Das Buch

Sie denkt: »Ich hatte sowieso nie eine Chance bei ihm, und jetzt hält er mich für irgend so ein armseliges kleines Mädchen, das auf ihn steht.«

Er denkt: »Sie ist witzig und klug und … ganz anders als die anderen Mädchen. Und je mehr Zeit ich mit ihr verbringe, desto deutlicher wird mir, wie schön sie ist.«

Ein Foto von einem Jungen, das online um die Welt geht.

Ein Mädchen, das in diesen Jungen verliebt ist.

Und eine weltweite Aufmerksamkeit, mit der keiner von beiden gerechnet hätte.

Die Autorin

Jilly Gagnon

© Abby Lorenz Photography

Jilly Gagnon lebt seit ihrem Harvard-Abschluss in der Gegend von Boston, aber nichtsdestotrotz: Im Herzen ist und bleibt sie ein Minnesota-Mädchen. Wenn sie nicht gerade schreibt, spielt sie Computerspiele, redet mit ihren Katzen oder übt auf ihrer Geige – die sie sich aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen zugelegt hat. Sie schreibt unter anderem humoristische Bücher und Essays.

Mehr über Jilly Gagnon: www.jillygagnon.com

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Jilly Gagnon bei Twitter: https://twitter.com/jillygagnon

Der Verlag

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Viel Spaß beim Lesen!

Jilly Gagnon: #famous

Für Dad, weil er gesagt hat, ich solle meinen Traum verwirklichen. Für Mom, weil sie mich immer unterstützt hat. Und für meine Schwestern, sie sind die besten Freundinnen auf der ganzen Welt.

RACHEL

DIENSTAG, 16:15 Uhr

Wenn man seine Mom liebt, kann das manchmal zu wirklich miesen Entscheidungen führen.

Eigentlich hatte ich mich sowieso nur aus purer Langeweile darauf eingelassen, mit ihr eine Gesichtscreme kaufen zu gehen. Ich meine: an einem Dienstagnachmittag ins Einkaufszentrum? Mit meiner Mutter? Als würde ich plötzlich an die beruhigende Wirkung einer Shoppingtherapie glauben. Wir waren vielleicht seit zehn Minuten da, und ich bereute es jetzt schon.

Wir hatten beinahe die Make-up-Abteilung erreicht, unser eigentliches Ziel, als sie plötzlich nach einem schwarzen, flatterigen Oberteil griff, das an der Vorderseite über und über mit Bändern zum Schnüren versehen war.

»Oh, Rachel, ist das nicht toll?« Sie streckte es mir entgegen. Es sah aus wie eine Fledermaus im Korsett.

»Nicht mein Stil.« Ich schob das Teil beiseite und drehte mich zu dem Ständer mit Oversize-Pullis in Neonfarben um. Wo hatte sie das überhaupt her?

»Nein, nicht für dich. Für mich. Ich finde es cool. Ist mal was anderes, meinst du nicht?« Sie hielt das Oberteil eine Armeslänge von sich. Eine dicke Strähne ihrer krausen Locken rutschte hinter ihrem Ohr hervor und fiel ihr ins Gesicht. Sie ließ sie immer viel zu kurz schneiden. Wir hatten beide Haare, die aussahen, als hätten wir gerade in eine Steckdose gefasst, und bei der Länge war es nahezu unmöglich, ihre Mähne durch bloßes Hinters-Ohr-Streichen zu bändigen.

»Na klar, Mom.« Um ehrlich zu sein, wäre ich ganz schön geschockt, meine Mom in einem Oberteil zu sehen, in das sie sich regelrecht hineinschnüren musste. Normalerweise bestand ihr Kleidungsstil eher aus sackartigen Gebilden in neutralen Farben, aber wenn sie sich wirklich wie ein Vampir anziehen wollte, würde ich sie nicht davon abhalten. Außerdem ist es irgendwie abgedreht, seine Eltern dabei zu beobachten, wie sie versuchen, cool zu sein. Als würde man einem Babyfaultier beim Klavierspielen zugucken oder so. Im Ergebnis die reinste Katastrophe, aber gerade deswegen umso niedlicher.

»Hey, macht es dir was aus, wenn ich mir eben was zu essen hole? Ich bin nach der sechsten Stunde direkt zum Töpferkurs gegangen und hab noch nichts gegessen.« Das Ganze wäre deutlich schneller erledigt, wenn sie mich bei ihren fragwürdigen Modevorstellungen nicht andauernd um Rat fragen konnte.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Wir treffen uns in fünfzehn Minuten wieder hier. Ich will nicht den ganzen Abend im Einkaufszentrum verbringen.«

»Alles klar«, antwortete ich über meine Schulter hinweg.

»Und komm ja nicht auf die Idee, einen von diesen Riesenbechern Limo zu kaufen«, mahnte sie. »Das Zeug ist Gift.«

Mom fand ständig neue Bedrohungen für meine körperliche Entwicklung. Zu spät: Ich hatte bereits vor drei Jahren bei einer Gesamtlänge von einem Meter sechzig aufgehört zu wachsen.

Ich spürte, wie mein Handy an meiner Hüfte vibrierte, während ich an den gesichtslosen, spindeldürren Schaufensterpuppen von Banana Republic vorbeilief. Ihre Verachtung brannte sich förmlich in meinen Nacken, als ich hinter dem Wet-Seal-Laden um die Ecke bog und dem fernen Duft köstlichen Bratfetts folgte.

(Von MO-MO): Hast du die neue Fassung von Um zwei Ecken schon fertig? Ich komm wahrscheinlich nicht vor dem Wochenende zum Lesen, aber wir müssen uns echt ranhalten.

(An MO-MO): Nein, ich hatte heute Töpfern. Ich setz mich demnächst dran – aber haben wir nicht sowieso noch drei Monate bis zur Deadline?

(Von MO-MO): Kein Grund rumzutrödeln.

Mo schien mal wieder im Stress zu sein. Andere wegen Kleinigkeiten herumzukommandieren, war ihre Art, Dampf abzulassen, wenn sie mal wieder zu viel auf dem Schreibtisch liegen hatte. Wir wollten uns mit Um zwei Ecken für einen Sommerkurs für Nachwuchs-Drehbuchautoren bewerben, aber bis zum Abgabetermin war es noch ewig hin, und abgesehen davon lag der Hauptteil der Schreibarbeit sowieso bei mir. Mo interessierte sich mehr fürs Schauspielern, deswegen korrigierte sie auch nur die Texte, die ich schrieb. Es brachte jedoch nichts, sie darauf hinzuweisen, denn dadurch würde sie sich nur noch mehr in ihren Wahn hineinsteigern. Das Beste war, sie sanft auf das Thema hinzulenken, über das sie wirklich reden wollte, statt sich wegen Belanglosigkeiten in die Wolle zu kriegen.

(An MO-MO): Keine Sorge. Ich schick dir was, sobald du Zeit findest, es dir anzusehen. Warum bist du so gestresst?

