Gleich geht die Welt unter. Der Himmel hat sich in einen tobenden Strudel verwandelt, Schneeflocken stieben in Scharen durch die Luft. Als ob das nicht genug wäre, zieht der Wind immer wieder Schneisen in die weiße Fülle und sortiert alles neu. Frau Holle muss eine Wut haben.

Hier unten herrscht wieder einmal nur Wegwerfwut. Der Christbaumcontainer ist längst voll und ständig kommen neue Bäume rein. Inmitten des Getümmels stehen vier Herren in blau-gelber Montur und pusten sich in die Hände. »Herrschaftszeiten, was zum Teufel ist denn los heute?«, mault Uwe. »Letztes Jahr verteilten die Dinger sich schön über die ersten Januarwochen.«

Während Arturo die Mütze ausschüttelt und João einen langen Blick auf seine Armbanduhr wirft, stehe ich reglos da. Ich sehe einen Familienvater, der eine Blautanne und ein quengelndes Kind hinter sich herzieht, und denke: Vielleicht entsorgen die Leute ihre Bäume aus Frust darüber, dass Weihnachten grün war und ausgerechnet der erste Arbeitstag im Januar eine weiße Decke verpasst bekommt.

João räuspert sich, blickt erneut auf die Uhr. Uwe sieht es, hebt die Arme in die Luft und ruft: »Herrje, Schau, du siehst doch, dass Pause jetzt nicht drin ist. Vielleicht

João wendet sich schnaubend ab und beginnt, mit seiner Krachlederstimme die Christbaumloswerder herumzuscheuchen. Arturo steigt in den großen Container und zerkleinert mit der Astschere die Bäume. Auch ich sollte mich jetzt in Bewegung setzen, aber keines der Signale aus meinem Hirn ist zwingend genug. Ich bleibe stehen.

Uwe neigt den Kopf verstohlen in meine Richtung und flüstert: »Ach, Philipp, du hast nicht zufälligerweise meinen Multi-Schraubenzieher gesehen irgendwo?«

»Deinen was?«

»Multi-Schraubenzieher. Der war nagelneu, Mensch!«

Ich schüttle den Kopf, Uwe eilt davon. Träge hebe ich meinen Blick. Die Schneeflocken sind jetzt dick wie zerrupfte Wattebäusche. Am Boden gelandet, verwandeln sie sich in eine gallertartige Schicht, die von den ankommenden Autos unter das große Dach geschwemmt wird. Das dabei entstehende Rauschen mischt sich mit dem Summen der Presscontainer zu einem sanftmütigen Klangteppich. In meinen grauen Hirnzellen macht sich Uwes Leitspruch bemerkbar: »Wenn sich die Leute beim Recyceln wohlfühlen, kommen sie wieder.« Nasse Füße sind da eine schlechte Voraussetzung, denke ich, greife zur Schaufel und beginne, den Matsch wegzuschieben.

Das mit dem Leitspruch scheint zu funktionieren. Bei uns wird recycelt, was das Zeug hält. Erst recht in den Tagen nach der großen Bescherung. Wenn ich recyceln sage, ist das natürlich Schönfärberei. Die meisten Kunden kümmert es nicht, was mit dem Kram passiert, den sie hier abladen. Das Wort Recycling dient bloß der Erleichterung ihres Gewissens. Sagt zumindest Uwe. Er

Apropos genau nehmen: Schreibt man eigentlich recyclen oder recyceln? João und Arturo hat die Frage nie interessiert, Uwe schlägt sich regelmäßig mit ihr herum. Wöchentlich hat er seinen Vorgesetzten einen Rapport abzuliefern. Als Vorlage dafür dient ein Formular, in das ein paar Haken und Zahlen einzusetzen sind. Ganz unten allerdings, als letzter Punkt, steht »Bemerkungen« und dann folgen vier freie Linien. Diese vier Linien sind Uwes allwöchentliches Verhängnis. Er kann sie einfach nicht frei lassen. Wenn er in seinem Bürocontainer sitzt und sich die Haare rauft, schaue ich ihm durchs Fenster zu und denke: Armer Uwe.

