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Für meine geliebte Tochter Valeska

»An einem edlen Pferd schätzt man nicht seine Kraft, sondern seinen Charakter.«

Konfuzius

Kaya zitterte bei jedem Sprung mit, obwohl Lara doch ihre Konkurrentin war. Trotzdem, Lara hatte einfach ein wunderschönes Pony, schwarz wie die Nacht mit einem weißen Stern mitten auf der Stirn – und, was fast noch wichtiger war, mit einem ungeheuren Sprungvermögen. Die beiden fegten durch den Parcours, dass die Zuschauer den Atem anhielten. Heute ging es um Zeit und Fehler, und da war Black Jack allen anderen überlegen.

Kaya stand noch immer ganz beeindruckt da, obwohl sie längst hätte aufsitzen müssen, und sie war sich sicher, dass Fritz Lang deswegen schon sauer sein würde, aber sie konnte sich von dem Bild einfach nicht lösen. Jetzt kamen die beiden auf die letzte Kombination zu, ein blau-weißer Steilsprung und dahinter ein gewaltiger Oxer, der für sie selbst gleich zum richtigen Problem werden würde, für Black Jack aber noch nicht mal einen Augenaufschlag mehr bedeutete.

Kaya hatte bisher immer nur von diesem Siegerpaar gehört, aber heute war der große Tag, da sie beide in ein und derselben Prüfung starten durften, beim ›Bodensee Classics Ponycup‹ in Aach. Ihr Herz klopfte wie wild vor Aufregung. Fritz Lang, ihr Trainer, war vorhin mit ihnen allen den Parcours abgeschritten, aber sie konnte sich kaum auf seine Anweisungen konzentrieren, so stolz war sie, bei diesem großen, internationalen Reitturnier mitmachen zu dürfen.

Jetzt, jetzt … – Kaya hielt kurz die Luft an und prustete sogleich laut heraus. Unglaublich, die oberste Stange des Oxers fiel, Black Jack hatte gerissen. Ihr Blick ging zur Uhr, Lara war verdammt schnell, ja, aber der Sieg war weg!

Sie sprang flink zur Seite, denn sie stand mitten im Eingang, gleich würde der nächste Reiter rein- und Lara hinausreiten. Und außerdem musste sie sich jetzt selbst mörderisch beeilen. Trotzdem, es war unfassbar: Black Jack hatte gerissen! Bei einem A-Springen! Für ihn doch geradezu läppisch.

Lara schoss an ihr vorbei, sie riss ihrem Pony dabei brutal ins Maul und sprang wütend ab. »So ein Scheißbock!«, fluchte sie böse, überließ Black Jack dem Pfleger und verzog sich ohne ein weiteres Wort in das Teilnehmerzelt.

Kaya war schockiert. Black Jack tat ihr Leid. Am liebsten wäre sie zu ihm hingegangen und hätte ihn getröstet, aber er wurde bereits weggeführt.

Völlig benommen ging sie auf den Abreiteplatz, wo ihr Fritz Lang schon heftig zuwinkte. Sie hatte es gewusst, jetzt musste sie sich irre beeilen, sonst würde sie aus dem Ponykader gleich wieder rausfliegen.

»Wo steckst du denn?«, fragte der Trainer unwirsch. »Es sind nur noch sechs vor dir – und du hast noch keinen einzigen Probesprung gemacht!«

Aber ich habe ihn doch schon gut abgeritten, wollte sie sagen, verkniff es sich jedoch. Er hatte ja Recht, das hier war eine große Chance für sie, da durfte sie nicht blöd herumträumen. Hier wurde gespurt, sagte der Trainer immer, aber genau das fiel ihr eben schwer. Sie träumte nun mal so gern.

Kaya ritt Flying Dream, ein dunkelbraunes Pony, das außer durch seinen Namen mit nichts weiter besonders auffiel. Es gehörte dem Reitverein, sprang manchmal ganz gut, manchmal aber auch nicht, je nachdem, wie es drauf war.

Heute fand der Wallach alles recht spannend, die vielen im Wind flatternden Fahnen für das Internationale Reitturnier, die vielen berühmten Pferde, die mit ihm über den Abreiteplatz trabten, die vielen Menschen, die begeistert zuschauten, das große Gelände, die weißen Zäune – einfach alles hier war edel und teuer und nicht im Entferntesten so wie zu Hause.

Kaya tätschelte ihrem Pony den Hals. »Komm, mein Guter, jetzt zeigen wir denen mal, wie’s geht«, aber so ganz war sie von ihrem kühnen Spruch selbst nicht überzeugt, was letztlich ja auch egal war, Hauptsache Flying Dream glaubte ihr und machte seinem Namen Ehre.

»Steil«, hörte sie Fritz Lang rufen. Okay, damit war sie gemeint. »Steilsprung frei«, rief er noch einmal, um die anderen darauf aufmerksam zu machen, dass sie nun herangaloppierte. Dreamy, wie sie Flying Dream nannten, sah das Hindernis, zog an und ging locker und frei darüber. So, das war schon mal gut. Kaya atmete erleichtert auf.

»Gib ihm mehr Kopf«, hörte sie ihren Trainer rufen. Ja, das war so ein bisschen ihr Problem, sie blieb mit den Händen einfach zu steif, dabei müsste sie während des Sprungs weit zum Pferdemaul vor, damit Dreamy seinen Hals besser strecken könnte. Leichter gesagt als getan. Vor jedem Ritt nahm sie es sich aufs Neue vor, und dann vergaß sie es doch wieder oder hatte Angst, er könne urplötzlich stehen bleiben und sie alleine fliegen lassen.

»Oxer frei«, hörte sie Lang jetzt rufen und spürte, wie sich ihr Herzrhythmus beschleunigte. Mit ihren 13 Jahren war sie schon recht groß, und Dreamy war mit seinen 1,40 Meter Stockmaß fast schon etwas zu klein für sie, jedenfalls sah so ein Oxer von seinem Rücken herunter anders aus als von dem großen Black Jack, da war sie sich sicher.

