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ePDF: ISBN 978-3-7910-5067-6 Bestell-Nr. 10584-0150

Christian Müller

Grundzüge der Wirtschafts- und Unternehmensethik

1. Auflage, April 2022

© 2022 Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH

www.schaeffer-poeschel.de

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Lektorat: Traudl Kupfer, Berlin

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[5]Vorwort

Wir können es fast jeden Tag in den Medien verfolgen: Unternehmen bauen Marktmarkt durch Kartelle auf, nehmen an illegalen Korruptionswettbewerben teil oder weichen – legal oder illegal – der Besteuerung aus. Sie lügen in der Werbung, fälschen ihre Jahresabschlüsse oder erfreuen ihre Geschäftspartner mit Lustreisen. In ihren Betriebsstätten in Übersee missachten einige Unternehmen selbst die elementarsten Umweltstandards, beuten unter menschenunwürdigen Bedingungen ihre Arbeiter und Arbeiterinnen aus oder scheuen nicht davor zurück, Kinder als billige Lohnsklaven einzusetzen. Und weil das Geschäft wie geschmiert läuft, genehmigen sich die Manager der Unternehmen exorbitante Gehälter, schwindelerregende Boni und – im Fall ihres Ausscheidens – horrende Abfindungszahlungen. Die Gier der Unternehmenslenker scheint grenzenlos.

Wie sind alle diese Fälle einzuordnen? Welche moralischen Standards müssen für sie gelten? Von welchen ethischen Voraussetzungen hängen diese Standards ab? Was kann der Staat tun, um moralische Dilemmata zu lösen? Welche wirtschafts- und unternehmensethischen Strategien stehen betroffenen Unternehmen zur Verfügung? Und können sich Unternehmen unter Wettbewerbsbedingungen Moralität überhaupt leisten – oder kostet verantwortungsvolle Unternehmensführung nicht immer einen (zu) hohen Preis?

Ziel des vorliegenden Lehrbuchs ist es, einen strukturierten Einblick in diese schwierigen Fragen zu geben und Instrumente zu vermitteln, mit denen sie beantwortet werden können. Das Buch ist als Einführung konzipiert, die bereits im ersten Semester eines Studiums der Wirtschafts- oder Sozialwissenschaften oder verwandter Fachrichtungen Verwendung finden kann. Es entstand im Kontext wirtschafts- und unternehmensethischer Einführungsveranstaltungen, die der Autor an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Münster sowie an anderen Hochschulen und Bildungseinrichtungen seit 2010 abhält. Dabei profitierten das Lehrbuch und seine Konzeption enorm von der Diskussion mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Die gewählte Darstellungsweise und Methodik sind voraussetzungslos; allerdings können grundlegende Kenntnisse der Mikroökonomik hilfreich sein.

Nach der Schaffung begrifflicher Klarheit in Bezug auf die Verwendung grundlegender Termini des Fachs in Kapitel 1, werden in Kapitel 2 mit dem Dilemma-, dem Vertrauens- und dem Verteilungsspiel drei grundlegende Problemstellungen behandelt, die typischerweise isoliert oder in Kombination miteinander in der Wirtschafts- und Unternehmensethik anzutreffen sind.

Kapitel 3 stellt die drei wesentlichen ethischen »Großtheorien« vor, mit deren Hilfe diese Probleme analysiert werden können: den ethischen Konsequentialismus mit seinen in den Wirtschaftswissenschaften häufigen Ausprägungen als Nutzensummenutilitarismus oder als moralökonomische Anreizethik, die kantianisch geprägte Pflichtenethik sowie – als ältesten [6]dieser Ansätze – die Tugendethik, deren Anfänge bis in die griechische Antike zurückreichen und die gerade in den letzten Jahren in der Betriebswirtschaftslehre im Sinne einer Tugendethik der Governance eine gewisse Renaissance erfahren hat. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf möglichen Lösungsansätzen, die auf Grundlage dieser drei ethischen Ansätze für die im zweiten Teil aufgezeigten wirtschafts- und unternehmensethischen Grundprobleme entwickelt werden können.

