Cover
[1]

Hinweis zum Urheberrecht

Abbildung

Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft - Steuern - Recht GmbH

[4]Reihe Systemisches Management

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de/ abrufbar.

Print: ISBN 978-3-7910-5076-8 Bestell-Nr. 10585-0001
ePub: ISBN 978-3-7910-5077-5 Bestell-Nr. 10585-0100
ePDF: ISBN 978-3-7910-5078-2 Bestell-Nr. 10585-0150

Silke Reinhardt/Marion Winners

Transformation von Führung

1. Auflage, April 2021

© 2021 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH

www.schaeffer-poeschel.de

service@schaeffer-poeschel.de

Produktmanagement: Dr. Frank Baumgärtner

Lektorat: Barbara Buchter, Freiburg

Grafiken: Susanne Leschke

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung, des auszugsweisen Nachdrucks, der Übersetzung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, vorbehalten. Alle Angaben/Daten nach bestem Wissen, jedoch ohne Gewähr für Vollständigkeit und Richtigkeit.

Schäffer-Poeschel Verlag Stuttgart

Ein Unternehmen der Haufe Group

[5]Vorwort

Die Idee zu diesem Buch entstand mit Blick in den begrünten Innenhof unseres Berliner Büros – ein Springbrunnen in der Mitte, umgeben von einem Stück Wiese und umzäunt von altem Backsteinmauerwerk. Ein grauer Regentag im Frühsommer, schon leicht warm, aber noch nicht sonnig. Eine Studentin der benachbarten Kunstuniversität betrat den Hof, setzte sich erst eine Weile still auf die Wiese und begann dann zu tanzen. Erst ganz langsam und dann immer flüssiger in ihrer Bewegung, fast akrobatisch. Ein zweiter und dritter Kommilitone kamen zufällig hinzu und gestalteten mit den fallenden Regentropfen eine eigene Inszenierung. In Resonanz mit sich und ihrer Umwelt ließen sie sich tragen von dem, was von Moment zu Moment passierte. Die Beobachtung dieses Flow-Moments – vollkommen im Hier und Jetzt mit dem gehend, was ist, leicht und fast spielerisch – faszinierte uns und ließ uns immer wieder hinschauen. Schon lange hatten wir über ein gemeinsames Buch nachgedacht. Jetzt war klar, es ist Zeit anzufangen.

[11]1 Die Zeit ist reif

Seit über 20 Jahren arbeiten wir als systemische Berater, Coaches und Sparringspartner für Führung mit Unternehmen verschiedenster Größen und Branchen in Veränderungsprozessen.

Aus unserer Arbeit kennen wir die Bedürfnisse von Geschäftsführungen und Führungskräften, ihre Visionen und auch die Sorgen und persönlichen Belastungssituationen. Uns begegnet in Unternehmen immer wieder die Frage, wie Organisation und Führung so auszurichten sind, dass eine stabile Zukunfts- und Veränderungsfähigkeit möglich wird.

Wir beobachten, dass Konzepte der modernen Organisationsentwicklung, wie agiles Arbeiten und New Work, um nur zwei zu nennen, besonders in jungen und frisch gegründeten Organisationen Anwendung finden.

Die Unternehmen aber, die bereits lange existieren und aufgrund ihrer Größe eine höhere Komplexität aufweisen, stehen bei der Implementierung dieser Ansätze vor einer wirklichen Herausforderung. Hier bieten diese Konzepte vermeintlich schnelle Antworten, greifen nach unserer Wahrnehmung aber meist nicht tief genug in die individuell unternehmerische Logik ein, um eine grundlegende Veränderung stattfinden zu lassen.

In diesen Unternehmen – gerade in Mittelstand und Konzernstrukturen – existiert ein hoher Bedarf an neuen Wegen, um sich von innen heraus zu transformieren und Führung grundlegend neu zu gestalten.

