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Caitlyn Jenner

Mein großes Geheimnis

Gefangen im falschen Körper

Aus dem amerikanischen Englisch von Kirsten Borchardt

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www.hannibal-verlag.de

Impressum

Die Autoren: Caitlyn Jenner mit Buzz Bissinger

Deutsche Erstausgabe 2017

Amerikanische Originalausgabe by Grand Central Publishing

Hachette Book Group (USA) mit dem Titel

„The Secrets of My Life“

ISBN: 978-1-4555-9675-1

© 2017 by CJ Memoires, LLC

Cover: © 2017 by Hachette Book Group, Inc.

Coverdesign by Evan Gafney

Lektorat: Hollow Skai

Übersetzung: Kirsten Borchardt

Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com

© 2017 by Hannibal

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN 978-3-85445-637-7

Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-636-0

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Es kann jedoch keinerlei Gewähr dafür übernommen werden, dass die Informationen in diesem Buch vollständig, wirksam und zutreffend sind. Der Verlag und der Autor übernehmen weder die Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für Schäden jeglicher Art, die durch den Gebrauch von in diesem Buch enthaltenen Informationen verursacht werden können. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Widmung

Die Biologie liebt die Variation.

Die Biologie liebt Unterschiedlichkeit.

Die Gesellschaft hasst sie.

Milton Diamond

Inhalt

Vorbemerkung

Prolog

1. Kapitel: Dummer Junge

13. Juni 2015 – Wolkenkuckucksheim

2. Kapitel: Nimm den verdammten Ski ab!

15. Juli 2015 – „Bitte, lieber Gott, lass mich bloß nicht stolpern!“

3. Kapitel: Stell dich nicht so an

4. Kapitel: Wer bin ich?

14. Oktober 2015 – Eine Schachtel mit falschen Brüsten ...

Bildstrecke 1

5. Kapitel: Der Goldjunge

6. Kapitel: Nach dem Aufstieg

12. November 2015 – „Ich habe hier studiert. Ich habe hier meinen Abschluss gemacht. Aber ich habe hier nie hochhackige Schuhe getragen.“

7. Kapitel: Zapp-zapp-zapp

8. Kapitel: Festgenommen

20. Dezember 2015 – „Es ist doch nur ein Film ...“

9. Kapitel: Hier kommt Brucie!!

Bildstrecke 2

30. März 2016 – „Ich saß in meinem Zimmer und hatte Angst, es zu verlassen“

10. Kapitel: Bye bye, ihr Brüste

4. April 2016 – „Es war nur ein Spiel“

11. Kapitel: Kein Ausweg mehr

12. Kapitel: In gutem Glauben

13. Kapitel: Das Spiegelbild

17. September 2016 – „Bereit, die Gelegenheit zu nutzen.“

Danksagung

Über die Autoren

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Dieses Buch besteht in erster Linie aus Erinnerungen. Dabei gehe ich davon aus, dass sich wirklich alles so ereignet hat; ich habe mich bei Familienmitgliedern und Freunden rückversichert und zudem nachgelesen, was in der Vergangenheit geschehen ist.

Aber meine größte Quelle ist dennoch mein Gedächtnis, und wie wir alle wissen, sind Erinnerungen selektiv. Ich habe keinerlei Versuche unternommen, das, was ich als die Wahrheit ansehe, aus Eigeninteresse schönzufärben: Es gibt so vieles, das ich heute bedauere, aber auch vieles, woran ich gern zurückdenke. Davon will ich so ehrlich und aufrichtig wie möglich berichten.

Nach den Transgender-Regeln dürfte ich mich unter keinen Umständen mehr als Bruce bezeichnen.

Meine eigenen Regeln sind so:

Ich verwende den Namen Bruce, wenn es mir sinnvoll erscheint, und spreche von Caitlyn, wenn es passt. Bruce hat es fünfundsechzig Jahre lang gegeben, und Caitlyn feiert gerade erst ihren zweiten Geburtstag. Das ist die Realität.

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Marriott Hotel, Orlando, Florida. Ich stehe vor Vertretern des Pharmaunternehmens Merck und halte einen Vortrag.