Aber Dreamy teilte ihre Bedenken nicht, er nahm den Oxer, als ob der nichts wäre. »Gut!«, hörte sie Fritz Lang. Das Lob machte sie stolz und sicherer. Vielleicht hatte sie ja doch eine Chance?

Komm, du bist das erste Mal dabei, dämpfte sie jedoch gleich wieder ihren Optimismus, das schaffst du nie. Oder vielleicht doch?

Fritz Lang ließ sie noch einmal über den Steilsprung und auch noch einmal über den Oxer springen, dann winkte er ab. »Gut, genug! Geh jetzt noch einmal im Geiste den Parcours durch, erinnere dich an die Strecke, an jeden Sprung, und denk an die Galoppsprünge zwischen den Kombinationen. Und dann schaust du dir in aller Ruhe Chris an, der ist direkt vor dir dran. Also: Toi, toi, toi!«

Oh Gott, gleich war sie dran, jetzt bekam sie doch Angst. Sie schaute noch einmal auf ihren rechten Oberarm, wo an dem schwarzen Reitjackett das Kaderabzeichen ›Talente Junioren‹ prangte, und versuchte, cool zu bleiben wie ein alter Hase. Wie Meredith Michaels-Beerbaum, die in der nächsten Prüfung mit Shutterfly einen S-Parcours springen würde, oder wie Marcus Ehning, der mit Leichtigkeit die schwierigsten Ritte schaffte. Sie drückte die Absätze herunter, straffte die Schultern und fuhr Dreamy noch einmal mit ihren weißen Handschuhen über den Hals.

»Du machst das«, flüsterte sie ihm zu. »Und wenn wir das schaffen, kriegst du gleich vier Karotten auf einmal von mir!« Wenn nicht, dann auch, dachte sie, aber das musste er ja nicht wissen.

Von der Startertafel her winkte ihr jemand zu. Das war Claudia, die Besitzerin des Reitstalls zu Hause. Jetzt wurde die Startnummer 312 für den nächsten Reiter angezeigt. Das war ihre Nummer. Jetzt war sie gleich dran. 312 – das war sicherlich eine Glückszahl, hoffentlich!

Claudia hielt ihr die Hand mit dem gedrückten Daumen in die Luft entgegen, dann ritt Kaya auch schon an ihr vorbei, über den Kies hin zum Parcourseingang.

Oh Gott, so viele Menschen. Und dann auch noch diese Fernsehkameras, die übertrugen zwar nicht ihren Ponycup, sahen aber trotzdem Respekt einflößend aus. Und diese riesige Anzeigetafel, alles war so hochprofessionell hier, dass man schon vom bloßen Hinschauen Angst bekommen konnte. Aber jetzt gab es ja kein Zurück mehr. Eben wurde der Name von Chris Waldmann eingeblendet und der Name seiner Stute, und die Musik feuerte ihn an, und der Moderator erzählte, was Chris Waldmann sonst so ritt, wenn er nicht hier in Aach war, und dass er 15 Jahre alt war und dass er vor fünf Jahren mit dem Reiten begonnen hatte.

Dann reitet er so lange wie ich, dachte Kaya und schaute gebannt auf den riesigen Bildschirm, auf dem Chris nun mit seinem Pony in ganzer Lebensgröße gezeigt wurde. Unglaublich, gleich wird man mich da auch so sehen, dachte sie und tätschelte Dreamy zur Beruhigung, merkte aber zugleich, dass sie nicht ihn, sondern sich selbst beruhigen musste. Er war nämlich überaus ruhig, das heißt, er sah aus, als ob er kurz vorm Einschlafen war, hielt den Kopf gesenkt und die Ohren hingen. Na, das war dann wohl nicht der rechte Anblick für eine Fernsehkamera.

»Hey, Dreamy, gleich geht’s los«, munterte sie ihn auf, aber das beeindruckte ihn mit seinen zwölf Jahren Erfahrung wenig, erst wenn die Schranke vor ihm hochging, ging’s für ihn los, vorher nicht.

Chris hatte schon fünf von zwölf Sprüngen geschafft, und erst jetzt fiel Kaya auf, dass dieser Chris der Chris sein musste. Also genau der Chris, mit dem sie vor einem halben Jahr beim Weihnachtsreiten zufällig zusammengestanden und gesprochen hatte, der, den sie so süß fand. Er ritt nicht in ihrem Verein, und wegen der Springkappe war von seinen wilden blonden Haaren kaum was zu sehen, sie war sich nicht sicher, aber das musste er sein. Sie schaute noch einmal zu der Video-Großbildleinwand, auf der die Zuschauer rund um den Parcours den Ritt hautnah sahen – und jetzt war sie sich sicher: Das ist er! Das ist der Chris!

Sofort schlug ihr Herz noch schneller. Mann, der ritt richtig gut, schnell und flüssig, hatte einen perfekten Sitz, ging mit der Hand korrekt über dem Sprung mit, ach ja, und überhaupt …

Sie spürte jemanden neben sich und schaute hin. Fritz Lang. Das machte sie jetzt nur noch nervöser.

»Und denk an deine Hand«, sagte er. »Stör ihn nicht!«

»Nein. Ja. Gut«, antwortete sie und war nun völlig durcheinander. Gleich kam Chris auf sie zugeritten, sie würden in diesem Eingang eng aneinander vorbeireiten, sie würden sich anschauen … – und dann wäre sie völlig allein auf der Welt, den Leuten, den Kameras und der Stoppuhr schutzlos ausgeliefert. Sie war sich sicher, dass ihr Schädel da drin total leer sein würde. Sie fühlte sich wie vor einer Mathearbeit, plötzlich wusste sie dann immer überhaupt nichts mehr, obwohl kurz vorher doch noch alles sonnenklar gewesen war.