Der zu beobachtende unternehmerische Alltag bleibt oft geprägt von Übersteuerung durch Management, Bürokratie und Einhaltung von Prozessvorschriften. Lange Entscheidungs- und Abstimmungsschleifen, ein starker Fokus auf das operative Tagesgeschäft, kräftezehrender Ad-hoc-Modus sowie Phänomene des Nicht-Entscheidens entzaubern die Ideale der neuen Arbeitswelt und setzen ihnen das Bild unternehmerischer Realität entgegen. Ein Zustand, der auch daraus resultiert, dass die klassisch erlernten Haltungen bezüglich Führung und Management nicht mehr zu den vorherrschenden Anforderungen der globalen und digitalen Welt passen.

Die Digitalisierung öffnet den Blick hinter die Kulissen und macht Unternehmen transparenter. Ratings und Bewertungen sind online jederzeit abrufbar. Mitarbeiter bewerten Unternehmen nicht mehr nur in regelmäßigen, internen Mitarbeiterbefragungen, sondern für jedermann auf Webportalen sichtbar. Wenn Image und Realität im Unternehmen stark auseinanderstreben, führt das zu Fluktuation und/oder Frustration. [12]Unternehmen, die im Innen verkörpern, was sie im Außen versprechen, werden glaubwürdig und agieren kraftvoller. Gerade der Wandel durch die Digitalisierung ist aus unserer Perspektive ohne Ermächtigung der Mitarbeiter schwer zu bewältigen.

Führung wird es auch weiter brauchen, sie hält den Rahmen und richtet Unternehmen aus. Es geht aber künftig darum, das Rollenbild von Führung grundlegend zu transformieren und neue Formen von Zusammenarbeit und Zusammenspiel zu gestalten.

Stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn Führung im Unternehmen Wesentliches auf den Tisch bringt, mutig und reflektiert entscheidet und Menschen wirklichen Raum für Entwicklung und Entfaltung gibt. Wenn nicht nur an der Unternehmensspitze entschieden und nach vorne gedacht wird, sondern überall im Unternehmen Mitarbeiter sind, deren Stimme gehört wird, die ihre Fühler ausstrecken und im unternehmerischen Sinne mitentscheiden und gestalten.

Haben Sie Lust auf wirkliche Entwicklung? Dann sind Sie hier richtig.

1.1 Unternehmen tiefgreifend wandeln

Mit diesem Buch bekommen Sie die Möglichkeit, sich in der Führungsrolle zu justieren, zu prüfen und ggf. neu auszurichten, um eine erhöhte Wirksamkeit zu erzeugen – für sich und für das Unternehmen. Mit Wirksamkeit ist gemeint, die richtigen Entscheidungen zu treffen, präsent zu sein, vertrauensvolle Beziehungen aufzubauen und den eigenen Verantwortungsbereich wirkungsvoll zu gestalten. Das Buch zeigt die Anforderungen der Transformation von Führung auf und gibt substanzielle Einblicke in die Führungskompetenzen Reflexion, Resonanz und Entscheidung sowie deren Zusammenspiel.

REFLEXION, RESONANZ UND ENTSCHEIDUNG

Bedeutung wichtiger Führungskompetenzen:

  • Reflexion: die Wirkzusammenhänge im Unternehmen auf Metaebene zu erkennen
  • Resonanz: die wesentlichen Themen im Unternehmen sowie im Außen aufzuspüren
  • Entscheidung: mutig Bewegung an den richtigen Stellen ins Unternehmen zu bringen

Dieser Ansatz ist in jahrelanger Arbeit mit Führungsteams aus Mittelstand und Konzernbereichen praxiserprobt und stellt eine Weiterentwicklung der systemischen Beratung dar. Neurowissenschaftliche und psychologische Erkenntnisse der Reflexions- und Re[13]sonanzforschung werden auf das Konzept von Führung übertragen und finden hier ihre Anwendung. Die Freiheit von Dogmen und festen Philosophien ist uns dabei ein wichtiges Prinzip.

