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Aus dem Englischen von Alan Tepper

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www.hannibal-verlag.de

Widmung

Für Ella Louise Howard und alle Musiker …

Impressum

Der Autor: Sam Cutler

Deutsche Erstausgabe 2012

Titel der Originalausgabe:

„You can’t always get WHAT YOU WANT – My life with the Rolling Stones, the Grateful Dead and other wonderful reprobates”

© 2010 by The Cutler Family Trust

ISBN: 978-1-55022-932-5 by ECW Press, Toronto, Ontario, Kanada

Coverdesign: Rachel Ironstone

Coverabbildung: Vorderseite oben: Bob Davidoff – www.palmbeachpopfestival.com,

unten: © Robert Altman, Rückseite: Ray Slade

Autorenfoto: © Hudson Photo, 2009

Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com

Übersetzung: Alan Tepper

Korrektorat: Otmar Fischer

© by Hannibal

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN 978-3-85445-400-7

Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-399-4

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Es kann jedoch keinerlei Gewähr dafür übernommen werden, dass die Informationen in diesem Buch vollständig, wirksam und zutreffend sind. Der Verlag und der Autor übernehmen weder die Garantie noch die juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für Schäden jeglicher Art, die durch den Gebrauch von in diesem Buch enthaltenen Informationen verursacht werden können. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Inhalt

Prolog: Let ’Em Bleed

Kapitel 1 Kindheitstage

Kapitel 2 Hinter dem Beat

Kapitel 3 No Direction Home

Kapitel 4 Schatten und Licht

Kapitel 5 Free Music – aber bitte britisch!

Kapitel 6 Organisationskünstler

Kapitel 7 Die Stones im Park

Kapitel 8 Allen Klein? Nein, danke!

Kapitel 9 Beeil dich, aber warte!

Kapitel 10 Spiel die Geige, Country-Mann

Kapitel 11 Die größte Rock’n’Roll-Band der Welt?

Kapitel 12 Los Angeles

Kapitel 13 Bill Graham

Kapitel 14 Paranoia in Phoenix

Kapitel 15 Mick Taylor

Kapitel 16 Brave Mädchen müssen früh ins Bett

Kapitel 17 Free Concert

Kapitel 18 Die Family

Kapitel 19 Der König der Rechtsverdreher

Kapitel 20 Wie man ein Desaster plant

Kapitel 21 Big Apple

Kapitel 22 Heiße Fotos

Kapitel 23 Wie man ein noch größeres Desaster plant

Kapitel 24 Willkommen in Kalifornien

Bildstrecke

Kapitel 25 Die Konstruktion eines Albtraums

Kapitel 26 Eine Katastrophe bahnt sich an

Kapitel 27 Hölle auf Erden

Kapitel 28 Der Tod von Meredith Hunter

Kapitel 29 Aftermath

Kapitel 30 Ein sicherer Hafen

Kapitel 31 Jerry & Janis

Kapitel 32 Garcia

Kapitel 33 Vertraut mir – ich bin Christ!

Kapitel 34 Zeuge der Verteidigung

Kapitel 35 Yin und Yang

Kapitel 36 Tanz auf Hawaii

Kapitel 37 Bitte nur flüstern

Kapitel 38 The Bear

Kapitel 39 Auf Tour mit den Dead

Kapitel 40 Wo schwebt Jimi?

Kapitel 41 Vorsicht! Nichts anfassen!

Kapitel 42 Bitte alle einsteigen

Kapitel 43 Schnappschüsse für das mentale Fotoalbum

Kapitel 44 Wie ein Uhrwerk

Kapitel 45 Endstation

Kapitel 46 Wilde Spekulationen

Kapitel 47 Mineralwasser mit Schuss

Kapitel 48 Das Fillmore East

Kapitel 49 Europa

Kapitel 50 Out of Town Tours

Epilog Schau niemals zurück?

Danksagungen

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Zitat

Every day

We murder our dreams;

Then pick them up,

Dust them down,

Adjust their silly hats upon their heads,

Kiss them on the cheeks,

And tell them how glad we are

That they’re still alive

Sam Cutler, 1974

Prolog: Let ’Em Bleed

Anfang Dezember 1969 hatten die Rolling Stones die bis dato profitabelste Welttournee beendet und in den USA vor Tausenden von Fans gespielt. Die Tour war ein phänomenaler Erfolg gewesen, doch die Band musste sich mit einer Medienschelte auseinandersetzen, weil die Preise für Konzertkarten viel zu hoch gewesen seien. Als Antwort darauf erklärten sich die Stones bereit, ein abschließendes und kostenloses Konzert in San Francisco zu geben. „Free Concert“ lauteten die magischen Worte, denn es konnte kaum einen geschickteren Schachzug geben, um die Anschuldigungen ungezügelter und maßloser Gier zu widerlegen. Als Abschiedsgeschenk und Dank an ihr Publikum sollten die Fans die Musik genießen, ohne dafür einen Cent zu zahlen.

Und so führte uns das Schicksal zum Altamont Speedway, gelegen in dem hügeligen Gelände südöstlich von San Francisco, wo wir mit der Creme der West-Coast-Bands auftraten – und plötzlich ganz tief in der Scheiße steckten.

Wie auch die anderen Bands stürzte über die Rolling Stones eine wahre Welle der sinnlosen und brutalen Gewalt herein, denn Tausende von Fans, die wegen der Musik und der Riesenparty gekommen waren, wurden von einer kleinen Gruppe Möchtegern-Hells-Angels ohne erkennbaren Grund angegriffen.