In Kapitel 4 werden die standardökonomische Rationalität gewinn- oder nutzenmaximierender Entscheidungsträger der moralischen Vernünftigkeit pflichten- oder tugendethischer Prägung gegenübergestellt. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Anreize ökonomisch-rationale Handlungsträger (»Homines Oeconomici«) vorfinden, um – wenn schon nicht in der Motivation, so doch im Ergebnis – sich so zu verhalten wie moralisch vernünftige Akteure.

Welche Rolle Regeln und Institutionen spielen und wie sich durch sie moralische Normen in Gesellschaft und Wirtschaft zur Geltung bringen lassen, wird in Kapitel 5 des Buches untersucht. Adressiert werden dabei unter anderem Theorien des Rechts-, Leistungs- und Verteilungsstaates, die Theorie der Sozialen Marktwirtschaft als wirtschaftsethische Konzeption sowie die Grenze, die zwischen Staat und privatem Sektor zu ziehen ist.

Wo immer die Rahmenordnung die zugrunde liegenden moralischen Konflikte nicht oder noch nicht löst, fällt eine originäre moralische Verantwortung auf die unter ihr agierenden Unternehmen zurück. Kapitel 6 diskutiert daher die Dimensionen von Unternehmensverantwortung, konkrete unternehmensethische Strategien sowie die Frage, ob sich moralische Unternehmen im Wettbewerb behaupten können.

Moralische Konflikte im Unternehmen können auch für dessen Mitarbeiter zu einer erheblichen Herausforderung werden, wenn die Unternehmung nicht zu einer zufriedenstellenden Lösung bereit oder in der Lage ist. Daher thematisiert Kapitel 7 die Möglichkeiten für Mitarbeiter, Alarm zu schlagen und inner- wie außerbetriebliche Instanzen anzurufen (»Whistleblowing«), aber auch inwieweit Individuen Tugend erlernen können, um diese in Unternehmen zum Einsatz zu bringen.

Abschließend behandelt Kapitel 8 anhand einiger ökonomischer Begründungstheorien die wichtige metaethische Frage, ob Moral wahrheitsfähig ist und (letzt-)begründet werden kann. Kann man sagen, dass irgendeine ethische Überzeugung intersubjektiv gilt – und gilt überhaupt irgendetwas in der Ethik?

Der rote Faden des Buches wird immer wieder durch ergänzende Kästen aufgelockert, die in einer Art Newsticker zahlreiche weiterführende Beispiele aus der Praxis nennen sowie über Hintergründe der behandelten Theoriestücke aufklären.

[7]Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verzichte ich im Sinne der Empfehlung des Rates für deutsche Rechtschreibung vom 26.02.2021 auf Genderstern, Unterstrich oder Doppelpunkt zur Kennzeichnung mehrgeschlechtlicher Bezeichnungen im Wortinnern. Es versteht sich von selbst, dass im Zuge der Verwendung des generischen Maskulinums, das in der deutschen Sprache nichts mit dem biologischen Geschlecht zu tun hat, jeweils – wenn nicht anders vermerkt – Frauen und Männer gleichermaßen gemeint sind.

Der Autor dankt Alexander Kühn vom Verlag Schäffer-Poeschel für die überaus angenehme Kooperation sowie Traudl Kupfer als Lektorin für ihre sehr gewissenhafte Durchsicht und Korrektur des Manuskripts. Ich danke Christian Heuser, Johannes Penninger und Michael Schiffmann für sehr hilfreiche Anmerkungen zu früheren Fassungen des Buchmanuskripts. Dank schulde ich zudem besonders Julia Poßberg (Institut für Ökonomische Bildung Münster) für ihre zahllosen und schier unermüdlichen redaktionellen Arbeiten. Auch Cornelia Müller danke ich für ihre unschätzbare und liebevolle Ermutigung beim Endspurt. Ihr widme ich dieses Buch.