Bevor Sie zu lesen beginnen, noch ein paar Worte dazu, was Sie nicht bekommen

Wir sind Freunde der Klarheit. Dieses Buch ist kein Patentrezept im Sinne von »Wenn Sie dies tun, wird Folgendes passieren« oder ein Leitfaden, der Ihnen sagt, wie Sie zum Idealzustand kommen. Wir glauben daran, dass Entwicklung in jedem selbst passiert und auch passieren muss, wenn sich Führung wirklich verändern soll. Daher ist dieses Buch auch auf die Entwicklung Ihrer Persönlichkeit ausgerichtet. Es braucht Begleitung auf diesem Weg und die richtigen Impulse und Denkanstöße, damit dies geschehen kann. Was genau passiert und wie dieser Weg verläuft, das ist in komplexen, unternehmerischen Systemen schwer vorhersehbar und auch wenn es verführerisch wäre: Einfache Antworten können wir dazu nicht geben. Wir sind Wegbereiter, Sparringspartner und Wegbegleiter für diesen Weg. Die Wahl, ihn zu gehen, bleibt bei Ihnen – und die Verantwortung ebenso.

Dort zu beginnen, wo man steht, sich auszurichten und nach und nach Entwicklung stattfinden zu lassen, darum soll es gehen. Wir zeigen die Chancen genauso auf wie potenzielle Hindernisse und kritische Schwellen, die Ihnen auf diesem Weg begegnen können. Wer wirklich in den Spiegel schaut, sieht das Licht und den Schatten. Persönliche Erkenntnis kann überraschend und leicht sein, aber genauso schmerzvoll und unbequem. Es braucht die tiefe Arbeit mit und an sich selbst, um Klarheit in der Führungsrolle zu erzeugen, authentische Präsenz auszustrahlen und wirksame Entscheidungen im Unternehmen treffen zu können. Es ist nicht nur ein Weg zu mehr Wirksamkeit in der Führung, sondern auch zu mehr Authentizität als Mensch.

Was Sie davon haben?

Eine echte Chance, Ihre eigene Führungsrolle wirksam und zukunftsgemäß auszurichten und so mehr Wirksamkeit und Zufriedenheit im Führungsalltag zu erleben. Um Entwicklung flächendeckend stattfinden zu lassen, stecken Sie Ihre Führungsteamkollegen im oberen Management damit an und machen Sie diesen Weg zu einem gemeinsamen. Damit sprechen Sie nicht mehr über agile Arbeitsmethoden, sondern haben die Chance, eine Kultur zu leben, in der dies wirklich möglich wird. Und nicht zuletzt bringt dieser Weg auch eine tiefe Freude, sich neu zu erleben und zu entwickeln.

[14]1.2 Der Dreh vom Außen ins Innen

Die Zeit ist reif für gesunde Unternehmen, die sich von innen heraus entwickeln. Für den gesellschaftlichen und ökologischen Wandel, in dem wir uns befinden, braucht es starke und flexible Unternehmen. Unternehmen, die ein Umdenken vorleben und den Wandel mitgehen. Unternehmen, in denen Sinn eine Rolle spielt und die Wirtschaft sowie die Logiken und Maßstäbe des Wirtschaftens in ein neues Licht setzen. Und dies braucht selbst-bewusste Führungskräfte. Gemeint damit ist Führung, die sich ihrer selbst bewusst ist und damit menschliche Reife zeigt. Auch hier führt der Weg von innen nach außen: die eigene Wirkung kennen, im Kontakt mit sich und anderen sein, bewusst Haltung entwickeln, sich reflektieren, Verletzlichkeit zeigen, hinschauen statt wegducken, Gefühle kennen und äußern.

In diesem Buch werden wir Sie Schritt für Schritt in dieses Innen führen. Wir beginnen mit einem Blick auf die momentane, wahrgenommene Situation und auf den erforderlichen Paradigmenwechsel in der Führung, bevor wir einen Einblick in die Führungskompetenzen Reflexion und Resonanz geben, die Transformation durch Selbstwirksamkeit beschreiben und schließlich zur Entscheidungsstärke – auch in Krisen – kommen. Hilfreiche Formate wie die Arbeit im Führungsteam oder die Arbeit mit Systemaufstellungen sowie zahlreiche Praxisbeispiele geben einen Ausblick, wie diese Transformation im Alltag konkret gestaltet und gelebt werden kann.