Chris war schnell, er ritt gut, aber auch er riss. Ebenfalls in der letzten Kombination, sein Pony nahm die oberste Stange des Steilsprungs mit. Kaya hielt die Luft an, aber die Stute kam trotzdem noch halbwegs gut über den Oxer.

Das wird Lara nun wieder freuen, dachte Kaya. In dem Moment hörte sie Fritz Langs flache Hand auf Dreamys Hinterhand patschen und sein dezentes »Los, jetzt! Aufwachen!«.

Also setzte sie sich zurecht, nahm die Zügel kürzer und drückte ihre Absätze kurz gegen seinen Bauch, sodass Dreamy verstehen konnte, was sie ihm sagen wollte: Es geht los!

Chris kam ihnen entgegen, und sie konnte nicht anders, sie musste sich nach ihm umdrehen. Er sah wirklich großartig aus, aber noch mehr interessierte sie, ob er sein Pony nun auch so heimtückisch und hinterhältig bestrafen würde, wie Lara das mit ihrem getan hatte, dann wäre er für sie nämlich gleich gestorben.

Nein, sie sah nichts dergleichen, sie konnte auch nichts mehr sehen, denn nun waren alle Augen auf sie gerichtet, und sie musste sich sammeln. Und dann lief auch schon alles wie von selbst: Einreiten im Trab, halten, vor den Richtern grüßen, dann angaloppieren, sich orientieren, nochmals eins werden mit dem Pony, dann Gas geben, bei der Lichtschranke am Start vorbei, auf das erste Hindernis zu – eine Backsteinmauer aus bemaltem Sperrholz, schön garniert mit Blumen rechts und links – und hoffen, dass alles klappte. Dreamy zog zwar an, aber nicht so richtig. Vielleicht fand er die saftigen Blumen verlockender als den Sprung, jedenfalls musste Kaya ziemlich treiben, und dann feuerte sie ihn auch noch lautstark an. Sie durften überall kapitulieren, aber nicht schon am ersten Sprung!

»Los, spring!«, schrie sie, und er tat es, trat allerdings nach dem Sprung mit seinem rechten Hinterbein zornig aus. Ganz offensichtlich hatte ihm irgendetwas nicht gepasst.

»Komm schon, vorwärts!«, spornte sie ihn an. Vergessen waren die vielen Menschen, vergessen war, dass sie auf der Video-Großbildleinwand selbst für den letzten Zuschauer auf der Tribüne noch riesengroß zu sehen war, vergessen waren Fritz Langs Ermahnungen, vergessen war ihr Lampenfieber, und vergessen war sogar Chris! Jetzt zählte nur noch Dreamy, den sie ganz fest unter sich spürte, seine Bewegungen, seine Muskeln, seine gute Haltung, seinen Willen zum Sieg. Und sie spürte ihren Willen. Sie flog mit ihm in seinem Rhythmus dahin, die nächsten beiden Sprünge machten keine Mühe, nur die Wege waren für Dreamys kurze Beine etwas lang, er hatte nicht die große Galoppade eines Black Jack, er war ein kleiner Kerl, aber auch ein Ehrgeizling, wenn er denn wollte. Und jetzt wollte er. Nach den Anfangsschwierigkeiten spürte Kaya, wie er immer mehr in Fahrt kam. Die Hindernisse kamen immer schneller auf sie zu, sie nahm sie im Einzelnen kaum noch wahr. Da war schon diese letzte Kombination, vier Galoppsprünge für Dreamy, hatte Lang ihr eingeschärft – die anderen Ponys, die größeren, brauchten nur drei. Dreamy flitzte über den blau-weißen Steilsprung, Kaya vergaß zu zählen, hatte aber das Gefühl, dass es nur drei Sprünge waren, als er schon wieder abhob und über den Oxer flog.

Alle Stangen blieben liegen.

Sie warf sich vor und ihm die Zügel hin und schrie im Trommelwirbel seiner Galoppsprünge: »Lauf, lauf, lauf!« Und er rannte, als ob es um ihr Leben ging, und wollte auch nicht aufhören, als sie schon längst durch das Ziel hindurch waren und sie Fritz Lang vom Eingang her brüllen hörte: »Ein Nuller, Kaya! Toll!« Und gleichzeitig schmetterte die Fanfare, die die Null-Fehler-Ritte krönte, und sie umarmte Dreamy lachend und glücklich im vollen Galopp.

Sie waren nicht die Schnellsten, aber sie waren platziert! Vor Lara und vor Chris! War denn das die Möglichkeit! Sie lachte noch immer und klatschte Dreamy unablässig auf den Hals, bis der unwillig den Kopf schüttelte. Dann ritt sie hinaus.

Draußen schmunzelte Fritz Lang mit aufeinander gepressten Lippen. Lächelnd klopfte er ihr auf den Schenkel: »Gut gemacht!« Und Claudia hätte sie vor Begeisterung fast vom Pferd gerissen. »Toll. Toll. Toll!«, jubelte sie in einem Tonfall, in dem Fritz Lang vor wenigen Minuten noch »Toi, toi, toi!« gesagt hatte.

»Ich glaub’s selber nicht«, sagte Kaya und rutschte strahlend von Dreamy herunter, küsste ihn auf die Nüstern und erneuerte ihr Versprechen mit den vier Karotten.

»Du bist Dritte!«, rief Claudia begeistert, und jetzt kamen auch schon einige ihrer Stallgefährten angerannt und gratulierten staunend.

»Langsam, langsam«, winkte Kaya mit bangem Gefühl in der Magengegend ab, »es kommen ja noch fünf! Ich kann doch noch total abrutschen!«

»Von denen schafft das aber keiner mehr«, meinte Claudia, und das tat ihr gut, sie hörte es in diesem Moment sogar noch lieber als alles, was in letzter Zeit zu ihr gesagt wurde. Aber garantiert hatten dasselbe auch viele noch vor fünf Minuten von ihr behauptet. Und sie hätte es vor fünf Minuten ja über sich selbst auch gesagt. Doch jetzt stand sie mit Dreamy, dem 12-jährigen Vereinspony, hier und hatte gegen das 60 000-Euro-Pony von Lara gesiegt. Das war ein solch unglaublicher Gedanke, ein so unbeschreibliches Gefühl, dass sie der Geschichte kaum trauen konnte. War es auch wirklich wahr?