(Von MO-MO): Hab ich schon mal erwähnt, wie sehr ich Europäer hasse?

(An MO-MO): Das ist rassistisch.

(Von MO-MO): Man kann nicht rassistisch sein, wenn es um einen Kontinent geht.

(Von MO-MO): Ich versuch gerade, deren gesamte bescheuerte Geschichte auswendig zu lernen – die übrigens ausschließlich aus Kriegen und der Unterdrückung von Frauen besteht –, und mir brummt der Schädel. Ich werd bei diesem Test SO WAS von durchfallen.

Unwahrscheinlich. Monique fiel nie irgendwo durch. Wir waren beste Freundinnen seit Windelzeiten, und ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie jemals auch nur eine Eins minus geschrieben hätte. In der dritten Klasse hatte sie sogar gleich zwei Projekte für die Ausstellung der Naturwissenschafts-AG angefertigt, für den Fall, dass eins besser wäre als das andere.

(An MO-MO): Das kommt davon, wenn man SOGAR IN DEN WAHLFÄCHERN nur Streberkurse belegt.

(An MO-MO): Rate mal, wie schwer mein Test in Kunst wird? Oh, Moment, wir schreiben ja gar keinen.

(Von MO-MO): Ich hasse dich.

(Von MO-MO): Ich nehm’s zurück. Lenk mich ab. Wenn mein Kopf schon explodiert, will ich wenigstens lachend sterben.

Ich sah mich nach etwas um, das ich Monique schicken konnte. Wir spielten schon seit Längerem dieses Spiel, bei dem wir uns über Flit lustige Fotos schickten und versuchten, uns gegenseitig zum Lachen zu bringen. Für jedes Geräusch, das man machte – egal ob amüsiertes Schnauben oder schallendes Gelächter – gab es einen Punkt. Und das Einkaufszentrum war normalerweise die reinste Goldgrube. Monique mochte unbeabsichtigte Zweideutigkeiten und Grammatikfehler auf Ladenschildern. Ich dagegen verschickte meistens witzige Graffitis oder Hunde, die Klamotten trugen. Hunde in Hosen gehen immer.

Auf meinem Weg zur Fressmeile hielt ich die Augen nach geeigneten Motiven offen, doch ich fand nichts. Inzwischen war ich dem Essen so nahe, dass ich die verschiedenen Bratfettaromen mühelos unterscheiden konnte, und damit hatte ich sowieso keine Chance mehr, mich auf das Spiel zu konzentrieren. Ich war zu hungrig, um mich auf die Suche nach einem verkleideten Zwergspitz zu machen. Erst musste ich etwas essen. Ich drehte mich langsam im Kreis und versuchte herauszufinden, worauf ich Lust hatte.

Es gab ein deprimierend einfarbiges Büffet aus panierten Fleischstückchen beim China-Imbiss (nein, danke), Sushi, das aussah, als sei es vielleicht vor einer Woche mal frisch gewesen (darf es eine Fischvergiftung dazu sein?), Mrs Butterbun’s Cookie Shoppe (allein schon bei der Vorstellung der zentimeterdick glasierten Plätzchen bekam ich Zahnschmerzen) …

Und dann sah ich ihn.

Kyle Bonham.

Instinktiv senkte ich den Kopf, drehte mich zur Seite und tat so, als sei ich voll und ganz in mein Handy vertieft, damit nur ja nicht der Eindruck entstand, ich würde ihn anstarren.

In Wahrheit tat ich genau das – Kyle musste man einfach anstarren. Er war so dermaßen überhaupt nicht mein Typ – so glatt geschleckt, dass er in einem Milch-Werbespot hätte auftreten können –, und trotzdem fielen mir, jedes Mal wenn ich ihn sah, fast die Augen aus dem Kopf. Was umso peinlicher war, weil ich tagtäglich in der fünften Stunde mit ihm im selben Kurs saß. Vermutlich war es nur eine Frage der Zeit, bis er mich beim Glotzen und Sabbern erwischte.

Er stand bei Burger Barn hinter der Kasse und gab gerade einem Mädchen Wechselgeld raus. Die Kleine war höchstens sieben oder acht und hatte ein verträumtes Strahlen im Gesicht, entweder weil sie so stolz war, dass er sie wie eine Erwachsene behandelte, oder weil sie gerade dabei war, sich in ihn zu verlieben.

Willkommen im Club, Schätzchen.

Er legte ihr die letzte Münze in die Hand und richtete sich auf, wobei ihm seine halblangen Haare, die ganz leicht gelockt waren – was sie noch perfekter machte –, lässig in die Stirn fielen. Irgendwie sah er hier sogar noch heißer aus als in der Schule. Das terrakottafarbene T-Shirt mit dem Burger-Barn-Logo ließ seine Augen – die ein winziges bisschen zu weit auseinanderstanden, wodurch sie umso schöner waren – noch grüner strahlen. Selbst die alberne weiße Papiermütze, die er bei der Arbeit tragen musste, wirkte auf seinem Kopf irgendwie witzig und süß.

Ich sah an mir herab. Ich trug ein formloses blaues Hemd, das ich aus dem Klamottenstapel gezogen hatte, den mein Dad für die Altkleidersammlung rausgelegt hatte. Es war so lang, dass ich darin aussah wie ein Kind, das Verkleiden spielte, und überall da, wo meine Schürze nicht hingereicht hatte, voller Tonflecken. Dazu kamen die verblichenen Leggings, die an den Knien schon ganz ausgebeult waren, und meine Chucks, die in den Sommerferien so gelitten hatten, dass ich gar nicht mehr wusste, welche Farbe sie ursprünglich mal gehabt hatten. Abgerundet wurde das Ganze von dem windschiefen Seitenzopf, den ich mir geflochten hatte, um das dunkelbraune Gewirr auf meinem Kopf zu bändigen, was jedoch ziemlich exakt gar nichts brachte.

Toller Look, Rachel. Kein Wunder, dass Monique mir andauernd irgendwelche Umstylings verpassen wollte. Ich war eine wandelnde Katastrophe.

Nicht, dass das eine Rolle gespielt hätte. Ich war sowieso nicht gerade die Art von Mädchen, nach der sich Jungs wie Kyle Bonham – na ja, Jungs im Allgemeinen eigentlich – umsahen. Bisher war es mir gelungen, mehr oder weniger unsichtbar zu bleiben, indem ich mich die meiste Zeit im Kunstraum versteckte, wohin sich unerträglich umwerfende Stars des Highschool-Lacrosse-Teams, die selbst achtjährigen Mädchen das Gefühl geben konnten, etwas Besonderes zu sein, eher selten verirrten.

Ein älteres Ehepaar schlurfte an die Theke. Die Auswahl von rund einem Dutzend verschiedener Variationen von Fleisch und Käse, die Burger Barn als »Sonderangebot« anpries, schien sie sichtlich zu überfordern. Kyle beobachtete sie, ohne eine Miene zu verziehen. Er sah aus wie ein Model aus einem dieser Versandhauskataloge, wo die Leute immer an irgendwelchen rustikalen Möbeln lehnen und »ganz sie selbst« sind.

