, die sogar in der Schule glänzt, als hätte er sie extra eingeölt, und Lederkette mit Surfbrettanhänger um den Hals ist er für einen objektiven Betrachter ganz offensichtlich alles andere als unattraktiv. Aber für meinen Geschmack ist Phil mehr als nur eine Spur zu schmierig. Außerdem … was nutzt ein Engelsgesicht, wenn dahinter geistiges Vakuum herrscht?

Alle meine Mitschülerinnen würden für ein Date mit Phil wahrscheinlich morden. Doch auf rätselhafte Weise ist er seit Ewigkeiten ausgerechnet hinter mir her. Warum auch immer. Mit einem Fingerschnippen könnte er jedes andere Mädchen der Schule haben. Und das hat er auch. Eins nach dem anderen oder auch mal mehrere gleichzeitig. Trotzdem scheint es für ihn zu einem spannenden Spiel geworden zu sein, ausgerechnet das verrückte Mädchen herumkriegen zu wollen, das alle Jungen immer abblitzen lässt. Darf ich vorstellen? Vorhang auf für … mich!

„Heute Abend, zwanzig Uhr. Ich hol dich ab“, redet er ungeachtet meiner deutlichen Signale weiter. „James´ Eltern sind nicht zu Hause, und er veranstaltet eine kleine House-Party.“ Angestrengt ringe ich nach einer originellen Antwort, mit der ich Phil in der Vergangenheit noch nicht habe abblitzen lassen. Was gar nicht so einfach ist, wo er doch mindestens alle zwei Tage aufs Neue sein Glück versucht. Man möchte meinen, dass irgendwann ein Lerneffekt einsetzen würde. Aber Pustekuchen!

„Das ist ein sehr schmeichelhaftes Angebot, Phil, aber nein danke!“, versuche ich also die Konversation mit der Pflaster-Methode möglichst schnell und schmerzlos zu beenden.

„Lizzie, Süße!“, setzt er an, legt mir seine schwitzig-warme Hand auf die Schulter und kommt mir schon wieder viel zu nah. Seine Mundwinkel verziehen sich zu einem Grinsen, so breit, als würde er gerade als Model für Zahnpastawerbung vor der Kamera posen. „Du musst dir wegen deiner Eltern keine Sorgen machen. Deine Mutter wird sicher entzückt sein, wenn sie dich in so guter Begleitung weiß, wie ich eine bin!“

Einen kurzen Moment befürchte ich, mein Frühstücksmüsli würde den umgekehrten Weg gehen, um noch einmal „Hallo“ zu sagen. Das wirklich Frustrierende aber ist, dass Phil wahrscheinlich sogar recht hat. Allein der Gedanke, ich könnte ein Date mit ihm haben, würde Mum wahrscheinlich von den Füßen reißen und schon die Einladungskarten für unsere Hochzeit aussuchen lassen. Ich kann es mir bildlich vorstellen.

„Sie ist heute Abend schon mit mir verabredet.“ Sophie taucht wie aus dem Nichts auf und schiebt sich wie ein schützendes Bollwerk zwischen Phil und mich. Meine Rettung! Phil ist sichtlich genervt und gibt sich nicht einmal die geringste Mühe, seine Mimik unter Kontrolle zu halten.

„Ihr könnt doch auch ein anderes Mal rumglucken und über Bücher quatschen oder was ihr sonst so Langweiliges unternehmt“, giftet er Sophie mit einem zornigen Blick an, womit nur noch einmal mehr bewiesen ist, dass ich eher mit Kate einen Shoppingmarathon machen würde, als mich mit ihm zu verabreden. Doch Phil weiß, dass er bei einem Kampf gegen Sophie nicht den Hauch einer Chance hat. Er hat verloren – wieder einmal. Schmollend dreht er sich um und zieht leise fluchend davon. Ich meine, noch so etwas wie „Du weißt ja nicht, was du verpasst“ zu hören.

„Kein Grund für überschwänglichen Dank! Du weißt ja, welche Eissorte ich am liebsten mag!“, albert Sophie herum, hebt mit den abgespreizten kleinen Fingern ihr T-Shirt rechts und links an, als wäre es ein Kleid, und deutet einen vornehmen Knicks an.

„Was würde ich nur ohne dich tun?“, frage ich und drücke sie ganz fest an mich. Und ich meine es vollkommen ernst. Ohne Sophie wäre vieles unerträglich und sinnlos. Sie ist meine beste Freundin, seit ich denken kann. Sie hält zu mir, absolut bedingungslos und ich kann mit ihr über alles quatschen, ohne dass sie mich für verrückt hält oder schon morgen die ganze Schule genauestens Bescheid weiß. Äußerlich ist Sophie das genaue Gegenteil von mir. Sie ist nicht gerade groß – „Kaum einen Kopf größer als eine Fußmatte“, neckt mein Dad sie manchmal liebevoll – hat braunes zotteliges Haar, das zu bändigen sie bereits in der Grundschule aufgegeben hat, trägt eine Brille und hat, wie sie selbst sagt, ihren Babyspeck noch immer auf den Hüften.