»Dein Einstand in den Ponykader ist schon mal prächtig gelungen!« Das war Herr Sonnig, Klaus Sonnig, der Vater von Minka, die um zwei Zehntel vor ihr und damit auf dem zweiten Platz lag. Aber Minka hatte auch schon lange ein eigenes Pony, und sie war schon eine halbe Ewigkeit im Kader, viel länger als sie. Und sie hatte das Glück, dass ihre Eltern immer dabei waren. Sie kurvten mit Minka von Turnier zu Turnier, den ganzen Sommer über, bekamen alle Erfolge und Niederlagen ihrer Tochter hautnah mit.

Ihre Eltern dagegen hatten am Wochenende nie Zeit, sie führten ein kleines, aber nobles Restaurant und konnten das nicht allein lassen, schon gar nicht einen ganzen Tag lang.

Kaya nahm die Reitkappe ab und fuhr sich leicht über die Haare. Der Knoten war etwas aufgegangen, sicher sah sie wild aus, aber das hier war ja kein Dressurwettbewerb, bei dem so zerzauste Haarschöpfe nicht als wild, sondern schlicht als unordentlich eingestuft wurden.

Dreamy stupste sie mit seiner Nase an und schmierte seine mit Schaum belegten Lippen an ihrem Ärmel ab, worüber sie nur lachen konnte. Sie fuhr dem Pony mit der Hand unter die Mähne und schaute ihm in seine dunklen Augen, die sie so besonders schön fand. Was er jetzt wohl dachte? Ob er überhaupt etwas dachte? Ob er ebenso stolz war wie sie?

»Sind deine Eltern eigentlich da? Irgendwo auf der Tribüne?« Oh, das war der wunde Punkt. Herr Sonnig bohrte direkt da, wo es wehtat.

»Nein, sie haben keine Zeit«, sagte Kaya schnell.

»Schade, es war ein wirklich aufsehenerregender Ritt!« Herr Sonnig grinste. »Wie du Dreamy angefeuert hast, das war einfach spitze!« Dabei deutete er auf seine Handycam. »Ich hab’s aufgenommen, wenn du willst, mach ich eine Kopie für deine Eltern!«

Oh, das freute sie jetzt wirklich. Obwohl andere Kinder sie meist beneideten, weil sie nicht überall von ihren Eltern gegängelt wurde, fand sie es in solchen Momenten dann doch nicht toll, dass die nie dabei waren.

Minka war dazugekommen, sie hatte ihren Luxury Illusion am Zügel, einen auffallend schönen Schimmel. »Es kommen nur noch drei«, sagte sie bedeutungsvoll zu Kaya. »Viel kann eigentlich nicht mehr passieren …« Sie drückte ihrem Vater die Zügel in die Hand und ging zum Parcours, um sich die letzten Konkurrenten anzuschauen. Kaya schaffte das nicht. Sie vertraute auf die alte Weisheit, dass Dinge einfach nicht passieren würden, wenn man sie nicht wahrhaben wollte, und sie war jetzt absolut nicht gewillt, einen besseren Ritt wahrhaben zu wollen, also versuchte sie sich abzulenken.

»Jetzt hat unser Kleiner noch mal so einen richtigen Aufschwung erlebt«, hörte sie Claudia hinter sich zu Herrn Sonnig sagen.

»Tja«, antwortete der, »das wäre wirklich der richtige Zeitpunkt, um über einen Verkauf nachzudenken. Ein dritter Platz hier beim Ponycup in Aach – das macht jedenfalls was her!«

Kaya drehte sich abrupt um. Quatsch, dachte sie, die machen einen doofen Scherz. Man verkauft doch kein 12-jähriges Pony, das sich gerade so richtig für einen angestrengt hat, das wäre ja glatter Verrat.

Minka kam aufgeregt angelaufen und fiel ihr um den Hals. Ihre dunkelbraunen Locken standen überall unter dem Helm hervor und kitzelten Kaya im Gesicht. »Gratuliere«, sagte sie. »Anett war bis zum letzten Sprung schnell und fehlerfrei, aber jetzt ist die Stange doch noch runter!«

Kaya lachte befreit, es hatte geklappt. »Ich gratuliere dir auch«, sagte sie, und dann stiegen beide für die Siegerehrung auf ihre Ponys.

»Die letzte Kombination hatte es in sich!«, sagte Claudia und gratulierte den beiden Mädchen ebenfalls: »Glückwunsch! Auf den Erfolg gebe ich euch gleich was aus!«

Claudia war eine Vollblutpferdefrau. Ihr ganzes Leben lang hat sie schon mit Pferden zu tun, und irgendwann hat sie ihre Leidenschaft als Berufung erkannt und zu ihrem Beruf gemacht. Jetzt bewirtschaftet sie mit ihrem Mann einen Pferdehof, der gemütlich ist, aber nicht allzu professionell, einer jener typischen Reitställe, die nach und nach um die eine oder andere Box wachsen, wo mal hier und mal da angebaut wird und wo schließlich alles ein bisschen ausufert. Die Halle war zu klein, der Sandplatz auch, manchmal standen sich die Pferde gegenseitig auf den Hufen. Aber für Kaya war es die eigentliche Heimat, und wenn sie ehrlich war, zog sie den Heuboden im Stall ihrem Zimmer zu Hause vor.

Im Sommer durften sie dort oben sogar manchmal übernachten. Dann konnte man durch die kleinen Löcher zwischen den Ziegeln die Sterne sehen, das Heu kitzelte und stach, und es roch nach warmem Grasboden. Dann lag sie mit den anderen Mädchen da, und sie erzählten sich die neuesten Geschichten und kicherten bis spät in die Nacht. Dabei konnte sie alles, was sie sonst so bedrückte, vergessen.