Die ursprüngliche Intention und der gleichzeitige Traum jedes Beatniks – ein gemeinsamer Auftritt der Stones und der Grateful Dead – verwandelte sich in einem Albtraum, der einige Menschen das Leben kostete und vielen anderen einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügte. Darüber hinaus entlarvte sich die der West Coast zugeschriebene liebenswerte und hippieske Atmosphäre als Illusion und offensichtliche Absurdität einer bereits vergangenen Ära.

Das Altamont-Konzert wurde weder von den Rolling Stones noch von mir, ihrem Tourmanager, organisiert, sondern von einem losen Zusammenschluss engagierter, jedoch letztendlich verantwortungsloser Menschen aus der Community San Franciscos.

Als der Auftritt im tobenden Chaos endete, wurde den Stones zu Unrecht die Schuld daran gegeben. Ich muss seit über 40 Jahren mit dieser Schmach leben.

Es ist höchste Zeit, alle Missverständnisse aus dem Weg zu räumen und mich zu Wort zu melden. Die 300.000 Zuschauer in Altamont können sich auf einige Überraschungen gefasst machen, denn die tatsächlichen Ereignisse unterschieden sich stark von dem, was sie später aus der US-Presse erfuhren. Doch meine Geschichte endet nicht mit Altamont. Ich beschreibe in diesem Buch mein Leben als Tourmanager von zwei der größten Bands der Welt – der Rolling Stones und der Grateful Dead.

1. Kindheitstage

Ganz im Gegensatz zu Michael Philip Jagger, der in einem ganz normalen Krankenhaus geboren wurde, erblickte ich das Licht der Welt in einem prunkvollen Anwesen. Mick mag jetzt zwar einige Nobelvillen besitzen, aber nein, er wurde in keiner geboren!

Zur Welt kam ich 1943 in Hatfield House, in einem nördlichen Randbezirk Londons in der Grafschaft Hertfordshire. Das Gebäude wurde 1608 von Robert Cecil, dem ersten Earl of Salisbury, gebaut und befand sich seit diesen Tagen ununterbrochen im Besitz seiner aristokratischen Nachfahren. Allerdings fließt in meinen Adern kein blaues Blut!

Meine Ankunft in solch hochherrschaftlichen Gemäuern hatte einen einfachen Grund. Die Regierung hatte Hatfield House während des Zweiten Weltkriegs beschlagnahmt und in eine provisorische Entbindungsklinik umgewandelt, denn dieser Teil Großbritanniens interessierte die deutsche Luftwaffe kaum.

Ich wurde in das heillose Durcheinander einer Welt der zerstörten Häuser, zerrütteten Leben, Millionen von Toten und des allgemeinen Tumults geboren. Mick beschrieb die Situation in dem Song „Jumpin’ Jack Flash“ als „crossfire hurricane“. Als Reaktion auf das überall tosende Chaos herrschte eine sexuelle Freizügigkeit, die zu einem steilen Anstieg der Geburtenrate führte, während gleichzeitig viele Menschen ihr Leben lassen mussten. Es lässt sich mit einer Lotterie des Wahnsinns vergleichen, bei der ein Soldat und ein Baby ungefähr dieselben Überlebenschancen hatten.

Erst mit 15 Jahren erfuhr ich, dass meine Mutter Irländerin war und aus einer Roma-Familie aus Cork stammte. Sie hatte als Schreibkraft für die Regierung gearbeitet, während mein jüdischer Vater seinen Militärdienst bei der Royal Air Force als Mathematiker ableistete. Meine Eltern verschwanden im industrialisierten Gemetzel des Krieges. Ein Mal Pech gehabt – und schon war man raus! Durch meine Adern floss also irisches und jüdisches ebenso wie Roma-Blut.

Die Blutlinien dieser drei verfolgten ethnischen und religiösen Gruppen vermischten sich in mir und bildeten die perfekte Kombination für eine Karriere in der Unterhaltungsindustrie. Allerdings konnte ich in der Kindheit noch nichts davon ahnen. Mein kulturelles Erbe und die ungewöhnliche Abstammung waren schon immer eine Quelle der Zufriedenheit und des Stolzes für mich gewesen, denn seit frühster Kindheit wusste ich – egal, wo denn nun meine Wurzeln lagen: Ich war auf gar keinen Fall Brite!

In den Irrungen und Wirrungen der Pubertät klärte mich ein Freund der Familie über meine frühste Jugend auf. Mutter hatte alles unternommen, um das Beste aus ihrer schwierigen Lage zu machen. Sie war ein junges, strenggläubiges katholisches Mädchen, hatte ein uneheliches Kind zur Welt gebracht und lebte weit von der Familie entfernt, die mich vermutlich mit Abscheu betrachtet und ihre Tochter verstoßen hätte. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte sie den Eltern in Irland nichts von der Schwangerschaft oder der Geburt verraten.

Meine Mutter versuchte mich in London allein und im Geheimen groß zu ziehen. Doch sie konnte den gleichzeitigen Druck eines wütenden Krieges und des Überlebenskampfes mit nur wenig Geld und einem kleinen Kind nicht durchhalten. Unser Freund deutete an, dass sie mich selbstlos und mit schwerem Herzen zur Adoption freigab, um mir eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Ihr Liebhaber, also mein Vater, hatte sie sitzenlassen und war während eines Einsatzes gefallen.

Ich habe die Entscheidung meiner Mutter stets respektiert. Obwohl es mich heute noch schmerzt, unternahm ich nie den Versuch, sie aufzuspüren und zu ihr in Kontakt zu treten. Ich hoffe innigst, dass sie eine bessere Zukunft erlebt hat als viele der Iren, die in London leben. Ich kenne ihren vollständigen Namen, weiß aber nicht, ob sich noch lebt oder schon verstorben ist. Falls sie noch lebt, müsste sie mittlerweile schon über 80 sein. Im Grunde genommen gab sie viel für mich auf – Gott segne sie.