„Ich esse einfach zu viel und zu gerne“, sagt sie immer fröhlich und ich finde das völlig okay. Sophie hat sicherlich das, was viele Leute als „Ecken und Kanten“ bezeichnen würden, und nicht jeder kommt mit ihrer kecken Art und ihrem losen Mundwerk klar, aber ich finde, sie ist einfach die perfekte Freundin. Und zwar genau so, wie sie ist. Wir zwei sind hundertprozentig auf einer Wellenlänge. Es klingt kitschig, aber unsere Herzen schlagen zweifellos im selben Takt. Wir teilen unseren Hang zu romantisch-kitschigen Romanen – was wohl unsere Sehnsucht nach dem Märchenprinzen ausdrückt, der allerdings im echten Leben schlicht und ergreifend nicht auftaucht, weil er vergisst, sein weißes Pferd zu tanken, oder bei Sonnenuntergang vor der Playstation hockt –, außerdem unsere Vorliebe für überdimensionierte Eisbecher. Aber vor allem teilen wir unsere unendliche Liebe für das Meer.

„Auf, auf zu Physik!“, ruft Sophie mit gespielter Euphorie und nimmt meine Hand. Während ich mich von ihr zum Physikraum hinterherziehen lasse, muss ich schmunzeln. Sophies ständige gute Laune ist so ansteckend, dass sie mir schon viele trübe Vormittage gerettet hat und sogar eine langweilige Physikstunde bei Frau Meyer auf wundersame Weise irgendwie einigermaßen erträglich macht.

Im Schwimmunterricht sitzt Sophie auf der Bank. Seit Neuestem steht sie auf Leon aus unserem Schwimmkurs und hält sich momentan nicht für „Bikini-ready“ genug, oder wie auch immer sie es genau nennt, um sich vor ihm in Bademode zu zeigen. Meine lautstarken Proteste, dass sie doch spinne, hat meine beste Freundin einfach abgewehrt. Wenn sie auch sonst vor Selbstbewusstsein nur so strotzt, sobald Sophie die rosarote Brille trägt, wirft sie all ihre Prinzipien über Bord.

„Na, Sophie, hast du mal wieder deine Tage?“, zieht Phil sie auf und kichert im Vorbeigehen albern mit John herum. John ist Phils bester Freund, der vermutlich nur wegen ähnlich geringem Gehirnvolumen über jeden von Phils Witzen lacht. Und das soll schon wirklich etwas heißen, denn Phils Witze sind, bedauerlicherweise, wahrscheinlich völlig unbeabsichtigt, flacher als jeder Flachwitz.

Sichtlich unbeeindruckt zieht Sophie ihre Augenbraue hoch. Mehr als ein trockenes „Tja, weibliche Intelligenz hat halt ihren Preis. Aber davon verstehst du natürlich nichts“ hat sie für Phil nicht übrig. Von ihrer coolen Art und ihrer Schlagfertigkeit müsste ich mir echt mal eine Scheibe abschneiden. Denn mir fallen die wirklich guten Sprüche immer erst fünf Minuten später ein, wenn es dann leider zu spät ist. Irgendwann gebe ich einfach mal ein Buch mit dem Titel Alle schlagfertigen Antworten, die ich nie gegeben habe, weil mein Gehirn leider zeitversetzt arbeitet oder so ähnlich heraus.

Kopfüber springe ich in das kühle Nass. Mit ein paar ruhigen und kräftigen Zügen entferne ich mich binnen weniger Sekunden vom Beckenrand. Im Wasser bin ich in meinem Element, kann allen Trubel um mich herum vergessen und von einer auf die nächste Sekunde völlig abschalten. Ausgelassen ziehe ich meine Bahnen.

Auch heute sind sie wieder da. Die Stimmen des Wassers. Schon lange erschrecke ich mich nicht mehr, wenn sie plötzlich da sind, denn sie begleiten mich schon ewig. Wann genau es anfing, dass ich sie hörte, weiß ich nicht, aber ich muss noch sehr klein gewesen sein – vielleicht vier oder fünf Jahre? –, da ich mich nicht daran erinnern kann, je ohne sie gewesen zu sein. Ich nehme sie immer ganz deutlich wahr und doch scheinen sie zu weit weg, als dass ich verstehen könnte, was genau sie sagen. Fast so, als würden sie in einer fremden Sprache sprechen. Manchmal kommen mir ihre Klänge aber auch bekannt vor, so als würde ich sie von anderswo her kennen.