Klaus Sonnig riss sie aus ihren Träumen. »Also, dann los! Und legt uns mal eine schöne Ehrenrunde hin«, er winkte mit seiner Kamera.

Kaya und Minka ritten im Trab nebeneinander in den Parcours ein und weiter bis zur Mitte, und erst jetzt wurde Kaya voll bewusst, was das hier eigentlich war: Dank des Engagements der Veranstalter war das nämlich eine der ganz seltenen Gelegenheiten, bei der Jugendliche mit ihren Ponys auf einem großen CSI-Turnier reiten konnten. Und zwar nicht frühmorgens um 7 Uhr, wenn noch alle Zuschauer schliefen, sondern tatsächlich zur Primetime, zur Kaffee- und Kuchenzeit bei vollem Haus. Und dann war hier auch nicht nur die Crème de la Crème der bundesdeutschen Ponykaderreiter am Start, sondern Jungen und Mädchen aus der ganzen Region, die unter den Rahmenbedingungen der ganz Großen ein kleines A-Springen ausfechten durften. Und das alles war eingebettet in die international besetzten großen Springprüfungen. Das war schlicht ein Wunder. Und sie war dabei und sogar platziert. Das war ein Weltwunder!

Als sie ihren Namen und den ihres Pferdes hörte und vorritt, um sich neben die Siegerin und neben Minka zu stellen, sah sie ihn. Er stand hinter den Veranstaltern und Richtern, die die Sieger beglückwünschten, den Amazonen kleine Blumensträuße überreichten und den Ponys die Schleifen ansteckten. Keine Frage: Das war unverkennbar Chris. Er lehnte locker an der weißen Bande mit Werbung für irgendwelche Eigenheime, hatte eine Cola in der Hand und schaute sie an. Tatsächlich. Kaya wäre fast vom Pferd gefallen. Schlagartig fiel ihr wieder ein, dass sie völlig verwuschelte Haare hatte, dass ihre Nase für ihr Gesicht zu groß war und ihre Augen zu tiefliegend waren. Die Lider kannst du mal klasse schminken, hatte ihre Schwester gesagt, aber die war auch vier Jahre älter und in solchen Dingen sowieso extrem nervig.

Ob sie ihn anlächeln sollte? Kaya war unsicher. Schaute er überhaupt sie an? Oder nicht doch Minka, die ja genau neben ihr war. Kaya blickte vorsichtig zu ihrer Nachbarin. Minkas Gesicht war viel zarter und mädchenhafter. Aber ob das bei einer 13-jährigen so gefragt war – schließlich war man doch als Teenager schon fast erwachsen. Sie schaute schnell wieder geradeaus, um Chris’ Blick zu ergründen, und hätte darüber fast das Zeichen zur Ehrenrunde verpasst. Sollte sie ihm den kleinen Blumenstrauß zuwerfen, den sie soeben bekommen hatte? Aber nein, das wäre ja peinlich. Schon so ein Gedanke war peinlich. Vielleicht, hoffentlich, blieb er noch eine Weile und fuhr nicht schon gleich ab.

Dreamy genoss die Atmosphäre sichtlich. Mit aufgestelltem Schweif und wehender Mähne nahm er hinter Luxury Illusion Haltung an, und auch Kaya berauschte das Gefühl, zur selben Musik, die nachher, sollte er ähnlich erfolgreich sein wie sie, auch Ludger Beerbaum hören würde, eine Ehrenrunde zu ziehen. Auf der letzten Geraden vor dem Ausgang heizte die Siegerin, eine 16-Jährige aus der Schweiz, ihr Pony an, und alle anderen jagten daraufhin so schnell hinterher, dass sie noch eine kleine Zusatzrunde drehen mussten, um ihre Tiere wieder in den Griff zu bekommen. Die Menschen in den Zelten, auf der Tribüne und auf dem Grashang klatschten stehend im Takt Beifall, und Kaya war vor Glück und ehrfürchtiger Rührung den Tränen nahe. So ein Moment dürfte nie vergehen, dachte sie, und warf beim Hinausreiten einen letzten Blick zurück. Das war die große weite Welt, dachte sie, das war ihre Welt – sie schwor sich, dass sie in Zukunft daran teilhaben würde.

Claudia machte ihr Versprechen wahr und lud sie ein. Minka und ihr Vater gingen mit, aber auch ein paar andere aus dem Stall, allen voran Fritz Lang, der sichtlich gut gelaunt war.

Zuvor hatten sie Dreamy und Luxury Illusion gefüttert und getränkt und in den Pferdehänger gestellt, wo die Pferde jetzt am Heu knabberten und zur offenen Tür hinausschauten. Kaya war ihre Karotten losgeworden, nicht nur an Dreamy, sondern an beide Ponys, denn sie wollte gerecht sein. Zwischenzeitlich aber überkam sie so sehr die Sorge, Chris zu verpassen, dass sie eiligst zum Aufbruch drängte. Sogar das Abholen ihres gewonnenen Sachpreises reizte sie nicht. Das wollte sie auf später verschieben.

»Es ist bestimmt ein Halfter«, versuchte Minka sie zu locken. »Rosa! Oder hellblau!«

Aber Kaya wehrte ab. »Das ist nachher auch noch da. Lass uns ins Zelt! Ich habe einen Wahnsinnsdurst.« Dabei dachte sie nur an ihn. Sollte sie zu ihm hingehen, wenn er tatsächlich noch da war? Ganz unbefangen tun, so als seien sie alte Bekannte? Oder ihm nur aus der Ferne zulächeln? Oder ihn gar nicht beachten, so dass er den ersten Schritt machen musste? Was aber, wenn er überhaupt keinen ersten Schritt machen wollte, wenn sie sich nur getäuscht hatte? Vielleicht erkannte er sie ja überhaupt nicht mehr. Das Weihnachtsreiten war schließlich lange her, und es war dämmrig gewesen. Sie hatte vor ihrem Auftritt in der Spring-Quadrille neben ihm gestanden, aber hatten sie überhaupt miteinander gesprochen? Und wenn ja, was?