Es ist schon mein sechster in Folge. Immer dieselben Worte und dieselbe Botschaft und derselbe Titel und derselbe vorgetäuschte Enthusiasmus. Diese Rede habe ich schon viele hundert Male gehalten, überall in den USA, und ich kenne den Text in- und auswendig. Es ist irgendwann in den Neunzigern, aber es könnte auch in den Achtzigern sein, oder Anfang der Zweitausender. Die ganzen Termine sind in meiner Erinnerung längst zu einem verschmolzen.

Ich weiß, wieso die Leute hier im Publikum sitzen. Sie wollen Bruce Jenner hören, den Supersportler, der 1976 in Montreal eine Goldmedaille im Zehnkampf gewann und prompt, wie das so üblich ist, als „größter Athlet der Welt“ gefeiert wurde. Sie wollen Bruce Jenner hören, der das Olympiateam der Vereinigten Staaten im Jahr ihres zweihundertjährigen Bestehens davor bewahrt hat, von der Sowjetunion und der DDR hoffnungslos düpiert zu werden. Den Bruce Jenner, der buchstäblich über Nacht zum amerikanischen Helden wurde. Den Bruce Jenner, der als Inbegriff der Männlichkeit gilt und eine Frau nach der anderen erobert. Den Bruce Jenner, der alles kriegt, was er will. Den Bruce Jenner, dem aus dem Spiegel ein echter Supermacho entgegenblickt.

Niemand ahnt, dass ich etwas ganz anderes sehe, wenn ich in den Spiegel gucke: einen Körper, den ich grundlegend verabscheue. Mit einem Bartschatten, der sichtbar bleibt, egal wie gründlich ich mich rasiere. Mit einem Penis, der zu nichts nutze ist, außer im Wald an einen Baum zu pinkeln. Mit einem Oberkörper, der Brüste haben sollte. Mit einem Gesicht, dessen Kinn zu eckig und dessen Stirn zu hoch ausfällt. Niemand weiß, dass es ganz anders ist, als die Leute es sich vorstellen – dass ich zum Beispiel in meinem ganzen Leben nur mit fünf Frauen geschlafen habe. Mit dreien davon war ich verheiratet.

Sie sehen nur das Image, das ich in den letzten Jahrzehnten sorgsam aufgebaut habe und das von den Medien begeistert aufgenommen und verstärkt worden ist, denn die Story dahinter ist unwiderstehlich: der Olympionike, der aus dem Nichts kam, der Sohn eines Landschaftsgärtners, der auf ein winziges College irgendwo in der Provinz ging, seine Jugendliebe geheiratet hat und dann fast sein halbes Leben damit zubrachte, für seine Goldmedaille zu trainieren. Damit repräsentiere ich vielleicht mehr als viele anderen Sportler unserer Zeit den uramerikanischen Mythos, an den wir alle glauben: dass man mit harter Arbeit jeden Traum verwirklichen kann. Natürlich glaube auch ich an diesen Mythos, auch wenn ich selbst schon lange unglaubwürdig geworden bin.

Das Publikum weiß genau, was es hören will: die Geschichte eines Lebens, das von diesen zwei entscheidenden Tagen im Olympiastadion von Montreal geprägt wurde, dem 29. und 30. Juli 1976, als ich den Weltrekord brach. Anschließend drehte ich noch eine Runde auf der Aschenbahn und schwenkte dabei eine kleine amerikanische Flagge, die mir ein Fan in die Hand gedrückt hatte.

Damals war ich glücklich, unglaublich glücklich, stolz auf mein Land und auf mich selbst. Keine vierundzwanzig Stunden später war mir klar, dass damit die tagtägliche Trainingsroutine der letzten zwölf Jahre vorbei war. Das Große Ablenkungsmanöver war Geschichte. Was nun jeden Tag aufs Neue die schreckliche Frage aufwarf: Was zur Hölle sollte ich mit meinem Leben anstellen? Wie viel länger würde ich diese Fassade aufrechterhalten können? Wie viel länger würde ich mich verstecken und denen ins Gesicht lügen können, die mich immer noch bewunderten? Die ich liebte?

Frustriert und beschämt gehe ich schlafen. Und frustriert und beschämt wache ich jeden Morgen wieder auf.