Als kleines Kind begeisterten und faszinierten mich die Stimmen zugleich und ich freute mich geradezu auf ihre Gesellschaft, wenn ich schwimmen ging. Mit zunehmendem Alter ängstigten sie mich mehr und mehr. Mir wurde bewusst, dass niemand anderes sie hören konnte. Was stimmte nicht mit mir? War ich möglicherweise verrückt? Ich versuchte, die Stimmen zu ignorieren, ihnen auszuweichen. Doch das wäre nur möglich gewesen, hätte ich das Wasser und das Meer gemieden, und das war für mich nie eine Option gewesen. Nach und nach gewöhnte ich mich schließlich an ihre Gegenwart und ihr melodiöser Singsang ist mir inzwischen so vertraut, dass ich sie jedes Mal freundschaftlich begrüße, wenn sie zu mir zurückkehren. Es klingt absurd, aber sie sind ein Teil von mir geworden, und irgendwie bin ich beinahe stolz, auf diese besondere Weise mit dem Wasser verbunden zu sein. Sie sind mein Geheimnis, von dem ich, außer Sophie, bis heute niemandem erzählt habe. Und sie hat es, ganz die beste Freundin, gelassen aufgenommen und keine Sekunde daran gezweifelt, dass ich die Wahrheit sage, oder mich gar für irre gehalten. Die Stimmen sind nicht immer da, aber egal wie viel Zeit auch vergeht, in der ich sie nicht hören kann, irgendwann kommen sie zurück. Seit einigen Jahren haben mich die Stimmen fast gar nicht mehr verlassen. Wann immer ich abtauche, unter Wasser bin, sind sie ebenfalls da.

Schnaufend lasse ich mich auf die Fliesen neben Sophie fallen. Während die anderen im Wasser weiterhin von Trainer Tibolt angetrieben werden, habe ich mein Pensum für heute bereits hinter mir. Trainer Tibolt ist der einzige Sportlehrer an unserer Schule, weswegen jeder Schüler in den Genuss seiner Unterrichtsstunden kommt. Es wird erzählt, dass er früher mal kurz vor einer Olympiaqualifikation stand und dann wegen einer Verletzung nicht antreten konnte. Darum, so macht es die Runde, trainiert er seine Schüler besonders verbissen und mit einem leicht übersteigerten Ehrgeiz. Einzig sein bemerkenswert muskulöser Körper lässt noch erkennen, dass er einst ein Spitzensportler gewesen sein muss. Und überhaupt ist er für einen Lehrer überdurchschnittlich gut aussehend. Doch bei seinem strengen Regiment kann ihn das auch nicht herausreißen. Sicher ist er derjenige, der maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass mindestens neunzig Prozent aller Fehlstunden an unserer Schule Sportstunden sind. Sophie nennt ihn „den Sklaventreiber“ und so ganz unrecht hat sie damit nicht. Glücklicherweise hat Trainer Tibolt selten etwas an mir auszusetzen, zumindest wenn es ums Schwimmen geht, weil ich nicht nur eine gute, sondern auch auf lange Distanzen eine unsagbar schnelle Schwimmerin bin, sodass ich meistens weit vor meinen Mitschülern fertig bin.

„Igitt, Lizzie, du machst mich ganz nass“, kreischt Sophie, die ich aus einer intensiven Betrachtung ihrer Fingernägel reiße.

„Willst du noch mehr?“, frage ich herausfordernd und deute eine Umarmung an, woraufhin sie sich quietschend wegduckt.

„Schau dir nur diesen Körper an!“, schwärmt sie verträumt, nachdem ich mich in mein Handtuch gewickelt und mich neben sie auf die geheizten Schwimmbadfliesen gesetzt habe. „Leon ist so süß, ich kriege kaum Luft.“

„Jep, er ist ganz ansehnlich, aber ich finde nicht, dass er zu dir passen würde“, meine ich völlig ernsthaft. „Du hast jemand Besseren verdient!“

„Ich will aber niemand Besseren, sondern ihn.“ Sophie kichert kurz, dann schmachtet sie Leon weiter hemmungslos an. Auch ich betrachte ihn ausgiebig, versuche zu sehen, was Sophie sieht, aber so angestrengt ich es auch probiere, ich entdecke nichts an Leon, was mich reizen würde. Aber um Sophie die besten fünf Minuten ihres Tages nicht zu verderben, sage ich nichts und lasse abwesend meinen Blick durch die Schwimmhalle schweifen, bis er schließlich ebenfalls hängen bleibt. Schon besser.

Augenblicklich wird ER zum Zentrum meiner ungeteilten Aufmerksamkeit. Groß, muskulös, perfekt gebräunt. Jack.

Seine dunkelbraunen Haare trägt er ein bisschen länger, aber nicht zu lang, sondern gerade richtig. Und seine Augen … Niemand sonst auf der Welt hat so tiefblaue Augen wie Jack. Ich verliere mich in ihnen, jedes Mal, wenn er mir auf dem Flur begegnet und unsere Blicke sich für einen flüchtigen und für ihn wahrscheinlich völlig bedeutungslosen Moment treffen.

