Das Buch

Leinen los, Himmelsdiebe! Als Zoya von einer Bande von Himmelsdieben entführt wird, steht ihr Leben plötzlich kopf. Mit der sagenumwobenen Dragonfly, einem fliegenden Piratenschiff, durch die Lüfte zu segeln, wäre schon aufregend genug. Als dann aber auch noch der schrecklichste Pirat der Lüfte Jagd auf sie macht, weil sie den Schlüssel zu einem längst vergessen geglaubten Schatz besitzt, ist all ihr Mut gefordert. Mit einem Feind, der es auf ihr Leben abgesehen hat, setzt Zoya die Segel für das größte Abenteuer ihres Lebens.

Der Autor

[AUTHOR]

© privat

Dan Walker lebt gemeinsam mit seiner geliebten Frau Dominika mitten in England, etwas außerhalb von Nottingham. Seine Kindheit verbrachte Dan damit, die Hügel im Peak District rauf- und runter gescheucht zu werden, wie wahnsinnig Computerspiele zu zocken und das Buchregal seines Cousins zu plündern, um an die bunten Bücher ranzukommen. Später studierte er Englisch an der Universität von Derby – und seitdem arbeitet er mit wunderbaren Menschen in Buchläden, Bibliotheken und Schulen zusammen. Mittlerweile lässt Dan kaum mehr die Finger von seinem Computer, und wenn doch, dann versucht er, seiner Gitarre schöne Melodien zu entlocken, seine Lieblingsbücher zum achtundachtzigsten Mal zu lesen oder er tut alles dafür, die letzte Blaubeere aus der Tüte zu ergattern.

Mehr über Dan Walker: http://danwalkerauthor.weebly.com/

Dan Walker auf Twitter: https://twitter.com/sky_thieves

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Planet! in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!

Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autoren und Illustratoren: www.planet-verlag.de

Planet! auf Facebook: www.facebook.com/thienemann.esslinger

Viel Spaß beim Lesen!

Titelbild

Kapitelanfang.tif

1

Das Erste, was in der Decke des Büros auftauchte, war ein Fuß.

Er schob sich durch die oberen Balken, dicht gefolgt von einem Bein, bis schließlich der ganze Körper eines jungen Mädchens sichtbar wurde. Das Bein zappelte wild herum, als würde es tanzen. Kurz darauf kehrte Ruhe ein. Fuß, Bein und Po hingen in der Luft, bevor Zoya DeLarose sich geschickt auf den Boden hinabließ, wobei sie tief in die Knie ging. Ihre Augen funkelten in der Dunkelheit.

Die Luft ist rein, dachte sie.

Zoya ging durchs Zimmer und legte einen Schalter um, woraufhin der Raum in oranges Licht getaucht wurde. Kaum hatten sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt, erschrak sie vor sich selbst, als sie ihr blinzelndes Ebenbild im Spiegel entdeckte. Ihr lockiges Haar war völlig zerzaust und voller Spinnweben, und ihr Gesicht ganz zerkratzt. Ihre Kleidung war an mehreren Stellen eingerissen.

»Mist«, murmelte sie, als sie an einem losen Faden zog. »Das Oberteil mochte ich.«

Sie stand im Büro ihres Waisenhausbesitzers und -leiters, Mr Whycherley. Seit Zoyas letztem Besuch hier hatte sich kaum etwas verändert. Mr Whycherley war ein schlichter Mann, was man seinem Büro und der durchschnittlichen Einrichtung darin – Schränke, Kalender, Garderobenständer, Wasserkocher, Tassen und Papierkorb – deutlich anmerkte. Sein einziger Spleen war seine Begeisterung für Luftpiraten und ihre fliegenden Schiffe, eine Faszination, die Zoya teilte. Trotz der wiederholten Warnungen an die Kinder, sich von den Dieben der Lüfte (»Rabauken und Halunken, die in ihrem Leben noch keinen Tag gearbeitet haben!«) fernzuhalten, hatte deren raue Natur Mr Whycherley nicht davon abgehalten, die weltgrößte Sammlung von Andenken an die Luftpiraten zusammenzutragen – einschließlich Gemälden, Schlüsselanhängern und Schiffsmodellen. Der Bücherschrank des Büros hatte sogar einen eigenen Abschnitt nur für die Himmelsdiebe. Eins dieser Bücher stach Zoya nun ins Auge: Luftpiraten: Räuber des Himmels. Sie nahm sich vor, Mr Whycherley bei ihrer nächsten Unterhaltung zu fragen, ob sie es sich borgen konnte.

Ansonsten gab es nur einen Gegenstand im Raum, der auffiel: Mr Whycherleys reich verzierter Holzschreibtisch. Und darin, das wusste Zoya, musste ihr Anhänger sein. Mr Whycherley hatte ihre Kette vor drei Tagen konfisziert, als Strafe dafür, dass sie einen Wettbewerb organisiert hatte, um zu sehen, welcher ihrer Freunde die meisten rohen Eier essen konnte, ohne sich zu übergeben. Wie sich herausgestellt hatte: Keiner hatte auch nur ein einziges heruntergebracht. Im Anschluss daran hatte Mr Whycherley ihre Kette für eine Woche beschlagnahmt. Für Zoya war das reine Folter. Jede Stunde ohne den Anhänger fraß sie innerlich auf, bis sie kaum noch atmen konnte. Er war ihr Ein und Alles, ihr Talisman, das Einzige im ganzen Waisenhaus, das wirklich ihr gehörte. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, dass sie versuchte, ihn sich zurückzuholen.