Bevor Sie eintauchen, gönnen Sie sich gerne einen kurzen Moment der Reflexion und drehen Sie die Zeit um ein paar Jahre nach vorn: Welches Zukunfts-Ich steht da vor Ihnen? Wie fühlt es sich an? Was haben Sie mit diesem Ich im Unternehmen (und der Gesellschaft) geschaffen?

Viel Freude beim Lesen1!


1 Auf genderadäquate Formulierungen verzichten wir für einen einfacheren Lesefluss. Wann immer wir von Führungskraft und Mitarbeiter schreiben, meinen wir selbstverständlich alle Geschlechter.

[15]2 Morgens halb zehn in deutschen Unternehmen

Wir wollen keine Besserwisser und altklugen Unternehmenskritiker sein. Alles, was wir derzeit in Unternehmen beobachten können, sind Folgen von Unternehmenskulturen, die sich über Jahre und Jahrzehnte fortgeschrieben haben und aus Zeiten stammen, in denen vieles passender war, als es derzeit noch zu sein scheint. Wir versuchen eine Beschreibung des Status quo der mittelständischen Unternehmen, in die wir Einblicke bekamen. Natürlich nur in unserer Wahrnehmung, es kann in Ihrem Unternehmen ganz anders aussehen.

Würden wir unseren Kopf morgens um halb zehn in deutsche mittelständische Unternehmen stecken, was könnten wir sehen? Viele leere Büros. Die Mitarbeiter sind in Meetings verschiedener Ausprägung, Form und Ausrichtung – präsent, virtuell oder am Telefon. Wir könnten beobachten, dass ein großer Fokus auf Präsentationen liegt. Am Ende dieser Meetings haben wir verbrauchte Luft und oft gehetzte, zum Teil belastete Menschen, die versuchen pünktlich zum nächsten Meeting zu erscheinen oder sich ins nächste Meeting einzuwählen. Wurde etwas entschieden? Zu wenig, wäre wohl die Antwort, dafür aber gibt es neue Arbeitsgruppen und eine Menge vertagter Entscheidungen. Online-Meetings sind effizienter geworden, aber fraglich ist, ob die Entscheidungen besser geworden sind und ob tatsächlich das Wesentliche auf den Tisch kam, ob die Dinge an der richtigen Stelle zur Entscheidung gebracht wurden.

2.1 Druck und Verunsicherung lähmen

Kundenbedürfnisse dominieren und geben das Tempo vor

Die digitale Transformation wirkt stark auf Unternehmen und deren Mitarbeiter. Kunden bestimmen den Markt und Unternehmen geraten zunehmend unter Druck, adäquat auf die Kundenbedürfnisse zu reagieren. Durch die Digitalisierung haben sich auch Anforderungen an Entscheidungs- und Umsetzungstempo erheblich gesteigert. Starke Auftragsschwankungen erfordern ein hohes Maß an Flexibilität und lösen langfristige Planbarkeiten ab. Leistung und Performance rücken in den Fokus und fordern von Führungskräften das effiziente Management einer großen Anzahl an Meetings, Absprachen und Abstimmungen. Der Schwerpunkt liegt auf Performance und auf der Idee, Kundenbedürfnisse zur vollsten Zufriedenheit zu erfüllen und idealerweise in Begeisterung zu [16]verwandeln – ein ganz klarer Wettbewerbsvorteil in Zeiten der Transparenz und Vergleichbarkeit von Leistung und Angeboten. Diese starke Betonung von Leistung, gepaart mit einer hohen Unsicherheit aufgrund schlechter Planbarkeit, lässt Entscheidungszyklen länger werden statt kürzer.

Der Virus des Nicht-Entscheidens herrscht vor – Angst ist im System

In schwierigem, unbekanntem Terrain wird der Entscheidungsspielraum nicht mehr delegiert, sondern stattdessen im Mikromanagement des Topmanagements sichtbar. Das mündet schließlich in Strukturen und Prozessen, die Verantwortung nach oben delegieren. Es gibt nur noch einige wenige, die nun auch banale Dinge entscheiden müssen. Wenn eine Halbtagsstelle eines Lagerarbeiters in einer Vorstandsrunde entschieden wird, statt zwei Ebenen tiefer, wenn Entscheidungsvorlagen zum Thema Kaffeebudget in der Geschäftsleitung auftauchen oder eine stillstehende Abfüllanlage hingenommen wird, weil der Qualitätschef im Urlaub ist, ist das ein klares Zeichen von Unsicherheit, die die Organisation lähmt.