Ich konnte Mo doch ein Foto von ihm schicken! Denn was lenkte besser ab als ein perfekter Typ? Außerdem: Wenn ich ein Bild von Kyle auf meinem Handy hatte, konnte ich ihn ansehen, wann immer mir danach war. Ja, okay, das war vielleicht ein klitzekleines bisschen armselig, aber außer mir musste es ja keiner wissen.

Ich stellte mich hinter der alten Frau in die Schlange, wobei ich mein Handy möglichst unauffällig auf Bauchhöhe hielt.

Ich neigte es so, dass Kyle genau im Fokus war. Er folgte dem Treiben auf der Fressmeile, während das ältere Paar versuchte, sich darauf zu einigen, was sie essen wollten. Ich konnte nicht glauben, was ich da tat. Immerhin stand er kaum zwei Meter von mir entfernt. Ich hatte zwar den Blitz und auch den Ton ausgestellt, doch es war trotzdem nicht schwer zu erkennen, was ich vorhatte.

Aber das war es wert. Vielleicht war das sogar mein bisher bester Beitrag in unserem Spiel. Gut, es war auch nicht besonders schwierig, etwas Besseres als einen falsch platzierten Apostroph zu finden. Aber das hier – das würde mir garantiert mindestens ein Goldener-Stern-Emoji einbringen.

Sobald er sich wieder zu dem Ehepaar umdrehte, würde ich schnell mein Foto machen und dann zum Brezelstand rübergehen, als wäre mir ganz plötzlich eingefallen, dass ich doch nichts von Burger Barn wollte. Jedenfalls nichts, was auf der Karte stand.

»Also, ich weiß nicht, Fred. Ich glaube, ich habe keine Lust auf dreifach Käse. Können wir nicht einen ganz normalen Cheeseburger nehmen?«

»Wenn Sie möchten, Ma’am, können wir auch einfach etwas weniger Käse draufmachen«, bot Kyle der Frau mit einem freundlichen Lächeln an. Sie schrak hoch und machte einen winzigen Schritt zur Seite – gerade, als ich auf den Auslöser drückte.

Na, super. Was für eine tolle Aufnahme einer Altfrauenschulter, Rachel.

So unauffällig wie möglich verlagerte ich mein Gewicht aufs linke Bein. Jetzt nimm schon deinen Arm da weg, Oma …

In dem Moment sah ich sie: Jessie Florenzano. Sie stand ein paar Meter entfernt in der Schlange vor dem Caribou-Fenster und wirkte ziemlich missmutig.

Anders als ihre Mom, die mir freudig zuwinkte, als wäre ich nicht der letzte Mensch auf Erden, dem Jessie hier begegnen wollte – und schon gar nicht mit ihrer Mom im Schlepptau. Für die hatte Jessie sich schon geschämt, bevor unsere Freundschaft den Bach runtergegangen war.

Jessie zog eine Augenbraue hoch, als ahnte sie, was ich vorhatte. Schnell ließ ich das Handy sinken und winkte zurück. Jessie verdrehte die Augen und wandte mir den Rücken zu, um ihrer Mom etwas ins Ohr zu zischen. Ihre Mom schenkte mir ein entschuldigendes Lächeln und musterte Jessie stirnrunzelnd. Es gab nicht viele Menschen, denen ich noch weniger gerne begegnen wollte als Jessie, ganz egal unter welchen Umständen. Aber irgendwie fand ich es schön, dass ihre Mom auch vier Jahre, nachdem mich Jessie aus ihrem Leben gestrichen hatte, immer noch nett zu mir war.

Ich wandte mich wieder meiner eigentlichen Aufgabe zu. Die Oma lachte gerade und stieß ihren Mann sanft mit dem Ellbogen an.

»Du weißt doch, wie sehr ich auf Gürkchen stehe!«

Igitt. Was für eine Vorstellung. Und das noch vor dem Essen.

Kyle lächelte und tippte etwas in die Kasse. Wenn ich meinen Arm ein paar Zentimeter zur Seite streckte … aber bloß nicht zu weit. Er durfte auf keinen Fall mitkriegen, was ich hier machte. Und Jessie schon zweimal nicht. Das wäre so was von peinlich! Kyle trommelte mit den Fingern auf den Tresen, während die alte Frau in ihrer Handtasche herumkramte.

Es war das perfekte Bild: Auf seinem ebenmäßigen Gesicht lag noch ein kleiner Rest des Lächelns von gerade.

Ich schielte rüber zu Jessie. Sie war vollauf damit beschäftigt, so zu tun, als gäbe es mich nicht. Einen besseren Zeitpunkt konnte ich gar nicht treffen.

Klick.

Er sah mich an. Verdammt, er hatte mich erwischt! Ich spürte, wie ich rot anlief und mich dadurch verriet. Mein Atem stockte, und mein Herz setzte einen Schlag aus.

Doch dann lächelte er und wandte sich wieder seiner Kundin zu, die ihm einen Haufen Ein-Dollar-Scheine und Vierteldollar-Münzen in die Hand drückte.

Ich atmete aus und unterdrückte ein Grinsen. Schnell schnitt ich das Foto zu und fing an, Mos Namen auf Flit einzutippen. Das hier war sogar noch besser als ein Schäferhund mit Krawatte.

»Rachel, richtig?«

Verdattert sah ich hoch. Das ältere Ehepaar war weitergegangen, und Kyle guckte mich erwartungsvoll an. Ich warf einen Blick über meine Schulter, um sicherzugehen, dass er nicht mit jemand anderem redete. Konnte ja sein, dass die Kunden bei Burger Barn alle Rachel hießen. Aber ich war die Einzige in der Schlange.

»Äh, ja.« Ich spürte, wie ich schon wieder rot wurde. »Rachel. Die bin ich.« Oh Gott, ich klang wie eine Riesenvollidiotin. Schnell schaltete ich das Display an meinem Handy aus.

Er zeigte auf sich.

»Kyle.«

Ich starrte ihn einfach nur an, völlig außerstande, irgendein Wort zu sagen.

»Wir haben zusammen Kreatives Schreiben? In der fünften Stunde?«

Als hätte ich in den drei Wochen seit Beginn des Schuljahres nicht jeden einzelnen Tag sämtlichen Göttern dafür gedankt.

»Ach ja, richtig«, antwortete ich, wobei ich mir die allergrößte Mühe gab, wie jemand zu wirken, der ihn nicht tagtäglich mit den Augen verschlang. »Du sitzt ganz hinten, oder?«

»Ja! Damit Jenkins mich nicht so oft aufruft. Ich bin nicht so gut wie du.«

»So gut bin ich gar nicht«, erwiderte ich automatisch und sah auf den Tresen hinab. Rechts von der Kasse hatte jemand einen Ketchup-Fingerabdruck hinterlassen, der aussah wie die heiße Spur in einem Cheeseburger-Krimi. Ich konnte nicht fassen, dass er wusste, wer ich war. Das Schuljahr hatte gerade erst begonnen, und wir waren nicht mal in derselben Stufe. Und mehr noch: Er hatte sogar eine Meinung über mich. Eine gute.