Zoya griff in die Hosentasche und holte eine Haarklammer heraus. In einem Waisenhaus aufzuwachsen hatte sie viele Tricks gelehrt, doch der eindeutig nützlichste davon war, wie man Schlösser knackte. Sie bog die Klammer, bis sie einer Nadel ähnelte, und schob sie dann ins Schloss der obersten Schreibtischschublade. Konzentriert legte sie den Kopf zur Seite und begann, die Nadel mal nach links, dann nach rechts zu bewegen und in der Öffnung zu drehen, bis ein Klicken ertönte.

Zoya öffnete die Schublade. Da lag ihre Kette und schimmerte im Licht der Lampe. Sie legte ihre Hand darauf, atmete erleichtert ein und blickte dann zu dem Loch in der Decke.

»Alles klar. Dann nichts wie weg.«

»Zu spät, wie ich fürchte«, hörte sie hinter sich eine Stimme.

Zoya wirbelte herum, wusste aber natürlich längst, wer es war.

Im ganzen Waisenhaus hatte nur einer so eine tiefe Stimme. »Hallo, Mr Whycherley.«

Kapitelanfang.tif

2

»Zoya DeLarose, ich hätte es mir denken können«, sagte Mr Whycherley.

»Ich hatte Sie erst in fünf Minuten erwartet«, meinte Zoya.

»Oh, ich bitte vielmals um Verzeihung«, erwiderte Mr Whycherley. »Pünktlichkeit war noch nie meine Stärke. Würdest du mir nun bitte erklären, was du in meinem Büro zu suchen hast und warum ein Stück Decke auf meinem Schreibtisch liegt?«

Zoya dachte nach.

»Wenn ich es dir abkaufen soll«, ergänzte Mr Whycherley, »muss es eine wirklich gute Ausrede sein, Zoya, selbst für dich.«

Zoya ließ sich jede denkbare Erklärung durch den Kopf gehen: dass sie ein Feuer bemerkt hatte, dass sie einen Einbrecher gehört hatte, dass sie schlecht geträumt hatte. Nichts davon klang glaubhaft. Mr Whycherley würde ihr eher noch abnehmen, dass sie geschlafwandelt war, als irgendeinen Blödsinn über Feuer und Einbrecher.

»Sir«, gestand Zoya, »mir fällt nichts ein, was mir nicht noch mehr Ärger einbrockt.«

»Kluge Entscheidung«, meinte Mr Whycherley. »Wie wäre es dann mit der Wahrheit? Zur Abwechslung.«

Mr Whycherley beobachtete Zoya, die ihren Fuß in den Teppich bohrte, und begriff, dass er die Wahrheit nie aus ihr herausbringen würde. Er zog sein Jackett aus und hängte es an den Kleiderständer. Er war groß und hatte dickes, struppiges rotbraunes Haar, das grundsätzlich so aussah, als wäre er gerade einem Wirbelsturm entkommen. Sein Hemd war immer zerknittert, voller Flecken und zwei Nummern zu groß. Alles in allem erinnerte er viel mehr an einen verwahrlosten Piraten als an den Besitzer eines Waisenhauses.

Trotzdem war Mr Whycherley nicht zu unterschätzen. Ganze Generationen von glücklosen Waisenkindern hatte er dazu inspiriert, etwas aus ihrem Leben zu machen, wodurch er sich einen besonderen Platz in Zoyas Herzen verdient hatte. Er war der einzige Mensch, den sie ehrlich respektierte.

Mr Whycherley wusste das und nutzte es zu seinem Vorteil, wann immer es nötig war. So wie jetzt. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch, die Füße auf die Platte gelegt, und fixierte Zoya lange und schweigend, während das Zimmer von Stille erfüllt war. Schließlich wandte Zoya den Blick ab. Da erst fing Mr Whycherley an, zu reden. »Wie lange bist du nun schon in meinem Waisenhaus, Zoya?«

»Zwölf Jahre, Sir.«

»Und wie oft warst du in dieser Zeit in meinem Büro?«

»Ich weiß nicht, Sir.«

»Nein? Na, zum Glück führe ich Buch.« Mr Whycherley öffnete die unterste Schublade seines Schreibtischs und holte ein rotes Buch heraus. Nachdem er es auf den Tisch gelegt hatte, schlug er es ungefähr in der Mitte auf, fuhr mit seinem Finger eine Spalte an der Seite entlang, bis er Zoyas Namen gefunden hatte, und schloss es dann wieder. »Achtundachtzig Mal«, sagte er. »Neunundachtzig, wenn man heute mitzählt. Das sind neunundachtzig Situationen, in denen ich dein Benehmen tadeln musste. Allmählich habe ich den Verdacht, dass meine Worte bei dir zum einen Ohr hinein- und zum anderen wieder herausgehen, ohne auf der Durchreise auch nur eine Nacht zu verbringen.«

Mr Whycherley hob erwartungsvoll die Augenbrauen und hoffte auf eine Antwort, die jedoch ausblieb. »Soll ich dir etwas verraten?«

»Sir?«

»Ich mache diese Arbeit nun schon recht lange. Ich habe Hunderte von Kindern durch meine Türen kommen sehen – einige verrückt, einige verschlagen, manche strohdumm. Sogar intelligente Kinder waren dabei, auch wenn die selten sind. Ich verrate dir etwas, Zoya: Du bist, ganz ohne jeden Zweifel, das intelligenteste Kind, für das ich je gesorgt habe.«

Zoya lächelte.

»Das ist kein Kompliment«, sagte Mr Whycherley. »Weißt du, schlau sein ist einfach. Mit Verstand wird man geboren. Was dagegen schwer ist, ist zu entscheiden, was man mit seinem Verstand anfängt. Ich habe den Eindruck, mit deinem fängst du rein gar nichts an.