Münster, im Februar 2022 Christian Müller

[13]1 Grundlagen

»Der Mensch wird frei geboren, doch überall liegt er in Ketten.« So beginnt Jean-Jacques Rousseau seine berühmte Abhandlung Über den Gesellschaftsvertrag. Wäre der Mensch nicht grundsätzlich frei, so wären seine Handlungen moralisch wertlos. Wenn ich in Münster über den Domplatz gehe und mir ein Clochard mit aufforderndem Blick seinen Sammelbecher entgegenstreckt, dann habe ich die Freiheit, ein Geldstück oder einen Schein hineinzuwerfen – oder, mehr oder weniger freundlich, die Aufforderung zu ignorieren und einfach weiterzugehen. Es ist die Freiheit, die unsere Handlungen moralisch wertvoll macht (oder auch nicht). Freiheit ist ein wesentlicher Teil unserer Würde als Menschen.

1.1 Moral und Verpflichtung

Doch der Mensch unterliegt auch Bindungen. Eine dieser »Ketten«, von denen Rousseau so plastisch spricht, besteht in unserer eigenen moralischen Intuition. Obwohl wir grundsätzlich frei sind in unserer Handlung, ist es uns keineswegs gleichgültig, ob wir das Eine oder das Andere tun. Wir spüren, dass wir dem Mann auf dem Domplatz eigentlich ein paar Cent hätten geben müssen, auch wenn wir es diesmal nicht getan haben. Das ist der Gegenstand der moralischen Verpflichtung: Sie ist eine subjektiv wahrgenommene Einschränkung unserer Freiheit. Die eine Alternative ist »besser« als die andere – nicht, weil wir selbst das so definiert haben, sondern weil es sich uns – aus welchen Gründen auch immer – innerlich aufdrängt.

Ein solches moralisches Sollen kann sich auf dreierlei beziehen:

Je nach Bezugsobjekt der Verpflichtung spricht man von Handlungs-, Situations- oder Tugendethik.

1.2 Moral und Recht

Aber nicht nur die Moral selbst legt unserer Freiheit (subjektiv empfundene oder objektiv vorhandene) »Ketten« an. Auch das staatlich kodifizierte Recht schnürt eine solche »Kette« um unsere Hände. Es lenkt unsere Entscheidungen durch staatlichen Zwang in Richtungen, in die wir – ohne diesen Eingriff – wohl kaum je selbst gegangen wären. Angenommen, der Staat nähme mir die Entscheidung ab: Er könnte mich zwingen, eine Steuer zu zahlen, und daraus über den Umweg der Grundsicherung dem gleichen Bettler den gleichen Becher – nur eben indirekt – befüllen; moralisch wäre das vermutlich trotzdem nicht das Gleiche. Denn Steuern sind Zwangsabgaben. Eine freie Entscheidung, dem Mann auf dem Domplatz nicht zu helfen, stünde [14]mir insoweit gar nicht offen. Ist es nicht, fragte einst der Ökonomie-Nobelpreisträger James Buchanan (1984, S. 129), ein Paradox, dass freie Bürger »regiert« werden, dass sie unter dem Zwang stehen, Dinge zu tun, die sie eigentlich gar nicht wollen?

Die Antworten, welche die Ethiker über die letzten Jahrhunderte hinweg auf diese Frage gaben, haben sich sicher in ihren Details unterschieden. Aber in einem waren sie sich wohl alle einig: Der staatliche Zwang ist dort legitim, wo er moralisch gerechtfertigt ist. Denn Moral und Recht können Substitute sein: Ich kann dem Bettler auf dem Domplatz selbst ein paar Münzen in seinen Becher werfen, oder der Staat tut dies über den Umweg des Sozialstaats. Vollkommen indes sind diese beiden Substitute nicht: Denn selbst dann, wenn es sich um den exakt gleichen Betrag handeln sollte, der schließlich bei dem Mann auf dem Domplatz ankäme, mag individuell dazwischen schon ein nicht unwesentlicher Unterschied bestehen: für den Mann, weil er vielleicht froh ist, sich selbst nicht demütigen zu müssen, um warm zu Mittag essen zu können; aber auch für mich, der ich nun vielleicht auf das gute Gefühl verzichten muss, eine gute Tat getan zu haben. Denn die Steuern, also Zwangsabgaben, zahle ich ja nicht freiwillig, und Zwang macht eine Entscheidung gewissermaßen moralisch wertlos.