»Doch, das bist du. Deine Geschichte, die Jenkins gestern vorgelesen hat, war … okay, sie war ziemlich verrückt, aber auf coole Weise irgendwie«, sagte er.

»Oh. Äh, danke.« Mein gesamter Vorrat an Wörtern schmolz dahin und sammelte sich in einem glitschigen Gewirr zu meinen Füßen. Als ich versuchte, danach zu greifen, glitten sie mir wie Quecksilber durch die Finger. In der Geschichte war es um einen Computer gegangen, der sich einen abgedrehten Virus eingefangen hatte und sich seitdem für den Geist von Königin Elisabeth I. hielt. Wie Kyle schon gesagt hatte: ziemlich verrückt. So wie ich. Ich merkte, dass meine Achselhöhlen schweißnass waren.

»Wie auch immer, was hättest du gerne, Rachel aus dem Schreibkurs?«, fragte er.

Dich, mit nacktem Oberkörper, auf einem rassigen Hengst?

»Äh … was meinst du?«

»Zu essen?« Er runzelte die Stirn, wodurch sich auch auf seiner Nase kleine Fältchen bildeten. Ich war immer noch so verdattert, dass er meinen Namen kannte – und hatte dadurch komplett vergessen, wo wir uns befanden – an der Essenstheke, bei seiner Arbeit. Er war nett zu mir, weil das als Servicekraft von ihm erwartet wurde. Herrgott noch mal, er flirtete ja sogar mit alten Leuten. Meine Wangen wurden noch röter. Wenn sie jetzt jemand mit einer Nadel angepikt hätte, wäre das Blut wahrscheinlich bis sonst wo gespritzt. Als würden wir diese eine Szene aus Shining hier auf der Fressmeile des Apple-Prairie-Einkaufszentrums nachstellen.

»Ach so, klar. Sorry, mein Blutzuckerspiegel muss echt im Keller sein«, antwortete ich. Die Ausrede benutzte Monique immer, wenn sie sich albern oder zickig benahm. »Ich dachte, äh, Pommes vielleicht?«

»Klein?«

»Nein, groß«, sagte ich schnell. Ich war am Verhungern. Er grinste leicht, was mich daran erinnerte, dass die Mädchen, mit denen Kyle Bonham normalerweise abhing, niemals große Pommes bestellten. Vermutlich kamen sie in den letzten zehn Jahren zusammengerechnet auf eine halbe Portion Pommes, was auch der Grund war, weswegen sie aussahen wie kleine Supermodels und ich wie die seltsame Freundin von nebenan. »Im Vergleich zu der großen Tüte sehen die Hände nämlich immer so klein und stummelig aus, das finde ich irgendwie cool. Dadurch bekommen die Dinge im Leben eine ganz neue Perspektive«, ergänzte ich.

Ach, du lieber Gott. Konnte mir bitte jemand die Schaufel wegnehmen, damit ich mir nicht weiter mein eigenes Grab aushob?

Doch er lachte nur und schüttelte leicht den Kopf. »Du bist witzig. Okay. Eine große Pommes, macht vier sechsunddreißig.«

Ich fischte die Münzen aus meinem Portemonnaie. Er gab mir mein Wechselgeld und ging dann meine Pommes holen. Ich spürte, wie sich mein Puls wieder auf ein Level unterhalb von »Kurz vorm Herzinfarkt« verlangsamte.

»Bitte sehr«, sagte er. »Ich denke, die müssten die richtige Größe für deine Hände haben.« Er packte einen meiner winzigen Finger und zog daran, sodass sich mein ganzer Arm hob.

Seine Berührung fühlte sich an, als hätte mir jemand eine Ladung Strom durch den Arm gejagt. Um ein Haar hätte ich ihn weggerissen; ich war es nicht gewohnt, dass Jungs meine Hand nahmen. So was trauten sich sowieso nur Typen wie Kyle – Typen, die Sportwettkämpfe gewannen und zum Ballkönig gewählt wurden. Ich hoffte nur, dass sich vor lauter Nervosität nicht schon Schweißflecken in meinen Achseln gebildet hatten.

Trotzdem schaffte ich es irgendwie, lange genug die Fassung zu bewahren, dass er zwischen meiner Hand und der Pommestüte hin- und hergucken und so tun konnte, als würde er beide miteinander vergleichen. Schließlich nickte er, als hätte ich den Test bestanden.

»Jepp, sieht aus, als würde es passen.«

Er ließ meine Hand los. Ich versuchte, wieder zu atmen.

»Haha.« Ich lachte gekünstelt. Nicht sehr überzeugend. »Ich muss dann mal los. Meine Mom wartet schon auf mich.« Super, Rachel, erwähn ruhig, dass du mit deiner Mom unterwegs bist. Das macht dich gleich noch attraktiver.

»Lass dir die Pommes schmecken, Rachel aus dem Schreibkurs«, erwiderte er grinsend. »Wir sehen uns morgen.«

»Ja, klar.« Ich schluckte hörbar und nickte. Viel zu oft und viel zu schnell. »Bis dann.«

Ich zwang mich, ganz langsam wegzugehen, so langsam wie ich nur konnte. Allerdings glich es immer noch eher einem Sprint als einem würdevollen Abgang.

Völlig außer Atem ließ ich mich auf eine der Bänke beim Springbrunnen fallen. Was für ein Desaster!

Aber immerhin hatte ich mein Foto. Darum war es doch überhaupt nur gegangen, oder? Dass ich was hatte, was ich Monique schicken konnte. Ich tippte ihren Namen ein und fügte noch einen witzigen Hashtag hinzu. Offenbar konnte ich nämlich sehr wohl schlagfertig sein – bloß nicht in Gegenwart von Jungs.

Senden.

Im nächsten Moment befiel mich ein kurzer Anflug von Panik. Was, wenn er es sah? Er würde sofort wissen, dass es von mir kam.

Aber das würde nicht passieren. Ich hatte vielleicht zehn Follower – und Kyle war nicht darunter. Seit Monaten schickte ich Monique Bilder, und bis jetzt schien das niemand großartig bemerkt zu haben. Ein einziges Foto hatte ein Gefällt-mir-Herzchen von jemand anderem als Monique bekommen. Und dabei war diese Eichhörnchenjacke echt der HAMMER gewesen. Warum also sollte sich irgendwer ausgerechnet für dieses Bild interessieren?

Mein Handy gab ein »Ping« von sich, was bedeutete, dass jemand mich reflittet hatte.

Ich öffnete meinen Account, um nachzusehen, was Mo geschrieben hatte.

@attackoftherach_face: Danke für die Nervennahrung.