Ich selber weiß zwar auch nicht, ob man recyclen oder recyceln schreibt, doch wie die Sache funktioniert, umso besser. Uwe hat es mir gründlich beigebracht. Ich bin schließlich sein Hoffnungsträger. »Der einfache Mann von der Straße hat keinen Schimmer, wie kompliziert der ganze Kreislauf ist«, sagt er. Er sagt auch, dass Abfallrecycling wie jedes Geschäft von der Sorge des einfachen Mannes um seine Ersparnisse und von seinem Wunsch nach einem Quäntchen Seelentrost angetrieben werde. Deswegen sei recyceln in unserer Stadt billiger als wegwerfen. Deswegen sind wir immer freundlich zum einfachen Mann und sagen Auf Wiedersehen, die Herrschaften, und einen schönen Tag noch.

Arturo hantiert noch immer mit der Astschere im Tannencontainer. Unverständlicher Wortsalat dringt über die Kante des Blechkastens zu uns herab. Ich werfe João einen fragenden Blick zu. Dieser übersetzt: »Turo sagt,

Mit dem Lachen ist es bei uns so eine Sache. Die zwei Portugiesen João und Arturo scheinen in ihrer Sprache pausenlos herumzualbern, lachen aber nie. Uwe, der Deutsche, kann nach eigener Aussage aus genetischen Gründen keine Witze reißen, dabei würde er gerne öfter etwas zu lachen haben. Ich, der Schweizer, könnte zwar Witze reißen, doch das ist selten nötig, denn lachen kann ich auch so. Zum Beispiel jetzt, wo Arturo aus dem Container stolpert, sich im Schneegestöber Jacke, Pullover und Unterhemd vom Leibe reißt und in wilden Verrenkungen die Nadeln ausschüttelt.

Uwe ruft mich. »Da stimmt was nicht mit dem mittleren Presscontainer. Bitte, Philipp, sei so gut und schau nach. Aber fix!« Brauche gar nicht nachzuschauen, denke ich. Man hört von hier aus, dass da etwas klemmt. »Oh«, sagt Uwe, »und falls du da drin so etwas wie einen Multi-Schraubenzieher finden solltest … ach, lass mal gut sein. Ich will dir nicht noch mehr auf den Hals laden.« Er winkt ab, ich wende mich dem vertrauten Geräusch zu.

Unsere Presscontainer funktionieren wie die heulenden Schlünde von der Müllabfuhr. Nur sind sie viel stärker. Alles, was ihnen vors Maul geworfen wird, drücken sie stoisch in sich hinein. Truhen, Matratzen, Korbsessel, Kindersitze. Wie Schlangen beißen sie nicht, sondern

Als ich mit dem Klauenhammer auf Presscontainer Nummer zwei steige, ruft Uwe: »Mein lieber Scholli, was kommt denn da angeeiert. Voll bis zum Stehkragen, die Büchse. Sieht mir schwerstens nach einer Hausräumung aus. Und vorne bei den Bäumen ist auch die Hölle los. Philipp, schnell, bitte!«

Seit Stunden wetzt Uwe hin und her, ruft Anweisungen, jammert, gibt sich selbst Anweisungen, muntert sich auf, muntert uns alle auf. Doch in diesem Moment ist er der Einzige, der sich noch reinkniet. João und Arturo schmeißen Bäume, als sei längst alles egal. Ich selber rede meinem Presscontainer gut zu und tänzle dabei zu einer läppischen Melodie, die mir hinterherläuft.

Uwe geht mit gequältem Lächeln auf den Kleinlaster von der Hausräumung zu. Keine angenehme Sache, das weiß er. Eigentlich haben sich Hausräumer anzumelden, besser noch, sie bestellen eine Mulde vors Haus, die dann abgeholt wird. Da der Mensch sich beim Recyceln wohlfühlen soll, bringt Uwe ihnen das Unangenehme taktvoll bei.

Ich habe den Übeltäter gefunden. Es ist das Rohr eines Sonnenschirms, das die Schaufel blockiert. Ich versetze ihm mit dem Hammer einen gezielten Schlag, es rutscht aus dem Spalt. Ich springe hinunter und lege einen Hebel um. Das Summen des Motors klingt tadellos.

Ich stelle mich zu João und Arturo. Eine Windbö schleudert uns einen Schwall Schnee entgegen, wir erdulden es, ohne mit der Wimper zu zucken. João hebt einen Baum auf und wirft ihn kaum einen Meter neben sich wieder hin. Dann drückt er den Rücken durch und schüttelt die

Unsere zwei Portugiesen vertragen einiges, aber wenn Uwe die Pause verschiebt, werden sie fuchsig. Ein klapperdürrer Mann mit einem Adventskranz in der Hand tapst heran, er sagt: »’tschuldigung, wo darf ich den …« João dreht sich um und wirft dem Mann einen Blick zu, der diesen prompt verstummen und kehrtmachen lässt. Eine Weile lang machen die beiden so weiter, schließlich wirft João die Handschuhe hin und trottet durch den Matsch in Richtung Pausenbaracke, Arturo tut es ihm nach. Ich verharre in Unentschlossenheit.