„Schau dir an, wie anmutig er durch das Wasser gleitet!“, denke ich laut und kann dabei die Bewunderung in meiner Stimme nicht verbergen.

„Na ja, so ein toller Schwimmer ist er nun auch wieder nicht.“ Sophies Blick ist noch immer starr auf Leon geheftet. „Moment … wer?“ Verwirrt sieht sie mich von der Seite an.

„Er bewegt sich im Wasser geschmeidiger, als ich es je bei irgendjemandem gesehen habe.“ Ich kann nicht aufhören, Jack anzustarren. Als er sich auf dem Beckenrand abstützt, um sich aus dem Wasser zu ziehen, kann ich beobachten, wie sich die Muskeln an seinen Oberarmen anspannen. Dann schüttelt er seine nassen Haare, bis sie wieder durcheinander und wild von seinem Kopf abstehen.

Plötzlich erwache ich aus meiner Träumerei und beiße ertappt auf meine Unterlippe.

Jack und seine Freunde sind absolut tabu. Alle Eltern aus Lavender warnen ihre Kinder vor dieser sonderbaren Clique. Vor vier Jahren sind die fünf Jugendlichen in das Haus auf der großen Klippe, etwas auswärts der Stadt, gezogen, in dem der alte Jo wohnte, bevor er vor einigen Jahren verstarb. Angeblich sind sie alle Waisen und wohnen ohne irgendeinen Erwachsenen in dem Haus, aber niemand kennt wirklich ihre Geschichte. Die Leute reden natürlich trotzdem. Dafür leben wir ja schließlich in Lavender.

Lars ist der Älteste von ihnen. Bis vor drei Jahren ging auch er auf unsere Schule. Neben Lars, seiner Freundin Leonie und Jack leben noch Chris aus der zehnten und Kiara aus der zwölften Klasse mit ihnen.

„Jemand müsste mal das Jugendamt informieren“, sagt Mum immer, wenn wir an ihrem Haus vorbeigehen, und schnalzt empört mit der Zunge, doch am Ende unternimmt sie doch nichts.

Jack und seine Freunde sind irgendwie anders. Alle haben etwas Mysteriöses an sich, was mich unglaublich fasziniert. Besonders Jacks unnahbare und distanzierte Art hat auf absurde Weise eine enorm anziehende Wirkung auf mich. An unserer Schule kursieren diverse Gerüchte über Mitschülerinnen, denen es offensichtlich ähnlich ergangen ist wie mir, und die in der Vergangenheit all ihren ganzen Mut zusammengenommen und Jack um ein Date gebeten haben. Doch allesamt haben sie sich nur Körbe eingefangen. Jack und seine Freunde bleiben lieber unter sich.

„Herrje, Lizzie, jetzt geht das schon wieder los.“ Mit besorgtem, aber auch leicht genervtem Blick schüttelt Sophie den Kopf. „Jeder Junge an der Schule würde gerne mit dir ausgehen, doch du lässt sie abblitzen. Stattdessen schwärmst du ausgerechnet für Jack.“

„Mensch, Sophie, sei bloß ruhig!“, zische ich und sehe mich panisch um. „Nicht, dass dich noch jemand hört und womöglich den Quatsch glaubt, den du erzählst.“

„Quatsch? Soso!“ Sophie lächelt vielsagend und zwinkert mir verschwörerisch zu.

„Pah, du hast ja schon Halluzinationen wegen Leon!“ Erbost stehe ich auf und stürme zu den Duschen. Dabei laufe ich zu meinem Ärgernis auch noch rot an, als hätte man mich ertappt.

Sophie fängt mich vor der Schwimmhalle ab. Ich versuche ihr auszuweichen, aber sie stellt sich mir in den Weg.

„Lizzie …“, fängt sie an. „Jetzt warte doch mal!“ Sie hält mich an den Schultern fest, sodass ich ihr in die Augen sehen muss. Noch immer beleidigt, funkele ich sie an.

„Ich kann verstehen, dass du ihn toll findest.“ Ich öffne den Mund, um ihr zu widersprechen, aber Sophie lässt keinen Protest zu. „Niemand bewegt sich beim Schwimmen so geschmeidig wie Jack. Nicht einmal Leon.“ Sie unterbricht sich kurz für einen verträumten Blick gen Himmel. Dann fährt sie fort. „Dass du, als Wasserratte, von ihm beeindruckt bist, leuchtet mir schon irgendwie ein.“ Zur Bekräftigung ihrer Worte nickt sie verständnisvoll mit dem Kopf. „Aber er ist kein guter Umgang für dich. Klar, Jack ist heiß. Zweifelsohne. Aber es ist, als würden sie irgendeiner komischen Sekte angehören. Du solltest lieber die Finger von ihm lassen!“ Ungeduldig warte ich, ob noch etwas kommt, aber ihr Vortrag scheint beendet zu sein.