Darunter war das Bild, das ich gepostet hatte. Dieses süße, schiefe Lächeln, das seine Lippen umspielte, war einfach zum Anbeißen. So sehr, dass ich mich zu einem kleinen Kommentar hatte hinreißen lassen:

@Mo_than_you_know: Echt lecker, was die bei Burger Barn heute im Angebot haben. #DAZUhätteichgernPommes

Gott, ich war ja so eine Idiotin.

KYLE

DIENSTAG, 17:00 Uhr

Die Mädchen, die zu mir an die Kasse kamen, sahen aus wie dreizehn. Siebte, achte Klasse vielleicht. Und alle kicherten.

Meine Güte, was sollte dieses ganze Gekicher heute? Ich wusste selbst, dass ich mit dieser Mütze wie der letzte Volldepp aussah, aber bis jetzt war das niemandem groß aufgefallen. Dreizehnjährige Mädchen waren echt ein Mysterium für sich.

Die Anführerin hatte lange, glatt zurückgekämmte straßenköterblonde Haare und Fingernägel, die ziemlich offensichtlich aus Plastik waren. Mit einer Handbewegung brachte sie ihr Gefolge zum Schweigen und gab ihre Bestellung auf.

»Okay, also, äh, wir hätten gerne drei Schokoshakes. Und einen Burger für Laurie.« Dabei verdrehte sie übertrieben genervt die Augen. Laurie musste das Mädchen ganz hinten sein. Sie hatte die Schultern hochgezogen und sah auf den Boden. Mädchen konnten echt fies zueinander sein. »Und eine Diätcola, bitte.«

Ich gab alles in die Kasse ein.

»Darf’s sonst noch was sein?«

»Oh, ach so, ja, eins noch.« Sie biss sich auf die Unterlippe und warf ihrem Gefolge einen Blick über die Schulter zu. Wie aufs Stichwort brach die gesamte Gruppe wieder in Gekicher und Gequietsche aus. Es klang wie ein lachender Dudelsack. Ich konnte die Gummis an der Zahnspange der Anführerin sehen. Sie hatte sich Knallrosa ausgesucht. »Dazu hätte ich gern Pommes.«

Dann fing auch sie an zu lachen und vergrub ihr Gesicht an der Schulter einer ihrer Untertaninnen. Das Gekicher der Gruppe nahm völlig neue Ausmaße an. Ein paar flüsterten: »Ich kann nicht fassen, dass du das echt gemacht hast«, und überall wurden anerkennend Augenbrauen hochgezogen.

Puh. Teenie-Mädchen waren wirklich nervig. Und diese hier ganz besonders.

»Das macht dann dreiundzwanzig achtzehn«, sagte ich, um einen möglichst neutralen Tonfall bemüht. Je weniger Angriffsfläche man bietet, desto besser. Das hatte ich letzten Sommer als Trainer in einem Lacrosse-Ferienlager auf die harte Tour gelernt. »Der Getränkeautomat ist rechts von euch«, ergänzte ich und schob einen Pappbecher mit Plastikdeckel über den Tresen.

Nachdem sie noch einige Sekunden damit verbracht hatten, theatralisch nach Luft zu schnappen und mit den Händen zu wedeln, bezahlten die Mädchen und machten sich aus dem Staub, wobei sie mir über die Schulter hinweg immer wieder Blicke zuwarfen. Uff.

Nach ihnen war ein Mann mittleren Alters an der Reihe, dessen dicker Bauch unten aus seinem Poloshirt herausquoll. Er bestellte ein »Lite & Tasty«-Menü.

Dann stand die nächste Gruppe quietschender Mädchen vor mir. Diese sahen ein bisschen älter aus. Neunte Klasse, schätzte ich. Und auch sie kicherten wie blöde. Normalerweise gab es bei Burger Barn nicht viel zu lachen, nicht mal für Mädchen. Abgesehen davon konnte ich mich nicht daran erinnern, wann wir das letzte Mal so viel weibliche Kundschaft gehabt hatten.

Fand im Einkaufszentrum vielleicht irgendeine Veranstaltung statt? Der Auftritt eines Popstars oder so was? Eins der Mädchen zeigte auf mich und zog ihr Handy aus der Tasche, als wolle sie ein Foto von mir machen. Was ziemlich seltsam und irgendwie gruselig war. Ich überlegte, ihr zu sagen, dass ich nicht der war, für den sie mich anscheinend hielt, aber das hätte die Sache eher noch schlimmer gemacht. Denn dann hätte sie am Ende bestimmt mit mir reden wollen.

Diese Schicht konnte nicht schnell genug zu Ende gehen.

#

Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie so viele Mädchen Pommes bestellen sehen. Am liebsten wäre ich schnell zu meinem Schließfach geschlichen, um zu googeln, was los war, aber dienstags war ich der Einzige an der Kasse. Normalerweise war während meiner gesamten Schicht tote Hose.

Doch heute waren bereits um Viertel vor sechs alle Pommes ausverkauft. Das war uns noch nie passiert. Um Viertel nach sechs beschloss Jim, der Geschäftsführer, für heute zu schließen, obwohl es dafür eigentlich zwei Stunden zu früh war. Aber uns gingen langsam die Vorräte aus. Das einzige, was wir noch übrig hatten, waren Hähnchen-Nuggets. Ohne Soße.

Zu diesem Zeitpunkt erstreckte sich unsere Warteschlange am China-Imbiss vorbei bis um die Ecke bei Gap. Sie bestand größtenteils aus Mädchengruppen, zwischen denen hier und da ein paar ziemlich genervte Erwachsene feststeckten, und war gut und gerne fünfzig Personen lang.

Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Ich meine, ich esse dieses Zeug praktisch jeden Tag. Es gibt keinen Grund, so lange dafür anzustehen.

Ich ging zu meinem Schließfach, wobei ich meine Schultern kreisen ließ wie sonst nur nach einem besonders anstrengenden Training. Die Mädchen hatten alle gelacht. Ein Großteil von ihnen hatte Fotos gemacht. Das Ganze war … beängstigend gewesen. Wie sie mich angestarrt und alle dasselbe bestellt hatten, sogar mit exakt denselben Worten. Ich war mir vorgekommen, als wäre ich in einem Zombie-Film gelandet, nur dass der Film diesmal in einem Fastfood-Restaurant spielte, statt auf einer Militärbasis.