Man verfrachtete mich nach Swansea in Wales, wo ich in einem katholischen Waisenhaus landete, doch schon mit drei Jahren adoptiert wurde. Als ich herausfand, dass mein Geburtsname Brendan Lyons lautete und ich von Iren abstammte, war ich mehr als dankbar – zum Glück war ich kein Brite und hieß auch nicht Cyril!

Meine erste Erinnerung: Eine Nonne trug mich die Treppen des von Bomben schwer beschädigten Bahnhofs Marylebone hinunter und übergab mich meinen Adoptiveltern Ernie und Dora Cutler. Ich saß auf der Rückbank eines geliehenen Autos, und sie erzählten, dass sie für mich den Namen Sam ausgewählt hatten.

Während der ganzen Fahrt heulte ich Rotz und Wasser, wie mir meine Adoptivmutter später erzählte. Zu Hause angekommen, setzte mich mein Vater auf den Küchentisch, damit mich eine Gruppe seiner Freunde bestaunen konnte. Mit seiner lauten Stimme übertönte er die Gesprächsfetzen und frohlockte: „Hier ist einer, den wir vor den Katholiken gerettet haben!“

Meine neue Familie zog mich in Woodford auf, dem Wahlkreis von Winston Churchill, nahe dem Epizentrum der brutalen Bombardierung, mit der die Deutschen das Londoner East End zerstörten. Dora und Ernie hatten erlebt, wie der Albtraum des Kriegs eine einstmals aufblühende Gemeinde auseinanderriss, und wandten sich seitdem gegen jegliche Form kriegerischer Auseinandersetzungen. Meine Adoptivmutter nannte Churchill bei der ersten Begegnung einen „versoffenen alten Kriegstreiber“ und durfte von da an nicht mehr sein Wahlkampfbüro betreten.

Meine Familie verachtete Churchill und verwandelte unser Haus in die Wahlkampfzentrale der Kommunistischen Partei, die beim nächsten Urnengang gegen ihn antrat. Na ja, die Kommunisten verloren haushoch. Durch ihre politische Einstellung machten sich meine Eltern nicht sehr beliebt, besonders nicht beim Hauseigentümer, der sich benahm wie Attila, der Hunnenkönig.

Von frühster Kindheit an erlebte ich Erwachsene als Dauerleser, die ihr Buch auch nicht zum Essen weglegten. Im Haus meiner Eltern standen neben vielen anderen Büchern die gesammelten Werke von Marx und Engels, Lenin, Stalin und Mao, praktisch jeder Schinken aus dem linken Spektrum, der in einer Club-Edition erschienen war. Allerdings besaßen wir weder Trotzki noch die Bibel.

Ständig kamen und gingen Besucher, und wahrscheinlich hätten die „Roten“ sich auch noch unter die Betten verkochen, wenn sie gewusst hätten, dass dort noch mehr Bücher lagerten. Wir fungierten als Gastgeber für die unzähligen Menschen, die zeitweise der Partei angehörten. Sie schliefen, wo immer sie einen Platz fanden, und debattierten die großen Fragen der Zeit mit Intelligenz und Eifer.

Doch neben den Menschen und den Büchern gab es auch noch die Musik! Musik für die Leute und von ihnen aufgeführt. Ich erinnere mich liebend gerne an die wunderbaren Partys, auf denen die versammelten Erwachsenen selbstgebrautes Bier tranken und voller Inbrunst Volkslieder, Shanties und politische Stücke sangen. Während der Nachwuchs anderer Eltern Kinderliedchen lernte, wurde ich mit Gewerkschaftssongs, Lobeshymnen auf Stalin und die Rote Armee und einigen Stücken aus dem Gesangbuch unseres Wahlbezirks aufgezogen. Die Erwachsenen versammelten sich um das von meiner Mutter gespielte Klavier und sangen beherzt bis in die tiefe Nacht. Man müsste eigentlich annehmen, dass ich die Texte dieser obskuren Politsongs nach zahlreichen LSD-Trips und den Erfahrungen in den Drogen-geschwängerten Sixties vergessen hätte, doch bis zum heutigen Tag klingen sie wie Echos aus dem entfernten Land meiner Vergangenheit.

Meine Familie veranstaltete häufig Gedenkfeiern für die Menschen, die ihr junges Leben für das Ziel einer spanischen Republik gelassen hatten. Sie kämpften für die legitime Regierung von Spanien und wurden von der vereinten Streitmacht der deutschen und italienischen Armee niedergemetzelt, die die Faschisten unterstützte. Die Erinnerungen an den spanischen Bürgerkrieg ermahnten die Erwachsenen an ihre eigene Verantwortlichkeit und bedeuteten ihnen sehr viel. Sie brachten einen Toast auf die Republik aus und schrien: „Viva!“

Unser Vermieter bezeichnete meine Eltern einmal als „verfluchte Heiden“, woran ich mich nur allzu deutlich erinnern kann, doch uns war das egal. Das Christentum betrachteten sie als ein verachtenswertes Instrument zur Unterdrückung der Leichtgläubigen, Schwachen und Schutzlosen. Weihnachten wurde in meiner Kindheit wie ein altes und größtenteils sinnloses Fest der Ungläubigen zelebriert, wohingegen die Erwachsenen Silvester lautstark und gut gelaunt feierten. Wir durften sogar bis Mitternacht aufbleiben, aber dann brachten sie uns schnell ins Bett. Bei den Feiern spielte die Musik eine zentrale Rolle, und das Highlight war immer, wenn Mum „The Socialist Sunday School“ sang, dessen Text ich nicht vergessen habe.