Entfremdung von sich selbst

Was wir beobachten, ist eine zunehmende Belastung und Überforderung vieler Führungskräfte. In unseren Coachings erleben wir ausgebrannte Führungskräfte, die über ihre Work-Life-Balance sprechen wollen und die oftmals ein ähnliches Muster aufweisen: das Muster der Entfremdung von sich selbst. Es wird berichtet, dass sie sich selbst nicht mehr richtig spüren, gar nicht mehr wirklich wissen, was richtig und falsch ist, ihre Wirkung auf ihre Mitarbeiter und Kollegen nicht kennen und wenig Kraft zum Gestalten haben. Es bestehen vielmehr der klare Wunsch und das Bedürfnis nach weniger Meetings, geringerem Workload, klareren Zielen, schnelleren Entscheidungen und besserem Personal. Auch hier zeigt sich das Muster der Nicht-Entscheidung bzw. Angst vor der Entscheidung – schließlich sind es in der Regel Mitarbeiter, die man selbst eingestellt hat oder für die man sich auf irgendeine Art verantwortlich fühlt. Gute Gründe, warum mit nicht geförderten oder entwickelten Mitarbeitern gearbeitet und nach Feierabend viel selbst erledigt wird. Der Druck von oben wird zusätzlich oft als Ohnmachtsgefühl beschrieben. Diesem versucht man tapfer standzuhalten. Sind diese Entfremdungsphänomene nur in der Persönlichkeit zu suchen oder strahlt auch hier der Effekt der Organisation auf ihre Führungskräfte und Mitarbeiter aus? Die Entfremdung vom Kern der Organisation, weil sie sich selbst im Wandel befindet, überträgt sich auf deren Mitarbeiter, die ihrerseits Entfremdungserscheinungen zeigen, die dann im Burn-out oder, als dessen Vorstufe, in eine unausgewogene Work-Life-Balance münden. Eine Führungskraft, der eines ihrer wichtigsten Werkzeuge abhandengekommen ist – das Spüren, das Sich-selbst-Verorten, das Nutzen ihrer Intuition –, kann auch nicht mehr wirksam führen, weder sich noch ihre Mitarbeiter oder Projekte und das Unternehmen.

[17]2.2 Veränderungen nur im Außen

Doch es gibt erste Anzeichen, dass die Auswirkungen der Transformation, u. a. ausgelöst durch die Digitalisierung, bereits von immer mehr Unternehmensverantwortlichen erkannt und offen kommuniziert werden. Ansätze werden gesucht, um Führungskräfte zu entlasten, Angebote wie Coachings und Sparrings sind selbstverständlicher geworden.

New-Work-Modelle sind auf dem Vormarsch

Unternehmen bemühen sich verstärkt darum, mit den veränderten Rahmenbedingungen zurechtzukommen. In vielen Personalabteilungen finden Konzepte für flexibleres und modernes Arbeiten Einzug. Das beginnt bei Ansätzen von Selbstorganisation, flexiblen Arbeitszeitmodellen und New Work, um sich an die veränderten gesellschaftlichen Bedürfnisse anzupassen.

Der Veränderungsbedarf wird gesehen und es bestehen viele moderne Ansätze hierfür, allerdings werden diese meist eingeführt, ohne in der Tiefe begleitet zu werden. Oftmals wird außer Acht gelassen, dass neben der Struktur und Arbeitsmethodik die Passung zur vorherrschenden Unternehmenskultur erforderlich ist. Führung hat die neue Art zu arbeiten noch nicht verinnerlicht oder beginnt gerade erst damit.

Damit gemeint ist das Führen mit geklärten Arbeitspaketen, Ergebniserwartungen und Zielen sowie mit größeren Freiräumen zur Eigenverantwortung, die flexible, individuelle Arbeitszeiten und -orte mit sich bringen. Über Sinn zu führen und das Wesentliche in den Fokus zu nehmen, ist in der neuen Arbeitswelt unerlässlich.