Anfangs war die Sache eigentlich ganz harmlos gewesen. Meine erste Vermutung war, dass es sich um ein superdämliches Einführungsritual des Cheerleaderteams handelte. Aber nach dem dritten oder vierten kicher-kicher-DAZU-HÄTTE-ICH-GERN-POMMES-kicher-kicher fragte ich mich, ob sich nicht vielleicht jemand einen Scherz mit mir erlaubte. Dave Rouquiaux aus dem Lacrosse-Team, zum Beispiel. Er versuchte ständig, uns nach dem Spiel oder in der Umkleide irgendwelche Streiche zu spielen. Einmal hatte er aus Rache eine halbe Flasche Abführmittel in Eric Wingers Iso-Drink gekippt, weil er dachte, Eric hätte was mit einem Mädchen am Laufen, das er selbst mochte. Ein anderes Mal hatte er dem gesamten Team kurz vor dem Training die Schnürsenkel geklaut. Einfach nur so. Aus Spaß. Sogar seine eigenen hatte er verschwinden lassen, um den Verdacht von sich abzulenken. Das hier war genau die Art von Streich, die sich Dave ausdachte, wenn ihm langweilig war. So war Dave eben.

Aber wie hätte er eine Zillion Mädchen überreden sollen, bei Burger Barn Essen zu kaufen, nur um mich zu verarschen? Kannte Dave überhaupt so viele Mädchen? Unwahrscheinlich.

Seufzend öffnete ich mein Schließfach und warf die Mütze hinein. Ich guckte den Stapel T-Shirts durch. Nur noch ein sauberes übrig. Den Rest musste ich dann wohl mit nach Hause nehmen und waschen. Super.

Ich joggte zurück zur Kasse, um mir eine Plastiktüte für die Shirts zu holen.

KLICK, KLICK, KLICK, KLICK.

Zwei Mädchen hatten auf der Lauer gelegen. Bis ich mich soweit erholt hatte, dass ich ihnen »Was geht denn hier ab?« nachrufen konnte, hatten sie bereits die halbe Fressmeile hinter sich gelassen, wobei sie im Slalom um die anderen Kunden mit ihren vollbeladenen Tabletts herumsprinteten. Wenn sie einigermaßen mit dem Schläger umgehen konnten, würden sie sich sicher gut im Lacrosse-Team machen. Die eine gab dabei so ein aufgeregtes Keuchen von sich, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Oder implodieren. Dieser Tag wurde seltsamer und seltsamer.

So schnell ich konnte, ging ich zu meinem Schließfach zurück. Unterwegs machte ich vor Jims Spiegel halt, um nachzusehen, ob ich vielleicht einen dicken, fetten Eiterpickel im Gesicht hatte oder mir irgendwo ein Riesenpopel klebte. Einfach irgendetwas, weswegen man sich extra auf die Lauer legen würde, um ein Foto davon zu machen. Vielleicht wuchs mir ja ein haariges, blutiges Etwas aus dem Nacken. Wie hießen die Dinger noch mal? Parasitäre Zwillinge?

Aber ich konnte nichts Unnormales feststellen. Ich sah ganz genauso aus wie immer, außer dass ich nach wie vor mein Burger-Barn-T-Shirt anhatte, das von oben bis unten mit Fettflecken übersät war. Ich ging zum Schließfach und stopfte die schmutzigen T-Shirts in die Tüte. Ich musste hier weg. Und zwar sofort.

Nachdem ich mich umgezogen und einen Blick auf den Arbeitsplan geworfen hatte, um nach meiner nächsten Schicht zu sehen, nahm ich mein Handy aus dem Schließfach. Handys waren während der Arbeit an der Kasse nicht erlaubt.

Ich schaltete es ein.

10 Benachrichtigungen …

Das kleine Ladesymbol oben auf dem Monitor drehte sich weiter …

36 Benachrichtigungen …

… und weiter.

492 Benachrichtigungen …

Verdammt.

Dann gab es völlig den Geist auf. Es ging einfach aus. Blip.

Echt jetzt: Was zur Hölle war hier los?

Ich schaltete das Handy wieder ein und legte es aufs Regalbrett. Es zuckte und vibrierte unablässig. Schließlich gab es ein lautes Klingeln von sich, vibrierte ein letztes Mal und verstummte dann. Vorsichtig nahm ich es in die Hand.

13.178 Benachrichtigungen

Es vibrierte erneut.

14.256 Benachrichtigungen

Kurz verschwamm das Display vor meinen Augen. Das ergab keinen Sinn. Ich öffnete meine Nachrichten.

Allem Anschein nach hatte mir jeder, wirklich jeder Kontakt in meinem Adressbuch geschrieben. Und dazu noch einige Nummern, die ich nicht kannte. Die allererste Nachricht kam von Ollie, meinem besten Freund im Team. Ich mochte Ollie. Er war ruhiger als die anderen Jungs, und er versuchte nie, anderen irgendwelche Streiche zu spielen, verurteilte aber auch niemanden dafür. Es schien ihn einfach nicht zu interessieren. Damit trieb er Dave regelmäßig zur Weißglut. Und das war echt zum Schießen.

(Von Ollie): Alter, du trendest gerade.

Wovon redete er? Ich scrollte zu seiner ersten Nachricht zurück.

(Von Ollie): Zieh dir das mal rein, die halbe Welt schickt das schon rum.

(Von Ollie): Hast du dieses Foto von dir gesehen? Irgendein Mädel aus der Elften steht auf dich.

(Von Ollie): Du bist dabei, Flit zu killen.

Ich öffnete meine Flit-App.

@jenDintheHEE und 15.822 weitere User haben einen Flit reflittet, in dem du erwähnt wurdest

Ich sah mir den Flit an. Er war von Erin Rothstein, einem Mädchen aus dem Tanzteam, das manchmal mit meiner Freundin Emma rumhing. Na ja, genau genommen war Emma mehr oder weniger meine Ex. Aber egal, Erin hatte nur den Flit von jemand anderem übernommen und »OMG das ist @YourBoyKyle_B« dazugeschrieben.

Ich klickte den Original-Flit an.

62.414 Reflits

Meine Beine gaben unter mir nach. Ich glitt an den Schließfächern entlang nach unten, bis ich auf dem welligen Linoleumboden saß.

Es war ein Foto von mir an der Kasse. Ich hatte meine Uniform an und sah aus wie ein totaler Volltrottel. Der dazugehörige Hashtag lautete: #DAZUhätteichgernPommes.

Allem Anschein nach war es heute erst aufgenommen worden. Und trotzdem war es schon so oft reflittet worden? Ich runzelte die Stirn und versuchte, mir einen Reim darauf zu machen. Deswegen hatten die ganzen Mädchen heute Nachmittag »Dazu hätte ich gern Pommes« gesagt. Die hatten also alle das Foto gesehen … seit meine Schicht begonnen hatte. Um vier.

Ich holte tief Luft, schloss die Augen und atmete aus. Laut Coach Laughton half das, sich besser zu konzentrieren, aber mir wurde eigentlich nur noch schwindeliger davon.

Okay, eins nach dem anderen: Wer hatte das Foto gemacht? Der erste Flit schien von »@attackoftherach_face« zu stammen. Das konnte so gut wie jeder sein. Der Account gehörte jemandem namens »oh RHEally«, was auch nicht gerade weiterhalf. Ich sah mir das winzige Foto an. Darauf war eigentlich nur ein wildes Gestrüpp aus lockigem dunkelbraunem Haar zu sehen.

Moment mal.