Die Sonntagsschulen der Sozialisten wurden als Gegenpol zu den kirchlichen Institutionen gegründet. Man eröffnete die Unterrichtstunden mit folgendem Leitspruch: „Wir wollen gegenüber allen Männern und Frauen gerecht sein und ihnen Liebe geben, wie Brüder und Schwestern gemeinsam arbeiten, jedes Lebewesen mit dem gebührenden Respekt behandeln und somit eine neue Gesellschaftsform erschaffen – die auf Gerechtigkeit gegründet ist und deren oberstes Gebot Liebe lautet.“

Auch am Ende einer Zusammenkunft hörten wir ein abschließendes Credo: „Wir haben uns in Liebe getroffen. Lasst uns in Liebe scheiden. Mag nichts Unwürdiges die Sanftheit und das Schöne dieses guten Tages stören oder beflecken. Lasst uns die Zeit bis zum nächsten Treffen ehrenwert verbringen. Lasst uns die Tore und die Mauern der Stadt des reinen Herzens errichten.“ Bedauerlicherweise eröffnete und beschloss ich die Meetings mit den Grateful Dead nicht mit diesen Zeilen. Vielleicht hätte das einen Unterschied gemacht!

Dora erzog mich ganz im Sinne der sozialistischen Sonntagsschule. Allerdings muss ich zugeben, dass ich nicht nach ihren Lehren lebte, obwohl ich es versucht habe. Trotzdem spielten diese Ansätze eine tragende Rolle in meiner Lebensführung. Die sozialistischen Prinzipien sind eine wichtige Orientierungshilfe in einer Welt der ungezügelten Gier, des Profitstrebens, das über allem anderen steht, und der Zerstörung unseres wunderbaren Planeten.

Ernest George Cutler, mein Adoptivvater, litt an Osteomyelitis, einer schreckliche Krankheit, bei der sich die Knochen zersetzen. Vor der Entdeckung der Antibiotika verursachte das Leiden große Schmerzen und führte zu einem qualvollen und schmerzhaften Tod. Seine Beine und der Brustkorb waren von hässlichen Narben übersät, da die Chirurgen verzweifelt versucht hatten, das Fortschreiten der furchtbaren Krankheit einzudämmen. Vater zeigte mir seinen malträtierten Körper, um zu erklären, dass ich aufgrund dieser Verletzungen nicht mehr in sein Bett kommen durfte, um mit ihm zu kuscheln. Er starb 1951, als ich gerade acht Jahre alt war.

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich nur die Reichen Antibiotika leisten. Menschen aus der Arbeiterklasse war es versagt, am „Luxus“ der fortgeschrittenen Medizin teilzuhaben. Mein Vater starb, da die Behandlung nur den wenigen Privilegierten vorbehalten war. Diese grausame Ungerechtigkeit zerriss Mutter das Herz, denn sie hatte ihren Mann innig geliebt und während aller Qualen und Prüfungen des Lebens begleitet und unterstützt. Durch solche Erlebnisse entwickelte sich meine Mutter zu einer Revolutionärin, doch damals war ich noch viel zu jung, um das zu verstehen.

Noch viele Jahre nach seinem Tod bewahrte ich eine alte Tabaksdose zum Gedenken an meinen Vater auf. Er rauchte Balkan Sobranie in einer langen Holzpfeife, hatte jedoch infolge der Krankheit zunehmend Schwierigkeiten, den Deckel abzuschrauben. Die Dose wurde eins meiner wichtigsten, fast schon geheiligten Erinnerungsstücke aus der Kindheit, die ich sorgsam behütete.

Meine Großmutter mütterlicherseits war die einzige Person in unserem Haushalt, die auf Erfahrungen mit der Kindererziehung zurückblicken konnte, denn sie hatte drei Töchter und einen Sohn. Jeder nannte sie Tillie, eine Kurzform für Matilda. Sie rauchte Capstan Full Strength, die damals stärkste Zigarettenmarke. Ständig steckte eine Kippe zwischen ihren Lippen, und die Asche fiel auf den Boden. Ihre Oberlippe hatte sich leicht bräunlich verfärbt, und auch in dem silbrig grauen Haar zeigte sich genau an der Stelle ein dunkler Streifen, wo der Zigarettenqualm herzog. Ich habe niemals wieder einen Menschen getroffen, der so viel rauchte!

Als ich noch sehr jung war, badete sie mich, und auch während dieser Prozedur hing eine Kippe zwischen ihren Lippen. Sie wurde 96 Jahre alt!

Meine Mutter Dora arbeitete für die Gewerkschaft, die die Angestellten der britischen Regierung vertrat, bekannt als Civil Service Clerical Association (CSCA). Die CSCA setzte als erste Gewerkschaft die gleiche Entlohnung für Männer und Frauen durch, was Mum verdammt stolz machte. Sie verdiente sich den Lebensunterhalt als Sekretärin des Herausgebers der Gewerkschaftszeitung Red Tape. Darüber hinaus organisierte sie die jährliche Versammlung, die in Prestatyn im Norden von Wales abgehalten wurde. Einmal im Jahr verschwand sie für zwei Wochen zu dem Treffen. Dora verschrieb sich mit ganzer Seele der Gewerkschaft und war wohl die radikalste Frau, die ich kannte. Allerdings hatte sie Schwierigkeiten, mir ihre Zuneigung zu zeigen. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mich jemals in die Arme nahm und feste drückte, obwohl ich mir sicher bin, dass sie mich auf eine bestimmte Art liebte. Nach dem Tod meines Adoptivvaters Ernie war sie gezwungen, mich in die Obhut anderer zu geben, weil sie trauerte, aber trotzdem ihrer Arbeit nachgehen musste. Ken und Joan Hoy, Kameraden von Ernie in der Kommunistischen Partei, wurden meine Ersatzeltern. Sie lebten in derselben Straße, der King’s Avenue in Buckhurst Hill, Essex, östlich von London, nur vier Häuser von uns entfernt.