Die Transformation in verändertes Führungshandeln beginnt

Die Transformation in eigenes Handeln und eine Haltungsänderung fehlen oft. Und selbst, wenn die Führungskräfte ihre Haltung hin zu mehr Vertrauen und zu selbstständigem Arbeiten und Entscheiden verändern, muss auf der anderen Seite ein Mitarbeiter stehen, der damit auch zurechtkommt. Der sich strukturieren kann, sich eigene realistische Ziele setzt und rechtzeitig kommuniziert, wenn er aus der Zeit läuft oder in die Überforderung geht. Er braucht Orientierungspunkte für seine Entscheidungen. Prioritäten ändern sich oft täglich. Der Ad-hoc-Modus bestimmt das Geschehen. Eine wichtige Frage in diesem Zusammenhang lautet: Gibt es derzeit noch stabile, umsetzbare Strategien in Unternehmen, die von Haltbarkeit und Verlässlichkeit geprägt sind?

Eine Unternehmenskultur und Führungskultur zu verändern, ist eine relativ aufwendige Angelegenheit. Hier gilt es, in die Tiefenstruktur der Unternehmens-DNA einzugreifen und Muster und Dynamiken zu verändern. Alle impliziten und expliziten Verhaltenswei[18]sen aufgrund von gelebten oder aufgeschriebenen Werten gilt es bewusst zu erkennen. Hinterfragt, diskutiert und verändert die Führungsmannschaft diese aktiv, kommt es zu wirklich sichtbaren Veränderungen. Wir wissen selbst, wie schwer es auch im Privaten ist, sein Verhalten zu verändern. Die offene Auseinandersetzung und Integration von unterschiedlichen Ansichten, Meinungen, Präferenzen und Bedürfnissen kosten Kraft und Einsatz.

Und dennoch: Wird darauf verzichtet, sich auf diesen Weg zu begeben und an einer neuen Haltung von Führung in der Tiefe zu arbeiten, können weder Agilität noch New Work oder andere tiefe Kulturveränderungen greifen. Führungskräfte berichten in Coachings oder kollegialen Beratungen davon, dass das, was sie versuchen an neuem Führungshandeln umzusetzen, noch nicht gänzlich zum Erfolg führt. Loslassen fällt schwer und wird ersetzt durch das Mikromanagement von Offene-Punkte-Listen in virtuellen Meetings.

2.3 Radikaler Wandel durch die Corona-Pandemie

Wenn wir eine Sache schon jetzt sicher sagen können, dann, dass der notwendige Wandel der Rahmenbedingungen, zu dem die Corona-Pandemie so gut wie alle Unternehmen gezwungen hat, seine Wirkung zeigt. Auf einmal funktionieren Dinge, die davor nicht für möglich gehalten worden waren. Arbeit kann von zu Hause erledigt werden, es wird zum Teil in Schichten gearbeitet, damit nicht alle gleichzeitig auf den Server zugreifen müssen. Und siehe da, es funktioniert. Nicht sofort und auch nicht ohne Umstellung, aber der eine oder andere kann dadurch effektiver arbeiten, Neues lernen und findet sogar Gefallen daran.

Selbstführungskompetenz bekommt einen hohen Stellenwert

Die Selbstführungskompetenz wird zur zentralen Kompetenz in dieser digitalen Home-Office-Welt. Auch mit seinen Kollegen oder Mitarbeitern nicht nur Arbeitsschritte zu besprechen und Entscheidungen zu treffen, sondern in Resonanz zu gehen und zu spüren, wo Konflikte lauern und wie es dem Einzelnen geht, bedarf Zeit und Aufmerksamkeit. Das ist es, was uns viele Führungskräfte zurückmeldeten: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich mitbekomme, wie es bei meinen Mitarbeitern emotional aussieht.« Der gemeinsame virtuelle Morgen-Check-in oder das Online-Kaffeeritual wird oftmals als hilfreiches Konstrukt empfunden, doch ein ungutes Gefühl, nicht mehr wirklich spüren zu können, bleibt.