Unter Moral versteht man ganz allgemein ein System normativer Aussagen, die Handlungen, Situationen oder Haltungen als gut oder schlecht und damit als gesollt oder nicht auszeichnen. Recht ist demgegenüber ein System gesetzter normativer Aussagen (»Gesetze«), deren Einhaltung mit Sanktionen, also mit Belohnungen oder Bestrafungen, verstärkt wird.

Die meisten Rechtsnormen bestehen in der gesetzlichen Kodifizierung moralischer Normen. »Unsere Gesetze«, so formulierte es der frühere US-Präsident Barack Obama, »sind per definitionem eine Kodifizierung von Moral, die zu einem großen Teil in der jüdisch-christlichen Tradition wurzelt« (zitiert nach Keller 2012, S. 153). Über allem Recht steht in Deutschland etwa die in Art. 1 des Grundgesetzes festgelegte moralische Norm, dass die Würde des Menschen unantastbar sei. Auch das Tötungsverbot der §§ 211, 212 StGB kodifiziert nur das fünfte jener Zehn Gebote, die einst Moses vom Berg Sinai mitbrachte (Exodus 20,1 ff.). Dass das Gesetz oft nur moralische Normen durchsetzt, gilt indes keineswegs nur für den Bereich der menschlichen Grundrechte: Auch im Bereich der Wirtschaft gelten Grundsätze wie »Treu und Glauben«, die Achtung »guter Sitten« (§ 138 BGB) oder nach den (in den §§ 238 ff. HGB gesetzlich festgelegten) »Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung« mit den Bestimmungen von »Klarheit« und »Wahrheit« des Jahresabschlusses, der nach § 264 HGB insgesamt einen »true and fair view« der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage des Unternehmens bereitzustellen hat.

Doch prägt nicht nur die Moral die Gestalt der Gesetze. Das moralische Empfinden der Menschen hängt umgekehrt auch wesentlich davon ab, ob eine Handlung gesetzlich sanktioniert wird. So ist etwa die Abtreibung nach deutschem Recht zwar immer noch ein Straftatbestand; viel mehr als diese Einstufung dürfte das moralische Empfinden der Menschen jedoch dadurch geprägt werden, dass sie straffrei bleibt. In der Wahrnehmung vieler Menschen ist sie damit – auch moralisch – »erlaubt«.

[15]Nicht alles, was gesetzlich geregelt ist, basiert auf einer moralischen Norm. So kann es uns gleichgültig sein, ob wir im Straßenverkehr alle stets auf dem rechten oder linken Fahrstreifen fahren. Eine moralische Problematik ist hier nicht involviert. Denn bei der Rationalität aller Beteiligten ist eine solche Regel »selbstdurchsetzend«. Allenfalls dann, wenn ein Individuum bewusst zum »Geisterfahrer« wird, könnte sich hier ein moralisches Problem stellen.

Neben diesen moralneutralen hat es jedoch immer auch dezidiert unmoralische Gesetze gegeben, wenn man etwa an die Nürnberger Rassengesetze der Nationalsozialisten denkt oder die frühere Apartheidsgesetzgebung in Südafrika.

Schließlich gibt es natürlich auch nichtrechtliche moralische Normen, solche also, die nicht durch Recht und Gesetz erzwungen werden (sollten). Nicht die Ehe zu brechen, meine(n) Nächste(n) nicht zu verleumden, meinen Vater und meine Mutter zu ehren, meiner Frau hin und wieder einen Strauß Blumen mitzubringen – all dies können berechtigte moralische Forderungen sein; rechtlich erzwingbar und erzwungen sind sie (in demokratischen Rechtsstaaten) indes nicht.