Die Leute im Publikum wissen nicht, dass ich unter dem dunkel­blauen Business-Anzug Schlüpfer, BH und Strumpfhosen trage. Sie wissen nicht, dass ich nicht Bruce Jenner bin, sondern eine Frau, die ich später einmal Caitlyn nennen werde – eine Frau, die immer noch Bruce sein muss und nur für eine kurze Zeit, für wenige gestohlene Augenblicke sie selbst sein darf – hin und wieder einmal für zwanzig Minuten, für eine Stunde oder zwei.

Man stelle sich einmal vor, sein Innerstes, seine Seele ständig verleugnen zu müssen. Und das ergänze man dann noch um einen Berg unerfüllbarer Erwartungen, weil man für die Menschen die perfekte Verkörperung des amerikanischen Athleten darstellt. Nein. Das kann man sich einfach nicht vorstellen.

Es ist tatsächlich unvorstellbar. Außer für mich. Weil ich so lebe. Oder es zumindest versuche. Weil man unter solchen Umständen nicht wirklich lebt. Man versucht einfach nur, irgendwie über die Runden zu kommen, betet, dass dieser innere Konflikt sich in Luft auflöst. – Na gut, völlig verschwinden wird er wahrscheinlich nie, denn schließlich hat man ja schon alles Mögliche ausprobiert, um sich davon zu befreien. Aber man hofft darauf, dass es vielleicht eine Atempause gibt, dass dieses Problem in den Hintergrund rückt und nicht ständig jeden Gedanken bestimmt.

Die Menschen im Publikum ahnen nicht, dass ich mich immer unbehaglich fühle, auch wenn ich so extrovertiert wirke. Ich habe ein natürliches Talent für Smalltalk, weil ich Menschen einfach mag.

Sie wissen nur das, was in ihr Konzept passt. Und ich sage ihnen auch nichts anderes als das.

Der Vortrag, den ich vor den Merck-Vertretern halte, trägt den Titel „Finde den Sieger in dir“. Notizen brauche ich dafür längst nicht mehr. Ich kann ihn auswendig:

Ich kann mich von einer Niederlage erholen und mit dem Leben fortfahren, und es wird ein gutes Leben sein.

Wir müssen uns der Angst stellen und sie in den Griff bekommen …

Wir kennen doch alle die Situation, wenn man eine Straße hinuntergeht und an eine Gabelung kommt und weiß, man muss sich jetzt für die eine oder andere Richtung entscheiden … Irgendwie habe ich immer die richtige Entscheidung getroffen.

Es gab einmal eine Zeit, da habe ich selbst an diese Worte geglaubt, vor allem gleich nach den Olympischen Spielen, als ich auf der großen Erfolgswelle schwamm. Aber jetzt denke ich nur immer wieder: Blödsinn. Das ist alles nichts als Blödsinn.

Meine Damen und Herren, bitte begrüßen Sie Bruce Jenner!

Ich spiele hier eine Rolle, so, wie schon fast mein ganzes Leben lang. Ich spiele Bruce, denn das ist es, was die Leute, die mir zuhören, von mir wollen. Das ist es, was die Gesellschaft von mir will. Ich bekomme dafür eine Menge Geld. Also halte ich die Klappe und erzähle niemandem, wer ich wirklich bin.

Ich beende meinen Vortrag. Anschließend gibt es den üblichen Empfang, und hier mogele ich mich durch, indem ich mit den Männern über Sport rede und mit den Frauen netten Smalltalk mache, aber ich bin nicht einen Augenblick mit dem Herzen dabei. Die ganze Zeit über will ich nur nichts als raus und wieder zurück in mein Hotelzimmer. In Wahrheit ist mir „Der Vortrag“ inzwischen scheißegal. Natürlich halte ich ihn immer noch, weil ich damit mein Geld verdiene und weil er mir einen Vorwand bietet, durch die Welt zu ziehen. Nur wenn ich unterwegs bin, kann ich mich noch ein wenig ausleben; dass ich das zu Hause tue, lässt meine Ehefrau Kris nicht zu. Das war bei meinen beiden Exfrauen, Chrystie und Linda, genauso. Kris will es nicht sehen, und sie will sich nicht damit auseinandersetzen, deswegen reden wir nie darüber. Wieso sollte sie auch? Verliebt hat sie sich in Bruce Jenner, nicht in ein billiges Porzellanpuppenimitat. Wie sie alle.