Manchmal brachte sie die Wirklichkeit mit ihrer Fantasie total durcheinander, dann wusste sie nicht mehr so genau, was nun eigentlich wahr war und was nicht. Hatte sie sich damals beim Einschlafen nicht ausgemalt, dass er ihr etwas zum Trinken angeboten hatte, dass sie über alles Mögliche gelacht und dass er es dann bedauert hatte, nicht im selben Reitstall wie sie zu sein, und dass man sich eben überlegen müsse, wie man sich trotzdem wiedersehen könne?

Aber jetzt war sie sich dessen nicht mehr sicher. Möglicherweise hatte er einfach nur stumm neben ihr gestanden und fand sie gar nicht attraktiv. Vielleicht fand ja nur sie ihn klasse, das wäre fatal.

Claudia hatte einen runden Tisch ausgesucht und holte gerade eine Runde Cola mit Pommes am Ausschank. Kaya fixierte alle Leute im Zelt genau. Sie hatte ihren Haarknoten gelöst und war sich, weil sie keine Bürste mithatte, mehrfach mit allen zehn Fingern durch ihr dunkelblondes Haar gefahren, bis es ihr einigermaßen füllig auf die Schultern fiel. Mehr konnte sie jetzt für ihre Schönheit nicht tun. Ihre Schminksachen hatte sie zu Hause gelassen, heute Morgen war es fürs Anmalen zu früh gewesen, und außerdem passten Schminke und Reiten irgendwie nicht zusammen. Aber jetzt hätte sie doch gern etwas Wimperntusche gehabt oder wenigstens einen schwarzen Kajalstift.

Da sah sie ihn!

Er stand mit der 16-jährigen Siegerin zusammen, die gerade ihre langen, strohblonden Haare nach hinten warf. Die beiden lachten herzhaft. Das gab ihr einen Stich. Die ist doch viel zu alt für ihn, dachte sie. Aber leider ist sie viel hübscher als ich.

Im Nu sank ihr Mut ins Bodenlose, und der 3. Platz war nur noch halb so viel wert. War es denn die Möglichkeit? Da kam diese Kuh aus der Schweiz hierher, gewann den Ponycup und schnappte ihr auch noch den bestaussehendsten Jungen weg, dem sie je begegnet war.

Abbildung

Am Abend lag Kaya zu Hause auf dem Sofa in ihrem Zimmer und schmiedete Pläne. Usher knallte aus den Boxen und sie rechnete jeden Moment mit dem Protest ihrer Eltern, aber das war ihr jetzt egal. Das Wechselbad ihrer Gefühle musste sie erst einmal verdauen und unter Kontrolle kriegen.

Da waren zuerst das Glücksgefühl des unglaublichen Erfolgs – wo sie sich doch für dieses Turnier überhaupt nichts ausgerechnet hatte – und dann die Freude über das Wiedersehen mit Chris und schließlich diese deprimierende Absage an ihre Person im Festzelt, so als sei sie gar nicht existent.

Sie war unter dem Vorwand, noch Ketchup holen zu wollen, kaum drei Meter an ihm vorbei zur Theke gelaufen. Er aber hatte sie ignoriert, nicht einmal aufgeschaut. Nicht mal das! Dabei hatte er doch bei der Siegerehrung ganz eindeutig sie, Kaya, im Visier! Oder schielte er etwa?

Sie war so wütend auf ihn gewesen wie vorher auf Lara wegen Black Jack, und sie hätte beiden gern kräftig in den Hintern getreten, wenn das denn etwas genützt hätte. Aber das war auch eine Schweinerei von Lara, dachte sie noch immer, so etwas tut man einfach nicht. So geht man nicht mit Pferden um. Wahrscheinlich war es sogar Laras Fehler selbst gewesen und gar nicht der ihres Ponys. Bestimmt hatte sie ihm den Kopf nicht freigegeben.

Und mit Chris, war das etwa ihr Fehler? Schließlich hatte er ihr doch zugelächelt, und sie hatte es nicht erwidert, und daraufhin erst hatte er sich dieser schweizer Ziege zugewandt. Strafte er sie deshalb mit Missachtung?

Sie stand auf und stellte sich vor den Spiegel. Gut, sie war muskulös, aber schlank, hatte schöne, gerade Beine, einen hübschen Po und einen kleinen Busen. War der vielleicht zu klein? Sie drehte sich auf die Seite und hob ihren dünnen Pullover hoch. Der Bauch war makellos flach, da gab es nichts. Kein Wunder, ihr Vater war ein Fastfood-Verächter und hasste Cola, die trank sie nur außer Haus. Aber ihre Brust, na ja, die fand sie nun doch etwas mager. Das war ihr so noch nicht aufgefallen, weil alle ihre Freundinnen auf etwa dem gleichen Stand waren wie sie, aber klar, diese 16-jährige Schweizerin hatte mehr. Entsetzlich mehr!