1.3 Ethos und Tugend

In vielen Zusammenhängen ist aber gar nicht von Moral die Rede, sondern vom Ethos. So spricht man etwa vom Berufsethos der Ärzte oder Wirtschaftsprüfer. Das Wort Ethos kommt aus dem Griechischen, wo es für Temperament, Gemütsart, Sitte oder auch Gewöhnung und Gewohnheit steht. Es bezeichnet eine moralische Haltung eines Individuums, einer Gruppe oder einer Gemeinschaft, bestehend aus

Der Begriff der Tugend ist schon so alt wie der wissenschaftliche Diskurs über die Moral selbst. Die erste grundlegende Darlegung findet man bereits in der Nikomachischen Ethik, die Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr. verfasste. Heute hat der Begriff zugegebenermaßen etwas Patina angesetzt, und nicht selten wird er auch durchaus spöttisch verwendet, wenn man sich etwa über die Tugendhaftigkeit eines anderen Menschen unterhält. Doch bezeichnet Tugend etwas Zeitloses, etwas, ohne das eine Gesellschaft, in der Antike oder der Moderne, wohl kaum existieren könnte: den Charakter. Und auch in der Unternehmensethik (siehe z. B. Solomon 1993, 1999; Cheffers/Pakaluk 2007; Wieland 2006) erfreut er sich in jüngerer Zeit ungeahnter neuer Beliebtheit.

Das deutsche Wort Tugend lässt die Tauglichkeit oder Tüchtigkeit des Menschen anklingen; das lateinische virtus steht – in seiner geschlechtlichen Zuschreibung wiederum etwas veraltet – für die Männlich- oder Standfestigkeit. Tugend bezeichnet allgemein die charakterlichen Merkma[16]le eines Menschen (natürlich nicht nur die eines Mannes!) als Ergebnis der Gewöhnung und des praktisch-moralischen Handelns, nicht jedoch der Erziehung. Der Begriff weist somit stets zwei Bestandteile auf (Schramm 2006, S. 62 f.):

Tugend umfasst neben einem konkreten moralischen Sollen also stets auch einen zweiten Aspekt, den man, im schicken Ökonomensprech, als »Self-Enforcement« (Schramm) der Moral bezeichnen könnte; er bezeichnet die Bereitschaft und die Fähigkeit eines Menschen, das moralisch Gesollte unter allen Umständen zur Geltung zu bringen. Es ist nämlich eine Sache, eine moralische Norm zu akzeptieren; eine andere ist es jedoch, sie im »Ernstfall«, das heißt, auch dann, wenn es schwerfällt, zur Anwendung zu bringen. Das ist offensichtlich beispielsweise im Fall der Tugend des »(Stark-)Mutes«, die Aristoteles und später auch Thomas von Aquin ausführlich analysierten. Es gilt jedoch auch z. B. für die Kardinaltugend der Gerechtigkeit: In der Theorie mag der Kandidat für ein politisches Amt tatsächlich um Gerechtigkeit bemüht sein; erst einmal ins Amt gelangt, kann sich die Sache für ihn ganz anders darstellen. Denn »Macht«, sagte einst Lord Acton (1934 – 1902), »korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut«. Kurzum: Der oder die Tugendhafte will nicht nur eine bestimmte moralische Norm befolgen, wie auch immer diese inhaltlich bestimmt sein mag; er oder sie ist auch darin geübt, das Moralische mit Leichtigkeit zu tun. Was allerdings nicht bedeutet, dass dies auch immer gelingen würde …

1.4 Ethik und Wirtschaftsethik

Ethik ist nach alledem die Wissenschaft von Moral, Ethos und Tugend. Die Moral verhält sich zur Ethik wie die Ökonomie zur Ökonomik: Erstere bezeichnet den Gegenstand, letztere das wissenschaftliche Aussagensystem, das diesen Gegenstand behandelt.

Traditionell unterscheidet man vier Teilethiken (Göbel 2020, S. 36 ff.):

[17]Im Zentrum des vorliegenden Buches stehen die normative Ethik und die Methodenlehre: die Frage nach dem Sollen und seiner gesellschaftlichen Implementation. Es endet in Kapitel 8 mit der metaethischen Frage nach der objektiven Geltung von Moral. Fragestellungen der deskriptiven Ethik, welche moralische Norm in welcher zeitgeschichtlichen Situation gegolten hat, werden hier allenfalls am Rande gestreift.