Ich war ihnen gegenüber auch nicht ganz ehrlich. Dazu habe ich mich viel zu sehr geschämt. Und hatte zu viel Angst. Aber es war mehr als das. Genau wie meine Exfrauen konnte ich selbst es ja auch nicht fassen. Bruce Jenner? Eine Frau?

Jetzt mal ehrlich. Gibt es einen Menschen auf der Welt, bei dem das noch unwahrscheinlicher wäre? Ich meine: Bruce Jenner?

Wieder zurück im Marriott hänge ich das „Bitte nicht stören“-Schild an die Tür meiner Suite und schließe ab. Beim Room Service bestelle ich ein Thunfisch-Sandwich und eine Cola Light, sage dem Zimmerkellner aber, er soll das Tablett draußen auf dem Flur abstellen. Dann schalte ich den Fernseher an und suche mir eine Sportsendung, die mich interessiert, also Autorennen oder Golfen. In der Suite gibt es mehrere Spiegel, was mir sehr entgegenkommt. Im Bad ist zudem ein Schminkspiegel an der Wand, und das ist sogar noch besser.

Jetzt lege ich los.

Das Ritual hat eigentlich schon viel früher begonnen, noch bevor ich überhaupt im Marriott ankam. Es fing schon damit an, dass ich am Los Angeles International Airport alle nötigen Vorkehrungen traf, um ohne Probleme durch die Sicherheitskontrollen zu kommen.

Kofferpacken ist furchtbar lästig. Und dann noch für einen Mann und eine Frau gleichzeitig. Weil ich zu viel Angst vor einer Entdeckung habe, kauft mir eine Freundin meine Kleidung. Ich sage ihr, was ich brauche, und dann zieht sie für mich los. Ob die Sachen auch passen, ist immer ziemliche Glückssache – schließlich bin ich eins achtundachtzig groß und kann nichts selbst anprobieren. Vor allem Schuhe sind ein Problem, da ich wirklich große Füße habe, was als Zehnkämpfer durchaus Vorteile bringt, aber nicht wirklich ideal ist, wenn man sich als Frau kleiden möchte, ohne aufzufallen. Dazu kommt, dass ich bei meiner Größe nicht auch noch Schuhe mit hohen Absätzen anziehen will. In einer Hinsicht ist das Packen allerdings einfach, denn ich habe nicht so viel Auswahl – für diese Vortragsreise genauso wenig wie für die vielen anderen zuvor.

Ich lege die femininen Outfits, die ich tragen will, ganz unten in den Koffer. Die Perücke schiebe ich tief in einen Ärmel und schlage ihn zur Sicherheit noch einmal um. Oben drauf lege ich den dunkelblauen Anzug, die Socken, die Hemden und die Herrenunterwäsche. Es ist noch vor dem 11. September, von daher sind die Sicherheitskontrollen nicht halb so streng wie heute. Falls man doch mein Gepäck durchsuchen sollte, kann ich immer noch sagen, ich hätte auch Sachen für meine Frau eingepackt. Überhaupt habe ich für jede Situation eine Erklärung parat. Bin immer für alles gewappnet. Abstreiten, leugnen, nichts zugeben. Aber ich möchte von vornherein Fragen vermeiden, und wenn eine Perücke oben im Koffer läge, würde das mit Sicherheit blöde Witze und womöglich auch Spekulationen darüber geben, dass Bruce Jenner ein olympiareifer Perverser ist.

Mit im Gepäck habe ich immer eine Packung Frischhaltefolie, mit der ich meine Figur auf ganz simple Weise etwas femininer machen kann – ich wickele mir einige Lagen ganz eng um die Taille, um dadurch meine Hüften und meinen Hintern mehr zur Geltung zu bringen. Und mit einer kleinen Tube Alleskleber kriege ich spontan ein Lifting hin. Nach langem Ausprobieren weiß ich inzwischen, dass Krazy Glue am besten klebt, wobei man aufpassen muss, dass man nicht zu viel erwischt, weil sonst beim Ablösen garantiert ein Stückchen Haut mit runtergeht und einen sichtbaren, roten Fleck hinterlässt.