Das war eindeutig diese Rachel, dieses seltsame, stille Mädchen aus dem Schreibkurs. Wir hatten uns zu Beginn meiner Schicht unterhalten. Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. Sie war verknallt in mich? Sie sah eher aus wie jemand, der mit einundzwanzigjährigen Kettenrauchern ausging, die Skinny-Jeans trugen und Bass in irgendeiner Punkband spielten.

Hm. Das kam jetzt unerwartet.

Ohne nachzudenken, klickte ich auf »Folgen«. Damit hatte sie jetzt ganze neunundzwanzig Follower. Sie selbst folgte vierzehn anderen Usern, und einer davon war Alec Baldwin, der meines Wissens älter war als meine Eltern. Wer war dieses Mädchen?

Oh, halt, stopp.

Ich ging zurück zu meinen Benachrichtigungen.

11K neue Follower

11K. In Worten: elftausend.

Heute Morgen waren es noch 289 gewesen. In Worten: zweihundertneunundachtzig. Das wusste ich, weil ich nachgesehen hatte.

Ich spürte, wie mein Herz zu rasen begann. Es hämmerte regelrecht gegen meinen Brustkorb. Was war hier los? Warum teilte plötzlich die halbe Welt ein Foto von mir? Ich meine, ich wusste natürlich schon irgendwie, dass ich einigermaßen gut aussah; andernfalls hätte ich niemals bei Emma landen können. Aber ich war nun wirklich nichts Besonderes. Mein Bruder Carter war der Hübsche in der Familie. Oder Ollie, der sah immer ein bisschen aus wie so ein grüblerischer Filmstar. Bei ihm hätte ich mir diese ganze Sache ja noch erklären können. Aber bei mir? Ernsthaft?

Ich stopfte die Tüte mit den schmutzigen T-Shirts in meinen Rucksack und joggte zum Hinterausgang des Ladens. Die Tür führte zu einem Angestelltenparkplatz, auf dem auch die Müllcontainer mit Abfällen der Fressmeile standen. Weit und breit war niemand zu sehen. Ich war noch nie so froh gewesen, neben Müll geparkt zu haben.

Ich stieg ins Auto und krallte die Finger ums Lenkrad, bis meine Hände aufhörten zu zittern. Gott sei Dank hatten die Mädchen nicht rausgefunden, wo mein Wagen stand. Ich konnte mir zwar nicht vorstellen, wie sie das hätten rausbekommen sollen, aber ich hatte auch keine Ahnung, wie sie so schnell die richtige Burger-Barn-Filiale entdeckt hatten.

Das Display meines Handys leuchtete erneut auf. Ich griff danach, um das verdammte Ding abzuschalten. Die ganze Sache überforderte mich. Ich brauchte Zeit, das alles zu verdauen.

Emmas Foto erschien auf dem Bildschirm. Sie hatte es in meiner Kontaktliste gespeichert, als wir uns zum ersten Mal getroffen hatten. Fast ein Jahr war das jetzt schon her. Auf dem Foto trug sie knallroten Lippenstift und machte ein völlig übertriebenes Duckface. Ihr gefiel dieses Bild sehr viel besser als mir.

Ich beschloss ranzugehen.

»Hey, Em.«

»Ohmeingott, KYLE. Ich versuch schon DEN GANZEN TAG, dich anzurufen. Hast du meine Nachrichten nicht bekommen?« Sie sprach schnell, selbst für ihre Verhältnisse. Sie klang atemlos.

»Nee, sorry. Ich war arbeiten.«

»Flit hast du aber schon gesehen.«

»Ja. Ja, das hab ich gesehen.« Ich kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn. Mir war immer noch nicht klar, was hier eigentlich gerade passierte. Allein darüber nachzudenken, bereitete mir Kopfschmerzen. Ich kurbelte das Autofenster runter. Die Luft hier drin hatte sich in der Nachmittagssonne aufgeheizt, ich fühlte mich plötzlich eingeengt, und der Innenraum des Wagens wirkte klaustrophobisch. Der frische Windhauch von draußen tat gut, auch wenn er durchdringend nach ranzigem Frittierfett und kiloweise vergammelndem Gemüse stank.

»Wer ist dieses Mädchen überhaupt? Ich kann nicht fassen, dass sie dich fotografiert hat. Voll erbärmlich.«

Ich mochte es nicht, dass Emma Rachel als erbärmlich bezeichnete, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ein bisschen seltsam war es ja schon. »Sie geht in die Elfte.«

»Ach, wie süß.«

Emmas Stimme klang ausdruckslos. Ich sollte wohl besser nicht weiter über Rachel reden. Emma konnte schnell eifersüchtig werden.

»Kann sein.«

»Egal, was machst du gerade?«

»Ich fahr jetzt nach Hause. Wir haben heute früher Schluss gemacht. Uns sind die Vorräte ausgegangen.«

»Ernsthaft? Ich dachte, ihr hättet fünf Kühltruhen voll mit dem Zeug.«

»Haben wir. Normalerweise. Aber heute waren haufenweise Mädchen aus der Mittelstufe da und wollten alle Pommes. Wahrscheinlich wegen dem Foto.«

»Krass.« Emma stieß einen leisen Pfiff aus. »Die haben dich aufgespürt? Das ist doch gestört. Geht es dir gut? Das klingt ja fast schon unheimlich.«

»Ja, war es auch irgendwie.« Ich atmete aus. Emma war schon immer gut darin gewesen, zwischen den Zeilen zu lesen und das zu hören, was ich nicht aussprach. Das war eine der Eigenschaften, die ich so an ihr mochte. Vielleicht lag es daran, dass wir beide sonst nicht viel Aufmerksamkeit bekamen. Emmas Dad war zu sehr damit beschäftigt, sich alle paar Jahre scheiden zu lassen und neu zu heiraten, um wirklich für sie da zu sein. Ihre Mom und ihr Stiefvater schienen ganz nett zu sein, aber sie meinte, sie würden ihren gemeinsamen Sohn Nathan mehr lieben als sie.

Bei mir war es nicht ganz so dramatisch. Mein Bruder Carter war der Vorzeigesohn, der gute Noten schrieb, ehrgeizig war und supergut aussah. Dagegen wirkte ich wie ein billiger Abklatsch von ihm. Ich war so eine Art Carter junior, nur in schlechter, an dem meine Eltern schon vor Jahren das Interesse verloren hatten. Immerhin war ich größer als er.

»Ich bin nur froh, dass sie mein Auto nicht entdeckt haben. Ich hatte echt Schiss, dass ich ein paar von denen auf dem Rücksitz finden würde.« Ich drehte mich nach hinten, um mich zu vergewissern, dass ich nicht doch irgendwen übersehen hatte, aber da war niemand.