Das in diesem Buch vorausgesetzte Verständnis von Wirtschafts- und Unternehmensethik betrifft alle vier Teilbereiche der Ethik. Je nachdem, ob man die Wirtschaftswissenschaften nach ihrem Gegenstand (das wirtschaftliche Handeln von Menschen in Bezug auf knappe Güter) oder durch ihre Methode (die Rationalverhaltenstheorie als allgemeine Theorie menschlichen Verhaltens) definiert, besteht die Wirtschafts- und Unternehmensethik i. w. S. aus den folgenden beiden Teildisziplinen:

Abbildung 1.1fasst die Beziehungen dieser Disziplinen zusammen:

Abbildung

Abb. 1: Disziplinäre Klassifikation der Wirtschafts- und Unternehmensethik

1.5 Individual- und Institutionenethik

Man kann ein Fußballspiel dadurch entscheiden, dass man auf dem Platz steht und den Ball schießt. Dann beeinflusst man direkt den Prozess des Spiels. Das Ergebnis eines Spiels lässt sich jedoch auch indirekt entscheiden, wenn man den Regelrahmen verändert, unter dem sich das Spiel vollzieht. Ob man die Abseitsbestimmungen variiert, den Strafraum vergrößert oder die Größe des Balls beeinflusst: All dies kann das Ergebnis eines Spiels bestimmen, ganz ohne [18]dass man direkt interveniert hätte. Beide Typen von Handlungen wirken auf die Resultate des Spiels – und damit gegebenenfalls auch auf ihre Akzeptabilität – ein.

Der hier angesprochene Unterschied ist auch für die Ethik bedeutsam. Je nachdem, ob man danach trachtet, moralische Ergebnisse direkt über die handelnden Personen zu beeinflussen oder indirekt über die Regeln, unter denen sie handeln, lässt sich auch die (Wirtschafts-)Ethik i. e. S. weiter unterteilen.

Individual- und Institutionenethik stehen in einem spannungsreichen Verhältnis (Göbel 2020, S. 51 ff.). Auf der einen Seite setzt jedes institutionenethische Argumentieren immer auch die Existenz einer bestimmten Individualethik voraus. Denn Institutionen werden durch sittliche Subjekte – Menschen – geschaffen. So wäre z. B. das gesetzliche Verbot von Diebstahl in den jüdisch-christlich geprägten Teilen der Welt kaum denkbar ohne das zehnte Gebot des mosaischen Dekalogs (»Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut.«). Institutionen, so könnte man sagen, sind daher so etwas wie »geronnene Individualethik« – der Versuch, eine individuelle moralische Norm mittels einer (staatlichen) Institution durchzusetzen. Infolgedessen ändern sich oft auch Institutionen, wenn sich die Individualmoral verändert, wenn man beispielsweise an die Institution der »Ehe für alle« denkt, die heute eine Lebenssituation staatlich privilegiert, die noch vor wenigen Jahrzehnten als sittlich anstößig galt.

Umgekehrt ist auch eine Individualethik ohne rahmengebende Institutionen kaum vorstellbar. So finden Institutionen der modernen Demokratie ihren Niederschlag auch z. B. im Ethos des mündigen Bürgers (Müller/Remkes 2021), das sich infolge der zunehmenden Partizipationsmöglichkeiten der Menschen im Lauf der Zeit herausgebildet hat. Institutionen beeinflussen auch die Folgen von Handlungen und wirken damit – zumindest aus der Sicht der konsequentialistischen Ethik, auf die im Folgenden noch sehr ausführlich eingegangen werden wird – auf die Sittlichkeit von Handlungen zurück.

[19]1.6 Die Unternehmensethik als Reparaturethik

Wo aber finden wir in alledem die Unternehmensethik als den wohl jüngsten Zweig der Wirtschaftsethik? Die Unternehmensethik befindet sich in einer Art Sandwichposition. Sie hat nur dort eine Aufgabe, wo die Individual- und/oder die Institutionenethik an ihre Grenze kommen.