„War’s das?“, frage ich also, während ich mit dem rechten Fuß ungeduldig auf dem Boden rumtippe und mürrisch in die Ferne schaue.

„Lizzie … komm schon!“ Sophie sieht mich mit einem so übertriebenen Schmollmund an, dass ich nicht verhindern kann, dass meine Mundwinkel kurz zucken, bevor ich mich wieder daran erinnere, sauer zu sein. Doch da schlingt meine Freundin auch schon ihre Arme um mich, so fest, dass ich mich ihr nicht entwinden kann. Zugegebenermaßen recht halbherzig, versuche ich sie wegzuschubsen, was mir natürlich nicht gelingt. Schließlich fange ich an zu kichern.

„Verdammt, Sophie, was machst du da?“, rufe ich lachend, doch dann gebe ich auf und erwidere ihre Umarmung. Fest umklammert taumeln wir hin und her und kichern laut und albern. An Sophies Seite fühlt sich immer alles so leicht an. Fast ist es, als könnte ich, wenn wir zusammen sind, ein kleines Stück der sorgenfreien Kindheit festhalten, die uns jeden Tag mehr zu entrinnen droht.

John, der ebenfalls aus der Schwimmhalle kommt, wirft uns im Vorbeigehen einen vielsagenden Blick zu und zieht abschätzig die Augenbrauen hoch. „Aber sonst geht’s euch gut, ja?“ Doch wir beachten ihn nicht. Gegen dumme Jungskommentare sind wir schon lange immun.

„Du bist unmöglich, weißt du das eigentlich?“, frage ich Sophie schließlich mit gespielter Empörung.

„Ich weiß! Komm, wir holen uns ein Eis und setzen uns noch ein bisschen an den Strand!“ Den Vorschlag muss sie mir nicht zweimal machen.

„Leons Beachvolleyball-Team trainiert heute.“ Sophie grinst verschwörerisch. „Und es ist noch so warm, dass sie oberkörperfrei spielen.“

3. Kapitel

Boutique der grässlichen Blusen

„Kannst du mir erklären, warum du Phil schon wieder einen Korb gegeben hast?“ Mum sieht mich mit ihrem „Was habe ich bei deiner Erziehung bloß falsch gemacht?“-Blick völlig entrüstet an. Nur mühsam kann ich ein genervtes Stöhnen unterdrücken. Sie versteht es wirklich nicht. Kurz schließe ich meine Augen, atme tief durch und versuche mich zu sammeln.

„Mum“, beginne ich dann mit ruhiger Stimme. „Ich habe dir doch schon tausend Mal erklärt, dass ich nicht mit Phil ausgehen will. Er ist oberflächlich und arrogant. Außerdem trägt er schmierige Markenklamotten.“ Eigentlich kann ich meine Argumente auch für mich behalten, weil ich weiß, dass ich damit bei Mum sowieso auf Granit stoße.

Kate steckt den Kopf durch den dunkelroten Samtvorhang der Umkleidekabine. Es war ja klar, dass sie sich nicht nicht einmischt. Natürlich muss sie, wie immer, ihren Senf dazugeben.

„Du musst auch mal an mich denken.“ Bekleidet mit einer fürchterlichen Bluse in Schweinchenrosa, die meiner Meinung nach am Bauch ziemlich spannt, tritt sie hinter dem Vorhang hervor. Mum hat mich, als ich vom Strand wiedergekommen bin, überredet, sie und Kate auf einen spätnachmittäglichen Einkaufsbummel zu begleiten, und obwohl ich es hätte besser wissen müssen, habe ich mich tatsächlich dazu breitschlagen lassen. „Steven hat mich auch schon gefragt, warum du Phil immer wieder eine Abfuhr erteilst. Er kann sich dein Verhalten einfach nicht erklären“, fährt Kate fort. Natürlich kann er das nicht, denke ich. Steven trägt ja die gleichen fürchterlichen Klamotten. Aber das sage ich um des lieben Friedens willen besser nicht.

„Ein netter Abend bei James, das wäre doch eine perfekte Gelegenheit gewesen.“ Fassungslos schüttelt Mum den Kopf und tauscht mit Kate vielsagende Blicke aus, als wäre ich gar nicht da. Ich liebe Lavender, aber unser kleines Städtchen ist schon ein ziemliches Kuhdorf. Es gibt immer eine Informationskette, die man nicht bedenkt. Jeder hat eine Tante, die eine Kollegin hat, dessen Sohn mit deiner Cousine im Segelclub ist oder so ähnlich. Geheimnisse bleiben in Lavender nicht lange geheim, wozu Mum und Kate bestimmt einen nicht ganz unwesentlichen Teil beitragen. Also dürfte es mich doch eigentlich nicht wundern, dass die beiden wenige Stunden später schon wieder alle detaillierten Informationen hatten, die sie brauchten, um mir nun diesen vorwurfsvollen Vortrag zu halten.