Im Krieg diente Ken als Bomberheckschütze. Er saß im „Arsch“ des Bombers, im hintersten Ausguck, stellte also die ideale Zielscheibe für die deutschen Abfangjäger dar, und bediente das schwere Maschinengewehr. Seine Crew hatte die höchste Todesrate der gesamten Royal Air Force, doch er sprach niemals über seine Erlebnisse. Später las ich mal, dass die Bodenmannschaft die sterblichen Überreste der Heckschützen nach der Rückkehr von den Einsätzen praktisch mit dem Wasserschlauch wegspritzen musste, da die Körper infolge des feindlichen Feuers nur noch – bitterböse und fatalistisch ausgedrückt – als Hackfleisch zu bezeichnen waren! Ken wusste, dass er verdammt viel Glück gehabt hatte, den permanenten Kugelhagel zu überleben. Nach dem Krieg absolvierte er eine Lehrerausbildung. Während er und Joan auf mich aufpassten, musste ich als Testperson für seine Essays herhalten, die er während des Studiums schrieb.

Die Freizeit vertrieb er sich als Hobby-Ornithologe, er konnte mit einem beachtlichen Wissen aufwarten. Wir unternahmen tagelange Spaziergänge durch die Wälder, „bewaffnet“ mit alten Ferngläsern aus dem Zweiten Weltkrieg. Er half mir, Vögel zu erkennen, Dachsspuren zu lesen und die Pflanzen in Hecken zu bestimmen, die dem Kundigen verrieten, wann sie angelegt worden waren. Für einen kleinen Jungen stellte er eine unerschöpfliche Quelle des Wissens dar. Ken lässt sich als ein sanfter und sensibler Mann beschreiben, die Güte in Person, dessen Naturliebe sich auf mich übertrug und meinem ungeregelten Leben Stabilität gab.

Seine Frau Joan war Mode-Designerin, die junge Leute, die in der Bekleidungsindustrie arbeiten wollten, in Musterkunde unterrichtete. Für mich war sie eine glamouröse Frau, doch auch andere schätzen ihre außergewöhnliche Klugheit und Attraktivität. Ken war schon ihr dritter Ehemann, was mich schlussfolgern ließ, dass sie schon einige Herzen gebrochen hatte. Man kann sie in der Radikalität mit meiner Mutter vergleichen, und vielleicht reagierte sie manchmal noch aufbrausender. Bei hitzigen Debatten mit Kameraden zerwühlte sie sich manchmal die Haare, wenn ein männlicher Kontrahent den Versuch unternahm, sie nur wegen ihres Geschlechts zu belehren.

Joan kämpfte für ihre Ansichten und Ideale. Sie nahm mich mit zu Demonstrationen, bei denen sie immer in der ersten Reihe stand, Kampfparolen schrie, aber mir gleichzeitig auch die Angst nahm. Ich erinnere mich an eine Kundgebung in Whitehall, nahe dem Kenotaph. Es war der Höhepunkt der Suez-Krise, wir beide standen mitten in der Menschenmenge. Die Londoner Dockarbeiter kämpften unter der Leitung des Kommunistenführers Jack Dash mit aller Gewalt gegen die berittene Polizei, und wir liefen Gefahr, von den durchgehendenden Pferden niedergetrampelt zu werden. Joan schloss mich ganz fest in ihre Arme und zerrte mich aus der Menge, weil jeder panisch aus dem Menschenauflauf zu entkommen versuchte. Ich hatte unglaubliche Angst, aber sie lachte und brachte mich dazu, die Dockarbeiter anzusehen – sie hielten zusammen und waren gemeinsam stark. Im ruhigen Ton erklärte sie mir, dass alle Angst verspürten – natürlich! Doch mit einem Kameraden an seiner Seite könne jeder dieses negative Gefühl zugunsten eines größeren Ziels unterdrücken und nicht an sich selbst denken, sondern für die anderen handeln. Sie sagte: „Denke daran, Sam – Geschlossenheit und Einigkeit bedeutet Stärke!“

Ich war zu dem Zeitpunkt zwölf.

Joan war die erste Frau, die ich liebte, und in meinen frühpubertären Phantasien träumte ich davon, dass dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit beruhe. Ich lebte für die Momente, in denen sie mich mit einem frohen und heiteren Lachen ganz fest an ihre Brüste presste und mich herzlich drückte. Ich verehrte Joan und auch Ken, denn die beiden waren das wunderbarste Paar, das ich kannte. Durch ihre liebenswerte Güte gelang mir der schwierige Übergang von einem Jungen zu einem Mann, noch bevor ich die körperliche Reife erlangt hatte.

Man kann mich als einsames Kind beschreiben, und im Rückblick wird mir klar, dass die Erfahrungen vor der Adoption mich zutiefst verstört und traumatisiert hatten. Ich erinnere mich an nichts mehr, trage aber die Narben des früheren Lebens tief in meinem Herzen. Als einziges Kind, fast immer nur von Erwachsenen umgeben, sehnte ich mich nach einem Bruder, einfach jemanden, mit dem ich spielen konnte. Ich erlebte niemals die ganz normale Kindheit, in der die Freizeit und das Spielen im Vordergrund stehen. In vielerlei Hinsicht war ich schon vor der Teenager-Zeit erwachsen geworden, wollte jedoch mit der Welt der Erwachsenen nichts zu tun haben.