Ich habe dir längst erklärt, was du machen musst, um in Zukunft nicht mehr in meinem Büro zu landen«, fuhr er fort. »Ich habe dir eingeschärft, nicht negativ aufzufallen, Bücher zu lesen, gute Noten zu schreiben. Du willst später mal fliegen, nicht?«

Zoya zuckte zusammen. Mr Whycherley hatte recht. Schon lange träumte sie davon, dem Waisenhaus zu entkommen und in den Himmel abzutauchen. Ob als Frachterpilotin für die Post, als Soldatin des Fliegerheers oder sogar als Crew-Mitglied auf einem der berüchtigten Luftschiffe der Himmelspiraten, war Zoya völlig egal. Hauptsache, sie schaffte es in die Wolken.

»Tja, es spricht eigentlich nichts dagegen. Du könntest Pilotin, Anwältin oder Ärztin werden, alles. Aber es liegt allein an dir, Zoya. Ich kann das nicht für dich regeln.«

Mr Whycherley holte Luft. Zoya konnte praktisch sehen, wie die Rädchen in seinem Kopf arbeiteten.

Wenig später beugte er sich vor und griff noch einmal in die Schublade, die Zoya entriegelt hatte. Er holte Zoyas Kette heraus – der Anhänger, der daran baumelte, war oval und tiefschwarz. Zoya wollte danach greifen, doch Mr Whycherley hob ihn außer Reichweite. »Ich vermute, du hattest es darauf abgesehen?«

Zoya sah zu der Kette, dann zu Mr Whycherley. Sie nickte.

Mr Whycherley schüttelte den Kopf und warf ihr den Anhänger zu. »Nun, ihn zu konfiszieren hat nichts gebracht, was?«

Zoya legte sich das Schmuckstück um den Hals. Zum ersten Mal seit Tagen verschwand das nagende Gefühl in ihrem Bauch.

»Etwas in mir ist davon überzeugt, dass es nichts bringt, dich zu bestrafen«, seufzte Mr Whycherley. »Es hält dich auch nicht davon ab, so etwas noch einmal zu tun. Doch den anderen gegenüber wäre es nicht fair, dich einfach so davonkommen zu lassen.« Er knirschte mit den Zähnen und spähte dann zu einem Kalender über dem Bücherregal. »Ah ja, das sollte gehen.« Mit einem verschlagenen Grinsen wandte er sich Zoya zu. »Morgen früh findet ein Besuch im Luftmuseum statt.«

Zoyas Herz machte einen Satz. Ein Ausflug, um die weltgrößte Sammlung von Luftschiffen zu sehen?!

»Mr Maxim geht mit den Jüngeren dorthin. Du wirst sie begleiten. Geht auf mich.« Er zwinkerte.

Der Gedanke an die Kleinkinder verdarb Zoya die Vorfreude schlagartig. »Aber …«

Mr Whycherley blickte Zoya scharf an. »Du gehst mit«, sagte er bestimmt. »Und je nachdem, wie du dich benimmst, entscheiden wir, ob eine weitere Strafe nötig ist. Einverstanden?«

Zoya öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann jedoch und nickte nur. Mr Whycherley schwang die Füße vom Schreibtisch, stand auf und öffnete seine Bürotür. »Und jetzt schnell raus mit dir, bevor ich meine Meinung noch ändere.«

Kapitelanfang.tif

3

Garibald Amstads Fabelhafte Welt der Flugmaschinen war vom reichsten Luftschiffhersteller der Welt (»Können Sie es fliegen, können wir es bauen!«) gegründet worden. Amstad wollte all den Menschen, die seine billigen Schiffe gekauft und einen Multimillionär aus ihm gemacht hatten, etwas zurückgeben.

Sobald der lärmende Pulk aus Kleinkindern durch die Türen trat, tat sich vor ihnen eine Parade aus Frachtschiffen, Airbussen, Touristenfliegern, Kriegsflugzeugen, Kreuzern und Himmelspiraten-Luftschiffen auf.

»Ladys und Gentlemen – und kleine Ladys und Gentlemen, willkommen in der Fabelhaften Welt der Flugmaschinen!«, begrüßte sie der Museumsführer, den man ihnen zugeteilt hatte, herzlichst. »Eure Habseligkeiten könnt ihr hinter dem Tresen ablegen, während ich alles für eure fabelhafte Flugreise vorbereite.«

Der Mann hatte eine Figur wie eine Birne. Er trug einen grünen Anzug, einen grünen runden Filzhut und über seiner Oberlippe einen schmalen Schnauzer, der sich nach links und nach rechts wie ein Fächer ausbreitete.

»Mein Name ist Roger Bartholomew Panklehurst und ich bin heute euer Museumsführer. Mein Arbeitgeber, Mr Amstad, hat mir anvertraut, dass er euch alle für etwas ganz Besonderes hält. Daher hat er mich gebeten, euch eine ganz besondere Führung zu geben. Du, junger Mann«, er zeigte auf einen der Kleinen aus Zoyas Gruppe, »wie heißt du?«

Das Kind erstarrte mit dem Finger in der Nase, in der es gerade fleißig gebohrt hatte.

Marvy linste zu seinem Lehrer, Mr Maxim, der ihm mit einem Nicken die Erlaubnis zum Sprechen gab.

»M-M-Marvy …«

»M-M-Marvy, schöner Name. Marvy, was meinst du, wie die meisten Menschen die Fabelhafte Welt der Flugmaschinen besichtigen?«

»Zu Fuß?«

»Ganz genau. Zu Fuß. Findest du, die Kinder aus Mr Whycherleys Waisenhaus sollten sich die Schuhe abwetzen müssen?«

»Ja«, antwortete Marvy, der alles richtig machen wollte.