Ich weiß, ich bin Uwes Hoffnungsträger. Irgendwann ist das vorbei, und mir ist nicht sehr wohl bei dem Gedanken daran, was dann sein wird. Deshalb tue ich alles, um so lange wie möglich Uwes Hoffnungsträger zu bleiben. Aber auch mir käme jetzt eine Pause mehr als gelegen. Ich werfe einen Blick über die Schulter. Uwe wetzt zwischen Hausräumern, Christbaumloswerdern und den üblichen Ramschablieferern herum und grantelt vor sich hin. Zumindest bis die Hausräumer weg sind, wird er beschäftigt sein. Also verbanne ich jeglichen Gedanken an mein Hoffnungsträgertum in die hintersten Regionen meines Gedächtnisses und eile den beiden Kollegen hinterher.

Die Pausenbaracke gehört nicht zum offiziellen Teil unseres Reyclinghofs. Kurz: Sie ist illegal. Als der Verschlag aus rostigem Zinkblech und morschen Brettern eines Tages unangemeldet hinter den Altkleider-Containern stand, sagte João augenzwinkernd: »Kleines Präsent von Gönner. Mit Spezial-Gruß an Chef.« Uwe rastete

Ich sitze auf der Bank, lege die Hände um die warme Kaffeetasse und stelle mir vor, wie ein immenser Windstoß unser großes Dach aufhöbe und forttrüge. Wir hätten keinen Schutz vor Niederschlägen mehr, und unsere Arbeit wäre viel mühseliger. Wir wären dem Himmel über unseren Köpfen so ausgeliefert wie die Männer von der Modelleisenbahn nebenan und die Schrebergärtner am Fluss, und uns bliebe nichts anderes übrig, als regelmäßig ein Bittgebet zum großen Weltenlenker hinaufzuschicken.

Ich schlürfe vorsichtig und stelle mir vor, wie ein immenser Windstoß mich selber aufhöbe und forttrüge. Vom Himmel herab sähe ich Uwe, João und Arturo als blau-gelb gestreifte Ameisen, und ich würde mich sofort zurücksehnen in ihre kleine Welt unter dem großen Dach, und dann würde ich meinen Blick in die Ferne richten und die fahlen Wellen der Landschaft sehen, und auch nach ihnen sehnte ich mich.

Manchmal, wenn ich in der Pausenbaracke sitzend meinen Träumen hinterhertaumle, tippt mich jemand sanft auf die Schulter und holt mich herunter auf den Boden des Hier und Jetzt. Meistens ist es Arturo, der mir einen Gegenstand zeigen will. Heute hält er einen alten Sony-Walkman in der Hand.

»Frisch Fang aus Elektronikcontainer«, sagt er.

Der Walkman wird zurück in den Elektronikcontainer wandern. Arturo widersetzt sich Joãos Urteilen nie. Was ihn nicht daran hindert, immer wieder einen neuen Gegenstand herzuzeigen. Tagtäglich ziehen die beiden Freunde allerlei Sachen aus dem offiziellen Warenfluss und führen sie ihrem Nebengeschäft zu.

Wir alle haben den Blick für das Potenzial der verschiedenen Recyclertypen. Bereits wenn ein Auto in den Hof einfährt, beginnen wir es zu taxieren. Spätestens wenn die Leute aussteigen, sehen wir ihnen ihre Mission an. Doch João und Arturo haben noch einen anderen Blick. Sie erkennen die Blinden. Diejenigen, die keine Ahnung haben, was sie entsorgen. Die Kinder verstorbener Eltern sind ein klassisches Beispiel. Wenn sie den Ballast ihrer Herkunft über Bord werfen, sind João und Arturo zur Stelle. Die Typen mit der billigen Massenware wiederum sind eine ganz andere Kategorie. Und dann gibt es noch jene, die vor Jahren im Ausverkauf dreißig Meter Gartenschlauch ergattert haben, nur für den Fall. Doch der Fall ist nie eingetreten. Endlos viele Fälle treten nie ein. Ware bleibt unbenutzt liegen, Ware gerät in Vergessenheit, genauso wie der Grund, weshalb sie einmal angeschafft wurde.