Gegenüber von Ken und Joans Haus auf der King’s Avenue stand eine elisabethanische Jagdhütte, die so aussah, als wäre sie seit ihrer Errichtung vor Hunderten von Jahren – als die ganze Gegend noch ein riesiges Waldstück war – noch nie repariert worden. Elisabeth I. hielt sich in Hatfield House auf, dem Ort, an dem ich geboren wurde, als sie die Nachricht erhielt, dass sie den Thron besteigen werde. Sie hatten in den Wäldern gejagt, in denen ich spielte, und sogar in dieser Jagdhütte übernachtet, auf die ich direkt blickte. Dass das Adoptivkind einer ultralinken Familie eine solche Gleichzeitigkeit erlebt, verunsicherte mich in meinen jungen Jahren und gab mir zu denken.

Ich zog mich genau in diese Jagdhütte zurück, wenn ich der Welt entfliehen wollte. Ich kannte jeden Raum bis ins Kleinste, sogar das Gemach, in dem Königin Elisabeth I. geschlafen haben musste. Mich beschlich das Gefühl, dass ich noch vor meiner Geburt in der Hütte gewesen war, was ich nicht verstehen konnte und was mich beängstigte. Ich hielt immer ein Auge auf, um meinen eigenen Geist zu erspähen. Viele Jahre später enträtselte sich das Mysterium, als Königin Elisabeth I. unter eher merkwürdigen Umständen wieder in mein Leben trat! Bei einem erinnerungswürdigen LSD-Trip während eines Grateful-Dead-Konzerts träumte ich von einer früheren Inkarnation. Ich stand hinter Jerry Garcias Verstärker, die Gage der Band sicher in meiner Brieftasche verstaut, entspannte mich und wurde high. Das LSD waberte durch die Gehirnwindungen in mein Bewusstsein, und ich sah mich als im Geiste als einen ins britische Königreich zurückkehrenden Piraten, der einen kostbaren Schatz mit sich führte; er stammte von den spanischen Galeonen, die ich geentert und versenkt hatte. Ich übergab Königin Elisabeth die Hälfte der Beute; sie schlug mich zum Ritter und verlieh mir ein 40 km² großes Anwesen in Buckinghamshire. Oh ja, so war das damals, in jenen glorreichen Tagen. Ein anständiger Kerl konnte es im Elisabethanischen Zeitalter zu etwas bringen. Aber auch genauso schnell seinen Kopf verlieren!

Ken und Joan wussten nicht, dass ich als Kind durch die Jagdhütte streunte, da ich jeden Abend wieder zu ihnen zurückkehrte. Ich wieder­um hatte nichts davon erfahren, dass meine verwitwete Mutter einen Mann namens Mel, ein Waliser aus Merthyr im Rhonda Valley, immer häufiger traf.

Mel hatte die Universität in Southampton besucht und war bei Ausbruch des Krieges zur Armee gegangen. Er verbrachte die Kriegsjahre damit, während der Gefechtsausbildung Maschinengewehrsalven über die Köpfe verängstigter Soldaten zu feuern, die verzweifelt versuchten, die Cliffs in Ilfracombe zu erklimmen. In dieser Zeit brachte er es bis zum Sergeant.

Nach 1945 engagierte sich Mel in der Kommunistischen Partei und der Gewerkschaft, wo er meiner Mutter begegnete. Kurz darauf gaben sie ihre Heiratsabsichten bekannt, was Mum als Gelegenheit sah, die Familie wieder zu vereinen. Ich sollte Ken und Joan verlassen und nach Hause zurückkehren. Sie und Mel planten, in einen der Vororte Londons zu ziehen. Ich sträubte mich gegen Mums Umzugspläne, die eine Trennung von Buckhurst Hill und den Menschen, die ich so innig liebte, bedeuteten. Ich entwickelte mich zu einem verdrießlichen Typen, einem jungen Mann, der nur wenig sprach – halt ein typischer Teenager.

Teenager zählten damals zu einer gerade neu entdeckten „Spezies“. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es sie noch nicht als soziologisch definierte Gruppe. Wir waren ein neuer „Stamm“, dessen Balzverhalten und dessen zwischenmenschliche Beziehungen das uneingeschränkte Interesse der Gelehrten auf sich zogen. Man studierte uns ausgiebig und aufmerksam, und unsere „soziopathologischen Auffälligkeiten“, wie zum Beispiel die Partys, sorgten im Parlament für viel Gesprächsstoff. Wir hatten unseren eigenen, verschrobenen Dialekt, den wir aus den Mundwinkeln herauspressten, so dass nur Eingeweihte sich untereinander verständigen konnten. Wir entdeckten sogar unsere eigene Musik, die unter Garantie die Erwachsenen anwiderte. Aus uns wurden Philosophen, die über die Zeitgeschehnisse diskutierten, aber nie zu einer gemeinsamen Haltung fanden, und wenn uns jemand nicht glich, war er für uns tot – oder sollte vor die Hunde gehen. Eigentlich hatte sich nicht viel geändert, doch wir „erfanden“ den Teenager.

Dora und Mel versuchten ihr Bestes, um den gegen jegliche Vernunft argumentierenden Marsmenschen in ihren Haushalt zu integrieren, doch ich verachtete meinen neuen Vater, der mir nichts recht machen konnte. Er war eigentlich ein ganz anständiger Kerl und hatte meinen Widerstand nicht verdient – bis auf die Tatsache, dass er morgens beim Teekochen ständig das alte Varieté-Lied „Martha, Rambling Rose Of The Wildwood“ singen musste. So was war doch nicht zum Aushalten!

Jeden Morgen um genau sieben Uhr hörte ich ihn in seinen Hausschuhen die Treppe hinunterschlurfen, wonach er Wasser in den Teekessel füllte und dabei dieses höllische Lied sang. Wutschnaubend zog ich mir die Bettdecke über den Kopf – immer dasselbe Liedchen zur genau gleichen Zeit. Monströs! Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich so lange wie möglich im Bett blieb, um weder Mum noch Mel zu begegnen, die glücklicherweise schon bald zur Arbeit gingen.