Vor der Sicherheitskontrolle am Flughafen gehe ich auf die Toilette und nehme die Brustprothese ab. Einmal hatte ich das vergessen, und prompt fing der Metalldetektor bei der Durchsuchung an zu piepen, als der Sicherheitsbeamte mit dem Scanner über meinen Oberkörper fuhr. Ich war fest davon überzeugt, dass etwas am BH den Alarm ausgelöst hatte, und erwartete schon, für eine Leibesvisitation in einen Nebenraum geführt zu werden – und höchstwahrscheinlich hätte die Ausrede, die Brustprothese sei für meine Frau, nicht wirklich überzeugt. Meine Angst war spürbar, aber wie sich herausstellte, hatte der Detektor auf einen Reißverschluss an meiner Jacke reagiert. Danach war ich viel vorsichtiger.

In meiner Lage ist es immer besser, für alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.

Nun packe ich erst einmal aus und lege die Sachen, die ich gleich anziehen will, aufs Bett. Da ich bei meinem Ritual nicht gerne Experimente mache, wähle ich fast immer dieselben Sachen aus. Beispielsweise ein schwarzes Kleid mit Spaghettiträgern, das bis kurz übers Knie geht, denn eins weiß ich – mit meinen Beinen kann ich punkten. Sie waren schon immer schlank, was zu Zeiten meiner sportlichen Erfolge viele verblüfft hat. Damals sagte ich immer: „Die Beine sind zum Laufen, nicht zum Zeigen da.“ Heute ist es genau umgekehrt, heute zeige ich meine Beine gern her. Ganz im Gegensatz zu meinen Armen: Die soll besser niemand sehen, und deswegen gehört auch immer eine schwarze Jacke zum Ensemble.

Die Kleider habe ich aus Kris‘ Schrank stibitzt, denn sie verfügt über eine enorm umfangreiche Garderobe, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es ihr auffällt, wenn etwas fehlt. (Als sie irgendwann doch merkte, dass ich mir schon seit Jahren das eine oder andere von ihr „geliehen“ hatte, waren die Sachen so ausgeleiert, dass sie ohnehin nichts mehr davon wiederhaben wollte.)

Das ist mein Ausgeh-Outfit, hübsch, aber nicht zu formell. Dazu gehören noch schwarze Schuhe, denn wie wir alle wissen, macht schwarz ja schlank. Make-up habe ich nicht nur von Kris, sondern auch vom Rest der K-Truppe geklaut – Kourtney, Kim und Khloé, schließlich auch von Kendall und Kylie. In unserem Haus gibt es schließlich mehr Schminkzeug pro Bewohner als irgendwo sonst in der ganzen Geschichte der Menschheit. Wer jemals eine Folge von Keeping Up With The Kardashians gesehen hat, der hat das wahrscheinlich auch schon festgestellt.

Das Auftragen des Make-ups ist immer wieder ein Kampf. Manchmal habe ich das Gefühl, dabei einer größeren Herausforderung gegenüberzustehen als bei meinem Olympiasieg. Zwar habe ich es inzwischen etwas besser drauf, aber das Resultat ist immer noch etwas Glückssache. Früher habe ich insgeheim Bücher mit Schminktipps gekauft, da es niemanden gab, der es mir hätte zeigen können. Die Bücher befinden sich, genau wie meine eigene schmale Sammlung an Kleidungsstücken, in einem kleinen, sorgfältig abgeschlossenen Fach in meinem Kleiderschrank. Darauf hat Kris bestanden, denn sie hat eine fürchterliche Angst davor, dass Kendall und Kylie die Sachen finden und etwas merken. Ich übrigens auch.

Einmal wäre das fast passiert. Unsere Töchter hatten sich wegen irgendwelchen Kleidern gestritten, die eine der anderen angeblich geklaut hatte, wobei ich jetzt nicht mehr weiß, wer die Detektivin und wer die vermeintliche Diebin war. Jedenfalls hatte die mutmaßlich Bestohlene insgeheim die Kamera an ihrem Computer eingeschaltet, um ihr Zimmer zu überwachen. Wenig später wähnte ich mich allein im Haus und wollte die Gelegenheit nutzen, um mich aufzustylen. Da es in Kylies Zimmer einen hohen Spiegel gab, schlich ich mich dort hinein, um mein Outfit zu begutachten. Ich ahnte nichts Böses, bis ich später hörte, wie unsere Töchter zu Kris rannten und kreischten: Oh mein Gott, was ist denn das da auf dem Bildschirm?