Kaya zog den Pullover wieder herunter und trat näher an den Spiegel. Ihre Nase war etwas groß, gut, aber das würde sich noch verwachsen, hatte der Arzt neulich gemeint, als sie ihn gefragt hatte. Die Proportionen im Gesicht würden sich noch verschieben. Sie hoffte darauf. Dafür waren ihre Lippen schön geschwungen. Sie hatte einen wirklich schönen Mund, und wenn sie ihn mit etwas Lipgloss betonte, fiel die Nase auch nicht mehr so auf, dafür allerdings ihre tief liegenden Augen umso mehr. Sie seien geheimnisvoll, hatte ihr mal ein schmachtender Schulkamerad zugeflüstert, aber der war erst zwölf und nicht wirklich was fürs Leben. Und dann fand sie ihre Augen auch ein bisschen glubschig, eher so barbiepuppenmäßig. Und Sina, ihre beste Freundin, die wunderschöne, blaue Augen hatte, und nicht so dunkle wie sie, meinte sogar, sie hätten etwas von einem treuen Pekinesen. Kaya wollte keine Augen wie ein Pekinese haben, aber Sina hatte nur darüber gelacht. Sie hätte doch selbst auch Hundeaugen, sagte sie, Husky-Augen. Das war typisch Sina, als ob man einen Husky mit einem Pekinesen vergleichen könnte. Dafür hatte Sina noch weniger Busen als sie. Kaya drehte sich abermals um ihre eigene Achse, dann fasste sie einen Entschluss.

Im Zimmer ihrer älteren Schwester Alexa, die mal wieder sonst wo war, suchte sie nach einem BH und fand unter allen möglichen Spitzen-Dingern auch einen mit Körbchen. Sie gab sich Mühe, alles so zu hinterlassen, dass Alexa von dem Raubzug nichts mitbekam, denn auf solche Aktionen reagierte ihre Schwester allergisch. Dann zog sie sich schnell in ihr eigenes Domizil zurück. Sie schloss hinter sich ab, um vor unliebsamen Überraschungen sicher zu sein, und tauschte ihren eigenen Baby-Blümchen-BH gegen das schwarze Ding ihrer Schwester.

Das sah doch schon mal übel verrucht aus. Kaya drehte sich zur Musik vor dem Spiegel und überlegte, wie ihr der Anblick gefiel. Der Busen war jetzt im Vergleich zu ihrem schmalen Körper ziemlich überdimensioniert. Aber trugen das nicht alle reichen Gören so? Die ließen sich doch sogar Schaumstoff in den Busen stopfen, sie legte ihn ja nur davor.

Sie zog noch ihren Pullover darüber, drehte sich zu Seite und hielt die Luft an – das sah ja gewaltig aus. Wenn sie mit solchen Dingern zu Dreamy ginge, würde der wahrscheinlich einen Schlag bekommen. Und Fritz Lang erst recht. Trotzdem, einen Versuch wär’s fast wert.

Sie stippte mit dem Finger gegen den BH. Oh, das war dumm, jetzt bekam der Busen eine Delle. Also müsste man das Ding ausstopfen, aber das fand sie blöd. Trotzdem, wenn sie so an Chris vorbeigelaufen wäre, da hätte er ihr bestimmt nachgeschaut und seine blöde Zicke vergessen.

Reduziere eine Frau bitte nicht auf ihren Busen! Das hatte ihre Mutter mal zu ihrem Vater gesagt, als der ständig in der Schwingtür zwischen Küche und Gastraum stand und zu so einer drallen Aufgepumpten stierte, die an Tisch 12 saß. Sie fand den Spruch ihrer Mutter damals allerdings völlig übertrieben, so typisch emanzenhaft, alle Freundinnen ihrer Mutter waren so drauf. Heute dagegen fand sie ihn nicht mehr ganz so schlecht. Wahrscheinlich wusste ihre Mutter genau, wovon sie da gesprochen hatte.

Kaya zog das schwarze Ungetüm wieder aus. Mein Gott, 85 C stand da, das kam ihr wie ein Kuheuter vor. Nichts wie weg damit, zurück in die Schublade.

Sie ging über den dunklen Flur, schlenkerte den BH zwischen Daumen und Zeigefinger, da kam, wie blöd auch, ihre Schwester die Treppe hoch. Das war jetzt aber verdammtes Pech! Sie versteckte das Ding schnell hinter ihrem Rücken, aber Alexa hatte den Braten schon gerochen.

»Gibt es da vielleicht etwas, das ich wissen müsste?«, fragte sie so hinterhältig, wie nur ältere Schwestern fragen können. Sie trug zu ihrer engen Jeans ein schwarzes, bauchnabelfreies Top und sah provozierend sexy aus, ihre Mutter hätte sie so sicherlich nicht aus dem Haus gelassen.

»Hast du etwa deinen Bauchnabel gepierct?«, versuchte Kaya abzulenken. »Das gibt bestimmt Ärger, Mutti hätte das nie und nimmer zugelassen!«

»Hat sie aber!«

»Glaube ich nicht!«

»Dann frag sie doch!«

Sie standen sich direkt gegenüber, Kaya war etliche Zentimeter kleiner als Alexa, die mit ihren 17 Jahren schon erwachsen wie eine 20-Jährige aussah.

»Und wie hast du das geschafft?«

»Ich nehme wieder Klavierunterricht, ganz einfach!«

»Also ein Kuhhandel!« Kaya tat entrüstet.

»Und was machst du für deine Reiterei?«

»Wie meinst du das?«

»Ja, Gegenleistung. Also?«

Kaya fiel nichts ein.

Alexa seufzte: »Tja, da siehst du’s mal wieder. Den Nesthäkchen wird für nichts alles geboten. Und wir Großen müssen erst mal dafür kämpfen!«

Sie fuhr sich langsam mit der einen Hand durch ihr rotbraunes Haar, das sie erst letzte Woche zu einem schrägen Pagenschnitt hatte kürzen lassen, und winkte mit dem Zeigefinger der anderen Hand wie die Hexe aus ›Hänsel und Gretel‹: »Und jetzt rück endlich meinen BH raus. Der passt dir sowieso nicht!«

Mist, das Ablenkungsmanöver war gescheitert.

»Du bist eine fiese, gemeine Ziege!« Kaya schleuderte ihrer Schwester den BH hin und wollte schnell zu ihrem Zimmer zurück, hatte aber nicht mit Alexas flinker Reaktion gerechnet. Die griff ihr ins Haar und hielt sie fest. »Sag das noch mal!«

»Du bist fies!« Kaya versuchte sich zu wehren, bekam aber Alexas Hand nicht zu fassen. Stattdessen schlug sie nun nach hinten aus, was Alexa aber nur zum Lachen brachte. »Spielen wir jetzt Pony? Pony mit Busen?«, flachste sie.