Meist zog ich mich in mein Zimmer zurück, um nicht die Farce, die Mum eine Ehe nannte, mitzuerleben und das ach so idyllische Familienleben, das sie mir bieten wollten. Wie alle Frischvermählten verhielten sie sich übermäßig aufmerksam, was die Zipperlein oder Wünsche des anderen anbelangte. Sie bei dem spießigen Rollenspiel zu beobachten kotzte mich nur an.

Ich sehnte mich danach, endlich erwachsen zu werden, und versank zwischenzeitlich in tiefem Selbstmitleid. Als besonders abscheulich empfand ich das neue Haus, in das ich gegen meinen Willen eingezogen war. Den Traum meiner Eltern von einem Eigenheim teilte ich sicherlich nicht – damals wie heute. Obwohl in all den Jahren so viel Geld durch meine Hände geflossen war, dass mir einige dieser Buden hätte anschaffen können, bin ich nie stolzer Hausbesitzer geworden.

Wir hatten uns in einer kleinen Kiste mit einem erstickend kleinen Grundstück niedergelassen. Das Gebäude verfügte über drei Zimmer und lag in einer Sackgasse im vorstädtischen Croydon, im Süden Londons. Die anliegenden Häuser standen nur einen Meter weit entfernt. An der kurzen, ansteigenden Straße lagen beidseitig fünf dieser Miniaturpaläste mit kleinen Auffahrten, die mich an die Zitzen einer säugenden Sau erinnerten. Ich hasste den Ort mit all meinem ungebändigten Zorn. Ich hasste das Zuhause, die Schule, Großbritannien und konnte es nicht erwarteten, alle drei hinter mir zu lassen.

Jedes Buch bestärkte mich in der Absicht, dorthin zu flüchten, wo Menschen im Genuss und mit Leidenschaft lebten, wo sie Ideen aus dem geschmolzenen Stahl ihrer Überzeugung schmiedeten. Bücher wie Roter Stern über China: Mao Tse-tung und die chinesische Revolution [Edgar Snow], Die Menschenfreunde in zerlumpten Hosen [Robert Tressell] und Willie Gallachers Rise Like Lions [es liegt keine deutsche Übersetzung vor] stellten für mich eine Art Ruf der Sirenen dar, der mein sich entwickelndes politisches Bewusstsein ansprach.

Ich verschlang immer mehr Bücher, wurde immer deprimierter und äußerte mich nur noch zynisch über Großbritannien. Amerikanische Musik und amerikanische Literatur standen bei mir an oberster Stelle, und ich wollte so dringend in dieses Land meiner Träume, dass ich beinahe körperliche Schmerzen verspürte.

Auch Mutter liebte die Werke amerikanischer Autoren. Obwohl wir kaum mehr miteinander redeten, verband uns wenigstens der Trost, dass wir über diese Bücher diskutieren konnten.

„Lies das doch mal“, riet mir Mum und gab mir Bücher wie zum Beispiel Straße zur Freiheit [Peekskill USA] von Howard Fast. Ich ging auf mein Zimmer, wo ich mich für verdammt clever hielt, Zigaretten bei geöffnetem Fenster zu paffen, im Irrglauben, dass Mutter den Tabakqualm nicht riechen werde. Ich wollte endlich den Dschungel, die Schlachthöfe Chicagos, sehen, dorthin gehen, wo Upton Sinclair gewesen war, die Weißen treffen, die sich in Peekskill selbstlos vor dem Sänger und Aktivisten Paul Robeson aufgestellt hatten, damit ihm die Faschisten keinen Schaden zufügen und er für die Menschen singen konnte. Ich wollte endlich lautstark „Hallelujah, ich bin ein Penner“ singen und meine Freiheit auskosten. Ich wollte „Auf welcher Seite steht du?“ schreien und für mich herausfinden, zu wem ich eigentlich gehörte, denn in Großbritannien gab es rein gar nichts, das mich anzog.

Doch vor allem wollte ich nach Kalifornien reisen und mir all die Schauplätze ansehen, die Woody Guthrie in seinen Songs besang – das unermesslich große Land der Träume erleben, diese „Pastures Of Plenty“. Doch erst mal steckte ich im miefigen Croydon fest.

2. Hinter dem Beat

Als meine Schamhaare zu sprießen begannen und die Hormone ihren wilden Tanz in meinen Blutkreislauf veranstalteten, begann ich von Mädchen zu träumen. Wenn ich nicht las, masturbierte ich, und wenn ich mal nicht masturbierte, hörte ich Musik und spielte Gitarre. Bücher, Musik und Sex waren ein ständiger Freizeitspaß, und das Zimmer wurde zu meinem Refugium. Ich sehnte mich vom ganzen Herzen danach, endlich auszuziehen, doch zuerst – ob ich es mochte oder nicht – musste nach dem Gesetz die Schule beendet werden.

Alkohol und Jazz retteten mir den Verstand. An Samstagabenden traf ich mich mit meinem älteren Kumpel Kelly in einem Pub in West Croyden, wo wir uns Interpreten wie zum Beispiel die beiden bekannten britischen Jazz-Musiker Humphrey Lyttelton und Ken Colyer anhörten. Als Spezialität des Hauses servierte man uns das „tödliche“ Mixgetränk aus Guinness und Cidre, auch bekannt als „Black Velvet“, und nachdem ich einige gehoben hatte, ging es auf die Tanzfläche, um mit Mädchen eine flotte Sohle aufs Parkett zu legen. Kelly hatte mit dem Tanzen nichts am Hut, und wenn er mit Mädchen reden sollte, wurde er total nervös. So hing er an der Bar und „holte alles ran“, wie er es nannte. Das passte mir natürlich gut in den Kram, da ich wegen meines Alters noch keine alkoholischen Getränke bestellen durfte, obwohl mich das nicht davon abhielt, an diesen Abenden einige Bier zu kippen. In dem Pub in West Croydon, an dessen Namen ich mich um alles in dieser Welt nicht erinnern kann (The Croydon Arms?), sah ich zum erstem Mal die britische Blues-Größe Alexis Korner. Er spielte Banjo in Ken Colyers Band.