Als wir nach einer Viertelstunde aus der Pausenbaracke treten, herrscht Stille auf dem Recyclinghof. Der Schneesturm ist fast vorbei, die Hausräumer und die meisten Christbaumloswerder sind auf und davon. Nur einer

»Mein lieber Herr Gesangsverein, ihr werdet’s mir nicht glauben. Kein Wort werdet ihr glauben von dem, was jetzt kommt. Aufgepasst!« Wir blicken Uwe erwartungsvoll an. »Es war der Junge von vor zwei Stunden. Hebt der Knirps meinen Multi-Schraubenzieher auf und sagt: ›Darf ich den mitnehmen?‹ Und ich antworte: ›Eigentlich ist das nicht erlaubt. Aber weißt du was, Junge? Für dich mach ich eine Ausnahme.‹ Das habe ich zu ihm gesagt und keine Sekunde auf das Ding in seiner Hand geguckt. Und jetzt stellt euch vor, kommt eben gerade eine Frau mit dem Kleinen im Schlepptau angestelzt. Es täte ihr schrecklich leid, ihr Sohn habe geklaut, und sie blafft den Jungen an: ›Entschuldige dich gefälligst bei dem Mann, Erich.‹ Und der kleine Erich wimmert: ›Aber ich hab den Mann gefragt, Mama.‹ Und ich sage: ›Gute Frau, ihr Sohn hat tatsächlich gefragt, und trotzdem bin ich Ihnen dankbar, denn das ist in der Tat mein neuer Multi-Schraubenzieher, ich habe ihn schon ziemlich vermisst. Du darfst dafür etwas anderes mitnehmen, Erich. Such dir was aus. Im Elektronikcontainer gibt’s immer tolle Sachen.‹« Uwe hält seinen Multi-Schraubenzieher hoch und strahlt. João und Arturo blicken sich stumm an, ich schicke ein Grinsen in Richtung Himmel.

Zwei Stunden später sind das Schneegestöber und der Christbaumwahnsinn nur noch laue Erinnerung. Uwe schließt das Tor zum Recyclinghof, João beißt in einen Apfel, ich klemme meine Thermosflasche unter den Arm und trommle mit den Fingern den Takt meines Ohrwurms auf den Deckel. Dann fährt Arturo in seinem

»Ach, unser Schau«, seufzt Uwe, »wenn wir ihn doch nur verstehen würden!«

»Ja, ja, unser João«, erwidere ich und trommle weiter.

»Ich bin verdammt froh, dass ich dich hab«, sagt Uwe.

»Hm«, antworte ich und kratze mich verlegen an der Nase.

Ein gestiefelter Mann mit Hund trottet vorbei. Das Geräusch, das seine Gummistiefel auf dem Matsch machen, fasst die ganze Misere dieses Tages zusammen. Eine Misere, mit der sich leben lässt, denke ich. Dann biegt Uwes Tram in die Endhalteschlaufe. Leute steigen aus und eilen davon. Der Fahrer stellt sich an die vorderste Tür und steckt sich eine Zigarette an.

»Na, dann geh mal, Philipp. Wünsch dir was«, sagt Uwe.

»Okay, Chef.«

Uwe stapft zum Fahrer und setzt zu seinem üblichen Schwätzchen an. Ich verschwinde in der Dämmerung. Das Geräusch, das meine Stiefel auf dem Matsch machen, fasst die ganze Misere der Welt zusammen. Kein Grund, sich unglücklich zu fühlen, denke ich und schicke abermals ein Grinsen in Richtung Himmel.

Halb acht. Im Badezimmerspiegel putzt sich einer die Zähne und beobachtet mich argwöhnisch. In den Heizungsrohren ertönt ein Klappern. Nachbarin Bigliottis allmorgendliche Staubwedelattacke, denke ich und spucke blauen Zahnpastasaft ins Waschbecken. Schluck Wasser, kräftig gurgeln. Im Spiegel ein gespieltes Grinsen.

Ich gehe in die Küche und packe meine Brote ein. Aus dem Luftabzug über dem Herd strömt der altbekannte Duft, vom Treppenhaus sind schnelle Kinderschritte zu hören. Es beruhigt mich, wie dieses Haus die Lebenszeichen der Bewohner durch seine Mauern und Eingeweide sickern lässt. Man weiß, die anderen sind da. Man weiß, sie tun das, was sie immer tun.