Manche betrachten die Unternehmensethik daher als eine Art »Reparaturethik« (Mittelstraß 1991): Sie wird benötigt, insoweit die Individual- und Institutionenethik lückenhaft wirken. Auch wenn sie heute als eigenständige Disziplin behandelt wird, ist die Unternehmensethik streng genommen immer nur ein Teilbereich der Individual- oder der Institutionenethik:

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Microsoft und das Problem der Gesichtserkennung

Im Jahr 2018 sprach sich Brad Smith, der Präsident von Microsoft, in zwei Blogbeiträgen (Smith 2018a und 2018b) für eine Regulierung von Technologieunternehmen aus. Eine staatliche Regulierung sei nötig, um den Missbrauch von Gesichtserkennungstechnologie zu verhindern. Eine erstaunliche Forderung, wenn man bedenkt, dass er damit auch die Regulierung seines eigenen Unternehmens forderte!

Natürlich kann die Gesichtserkennung von Personen auf Fotos riesige Vorteile bringen. So wird es möglich, Bilder in Fotodateien automatisch zu sortieren, Personen in einer riesigen Menschenmenge zu identifizieren oder Smartphones ausschließlich für die Benutzung durch bestimmte User zu öffnen. Smith sah jedoch auch die sozial unerwünschten Risiken, die mit dieser Technologie einhergehen könnten: So wäre eine totalitäre Regierung in der Lage, ihre Bürger massenhaft zu überwachen und Gegner der Regierungspolitik zu unterdrücken (Schreck 2020). Die neue Technologie, so Smith, werfe »Fragen auf, die den Kern des grundlegenden Schutzes der Menschenrechte wie Privatsphäre und Meinungsfreiheit betreffen« (Smith 2018a).

Wenn das aber so ist, warum verzichtet Microsoft dann nicht einfach auf diese Technologie? Der IT-Gigant könnte sich doch einfach weigern, seine Technologie an problematische Kunden zu verkaufen – oder vielleicht ganz auf ihren Einsatz verzichten. Doch das ist nicht so einfach, wie Brad Smith (2018a) schreibt:

»Selbst wenn eine oder mehrere Technologiefirmen ihre Praktiken ändern, bleiben schließlich Probleme bestehen, wenn andere es nicht tun. Die Wettbewerbsdynamik zwischen […] den Technologieunternehmen […] wird es den Regierungen wahrscheinlich ermöglichen, neue Technologien weiterhin auf eine Weise zu kaufen und zu nutzen, die die Öffentlichkeit möglicherweise nicht akzeptieren kann. Wenn das geschieht, erweist sich ethisches Verhalten als selbstschädigend und unwirksam.«1

[21]Hier zeigt sich eine weitere Dimension des Konflikts zwischen Compliance und Integrity: Kann man von einem Einzelnen – einem Bürger, einem Politiker oder einem Unternehmen – verlangen, mehr zu verfolgen als das eigene Interesse? Wenn die Einhaltung moralischer Regeln – hier also der Verzicht auf die Produktion und die Nutzung von Gesichtserkennungssoftware – dazu führt, dass das eigene Unternehmen einen Auftrag nicht bekommt, sondern ein Konkurrent, kann man dann ernsthaft einfordern, dass das Unternehmen aus moralischen Gründen dem Wettbewerber den Vortritt lässt? Muss es nicht schon aus Gründen des Selbstschutzes – um nicht im Konkurrenzkampf verloren zu gehen – mit eigenen Angeboten mithalten? Kann ein Unternehmen, das moralisch handelt, überhaupt auf Dauer bestehen? Was sich hier auftut, ist der Graben zwischen der Anreiz- und der Tugendethik:

  • Anreizethiker geben auf alle diese Fragen negative Antworten. Das ethisch Gebotene, so argumentieren diese Autoren, muss immer auch im zumindest langfristigen Eigeninteresse liegen; bei einem Unternehmen also etwa der langfristigen Gewinnmaximierung dienen. Eine solche Ethik, die nur das für geboten hält, das auszuführen auch dem eigenen Nutzen- oder Gewinnstreben dient, treibt den Gedanken der Compliance ins Extrem: Das und nur das, was gesetzlich erzwungen wird, ist auch moralisch geboten; innerhalb dieses Rahmens aber ist das Individuum frei zu tun und zu lassen, was ihm beliebt. Das Augenmerk des Ethikers ist hier ganz und gar auf den Regelrahmen gerichtet: Überwachung und Sanktionierung sind die Stellschrauben, an welchen der Ethiker dreht, um die Anreize der Menschen zu ändern und ihr Verhalten in eine bestimmte Richtung zu lenken. In der Wirtschaftsethik wird ein solcher Ansatz vor allem in der Moralökonomik verfolgt, wie sie von Homann und seinen Schülern mit zum Teil unterschiedlichen Schattierungen vertreten wird.
  • Die Tugendethik bejaht indes die obigen Fragen und geht davon aus, dass ein Individuum oder ein Unternehmen selbst dann verpflichtet ist, moralisch zu handeln, wenn dies zu Abstrichen an der eigennützigen Verfolgung ihrer Ziele führen kann. Moralisch gesollt ist in einem solchen Ansatz, was (objektiv) geboten ist – ganz unabhängig davon, ob es dem Handelnden nützt oder nicht. Eine solche Position treibt den Gedanken der Integrity – der persönlichen Moralität – ins Extrem. Statt auf den Regelrahmen kommt es hier allein auf die Moralität des Individuums an – auf seine persönliche Tugend oder »Exzellenz«. Der wohl klassische Vertreter eines solchen Ansatzes ist Aristoteles; in der Wirtschafts- und Unternehmensethik finden wir diese Idee etwa in der Ethik der betrieblichen Rechnungslegung von Pakaluk und Cheffers (2011) oder in Solomons (1993) Tugendethik des Unternehmerhandelns.

Natürlich verneinen auch solche tugendethischen Ansätze nicht die Legitimität des Eigennutzstrebens. Selbst ein Unternehmen, das sich in dieser Form tugendhaft verhalten will und nach moralischer Exzellenz strebt, muss nicht darauf verzichten, nach eigenen Vorteilen zu suchen: Unternehmen dürfen auch in dieser Perspektive sehr wohl Gewinne machen, und Mitarbeiter dürfen nach Lohn und Beförderung streben. Was jedoch betont wird, ist das Motiv, aus dem heraus alle diese Vorteile angestrebt werden. »Anreiz« für ihr [22]Handeln darf dabei nicht der Vorteil einer Handlung sein, sondern immer nur der moralische Wert der Handlung selbst. Oder, wie es Solomon (1993, S. 157) fasst:

»Exzellenz verdient Belohnung, aber paradoxerweise ist Exzellenz nicht Leistung für Belohnung. Ein Anreiz ist eine Karotte, die man einem Pony, oder ein Hundekuchen, den man einem Hündchen vorhält: ein Mittel, vielleicht ein Trick, um es dazu zu bringen, sich zu benehmen. Aber ein gutes Hündchen (und, wie ich annehme, ein gutes Pony) wird unabhängig von dem Anreiz das Richtige tun, und die Karotte oder der Hundekuchen wird (selbst wenn erwartet) zu einem Leckerchen hinterher anstelle eines Grundes, um zuerst das Richtige zu tun.«

Und darin besteht nun auch das Dilemma mit der Software zur Gesichtserkennung: Solange der Microsoft-Chef nicht auf die Integrity aller Konkurrenten zählen kann, hilft nur der Ruf nach dem Staat, der den Konkurrenten Compliance-Anreize setzt: Wenn jeder zur Moral gezwungen wird, ist auch die eigene Moralität nicht selbstschädigend. Die Anreizethik macht dann möglich, was die Tugendethik anstrebt.


1 Dieses und alle übrigen Zitate aus englischsprachigen Quellen wurden von mir ins Deutsche übersetzt.