Das war so gemein. Kaya brach zu Alexas Erstaunen in Tränen aus. Die ließ sie los, drehte sie zu sich um und fragte: »Was ist denn jetzt los?«

»Ach, nichts«, schniefte sie und kam sich selber blöd vor, hätte glatt davonlaufen können. »Es ist nur alles nicht so, wie ich … ach, ich hab den dritten Platz gemacht!«

»He, Schwesterchen, das ist doch herrlich, gratuliere, bist ja bald so gut wie ich! Aber das ist doch kein Grund zum Heulen, das ist einer zum Freuen!« Sie schloss Kaya in die Arme und drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf die Stirn. »Was sagen denn unsere beiden Arbeitstiere da unten dazu?«

»Noch nichts, es ist gerade so viel Betrieb, die wissen es noch gar nicht …«

»Typisch!« Alexa musterte sie kurz. »Mach dir nichts draus!« Dabei hielt sie den schwarzen BH wie eine Siegestrophäe in die Höhe. »Wenn du ihn brauchst, leih ich ihn dir! Ehrensache!«

Manchmal war ihre Schwester doch wirklich nett. Und vom Pferdesport verstand sie auch eine ganze Menge. Immerhin war sie nach der mittleren Reife zunächst ein Jahr so richtig fest beim Reiten gewesen. Zuerst bei ihrem ›Onkel‹ Kurt, der viel Geld und tolle Privatpferde hatte, und dann auf seine Vermittlung hin bei einem der großen Springpferdeausbilder, wo sie viel lernte und mit einem echt guten Pferd, Chicolo, auf Turniere gehen durfte. Alexa hat diese Auszeit richtig genossen, aber ihre Eltern fanden, dass Reiten im Leben nicht alles sei, und pfiffen sie zurück.

Jetzt ging ihre Schwester wieder in die Schule, steuerte aufs Abitur zu, hatte aber keine Reitmöglichkeit mehr. Für ein eigenes Pferd fehlte das Geld, und die Pferde, die im Reitstall standen, waren vor allem für die Freizeit gedacht. Dann und wann durfte sie eines ausreiten, sie mietete sich auch mal von ihrem Gesparten eines der Verleihpferde, aber es erfüllte sie jedes Mal mit Trauer, weil sie schmerzlich an den erstklassigen Chicolo dachte und dann vor Sehnsucht ganz krank wurde.

Eines allerdings wusste sie genau: Ohne Geld sollte man ihrer Meinung nach gar nicht in den Pferdesport einsteigen, sonst war man ewig abhängig vom Willen anderer Menschen. Da konnte einem glatt ein Pferd unter dem Hintern weg verkauft werden, egal wie erfolgreich man damit war und wie lieb man es hatte, und das wollte sie nie erleben müssen. Alexa baute jetzt auf einen guten Beruf und auf eigenes Kapital. Und dann würde sie groß rauskommen, das war ihr Ziel, und sie war sich sicher, dass der Freund ihres Vaters, den sie seit Kindesbeinen an Onkel Kurt nannten, dabei helfen würde.

Kaya hatte sich regelrecht davongestohlen. Eigentlich mochte es Claudia überhaupt nicht, wenn Jugendliche alleine ausritten, schon deshalb nicht, weil immer mal etwas passieren konnte. Und dann hatte es natürlich auch mit ihrer Haftung als Reitstallbesitzerin und der Versicherung zu tun, die im Schadensfall nicht bezahlen würde, wenn sie ohne autorisierte Begleitung unterwegs waren.

Kaya fand es entsetzlich, dass hinter jeder noch so kleinen Freude so viel Bürokratie lauerte, und dass man nichts mehr so frei und spontan tun durfte, was für frühere Generationen selbstverständlich war. Was gab es denn Schöneres, als allein mit einem Pferd unterwegs zu sein, durch die Wälder zu reiten, über die Wiesen zu galoppieren, über Gräben zu springen, seinem Pferd dabei etwas laut vorzusingen und seinem Schnauben zu lauschen? Aber heutzutage lauerte hinter jeder Wiese ein schimpfender Bauer und in jedem Wald ein Förster mit erhobenem Zeigefinger. Man brauchte eine Nummer für den Pferdekopf und ein Säckchen für das Hinterteil, und wenn ein Pferd mal in einem See baden wollte, dann lief das gleich unter dem Thema Umweltverschmutzung – ach, es war einfach paradox.

Kayas Großvater hatte noch davon erzählt, wie sie die Kaltblutpferde von der Koppel heimgeritten hatten, nur mit einem Halfter, und sogar Alexa hatte zugegeben, dass sie es bei Onkel Kurt genauso gemacht hatte, obwohl es doch eigentlich verboten war. Träumen durfte man heute noch, aber seine Träume verwirklichen? Die Realität stand auf einem anderen Blatt. Und davor stand eine lange Liste mit blöden Formalitäten und Regeln.

Kaya hatte sich ihre Reitkappe aufgesetzt, ein Handy für den Notfall eingesteckt, sie hatte Dreamy mit Fliegenschutzmittel eingesprüht, ihm einen Fliegenschutz über die Ohren gezogen, den Himmel nach Regenwolken abgesucht, ein paar Leckerli eingesteckt, und dann war sie losgeritten. Sie wollte sich ganz dem Gefühl hingeben, allein auf dieser Welt mit ihrem Pony unterwegs zu sein. Ihr war schon klar, dass Dreamy nicht ihr eigenes Pony war, aber trotzdem gab sie sich der Illusion hin. Sie wollte die Freiheit und die Weite der Landschaft genießen, und vielleicht, so hoffte sie, würde sie ja sogar irgendwo auf dem Weg Chris begegnen.