Auch ich tue, was ich immer tue. Ich mache mich pünktlich auf den Weg. Halb acht ist viel zu früh, aber ich bin nun mal ein Rumtrödler, bleibe oft stehen, wo’s für andere nichts zu sehen gibt, und mache sinnlose Zusatzschleifen. Wenn ich dann endlich am Tor des Recyclinghofs ankomme, trinke ich meinen obligaten Kaffee, bevor es um Punkt acht losgeht. Mein Morgenkaffee hat die gleiche Funktion wie Frau Bigliottis Morgenputz, er ist täglicher Mutgeber und hält böse Geister fern.

Vom Hallen meiner Schritte begleitet, bewege ich mich

Ich trete aus dem Bienenstock und trotte los. Bei den Tischtennisplatten winkt mir ein Schneemann mit seinem geknickten Astarm zu. Ein zerfetzter Plastikschlitten hat sich unter einer Krüppelkiefer verkrochen. Dann tauchen rechts die Hallen einer Chemiefabrik auf. Alles andere als ein schöner Anblick, aber das ist hier ein wichtiger Arbeitgeber, also kein schlechtes Wort. Vor mir ein Tattergreis, krumm wie eine Banane, am Stock die zittrige Hand. Soll ich ihn links oder rechts überholen? Er bleibt stehen, um zu verschnaufen, ich überhole ihn links. Bestimmt ist er auf dem Weg zum Supermarkt. Dieser öffnet erst um acht, aber die Alten stehen sich bereits eine Viertelstunde vorher gegenseitig auf den Füßen.

Meist biege ich nach dem Eisenbahnareal zum Fluss ab, passiere Hundehalter und Frühjogger, um weiter unten, hinter der Kläranlage, einen Bogen zu machen und so von der anderen Seite her zum Recyclinghof zu gelangen. An diesem Wegstück gibt es einen versteckten Kanal, eine regelrechte Wundertüte von einem Biotop, an dem ich regelmäßig meine Zeit verbummle. Auch am Fluss gibt es frühmorgens immer etwas zu sehen. Reiher, Bachstelzen, Ratten. Heute aber nehme ich den schmalen Weg zwischen dem Kanal und den Schrebergärten.

Der Weg macht einen Haken, ich komme an einer Holzhütte mit Bierschild und rot-weiß gewürfelten Vorhängen vorbei. Der Schrebergärtnerkiosk, in den Monaten ohne »r« jeden Samstag und Sonntag zwischen 11 und 17 Uhr geöffnet, je nach Wetter auch an Wochentagen. Dann die Skateboardhalle, und schon erreiche ich unsere Kehrschlaufe. Ein Süßigkeiten- und ein Fahrkartenauto

In wenigen Minuten wird das nächste Siebzehnertram auftauchen und jaulend in die Kehrschlaufe einbiegen. Die Türen werden sich mit einem Zischen öffnen, und heraustreten wird Uwe Löhlein, mein Chef und Mentor. Er wird an der vordersten Tür stehen bleiben, denn ein Tag ohne den Schwatz mit dem Fahrer ist für Uwe ein verlorener Tag. Derweil werde ich mir noch etwas Kaffee einschenken, weiterschlürfen und die beiden beobachten. Spätestens nach drei Minuten wird der Fahrer sein Handgelenk mit einer forschen Bewegung aus dem Ärmel schnellen lassen und auf die Uhr schauen. Dann wird Uwe ihm einen Klaps auf die Schulter geben und sich abdrehen. Er wird feierlich auf mich zukommen, im Gesicht ein wohlmeinendes Lächeln, denn das ist er seinem Hoffnungsträger schuldig.

Im Hintergrund das Rauschen der Autobahn, hier die reine Stille. Noch sitzt der Tag in den Startlöchern. Ich sitze auf meiner Bank und tue, was ich immer tue. Inmitten der ganzen Herumrennerei unserer Tage bleibt eine Trägheit, die wir uns nicht austreiben lassen: Man wohnt heute weniger lange am gleichen Ort, man wechselt oft die Stelle, den Beruf, die Frau, den Mann, und doch hat man das meiste, was man gerade tut, auch am vorherigen Tag und am vorvorherigen und am vorvorvorherigen ge

Nun kommt Uwe. Er sagt: »Philipp! Das Leuchtfeuer meiner Tage. Menschenskind!«

Es gibt andere Tage, da bin ich sein Leitstern, manchmal nennt er mich auch seinen Kompass. Heute darf ich wieder einmal das Leuchtfeuer sein.