»Wenn ihr früher Schluss gemacht habt, musst du doch nicht gleich nach Hause fahren, oder?«

»Keine Ahnung. Warum?«

»Vielleicht kannst du ja vorbeikommen. Eigentlich wollte Dad heute mit mir essen gehen, aber er hat in letzter Sekunde abgesagt. Mal wieder. Wahrscheinlich hat Lindsay irgendeine Veranstaltung oder so was. Ich weiß es nicht.« Emma legte eine Pause ein. Sie erzählte nicht viel über die aktuelle Freundin ihres Dads. »Jedenfalls sind Mom und Martin irgendwo unterwegs, und Nathan ist bei einem Freund, das heißt, ich sitz hier ganz alleine rum und kann nicht mal Videospiele mit meinem kleinen Bruder spielen. Ganz schön armselig, was?«

Ich kniff die Augen fest zu und lehnte meinen Kopf gegen das Lenkrad.

Lud sie mich gerade ein, weil sie wieder mit mir zusammenkommen wollte? Oder war sie bloß einsam und neugierig wegen der Flit-Sache und dachte, ich würde auf einen Wink von ihr angelaufen kommen? Wenn ich zu ihr fuhr, würden wir die Sache zwischen uns dann wieder in Ordnung bringen oder würde sie glauben, dass sie mich total unter Kontrolle hatte? Emma war nicht der Typ, der sich auf eine Beziehung mit jemandem einließ, den sie zu leicht rumkommandieren konnte.

Ich brauchte definitiv einen Übersetzer für Mädchensprache.

»Bevor du armselig wirkst, muss aber noch einiges mehr passieren«, antwortete ich. Das war das am wenigsten Kitschig-Anhängliche, was mir einfiel und trotzdem noch irgendwie zutraf.

»Du bist süß.«

»Ich bin nur ehrlich.«

»Also, wie sieht’s aus? Kommst du vorbei? Ich glaube, ich hab den ganzen Abend sturmfrei. Außerdem stehen bei dir zu Hause wahrscheinlich schon die ganzen Mittelstufen-Mädchen vor der Tür. Und du hast selbst gesagt, du hast keine Pommes mehr.«

Ich lachte.

»Guter Punkt.« Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie recht sie damit vermutlich hatte.

Aber ich konnte nicht Ja sagen, solange ich nicht wusste, was sie vorhatte. Wenn sie damit beweisen wollte, dass wir »nur Freunde« sein konnten, sollte ich lieber gleich nach Hause fahren. Das würde auf lange Sicht einiges einfacher machen.

»Heißt das … Ich dachte, wir hätten Schluss gemacht?« Es war gerade mal eine Woche her, dass Emma mir gesagt hatte, sie bräuchte »mal etwas Zeit für sich«. Wenn man unsere ersten beiden Trennungen zum Maßstab nahm, waren es noch gute zwei Wochen hin, bis ihr auffiel, dass sie mich »ja so sehr vermisst« hatte.

Erbärmlich, ich weiß. Eigentlich hätte ich sie längst abservieren sollen. Aber Emma war etwas Besonderes. Klar, sie war echt heiß, das war kaum zu übersehen. Aber sie war auch echt gut darin, zu erkennen, wie es jemandem ging. Wie es mir ging. Emma merkte, wenn ich mies drauf war oder wir irgendwo waren und ich wegwollte. Manchmal sogar schon, bevor ich es selbst wusste. Es war, als würde sie mich einfach deutlicher wahrnehmen als andere. Und im Gegenzug erhaschte ich, wenn wir alleine waren, ab und zu einen winzigen Blick auf ihre … verletzliche Seite. Die meisten Leute kannten sie nur als den strahlenden Sonnenschein, der sie zu sein vorgab. Aber wenn wir allein waren, war sie anders. Irgendwie kleiner und trauriger. In solchen Momenten wünschte ich mir nichts mehr, als sie wieder glücklich zu machen. Außerdem hatte sie so eine Art, mich anzusehen, die mir das Gefühl gab … keine Ahnung, als wäre ich was Besonderes oder so. Emma weckte in einem das Bedürfnis, cool genug zu sein, damit Emma mit einem abhängen würde.

»Na ja, wir haben ja auch Schluss gemacht«, sagte sie langsam. »Möchtest du denn, dass das so bleibt?«

»Ich wollte überhaupt nie Schluss machen«, antwortete ich wahrheitsgemäß.

»Ich doch auch nicht. Ich habe nur etwas Zeit für mich gebraucht, verstehst du? Ich würde mich echt freuen, dich zu sehen. Ich fühle mich so einsam gerade.« Sie seufzte, und bei dem Geräusch wurde mir ganz schwer ums Herz.

»Okay«, sagte ich. »Ich bin gleich da.«

Vielleicht war die Sache mit dem Foto ja doch gar nicht so schlecht.

RACHEL

DIENSTAG, 17:15 Uhr

Ich hatte wirklich nie im Leben damit gerechnet, dass irgendwer das Bild sehen würde.

Okay, Monique hatte es reflittet. Na und? Zuerst war ich deswegen ein bisschen sauer – sie musste doch wissen, dass ich nicht wollte, dass alle Welt mitbekam, wie toll ich Kyle Bonham fand –, aber andererseits war es auch kein großes Geheimnis, dass er gut aussah. Vielleicht wussten die Leute ja nicht mal, dass das Foto von mir stammte. Seit der Mittelstufe arbeitete ich einigermaßen erfolgreich daran, eine der am wenigsten bekannten Schülerinnen der Apple Prairie High zu sein. Besser ein Niemand als eine wandelnde Zielscheibe. Außerdem hatte Monique kaum mehr Follower als ich, und die Hälfte davon waren ihre Cousins und Cousinen.

Als Mom zu Hause in die Einfahrt bog, war ich bereits bei zehn Reflits.

Ich kannte nur eins der Profile, was bedeutete, dass acht Fremde mein Foto geteilt hatten. Das war seltsam. Nicht schlimm, aber auch nicht unbedingt toll.

»Rachel, um Himmels willen, jetzt steig schon aus.« Mom stand bereits draußen und sah mich durch das Autofenster an. »Manchmal denke ich echt, wir hätten dir das Ding niemals kaufen dürfen«, brummte sie.

Mit der linken Hand versuchte ich, den Gurt abzuschnallen, während ich mit dem rechten Daumen auf »Aktualisieren« klickte.

39 Reflits

Scheibendreck. Bald würde das irgendwer aus der Schule mitkriegen, und es brauchte wahrlich kein Genie, um eins und eins zusammenzuzählen. Sofern das nicht sogar schon passiert war. Wenn Kyle das mitbekam, wäre ich nicht länger das verrückte Mädchen aus dem Schreibkurs. Ich wäre einfach nur noch erbärmlich.

Eine Benachrichtigung erschien auf meinem Display.

@DanceQueenErin hat deinen Flit reflittet: OMG das ist @YourBoyKyle_B @attackoftherach_face Echt lecker, was die bei Burger Barn heute im Angebot haben. #DAZUhätteichgernPommes

Verdammt, verdammt, VERDAMMT.

Dann ging die Sache richtig durch die Decke.