„Ist nicht am Wochenende die Sommerabschlussparty am Strand?“ Mum sieht mich fragend an, dabei weiß ich genau, dass sie weiß, dass es genau so ist. Denn die Sommerabschlussparty ist jedes Jahr am ersten Wochenende im September.

„Ja“, brumme ich darum nur, wohl wissend, dass Mum schon wieder irgendetwas im Schilde führt.

„Phil wird dich mit Sicherheit fragen, ob du ihn dorthin begleiten möchtest. Du solltest ihm nicht wieder absagen!“ Eindringlich sieht Mum mich an und ihre Augen werden mit jeder Sekunde größer, als versuche sie mich zu hypnotisieren. Und Mum wäre nicht Mum, wenn sie nicht noch einen draufsetzen würde. Quasi ein Sahnehäubchen auf den ganzen Schlamassel. „Du bist mittlerweile auch kein kleines Kind mehr. In deinem Alter muss man sehen, wo man bleibt!“ Sahnehäubchen. Ich hab’s gewusst.

„Mum!“, rufe ich entrüstet. „Das meinst du jetzt nicht wirklich ernst, oder? Ich bin sechzehn Jahre alt, nicht fünfunddreißig und schwer vermittelbar.“ 

„Überleg es dir einfach. Schließlich bist du deiner Schwester auch irgendwie schuldig, dass du es wenigstens mit Phil mal probierst.“ Aha, jetzt werden also alle Register gezogen. Wenn nichts mehr hilft, kommt die Psychodruck-Masche.

„Na, mal sehen …“, knicke ich ein, hauptsächlich um diesem fürchterlichen Gespräch endlich ein Ende zu setzen.

„Irgendwie sind beide Blusen nicht so richtig das Wahre“, jammert Kate, während sie sich unzufrieden mit einem ähnlich scheußlichen Modell wie dem vorigen, nur diesmal in Giftgrün, vor dem Spiegel dreht.

Zum Glück scheint das Thema „Phil“ erst einmal vom Tisch zu sein.

Ich verkneife mir anzumerken, dass es nicht besser aussehen wird, solange sie alle Blusen nicht eine Nummer größer anprobiert. Denn das würde Kate im Leben nicht tun. Lieber würde sie in einer Größe achtunddreißig hyperventilieren, weil sie den Bauch so sehr einziehen muss, dass sie keine Luft mehr bekommt, als ein Kleidungsstück in Größe vierzig zu kaufen.

„Morgen Abend treffen Steven und ich uns bei Jenny und Mike. Da kann ich nicht schon wieder die gleiche Bluse tragen wie beim letzten Mal!“ Mum nickt Kate zustimmend zu, als wäre es völlig selbstverständlich ein absolutes Ding der Unmöglichkeit, bei einem gesellschaftlichen Ereignis die gleiche Bluse zweimal zu tragen. „Jenny trägt immer die modischsten Kleider. Da kann ich sowieso schon nicht mithalten.“

Kate legt großen Wert auf Äußerlichkeiten und Jenny, die von ihrer Tante regelmäßig teure Designerstücke aus deren Boutique in London zugeschickt bekommt und sich so deutlich von Lavenders Kleinstadt-Chic abhebt, ist ihr ein ewiger Dorn im Auge.

„Du könntest auch mal etwas Neues vertragen“, fügt sie spitz hinzu, während sie so abschätzig wie möglich mein gelbes Sommerkleid mustert, das ich zu meinen nicht mehr ganz so weißen Lieblingsturnschuhen trage. Zugegeben, das Kleid war vielleicht schon ein- oder zweimal zu viel in der Waschmaschine, den linken Träger musste ich hinten schon mehrfach mit der Hand wieder annähen und vorne auf dem Rockteil ist ein kleiner Schokoladeneisfleck, der sich nicht mehr entfernen lässt. Aber ansonsten ist es noch in einem Topzustand. Außerdem ist es mein Lieblingskleid und ich würde es wahrscheinlich auch noch tragen, wenn es mir in einzelnen Fetzen vom Körper hinge. „Ein Wunder, dass Phil überhaupt mit dir ausgehen will, so wie du immer rumläufst.“ Verständnislos schüttelt sie den Kopf.

Kates Kommentare treffen mich schon lange nicht mehr. Ich weiß, dass sie es nicht wirklich böse meint und dass meine Schwester mich irgendwo tief in ihrem Inneren liebt. Doch wir sind so verschieden, dass sich diese Liebe im Alltag nicht häufig zeigt. Aber darauf kommt es nicht an. Außerdem ist sie gerade im Shoppingfrust, und was sie in diesem äußerst kritischen Zustand von sich gibt, sollte man sowieso nicht auf die Goldwaage legen. Darum sage ich nur: „Am besten macht ihr beide hier einfach alleine noch ein bisschen weiter und ich schlendere schon mal nach Hause und koche etwas Leckeres zum Abendessen. Okay?“

„Ist gut, Schätzchen, so machen wir es“, willigt Mum zu meiner Erleichterung ein, während sie schon das nächste Ungeheuer von der Stange nimmt und es Kate in die Kabine reicht. Fluchtartig verlasse ich die Boutique der grässlichen Blusen, denn das sich anbahnende Drama, wenn Kate merkt, dass Mum ihr heimlich eine Bluse in Größe vierzig untergejubelt hat, möchte ich nicht miterleben müssen.