»Aber ganz und gar nicht!«, erwiderte Roger Panklehurst. »Geschätzte Gäste wie euch den ganzen Tag lang herumlaufen lassen? Nie und nimmer! Für ganz besondere Besucher habe ich etwas ganz Besonderes.«

An der Wand hinter dem Museumsführer war ein roter Knopf angebracht, neben dem ein Schild mit der Aufschrift ›Nicht drücken!‹ hing. Roger schritt zu dem Knopf, zwinkerte den Kindern verschwörerisch zu und drückte darauf. Ein leises Klicken ertönte, bevor die Wand hinter ihm beiseiteglitt und den Blick auf Schienen mit mehreren Waggons in Form von Amstads berühmtem Luftschiff freigab. Die kleineren Kinder rissen vor Staunen den Mund auf und selbst Zoya schnappte nach Luft. Nachdem sie das Gefährt einen Augenblick bewundert hatten, hüpften die Kinder an Bord und stritten sich um die besten Plätze, während Mr Maxim auf den letzten übrig gebliebenen Sitz kletterte. Roger sprang auf die Plattform an der Spitze und breitete die Arme aus. »Wer hat Lust auf fliegende Schiffe?«

Die Kinder jubelten.

»Wer will das erste Luftschiff sehen, das je gebaut wurde?«

»Ja!«, riefen die Kinder.

»Wer will die Überreste der Sternenwippe sehen, des ersten Luftschiffs, mit dem die großartigen Brüder Wangle um die Welt geflogen sind?«

»Wir!«

»Wer will«, Roger kostete jedes Wort aus, »das schwarze Schiff des Verderbens von Käpt’n Schmierbart dem Grausigen sehen?«

»Wir!«

»Na dann«, sagte Roger, »schnallt euch an, denn wir fliegen LOS!«

Für Zoya war die Fabelhafte Welt der Flugmaschinen eine Offenbarung. Die Luftschiffe, von denen sie bisher nur gelesen hatte, wirklich zu sehen … es raubte ihr fast den Verstand. So oft hatte sie beim Spielen mit ihren Freunden so getan, als wären sie die Brüder Wangle, oder hatte die anderen als Käpt’n Schmierbart der Grausige über die Planken geschickt, dass sie nun inmitten der echten Schiffe den Eindruck hatte, als würde sie in eine Geschichte eintauchen.

Als sie ausstiegen, trat Zoya zu dem Gefährt, das sie am meisten faszinierte: Schmierbarts Schiff. Ein wahres Ungeheuer mit Turbomotoren und einer Artillerie, die dem Fliegerheer das Fürchten gelehrt hätte. Zoya fuhr mit den Fingern über den Kiel, dessen Metall sich ganz kalt anfühlte. Weiter hinten befand sich im Rumpf ein gewölbter Eingang, vor dem eine Gruppe Besucher herumwuselte, bevor sie schließlich mit eingezogenem Kopf hindurchtrat. Zoya folgte der Gruppe. Sie kam in eine große, von Laternen beleuchtete Kajüte, in der mehrere Familien auf Bänken Platz genommen hatten und sich einen Imbiss gönnten. Die komplette Rückwand wurde von Gemälden eingenommen, auf denen Luftpiraten zu sehen waren. Diese waren pyramidenförmig angeordnet: Unten befanden sich die harmlosesten Halunken, bis man schließlich ganz oben bei den furchtbarsten Luftpiraten angelangte. Einige der Himmelsräuber kannte Zoya: Fixyx, Goldsplitter und den Mann, in dessen Schiff sie sich gerade aufhielten: Schmierbart. Der einzige Freibeuter, der nicht abgebildet war, befand sich ganz oben an der Spitze – ein Pirat, der so grausam war, das nur wenige ein Treffen mit ihm überlebt hatten: Lendon Kane.

Zoya suchte sich eine Bank vor der Wand aus und holte ihr Mittagessen aus der Tasche. Kurz darauf nahm neben ihr ein abgehetzter Mr Maxim Platz. »Ich gebe auf«, keuchte er. »Wenn es Mr Whycherley so wichtig ist, dass die Zwerge das Museum hier zu sehen bekommen, soll er sie nächstes Mal selbst herbringen!«

Zoya kicherte, als Mr Maxim sich unterbrach, um ein Waisenkind in der Nähe zurechtzuweisen, weil es ein Sandwich auf Schmierbarts Deck geworfen hatte.

»Ich kann noch immer nicht glauben, dass Mr Whycherley Luftschiffe mag«, sagte Zoya.

»Er liebt die Dinger«, meinte Mr Maxim.

»Wie ist das gekommen?«

»Durch das Fliegerheer. Als er jünger war, wäre er beinahe beigetreten. Doch eine Woche vor der Grundausbildung hat er alles hingeschmissen.«

»Wieso?«

»Das Waisenhaus. Ein Freund hat ihm nach einem verlorenen Kartenspiel seine alte Fabrik angeboten und Mr Whycherley fand die Gelegenheit zu günstig, um sie auszuschlagen. Als Kind hat er selbst auf der Straße gelebt. Ich glaube, deshalb ist er auch auf die Idee gekommen, ein Zuhause für euch aus dem Boden zu stampfen. Also hat er aus der Fabrik ein Waisenhaus gemacht. Ich bin sicher, dass er vorhatte, dem Heer irgendwann später beizutreten, aber dann hatte er mit dem Waisenhaus alle Hände voll zu tun.«

»Was ist mit Ihnen?«, wollte Zoya wissen. »Wie sind Sie bei uns gelandet?«

»Das ist schnell erklärt: Mr Whycherley. Vor eurem Waisenhaus habe ich woanders gearbeitet – dieselbe Arbeit, nur bessere Bezahlung.«

»Warum haben Sie dann gewechselt?«

»Als ich mein Vorstellungsgespräch bei Mr Whycherley hatte, war mir sofort klar, dass ich es mit einem großen Mann zu tun hatte. Und als ich klein war, hat mein Dad immer zu mir gesagt: Finde einen großen Mann und lerne von ihm. Also habe ich das getan.« Mr Maxim biss in sein belegtes Brot und betrachtete die Wand mit den Piraten. »Ihr Kinder wisst gar nicht, was ihr für ein Glück habt.«

Zoya dachte an all die zweiten Chancen, die Mr Whycherley ihr gegeben hatte. Sie verstand, was Mr Maxim meinte.