Glücklicherweise waren sie zu jung, um das zu begreifen. Heute klingt es lustig. Es ist auch lustig. Nur damals war es das eben nicht. Es war mir unglaublich peinlich. Ich wollte nicht, dass die Kinder mitbekamen, dass ich Frauenkleider anzog. Ich wollte sie nicht verwirren, sie verletzen oder ihnen wehtun. Wie hätten sie damit zurechtkommen können, wo doch nicht einmal ich selbst wusste, wie ich damit umgehen sollte? Diese Geschichte war symptomatisch für das Lügengebilde, das ich um mich herum aufgebaut hatte: Nie war ich mit mir im Einklang, in mir herrschte ein totales Durcheinander.

Die Episode geriet bald in Vergessenheit. Aber ich hatte eine wertvolle Lektion gelernt: Wenn die Frau in dir sich im Kinderzimmer vor den Spiegel stellt, sollte sie sichergehen, dass der Computer ausgeschaltet ist.

Aber zurück zu meiner Verwandlung. Die Augen sind am Wichtigsten, denn sie sind schließlich das Fenster zur Seele. Wenn man die Augen richtig hinbekommt, klappt es mit dem Rest von selbst. Und dieses Mal sieht es richtig gut aus; ganz offensichtlich werde ich jedes Mal besser. Manchmal werde ich in solchen Situationen aber auch übermütig, und dann sitze ich da, der größte Athlet der Welt, und versuche mir mit zitternden Händen falsche Wimpern anzukleben, was dann aber nur dazu führt, dass ich irgendwann überall schwarzen Kleber auf den Lidern habe.

Schließlich betrachte ich mich im großen Spiegel des Hotelzimmers. Ich gehe ein paarmal auf und ab und prüfe kritisch, ob ich wirklich eine passable Frau abgebe. Von Kris habe ich mir auch eine kleine Handtasche „geborgt“ – was inzwischen etwas schwieriger ist, da sie besser aufpasst als früher.

Dann bin ich fertig und verlasse das Zimmer. Normalerweise nehme ich lieber die Treppe, weil ich vermeiden möchte, anderen Hotelgästen im Fahrstuhl auf engem Raum gegenüberzustehen. Aber meine Suite liegt in einem der oberen Stockwerke, und ich möchte nicht, dass mein sorgfältiges Styling schon gelitten hat, wenn ich unten ankomme. Also doch der Fahrstuhl. Ich sage kein Wort, denn meine helle Männerstimme, mein Singsang und mein Akzent – eine Mischung aus Mittelwesten und Massachusetts – würden mich sofort verraten; nach all der Zeit bin ich der Öffentlichkeit zu gut bekannt. Also wende ich den anderen Leuten den Rücken zu, mache ein bisschen auf arrogante Zicke und gehe leicht in die Knie, damit ich nicht ganz so groß wirke.

Unten verlasse ich den Fahrstuhl und spaziere zwanzig Minuten in der Lobby herum. Bedenkt man, dass ich bestimmt eine Stunde gebraucht habe, um mich zu stylen, klingt das nach einer wenig lohnenden Bilanz. Aber für mich ist es aufregend, und manchmal frage ich mich, ob die wahre Motivation dahinter ist, dass mein Leben ansonsten keine echten Kicks mehr bietet (es sei denn, dass man eine Runde Golf gegen sich selbst als aufregend bezeichnen wollte, und das wäre nach meiner Erfahrung wirklich übertrieben). Das Leben mit den Kardashian-Frauen und mit Kendall und Kylie hat natürlich viele Höhepunkte, sicher. Sie sind alle faszinierend, und tatsächlich wird schon bald Keeping Up With The Kardashians viele Millionen Zuschauer vor die Fernsehschirme locken. Meine eigene Rolle in dieser Reality-Show ist die eines gutmütigen, aber etwas tapsigen Patriarchen, der kein eigenes Leben hat, von den Frauen um ihn herum komplett dominiert wird und nur das tut, was seine Gattin ihm sagt.