Die Managerseite der Führungskräfte genießt die effizienten Web-Meetings. Es wird nicht mehr am Rande oder gar mittendrin über dies und das gequatscht. Alles bleibt in [19]der Zeit und im Rahmen. Der Leaderseite der Führungskräfte hingegen fehlt das Spüren dessen, was im Raum ist – ein Zeichen von wenig Resonanz.

Der Wandel, der derzeit ansteht, erfordert zusätzliche Kanäle. Es geht nicht nur um den Kopf, nicht nur um Erkenntnisgewinn, Zahlen, Daten und Fakten oder rationale Entscheidungen. Es geht um Kanäle, die das Spüren, das Fühlen und die Intuition einbeziehen. Und das geht nur mit dem ganzen Körper.

2.4 Starke Tool- und Sicherheitsorientierung

Was uns in unserer Beratungsarbeit oft begegnet, ist eine starke Tool- und Sicherheitsorientierung: Stärke zeigen, keine Fehler machen und ein hart proklamierter Effizienzgedanke. Die hohe Tool- und Sicherheitsorientierung zeigt sich zum Beispiel in der Arbeit mit Managementtools wie KPIs (Key Performance Indicators) oder der Balanced Scorecard, die das vermeintlich sichere Gefühl vermitteln, nichts aus den Augen zu verlieren. Gegen diese Hilfsmittel, die den Arbeitsalltag erleichtern, ist nichts einzuwenden. Wird Entwicklung jedoch anhand von Checklisten umgesetzt und das Was dem Wie vorgezogen, um alles im Griff zu haben, gibt es keinen Raum zur Entfaltung des Wesentlichen. Das hat vor allem mit einer hohen Sicherheitsorientierung zu tun: Was gemessen und dokumentiert wird, kann nachvollziehbar und beweisbar gemacht werden.

Work implies not only that somebody is supposed to do the job, but also accountability, a deadline and, finally, the measurement of results — that is, feedback from results on the work and on the planning process itself.
Peter Drucker (1999)

Werden neue Arbeitsweisen eingeführt, dann passiert das oft ohne eine klare, abgestimmte und geschlossene Haltung an der Unternehmensspitze und in Projekten, die auf Inhaltliches, Marketing und Schulungen fokussieren. Dass neue Arbeitsweisen (Stichwort: New Work) maßgeblich von einem angepassten Führungs- und Mitarbeiterverständnis unterstützt werden müssen, wird oft außer Acht gelassen. Was bei Führungskräften in ihrer Führungsarbeit unter veränderten Rahmenbedingungen Unsicherheit verursacht, ist die Frage, wie sie führen sollen, wenn alles, worauf sie in der Vergangenheit gebaut haben, wegfällt oder sich verändert. Wie soll ein Mitarbeiter, der es seit Jahren gewohnt war, dass seine Arbeit selbstverständlich für ihn strukturiert und priorisiert wurde sowie Entscheidungen für ihn getroffen wurden, nun selbstständiger und flexibler agieren und entscheiden? Das passiert nicht allein dadurch, dass neue Arbeitsweisen eingeführt werden und er ein Seminar zum besseren Selbstmanagement besucht. Voraussetzung ist vielmehr, dass mit der Einführung auch ein Austausch über [20]das neue Arbeiten stattfindet, regelmäßige Feedbackschleifen zu dem, was gut ist, was noch angepasst werden muss oder auch gänzlich fehlt, selbstverständlich werden. Es passiert durch anleitende Führung hin zu mehr Flexibilität und Eigenverantwortung. Und dadurch, Offenheit vorzuleben von oberster Stelle, über die Erfahrungen, die alle gemeinsam machen, zu sprechen und diese zu reflektieren. Es muss kommuniziert werden, was an Veränderungen bei jedem selbst passiert, wie die Teamdynamik wahrgenommen wird und der Austausch über die Qualität der Ergebnisse ist notwendig – auf allen Ebenen der Organisation.