Kapitelanfang.tif

4

Auf dem Heimweg vom Museum war der Verkehr sogar noch schlimmer als sonst. Zoya saß abseits der anderen Kinder allein vorne im Bus. Normalerweise hätte sie sich über die Verspätung geärgert, aber an diesem Nachmittag machte es ihr nichts aus. Sie wollte Zeit zum Nachdenken. Sie holte ihre Kette unter dem T-Shirt hervor und hielt sie fest in der Hand. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich auf ihre Gedanken und eine Minute später schaffte sie es, komplett in die Stille ihres Geistes abzutauchen.

Mr Whycherley hatte nicht übertrieben, als er sagte, Zoya wäre zum neunundachtzigsten Mal in seinem Büro gewesen – ganz im Gegenteil. Das waren sogar nur die Situationen, in denen sie erwischt worden war. Wäre sie jedes Mal zu ihm bestellt worden, wenn sie etwas falsch gemacht hatte, hätte die Zahl eher bei dreihundert gelegen.

Zoya war nicht stolz auf ihr Benehmen. Und sie war genauso wenig stolz darauf, Mr Whycherley zu enttäuschen. Außer ihm hatte sie noch keinen Erwachsenen kennengelernt, der von ihr verlangte, dass sie sich selbst respektierte. »Wenn ihr euch selbst keinen Respekt entgegenbringt, Kinder«, sagte er gerne, »dann beschwert euch nicht, wenn es auch sonst keiner tut.«

Zoya öffnete die Augen. Es war Zeit für eine Veränderung. Aus ihrer Tasche holte sie Papier und einen Stift.

Lieber Mr Whycherley,

es tut mir leid, dass ich Sie enttäuscht habe. Es wird nicht wieder vorkommen. Ich werde nicht den Rest meines Lebens damit verbringen, durch Dachböden zu klettern.

Zoya

In die Ecke malte sie einen Smiley. Dann faltete sie den Zettel so klein wie möglich zusammen und steckte ihn in die Hosentasche.

Schließlich bog der Bus um die letzte Ecke vor dem Waisenhaus, und da wurde deutlich, warum die Straßen so verstopft waren. Der Weg wurde von zahlreichen Schaulustigen blockiert, die von den Gehsteigen auf die Straße strömten. Die Menge war so gewaltig, dass daraus eine unüberwindbare Mauer geworden war. Alle Köpfe waren dem Waisenhaus zugewandt. Jeder gab sich Mühe, über den Vordermann hinweg etwas zu erspähen. Als Zoya den Blicken folgte, entdeckte sie direkt vor dem Gebäude eine noch größere Menschenansammlung. Mr Maxim, der es ebenfalls gesehen hatte, drehte sich zum Fahrer um. »Bitte halten Sie hier an.«

Der Busfahrer fuhr an die Seite.

»Was ist los?«, fragte Zoya.

»Das finde ich raus«, antwortete Mr Maxim. »Bleib du bei den Kleinen.«

Mr Maxim sprang aus dem Bus, joggte über die Straße und bahnte sich einen Weg durch die Umstehenden direkt zum Waisenhaus. Etwas stimmte nicht. Zoya rief dem Fahrer zu, er solle auf die Kinder aufpassen, und hüpfte dann selbst auf das Kopfsteinpflaster hinaus. Sie sprintete Mr Maxim nach und schlängelte sich an den vielen Menschentrauben vorbei. Als sie dem Gebäude näher kam, entdeckte sie eine Absperrung, die man vom Bus aus nicht hatte sehen können. Das rot-weiße Band war einen knappen Meter über dem Boden gespannt worden.

»Sieht nicht gut aus«, hörte sie jemanden sagen.

Auf dem Rasen vor dem Haus standen die übrigen Waisenkinder. Ihre Lehrer standen mit blasser Miene dicht zusammengedrängt und unterhielten sich leise. Das Letzte, was Zoya wollte, war, aufgehalten zu werden, bevor sie herausfinden konnte, was passiert war. Also sorgte sie dafür, dass sich immer mindestens eine Person zwischen ihr und den Lehrern befand, während sie sich über den Hauptweg in Richtung Eingangstür stahl. Das gesamte Waisenhaus war von dem rot-weißen Absperrband eingerahmt. In regelmäßigen Abständen hatten Soldaten des Fliegerheers davor Posten bezogen, die an ihren breiten Schultern und den tadellosen burgunderroten Uniformen leicht zu erkennen waren. Zoya überlegte kurz, ob sie es schaffen würde, sich an ihnen vorbei ins Gebäude zu schleichen. Nein, zu riskant. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit stattdessen den umstehenden Menschen zu. Wenn sie nur jemand finden könnte, den sie kannte, jemand, dem sie vertraute …

Kapitelanfang.tif

5

Die Menschenmenge um Zoya war dicht. Einige wollten unbedingt sehen, was im Inneren des Gebäudes los war, während bereits neue Schaulustige aus den nahe gelegenen Straßen dazukamen. Als Zoya inmitten der Menschen nach einem vertrauten Gesicht Ausschau hielt, bemerkte sie auf einmal den Mann in Schwarz.

Er stand ein wenig abseits der Menge und trug einen kohlrabenschwarzen Anzug mit einem schwarzen Mantel darüber. Auf seinem Kopf saß ein Zylinder, unter dem dichte, fettige Haarbüschel hervorragten. Er war groß und schmal und wirkte, als hätte er irgendwie die falschen Proportionen – sein Oberkörper war länger als seine Beine, wodurch er merkwürdig und instabil erschien. Auf seiner Oberlippe prangte ein buschiger Schnurrbart.