»Morgen, Chef«, erwidere ich, »alles klar?«

»Deine Anwesenheit klärt alles auf, was eben noch im Nebel lag.«

Ja, so ist er, der gute Uwe. Er mag die Menschen. Und er lobt sie gerne. Während wir zur Einfahrt des Recyclinghofs schlendern, fasst er die Nachrichten aus der Gratiszeitung zusammen und ich platziere kommentierende Geräusche in seine Sprechpausen. Dann schließt Uwe das Tor auf und wir steuern den Bürocontainer an. Sofort schaltet er die Kaffeemaschine ein, ich fülle mir nochmals einen Becher aus der Thermosflasche. Wir haben auf dem Hof zwei Kaffeemaschinen, diese hier im Bürocontainer und Joãos Gegen-Maschine in der Pausenbaracke, und beide machen exzellenten Kaffee. Dennoch kommt mein Morgenkaffee aus der Thermosflasche. Uwe hat längst aufgehört, meinen Tick zu kommentieren.

Nun legt er die Hand auf meine Schulter und sagt: »Wir werden einen ruhigen Morgen haben heute, ich spür das. Und deshalb werde ich dir etwas zeigen, Philipp. Erst ist aber unser üblicher Kontrollgang dran.«

Ich sage: »Okay, Chef.«

Just als wir aus dem Bürocontainer treten, geht die Sonne auf und kämpft sich durch milchige Schlieren. Uwe strahlt übers ganze Gesicht. Er freut sich auf das

Während Uwe den Füllstand des Flaschenkorken-Behälters prüft, denke ich an jene Tage vor neun Monaten zurück. Damals kreuzte ich zum ersten Mal hier in der Gegend auf, ziemlich blauäugig und sehr verwirrt. Frühling war es, die Tage fraßen den Nächten ihre Anfänge und Enden weg, und ich bezog die Wohnung im Bienenstock. Baute mein Billy-Regal auf und füllte es mit den wenigen Büchern, die ich besaß. Leerte die zwei Bananenkartons, die meine Küchenutensilien bargen, drei Säcke mit Kleidern und die Dingskiste. Diese beinhaltete keine Gebrauchsutensilien, sondern bloß eine Sammlung von Dingen, die ich mochte und mit denen ich mich hin und wieder beschäftigte. Während meiner Zeit als WG-Bewohner hatte ich kaum auf sie zurückgegriffen. Stattdessen hatte ich in meinem Zimmer Terrarien unterhalten und haarsträubend komplizierte Mobiles gebastelt, ich hatte Wanderungen in die Wälder rund um die Stadt unternommen und war mit Marmeladegläsern voller Larven, toter Nachtfalter oder Schnecken und mit einer Tüte eingesammelter Silberpapiere zurückgekommen. Daneben hatte ich fleißig die Wohnung geputzt, den Ausführungen meines Lieblings-Mitbewohners Georg über Gott und die Welt zugehört, und ich hatte gekocht. Wobei die anderen Mitbewohner das Essen meist verpassten, weil sie ohnehin kaum zu Hause waren.

Am Tag meines Einzugs in den Bienenstock saß ich lange vor meiner Dingskiste und spürte, dass ich in Zu

Frühling war es und ich in dieser Wohnung und wieder allein mit meinen Dingen und diesem Leben, das einem alles Mögliche verspricht und sich dann ins Fäustchen lacht ob der Gutgläubigkeit der Menschen. Ich setze sie unter Druck, hatten meine Mitbewohner geklagt und mir freundlich, aber unmissverständlich die Tür gewiesen. Was ihnen an mir derart zugesetzt hatte, habe ich nie ganz verstanden. Vielleicht war es mein Putzfimmel, vielleicht die Dingskiste und die zahlreichen Experimente, die ich in meinem Zimmer durchgeführt habe. Am Schluss war ich auch noch über die Tatsache gestolpert, dass mir im entscheidenden Moment nie etwas zu meiner Verteidigung einfällt, aber das war mir dann auch egal. Ich war nicht traurig, sie würden mir nicht fehlen. Doch was nun, und vor allem wohin?

Die Geschichte meines Einzugs in den Bienenstock ist so unglaubwürdig wie alle anderen Geschichten, die mein Leben bis dahin geschrieben hatte. Der Exfreund von der Freundin des Sohns meines ehemaligen Lehrmeisters war für ein halbes Jahr auf Weltreise, sie hatte noch immer einen Schlüssel zu seiner Wohnung. Ohne ihn darüber zu unterrichten, packte sie seine Sachen in das winzige Kellerabteil und ich zog bei ihm ein. Billy-Regal, drei Säcke, zwei Bananenkartons, die Dingskiste,