Neulich wohnten wir einem Führungsteamworkshop im Rahmen der spiegelnden Begleitung eines Geschäftsführers bei. Dabei sollten sich alle leitenden Führungskräfte zu ihrer vorherrschenden Unternehmens- und Führungskultur selbst einschätzen, um dann ein Sollszenario zu entwerfen. Mit dem Ergebnis: Sie beschrieben sich selbst als regelbasiert, stark strukturiert, analytisch und sicherheitsorientiert. Sie wollten mehr Mut und Flexibilität in ihrer Kultur spürbar werden lassen, weil sie das als zukunftsfähig und von der Umwelt gefordert einschätzten. Der Tenor war: »Ja, ja, wir sollten uns das alle vornehmen und in einem Jahr schauen wir dann, wo wir stehen.« Wenn das alles ist, was auf Führungsebene passiert, wird sich die Unternehmenskultur nicht ändern und die Mitarbeiter werden im Intranet von mutiger Unternehmenskultur lesen, aber etwas ganz anderes vorfinden. Das irritiert und gibt das Gefühl des Nicht-Authentischen. Was zur Zukunftssicherung beitragen soll, entfacht Unsicherheit, wenn der Prozess der Führungsreflexion nicht in der Tiefe durchlebt wird.

Die Zahl der Führungsteams, die das Thema »bewusster Umgang mit Führungskultur« ernst nehmen, die Tiefe im Diskurs zulassen und dem Raum geben, ist noch eher klein – allerdings wächst sie stetig. Das stimmt uns zuversichtlich. Die Vorbildfunktion der Leitungsebene ist dabei ein oft unterschätzter Hebel. In der Praxis erleben wir, dass Personalabteilungen (oder externe Beratungen) beauftragt werden, Mitarbeiterbefragungen durchzuführen und die wichtigsten Ergebnisse aufzubereiten. Die Interpretation der Ergebnisse obliegt dem obersten Führungskreis. Allerdings haben wir bisher eher selten erlebt, dass ein tiefer Diskurs über veränderte Führungskultur und Führungsverhalten damit in Gang kam. Auch der Selbstbezug bleibt oftmals außen vor. Offenes Feedback kann auch als Kritik verstanden werden und eine persönliche Abwehrhaltung nach sich ziehen. Veränderungsimpulse werden eine Ebene tiefer delegiert und bleiben oft auf der Maßnahmenebene stecken. Allerdings gibt es auch immer wieder Ansätze, dass in kleinen, vertrauensvollen Runden auf Leitungsebene Wirkung und Verhalten reflektiert werden, offene Feedbackprozesse stattfinden und auch Führungsteamarbeit mit Reflexion verknüpft wird.

[21]Reflexionsschleifen und Resonanzkompetenz implementieren

Meetings, in denen am Ende oder auch mittendrin jemand eine Reflexionsschleife einfordert, nehmen in jüngster Zeit zu: Reflexionsschleifen zu beobachteten Entscheidungsmustern, zu Kommunikationsverhalten, zu nicht fokussierten Diskussionen. Erstmal stellt sich ein leichtes Unbehagen ein, wenn die Führungskraft dies lebt und einfordert. Aussagen wie: »Das ist komisch« oder »Ich bin da noch unsicher« sind hörbar. Wenn auch lohnend, ist es zweifellos anstrengend, kontinuierlich dranzubleiben und Sicherheit durch Übung zu bekommen.

Aus unserer Erfahrung findet ein echter und vor allem nachhaltiger Performanceschub in den Unternehmen statt, sobald die operative Managementarbeit durch Reflexionsschleifen und Resonanzkompetenz ergänzt und angereichert wird.

Wir wagen die Prognose: Wenn sich Unternehmen trauen, neben den bewährten und modernen Führungsmethoden und Managementwerkzeugen auch das Gespür, die Intuition und die Musterdiskussion als Führungskompetenzen zu integrieren, dann wird ein echter Kulturwandel stattfinden. Dieser wird den geänderten Anforderungen des Marktes und Umfeldes sowie der Gesundheit der Mitarbeiter Rechnung tragen und einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil erzeugen. Der notwendige Kulturwandel bedarf eines Paradigmenwechsels in der Führung, der ein neues Menschenbild zugrunde legt.