Zoya erwischte sich dabei, wie sie ihn anstarrte, und begriff zu spät, dass der Fremde ihren Blick neugierig erwiderte. Seine blassen Augen bohrten sich in die von Zoya. Dabei lächelte er – allerdings war dieses Lächeln nicht freundlich, sondern so kalt, dass es Zoya bis ins Mark hinein frösteln ließ. Einen Moment lang hielt sie seinem Blick noch stand, unfähig, sich loszureißen, bis eine dicke Dame ihr die Sicht verstellte. Als die Frau vorbeigegangen war, schaute Zoya noch einmal zu der Stelle, an der der Mann gestanden hatte, doch er war fort. Bevor sie wusste, was sie davon halten sollte, hörte sie einen Schrei. »DeLarose, ich habe dir doch gesagt, dass du im Bus bleiben sollst!«

Mr Maxim marschierte übers Gras auf sie zu.

»Was ist denn passiert?«, fragte Zoya.

»Ich weiß es nicht.« Mr Maxim deutete mit dem Kinn auf zwei Soldaten hinter sich. »Diese Idioten glauben mir nicht, dass ich hier arbeite.«

»Glauben Sie, es ist etwas Schlimmes?«, wollte Zoya mit besorgtem Blick auf das Absperrband wissen.

»Bestimmt ist alles bestens. Jetzt geh zurück zum Bus, solange ich mich um alles kümmere.«

Mr Maxim lief zurück zu den Soldaten des Fliegerheers. Der Anflug von Panik in seiner Stimme trieb Zoya nur umso mehr dazu, zu bleiben. Sie folgte ihm unauffällig durch die Menge und blieb einige Schritte hinter ihm, verdeckt von mehreren Menschen, stehen. Von ihrem Versteck aus hatte sie einen guten Blick auf Mr Maxim und die Soldaten – große, breite Männer mit düsteren Augenbrauen. Sie schienen sich bei ihm zu entschuldigen. »Sir, es tut uns leid. Wir haben Anweisung, niemand durchzulassen, der sich nicht ausweisen kann. Inzwischen hat man uns gesagt, wer Sie sind. Sie können durch.«

Sie gaben ihm den Weg frei.

»Ich will nicht durch!«, fuhr Mr Maxim sie an. »Ich habe da drüben einen Bus voll hungriger Kinder, die in dieses Haus wollen. Verraten Sie mir nun endlich, was geschehen ist, oder muss ich mich an Ihren Vorgesetzten wenden?«

Der Soldat, der sich entschuldigt hatte, schaute zu seinem Kollegen, der zustimmend nickte. Zoya schlich näher.

»Mr Maxim, es hat einen Vorfall gegeben. Einen Einbruch. Nach dem Mittagessen sind zwei Männer eingedrungen. Sie haben nach einem der Kinder gesucht. Nach allem, was wir bisher wissen, hat Mr Whycherley sich ihnen widersetzt …«

Der Beamte verstummte, dann deutete er auf das Waisenhaus hinter sich. Aus dem Nebeneingang traten ein Mann und eine Frau, die eine Rolltrage schoben, auf der unter einer Decke etwas Großes lag. Mr Maxim brauchte einen Moment, bis er begriff, was er da sah. Anders als Zoya. Sie spürte es sofort, wie ein Messer, das ihr ins Herz fuhr.

Mr Whycherley war tot.

Kapitelanfang.tif

6

Zoya fehlte die Luft zum Atmen. Die ganze Welt brach um sie herum zusammen, alles löste sich auf: die Soldaten, die Menschen, Bäume, Busse, alles. Die Stimmen der Schaulustigen schienen von weit, weit her zu kommen, als stünde sie einsam am Grund des Meeres. Zoya kannte keine Welt ohne Mr Whycherley. Seit sie ein Jahr alt war, war er in ihrem Leben das einzig Verlässliche gewesen. Wenn Mr Whycherley tot war … wenn das wirklich stimmte, dann war etwas in der Welt zerbrochen. Zoya fühlte das so sicher wie die Tränen auf ihren Wangen.

Wenig später verstand auch Mr Maxim, und es verging eine Minute, bevor er sich wieder im Griff hatte. Er holte ein Taschentuch hervor, wischte sich die Augen trocken und atmete tief ein. »Was ist mit den Kindern?«, fragte er. »Wurde eins von ihnen verletzt?«

»Den Kindern geht es gut«, versicherte der Soldat, der eben gesprochen hatte. »Einer der Lehrer hat einen Schlag auf die Nase abbekommen und Mr Whycherley …« Der Soldat hielt inne. »Nun, den Kindern geht es gut.«

»Und Sie sagen, die Eindringlinge hatten es auf ein Kind abgesehen? Wissen wir, welches?«

»Ja«, antwortete der Beamte und suchte in seiner Tasche nach einem Notizblock. »Ich habe es hier irgendwo stehen.« Er blätterte durch die Seiten, bis er fand, wonach er suchte. »Der Name war … Zoya DeLarose.«

Zoya schoss das Blut in die Wangen. Ihr erster Impuls war es, wegzulaufen, weit weg von dem Waisenhaus und allem, was passiert war. Doch sie wusste ja nichts von den Einbrechern, nicht einmal, wie sie aussahen. Also war weglaufen genauso gefährlich wie bleiben, daher blieb sie vorerst, wo sie war.