4. Kapitel

Tanz auf dem Deich

Ich stecke meine Kopfhörer in die Ohren und drehe die Musik voll auf. Es gibt nichts, was mich mehr entspannt, als über den Deich zu schlendern, gute Musik auf den Ohren und eine frische Meeresbrise um die Nase zu haben.

Da ich weiß, dass Mums und Kates Ausdauer beim Shoppen einen Marathonläufer vor Neid erblassen ließe und dass Dad nicht vor neunzehn Uhr nach Hause kommt, habe ich noch mindestens eine Stunde Zeit, bevor ich mit dem Kochen anfangen muss.

Es sind nur wenige Menschen auf dem Deich unterwegs. Ich drehe die Musik voll auf und beginne zu singen. Es gibt Songs, da kann ich einfach nicht stillhalten, da muss ich einfach singen und tanzen. Frei nach dem Motto: nicht gut, aber leidenschaftlich. Dabei ist es mir vollkommen egal, ob die Songs gerade angesagt sind oder nicht. Ich höre einfach alles, was ich gut finde.

Musik ist wirklich etwas Magisches. So kann Sparks Fly von Taylor Swift meine Laune binnen der ersten fünf Sekunden Spielzeit von null auf hundert anheben. Höre ich dagegen High Hopes von Kodaline, werde ich sofort fürchterlich sentimental, weil das Lied in der traurigen Vorfinalszene eines Liebesfilms vorkommt, den Sophie und ich vor Kurzem gesehen haben – wir haben beide Rotz und Wasser geheult und sämtliche Taschentuchvorräte des Hauses aufgebraucht. Außerdem besitzt Musik die Fähigkeit, Erinnerungen aus den Untiefen des Gehirns wieder ans Tageslicht zu befördern, die längst vergessen geglaubt sind. So katapultieren mich bestimmte Songs direkt zurück auf unsere Klassenfahrt nach London in der achten Klasse. Bei anderen Songs hingegen sitze ich wieder bei meinem Opa im Auto auf einem unserer unzähligen gemeinsamen Ausflüge ins Blaue.

Jetzt brauche ich jedoch eher Lieder für die Beine als fürs Herz, und so geht mir nach einer fünf Lieder langen hingebungsvollen und ziemlich filmreifen Gesangs- und Tanzperformance schließlich die Puste aus. Ich öffne meine Augen und ziehe die Stöpsel aus den Ohren.

Und, was soll ich sagen? Mein Herzschlag und meine Atmung setzen parallel aus, als ich im Augenwinkel neben mir eine Person wahrnehme. Zum Angriff bereit, drehe ich mich nervös zur Seite und traue meinen Augen nicht. Es ist Jack. Er schiebt sein Fahrrad und grinst bis über beide Ohren. Wie angewurzelt bleibe ich stehen. Gut, Lavender ist ein ziemlich kleiner Ort, aber trotzdem muss es so etwas wie eine Rache der Götter sein, dass ausgerechnet Jack unfreiwilliger Zeuge meiner Tanzkünste geworden ist. Ich versuche, etwas zu sagen, aber es geht nicht. Meine Zunge ist schwer wie Blei und ich konzentriere mich allein darauf, dass meine Knie nicht nachgeben. Er kommt mir zuvor. Völlig cool sagt er nur: „Du hast es echt drauf!“ Dabei lächelt er verschmitzt. Ich möchte sterben! Oder noch besser direkt hier im Boden versinken.

Warum bitte sieht er so unfassbar gut aus? Darauf war ich nun wirklich nicht vorbereitet. Noch immer sage ich nichts. Eine gefühlte Ewigkeit grübele ich über die perfekte Reaktion nach, bis sich mein Gehirn in kompletter Eigenregie für die wohl einfallsloseste aller Versionen entscheidet. „Danke“, höre ich meine Stimme sagen. Danke? Herrje! „Wie lange gehst du schon neben mir her?“, frage ich dann, in der verzweifelten Hoffnung, dass er vielleicht doch gar nicht so viel von meiner Performance mitbekommen hat. Rasch verstaue ich die Kopfhörer in meiner Tasche. Dabei setze ich mich zögerlich wieder in Bewegung.

„Vor gut fünfhundert Metern habe ich geklingelt. Du bist mitten auf dem Weg … na ja, sagen wir mal, gegangen.“ Er lacht ein herzliches, sonniges Lachen, das meinen Brustkorb mit Wärme erfüllt. „Aber du hast mein Klingeln wohl nicht gehört.“ Spürbar steigt mir die Hitze in den Kopf und die Röte auf die Wangen.