Eine völlig wahrheitsgetreue Darstellung also.

Nach einer langen Runde durch die Lobby drehe ich mich um und kehre in mein Zimmer zurück. Ich halte mich nirgendwo lange auf. Bleibe nie stehen. Gehe nie ins Restaurant. Stattdessen bleibe ich lieber in den Winkeln und Ecken, und ich vermeide möglichst jeglichen Augenkontakt, weil mir genau bewusst ist, dass ich ausgecheckt werde. Schließlich weiß ich nur zu gut, wie das aussieht; Bruce Jenner ist schon viele tausend Male ausgecheckt worden.

Aber jetzt gibt es einen anderen Grund für die Blicke. Vor einer Entdeckung habe ich keine Angst, denn selbst wenn jemand meinte, er hätte Bruce Jenner in einem Kleid gesehen (was ja stimmt), dann würde er das vermutlich selbst nicht glauben, jedenfalls nicht, falls er zu denen gehört, die sich noch an die Olympiade damals erinnern. Bruce Jenner ist einfach der letzte, dem man so etwas zutrauen würde. Mich kümmert nur eins: ob ich glaubwürdig aussehe. Das erkenne ich an der Länge der Blicke, die man mir zuwirft. Ein kurzer heißt: Nichts Besonderes, eine Frau wie alle anderen. Hinter einem längeren könnte eine fatale Überlegung stehen: Wer zur Hölle ist das denn? Manchmal finde ich, dass ich verdammt gut aussehe. Manchmal fühle ich mich aber auch wie eine dünne Ausgabe von Bibo aus der Sesamstraße, der überall heraussticht und über den alle kichern, wenn er vorübergeht. Altwerden hat ja wenig gute Seiten, aber eine gibt es: Man schrumpft ein bisschen. Wenn ich hundert werde, dann bin ich vielleicht nur noch einssiebzig und werde mich nicht mehr so schrecklich gehemmt fühlen.

Über so etwas denke ich wirklich nach.

Bei einer meiner Hotellobby-Runden kam einmal ein Mann auf mich zu. Panik überfiel mich; ich war mir sicher, dass er mich durchschaut hatte. Aber er lächelte und reichte mir eine Rose. Also erwiderte ich sein Lächeln, zog mich aber so schnell es ging zurück. Auf keinen Fall wollte ich mit ihm reden. Bei den vielen Dutzend Hotellobby-Spaziergängen habe ich nie mit jemandem geredet. Aber ich fühlte mich geschmeichelt.

Anschließend setze ich mich in meinen Mietwagen und fahre eine Stunde durch die Gegend. Auch das mache ich gern, wenn ich Lust und Zeit dazu habe. Wenn ich dann an einem Einkaufszentrum vorbeikomme, stelle ich den Wagen möglichst weit am Rand des Parkplatzes ab, wo es keine Überwachungskameras gibt. Dort gehe ich wieder ein bisschen spazieren, die Autoschlüssel immer fest in der Hand: Falls etwas Unvorhergesehenes passiert, kann ich schnell wieder zum Auto rennen. Glücklicherweise habe ich ja vernünftige Schuhe an. Das alles dauert nicht lange, aber selbst diese kleine Möglichkeit, kurz einmal am Rand eines Parkplatzes auszusteigen, fühlt sich befreiend an. Es ist schrecklich aufregend – der Puls schlägt schneller, die Herzfrequenz steigt, und mich überkommt eine Mischung aus Kitzel und Selbstvertrauen, der Wunsch, die ganze Welt herauszufordern, und ein Glücksgefühl, ein überwältigendes Glücksgefühl.

Immer noch versuche ich herauszufinden, warum das so ist, und denke immer wieder an meine Kindheit zurück. Wie war das, als ich zehn war? Habe ich wirklich eine Geschlechtsidentitätsstörung, eine sogenannte Genderdysphorie, die von der American Psychiatric Association als „erkennbare Nichtübereinstimmung des zugewiesenen Geschlechts mit dem Identitätsgeschlecht“ definiert wird? Bin ich vielleicht nur ein Transvestit, dem das Tragen von Frauenkleidern einen sexuellen Kick gibt? Manchmal frage ich mich, ob das Aufstylen so ist, als hätte ich Sex mit mir selbst, weil ich gleichzeitig männlich und weiblich bin. Auf all das weiß ich keine konkreten Antworten.