»DeLarose«, wiederholte Mr Maxim. »Was wollen sie von ihr?«

»Keine Ahnung«, gestand der Soldat, »ich weiß nur, dass mein Vorgesetzter so schnell wie möglich mit ihr sprechen will.«

»Zoya war den ganzen Nachmittag bei mir«, sagte Mr Maxim. »Wenn Sie zu ihr wollen, sie ist in dem Bus da –«

Bevor er zu Ende reden konnte, trat Zoya vor. »Ich bin hier.«

Als Mr Maxim ihre Stimme hörte, wirbelte er zu ihr herum. Sobald er sie sah, wurde er ganz blass. Dann lief er zu ihr und brachte sie zu den Soldaten. Die Beamten wechselten einen Blick.

»Das ist DeLarose?«

»Ja.«

Zitternd, knallrot und ziemlich durcheinander stand Zoya vor den Beamten.

»Komm her, meine Kleine«, sagte einer von ihnen freundlich. »Wir müssen dich zu unserem Stützpunkt bringen, damit du uns einige Fragen beantwortest. Meinst du, du schaffst das?«

Zoya schaute zu Mr Maxim, der nickte. »N-natürlich.«

»Gut«, sagte der Beamte. Er klopfte seine Taschen ab, um sicherzugehen, dass er alles bei sich hatte. »Wir müssen sofort los. Je früher, desto besser. Danke, Sir.«

Er legte Zoya eine Hand auf die Schulter, bevor er sich noch einmal an Mr Maxim wandte. »Die Befragung sollte nicht lange dauern. Wenn Sie in etwa einer Stunde zum Stützpunkt kommen, können Sie sie bestimmt wieder mit nach Hause nehmen.«

Damit geleiteten die Soldaten Zoya fort von der Menschenmenge und zur Seite des Waisenhauses, wo vorhin die Leiche von Mr Whycherley abtransportiert worden war. Der Gedanke daran traf Zoya hart, und als die Männer sie zu einer Nische in der kleinen Nebengasse führten, nahm sie ihre Umgebung kaum noch wahr.

»Warte kurz hier, solange wir den Transporter holen.«

Zoya gehorchte, froh darüber, einfach nur dazustehen und nicht denken zu müssen. Sie sah zu, wie einer der Männer davonmarschierte und merkte kaum, wie der andere hinter sie trat. Erst als sie einen massigen Unterarm um den Hals spürte und man ihr einen stinkenden Sack über den Kopf stülpte, begriff Zoya, dass sie einen schweren, schweren Fehler gemacht hatte.

Dann wurde alles schwarz.

Kapitelanfang.tif

7

Als Zoya erwachte, herrschte ringsum Dunkelheit. Erst meinte sie, in ihrem Bett im Waisenhaus zu liegen, und rollte sich zur Seite, um nach ihrer Decke zu fischen. In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass es keine Decke gab und ihr Bett sich viel härter anfühlte als sonst. Und kälter. »Hmm.«

Kaum hatte der Laut Zoyas Kehle verlassen, strömten die Ereignisse des Tages auf sie ein: das Museum, die Menschen vor dem Waisenhaus, Mr Whycherley, die Entführung. Panik ergriff sie, als sie an den Überfall in der Gasse dachte. Diese Fliegerheersoldaten, diese … wer auch immer sie waren, sie hatten sie gekidnappt! Instinktiv fasste sie an ihre Brust, um nach dem Anhänger zu tasten, und spürte den vertrauten Abdruck unter ihrem T-Shirt. Wenigstens habe ich dich noch.

Knarr.

Zoya lag still. Sie atmete langsam in die Dunkelheit hinein und dachte nach. Wo sie auch war, sie wollte weg. Egal, wer diese Männer waren, bei ihnen wollte sie nicht bleiben. Das bedeutete Flucht. Und das hieß, sie musste ihren Verstand gebrauchen. Sie konzentrierte sich auf ihre Sinne und überlegte.

Knarr.

Bingo! Das Geräusch war so gleichmäßig, so rhythmisch, dass sie es kaum wahrgenommen hatte. Aber es war da, im Hintergrund – begleitet von einem sanften Schaukeln.

Kriek-krak-kriek-krak.

»Komisch.«

Leise, für den Fall, dass die Heeressoldaten, die sie entführt hatten, vor der Tür herumlungerten, ließ Zoya sich zu Boden gleiten. Inzwischen hatten sich ihre Augen einigermaßen an das fehlende Licht gewöhnt und sie konnte ihre Umgebung ein wenig besser sehen. Die Wände schienen aus Holz zu sein. Außerdem war der Raum leer, abgesehen von einem Wischmopp in der einen und einem Heizrohr in einer anderen Ecke. Im Schein eines schmalen Lichtstrahls, der durch eine Ritze in der Wand fiel, huschten Hunderte winziger Käfer hin und her. Zoya schauderte.

Sie setzte ihren Weg entlang der Wände fort und fuhr mit den Händen auf der Suche nach der Tür über die Holzbretter. Wenig später hatte sie sie gefunden. Zoya tastete nach der Klinke. Als sie einen Knauf berührte, wurde sie ganz aufgeregt – und ein bisschen ängstlich. Sie atmete tief durch und zwang sich zum Weitermachen. Zoya legte die Finger um den Türknauf und drehte diesen – nur ein winziges bisschen –, um zu sehen, ob er sich bewegen ließ.

Natürlich nicht.

Wozu sollten sie dich auch entführen, um dich dann in ein unverschlossenes Zimmer zu stecken?!

Zoya kramte in ihren Hosentaschen. Vergraben unter einer Handvoll Münzen und Zetteln lag die verbogene Haarnadel, mit der sie Mr Whycherleys Schreibtisch geknackt hatte. »Na also.«

Dreißig Sekunden später war das Schloss offen. Während Zoya den Draht zurück in die Tasche schob, ließ sie sich ihre nächsten Schritte durch den Kopf gehen. Wenn sie die Tür nun öffnete und floh, würde sie ihren Kidnappern vermutlich direkt in die Arme laufen. Andererseits würden sie früher oder später sowieso zurückkommen, um sie zu holen. Und wer konnte schon wissen, was sie mit ihr vorhatten? Falls es dieselben Leute waren, die Mr Whycherley ermordet hatten …

Sie drehte den Knauf.