„Hm“, mache ich, weil mir nichts Besseres einfällt. Beschämt schaue ich auf den Boden. Vielleicht muss ich mein lädiertes Lieblingskleid ja doch langsam mal zu einem reinen Strandkleid umfunktionieren. Denn in Jacks Gegenwart wünsche ich mir auf einmal, ich hätte mein Outfit heute Morgen etwas weniger einfallslos ausgewählt.

„Du heißt Lizzie, oder?“, bricht er mein peinliches Schweigen, woraufhin ich ihn erstaunt ansehe. Bis heute bin ich davon ausgegangen, dass er von meiner kläglichen Existenz keine Notiz genommen hat.

„Ja, ich gehe in die zehnte Klasse.“

„Kann es sein, dass ich dich schon öfter zwischen den Felsen habe schwimmen sehen?“ Mein Staunen wird noch größer.

„Ja, volle Badestrände sind nicht so mein Ding“, gebe ich zu. „Ich habe lieber meine Ruhe.“

„Das kann ich verstehen.“ Jack nickt verständnisvoll. „Aber es ist nicht ganz ungefährlich abseits der Badestrände. Du solltest auf dich aufpassen!“

Klasse, noch mehr schlaue Ratschläge. Da kann er sich ja prima mit meinen Eltern zusammentun.

„Deine Freunde und du, ihr schwimmt doch auch nicht am Strand, sondern an der kleinen Felsenbucht“, kontere ich und komme mir ausgesprochen cool vor, bis mir mein Fauxpas bewusst wird. Ertappt beiße ich mir auf die Lippen. Verdammt. Na ja, jetzt weiß er wenigstens auch sofort, dass ich ihn und seine Freunde regelmäßig beobachte. Geheimagent oder Privatdetektiv werde ich wohl in diesem Leben nicht mehr.

„Ja, stimmt“, sagt er völlig unberührt. Die Offenbarung meiner Stalkeridentität scheint ihn nicht weiter zu schocken. „Die Felsenbucht ist einfach die schönste Stelle an der gesamten Küste.“ Jacks Gesichtsausdruck wird schwärmerisch und er beginnt förmlich zu strahlen. Seine Augen, deren helles Blau einen ungewöhnlichen Kontrast zu seinem dunklen Teint und den braunen Haaren darstellt, bringen mich vollkommen aus dem Konzept.

Keine Ahnung, wie lange ich ihn wie ein Volltrottel einfach anstarre, aber irgendwann sagt er, wahrscheinlich weil ihn die doch sehr einseitige Konversation zu langweilen beginnt: „Okay, ich muss jetzt mal weiter“, steigt auf sein Rad und fährt los.

Mit Sicherheit kann man mir meine Enttäuschung ansehen und beinahe entfährt mir ein „Schade“, doch ich schlucke es schnell herunter.

„Bis dann“, rufe ich ihm nach und hoffe, noch einmal seinen Blick auf mich ziehen zu können, doch Jack dreht sich nicht mehr um.

Als er nur noch ein kleiner Punkt am Horizont ist, erweckt mich Hundegebell aus meiner Trance. Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigt mir an, dass ich jetzt ganz schnell nach Hause eilen sollte.

„Wer war das gerade?“, platzt Mum sofort heraus, noch bevor sie das Haus betreten, geschweige denn die Einkaufstaschen abgestellt hat.

Sie müssen Jack und mich noch gesehen haben. Auch wenn ich gerannt bin, bin ich nur wenige Minuten vor Mum und Kate am Haus angelangt. Ich ärgere mich über mich selbst, so die Zeit vergessen zu haben.

Mum ist offensichtlich von der bloßen Vorstellung, ich könnte mich mit einem Jungen nur unterhalten haben, schon ganz außer sich vor Begeisterung.

„Niemand“, versuche ich es wenigstens, obwohl ich weiß, dass Mum sich nie im Leben mit dieser wenig informativen Antwort zufriedengeben wird. Wenn Mums Interesse erst einmal geweckt ist, braucht es schon etwas mehr als eine so halbherzige Antwort, um sie wieder loszuwerden.

„Lizzie, wir haben euch doch gesehen!“, ruft Kate übertrieben empört. Dann wechselt sie kurz entschlossen die Taktik und setzt ein vertrauensvolles Gesicht auf. „Uns kannst du es doch erzählen.“ Sie klimpert so schnell mit ihren Wimpern, dass mir vom Zugucken beinahe schwindelig wird. Das mag bei ihrem Mathelehrer gewirkt und ihr zu einer vollkommen ungerechtfertigten Drei auf dem Abschlusszeugnis verholfen haben, aber ich kenne sie zu gut, um auf ihre Tricks hereinzufallen. Wenn Kate auf „vertraulich“ macht, dann schrillen bei mir alle Alarmglocken.