Manchmal wage ich mich sogar über die Parkplätze hinaus. Wie das eine Mal, als ich im Opryland Hotel in Nashville übernachtete. Das Einkaufszentrum Opry Mills lag gleich gegenüber. Dort gab es auch ein Multiplex-Cinema, und ich überlegte: Hey, ich könnte doch einfach mal allein ins Kino gehen?

Also schaute ich im Laufe des Tages dort vorbei und ließ Bruce ein Ticket kaufen. Am Nachmittag hielt ich wieder einen Vortrag: „Finde den Sieger in dir.“ Anschließend kehrte ich ins Hotel zurück und zog mich um, verwandelte mich in die Frau in mir. Im Kino ging ich gleich in den dunklen Saal, da ich mein Ticket ja schon hatte. Eigentlich hätte ich gern Popcorn gehabt – das gehört zum Kino doch irgendwie dazu. Aber ich hatte zu viel Angst, zum Verkaufstresen zu gehen. Glücklicherweise war es ein guter Film, der mich ganz und gar fesselte, und für zwei Stunden dachte ich einmal an nichts anderes.

Nach dem Film musste ich aufs Klo. Das wäre vermutlich für niemanden sonst ein Problem gewesen – wenn man muss, dann geht man eben. Aber ich dachte nur: Oh mein Gott, was mache ich denn jetzt? Zwar war ich bei früheren Ausflügen schon einmal auf der Damentoilette gewesen. Wie bei allen anderen Dingen hatte ich mir auch dafür eine Strategie zurechtgelegt: Erst wartete ich draußen, bis ich sicher war, dass niemand mehr im Vorraum sein konnte. Dann ging ich hinein und nahm die Kabine, die am weitesten von der Tür entfernt war. Wenn jemand reinkam, wartete ich, bis sie wieder ging, und dann sah ich zu, dass ich mich schnell verdrückte.

An dem Tag stand allerdings eine lange Schlange vor dem Damenklo. Warten hätte keinen Zweck gehabt. Also hastete ich so schnell wie möglich wieder ins Hotel zurück.

Als ich von meinem aktuellen Lobby-Ausflug zurückkehrte, fühlte ich mich noch immer gut. Niemandem war etwas aufgefallen. Aber mein Flug ging am nächsten Morgen ganz früh, und das hieß, dass es Bruce wieder in seiner ganzen Herrlichkeit geben würde. Also musste alles wieder runter.

Wenn ich einen späten Flug habe, schminke ich mich vor dem Schlafengehen nicht ab, auch wenn das Make-up die Kissen verschmiert (wofür ich mich an dieser Stelle bei den Hotelmitarbeitern entschuldigen möchte). Von außen betrachtet, habe ich ein schönes Leben: wunderbare Kinder, eine solide Ehe (jedenfalls war sie das, bevor es mit Keeping Up With The Kardashians losging), eine feste Arbeit und die Sympathien der Öffentlichkeit. Mein Image ist weiterhin sehr positiv.

Aber es reicht nicht. Es wird niemals reichen. In diesem Augenblick in den Neunzigern, mit über vierzig, konnte ich mir nicht vorstellen, je meinen Seelenfrieden zu finden. Dazu hatten mich die gesellschaftlichen Zwänge und die Sorgen um meine Familie viel zu sehr im Griff.

Tatsächlich denke ich heute ernsthaft darüber nach, testamentarisch festzulegen, zumindest mit dem Geschlecht begraben zu werden, das ich mein Leben lang gefühlt habe. Vielleicht ist das die einzige Möglichkeit für mich, die Frau zu sein, die ich immer war – in den Kleidern, die ich immer schon tragen wollte, für zwanzig Minuten durch eine Hotelhalle zu schlendern, in einem dunklen Kino zu sitzen oder ziellos durch die Gegend zu fahren.

So will ich in den Himmel kommen. So soll Gott mich vor sich sehen, damit ich ihn fragen kann: Habe ich alles falsch gemacht? Hätte ich mehr tun können?

Diese Antwort suche ich hier auf Erden. Aber bis ich sie finde, tue ich das, was ich am besten kann. Ich spiele Bruce.