Kalte Luft blies Zoya ins Gesicht. Direkt vor ihr befand sich eine Wand aus Kisten, die doppelt so hoch war wie sie selbst. Rechts von ihr verlor sich der Blick in der Dunkelheit und links von ihr war nichts zu sehen außer dem Mond.

Als ihr eine zweite Bö ins Genick wehte, schlug Zoya ihren Jackenkragen hoch. Der Wind fuhr durch den kleinen Gang, heulte in ihren Ohren und jagte ihr noch größere Furcht ein, als sie ohnehin schon hatte. Nun waren auch andere Geräusche zu hören, das Scheppern von Metall und das Knarren von Bodenbrettern. Irgendwo in der Nähe flatterte etwas und weiter entfernt ertönte der raue Schrei eines Mannes.

Zoya drückte sich flach gegen die Kisten und schlich langsam den Gang entlang, wobei sie die Ohren spitzte und nach allem lauschte, was auf Menschen hindeuten könnte. Nach einer Weile stieß sie auf eine weitere Gasse, die ihren Weg kreuzte. Dahinter wurde der Weg von einer schulterhohen Wand versperrt. Zoya reckte den Kopf und überlegte, was sich dahinter verbergen mochte, doch außer Schwärze entdeckte sie von hier aus nichts. Es war, als würde die Welt hinter dieser Wand aufhören.

Verwirrt lief sie auf Zehenspitzen weiter, bis sie an die Stelle gelangte, an der die Kreuzung abknickte. Sie lugte um die Ecke und sah nach, ob die Luft rein war. Zufrieden näherte sie sich der Wand und kletterte daran hoch, bis sie über die Kante sehen konnte. Der Anblick war so unerwartet, dass sie den Halt verlor und zu Boden plumpste. Sie blieb eine Weile dort sitzen und starrte auf die Bohlen, bevor sie sich noch einmal aufrichtete, um sicherzugehen, dass sie sich nicht getäuscht hatte. »Das kann doch nicht sein …«

Zoya betrachtete die Wand, die in beiden Richtungen so weit verlief, wie sie nur sehen konnte. Da dämmerte ihr, was wirklich vor sich ging. Dieser Wind, das knarrende Holz, das Flattern – jetzt ergab alles Sinn. Und es erklärte, warum ihre Entführer sich nicht die Mühe gemacht hatten, sie zu fesseln oder in einen Raum zu sperren, aus dem man nicht so leicht entkommen konnte. Wozu auch? Obwohl Zoya aus ihrer Zelle ausgebrochen war, blieb sie eine Gefangene, solange, wie es ihre Kidnapper wollten. Zoya DeLarose befand sich über eineinhalb Kilometer hoch in der Luft und glitt durch die Wogen des Himmels. Sie saß auf einem riesigen Luftschiff fest.

Kapitelanfang.tif

8

Zoyas Herz klopfte so schnell, dass sie zwischen den einzelnen Schlägen gar keine Pause mehr wahrnahm. Ihr Atem passte sich an, fuhr flatternd hinein und hinaus, während die Kälte ihre Lunge gefrieren ließ. In der Ferne zeichnete sich ein leuchtend klarer Mond am schwarzen Nachthimmel ab, umgeben von wallenden Wolken, die bis ans Schiff reichten: dunkelblaue und silberne Wattebäusche mit wehenden faserigen Rändern.

Ein Luftschiff! Erschrocken öffnete Zoya den Mund.

Das Gefährt erinnerte sie an die Luftschiffe in Garibald Amstads Museum – geschwungene Holzgaleonen mit einem Labyrinth aus Stegen und Laufwegen, Aussichtsplattformen, Segeln, Decks und Quartieren. Nur war dieses hier viel, viel größer. Mittlerweile hatte Zoya auch begriffen, dass die hölzerne Wand neben ihr die Reling des Schiffs war. Von ihrem Platz aus konnte sie das Hauptdeck sehen, auf dem drei enorme Masten standen, von dem jeder breiter als sie selbst und mit silbrigen Netzen und hölzernen Ausgucken reich geschmückt war. Ausladende weiße Segel hingen daran, die sich im Nachtwind blähten und gegen das Holz klapperten. Dahinter verlor sich das Schiff im Nebel. Zoya konnte noch den ungefähren Umriss der Brücke nahe dem Heck ausmachen: eine niedrige viereckige Plattform, zu der mehrere Treppen führten. Auf der Brücke ragte das Steuerrad des Luftschiffs, dessen Metall im Mondlicht glänzte. Neben Zoya befanden sich mehrere Aufbauten, die hufeisenförmig angeordnet waren. Eine Seite davon stellte ihre Gefängniszelle dar. Weiter rechts auf dem Deck – hinter den Aufbauten – kamen Backbord und Steuerbord zusammen und formten den Bug, dessen Galionsfigur so weit nach oben hinausragte, dass sie sich beinahe auf einer Höhe mit den niedrigsten Segeln befand. Trotz des majestätischen Erscheinungsbilds schien das Luftschiff heruntergekommen und alt.

Rumms.

Weiter hinten im Gang knallte eine Tür zu. Zoya war auf den Beinen und in Bewegung, noch bevor sie blinzeln konnte. Links von ihr standen einige Holzfässer an der Wand. Sie hechtete darauf zu und ging in dem schmalen Raum zwischen ihnen und der Reling in Deckung. Noch in derselben Bewegung drehte sie sich auf den Zehen herum und machte sich sprungbereit. Zoya hielt den Atem an, während ihr Herz noch immer wie wild klopfte, und wartete.