In dem Pub wurde ich zum ersten Mal high, wofür ich einigen Musikern danken möchte! In einem eingezäunten Hinterhof des Ladens standen die ganzen Bierfässer und die Tische, die der Besitzer raus­gestellt hatte, um Platz für die Tanzfläche zu schaffen. Schnell merkte ich, dass sich die Band in den Pausen dorthin zurückzog. Nachdem sie ihre In­strumente abgelegt hatten und draußen Luft schnappten, ging ich in den Hof, um mich mit ihnen zu unterhalten. Sie behandelten mich mit einer gewissen Distanz, die alle Musiker wahren, wenn sie mit ihren Fans reden. Da ich noch viel zu jung war, um in ihr Revier einzudringen, störte sich niemand an mir. Sie qualmten ihre Joints, als wäre es die natürlichste Sache auf der Welt.

Die Musiker ließen den Joint kreisen, jeder zog daran, und dabei unterhielten sie sich, ohne mich in das Gespräch einzubinden. Es war eine völlig entspannte Atmosphäre. Ich lehnte mich lässig gegen die Wand, um so richtig cool zu wirken. Wer auch immer der Mann war, der mir den Joint gab – er schaute mich dabei noch nicht einmal an und reichte mir die Wundertüte, während er angeregt mit seinen Freunden plauderte. Ich sagte kein Wort, folgte dem Ritual, das ich beobachtete hatte, ließ mir Zeit und nahm einige tiefe Züge, bevor ich den Joint weiterreichte. Doch nichts geschah, was mich ziemlich enttäuschte. Wenige Minuten später hielt ich einen neuen Joint in der Hand. Er schien stärker zu sein. Die Musiker verließen den Hof, um ein weiteres Set zu spielen, und ich verharrte wie angewurzelt auf der Stelle. Ich brauchte einige Zeit, bis mir klar wurde, dass sie schon gegangen waren. Benebelt schlich ich mich in den Pub zu Kelly. Nachdem ich mich durch die Menge gequetscht hatte, merkte ich, dass ich wegen der Geräuschkulisse kaum mit ihm sprechen konnte. Die Musik der Band dröhnte im ganzen Raum, der mir jetzt viel wärmer vorkam, und irgendwie funktionierte die Koordination zwischen meinem Gehirn und dem Mund auf einer anderen Zeitebene. Kelly und ich setzten uns an einen Tisch und beobachteten die Leute in dem brechend vollen Laden. Ich blickte auf die Tanzfläche und dachte, meine Zunge sei angeschwollen. Saß ich hier im falschen Film? Das Bier schmeckte grässlich, die Frauen waren nicht attraktiv, und Kelly wirkte wie ein Außerirdischer. Meine Nase kribbelte wie wild, ich hatte das Gefühl, jede Sekunde niesen zu müssen. Ich atmete durch den Mund und nippte teilnahmslos am Bier. Hier stank es doch wie in der Hölle! Ich murmelte einige unverständliche Worte und verzog mich aufs Klo, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Dort stand ich neben einem wahren Hünen und war geschockt, denn trotz des ätzenden Gestanks des Urinals konnte ich seinen Geruch noch wahrnehmen. Ich lachte in mich hinein, weil mein Zinken plötzlich so sensibel war wie der eines Hundes. Zugleich verwirrte mich diese Erfahrung. Ich drängelte mich erst mal raus aus dem Pub, um frische Luft zu schnappen. Um nach Hause zu kommen, musste ich ganze vier Meilen gehen, aber trotzdem entschuldigte ich mich bei Kelly unter irgendeinem Vorwand und machte mich auf den Weg.

Der Nachgeschmack des Biers war echt schrecklich. Ich hätte alles in der Welt für ein Glas Wasser gegeben. Doch als ich die frische Luft gierig einsog, fühlte ich mich schon lebendiger. Auf dem Weg dachte ich über meine Lebenssituation nach. Ich musste noch fast ein Jahr in der Schule über mich ergehen lassen, da Mutter mir das unumstößliche Versprechen abgerungen hatte, dass ich von dem Laden erst mit 16 abginge. In der Zwischenzeit – bevor ich mein Zuhause, die Schule und Großbritannien verlassen konnte – brauchte ich eine sinnvolle Beschäftigung. Mir fehlte einfach die Lebensfreude. Ich ging zügiger, und plötzlich erschien mir Croyden, das ich bislang verabscheut hatte, gar nicht so schlecht zu sein. Beim Gedanken, nun ein Kiffer zu sein, bekam ich sofort gute Laune. Doch ich wusste nicht, wo man sich das neu entdeckte Lebenselixier besorgte. Aber das sollte mir vorerst egal sein. Zumindest hatte ich eine Aufgabe und musste nicht an der Theke abhängen, ein Bier nach dem anderen kippen und von der Bedienung träumen.

Ja, in diesem zarten Alter wurde aus mir ein waschechter Kiffer. Bis zum heutige Tag bin ich davon überzeugt, dass ich nur so das letzte, quälend langweilige Jahr in der Schule überstand. Ich steckte in der Klemme und musste auf meine Zeit warten. Ich redete wenig, las so viel wie möglich und hörte die ganze Zeit über Musik. Nach dem Jazz interessierte ich mich für den Blues, der schnell von Gene Vincent und Elvis Presley abgelöst wurde. Fast mühelos fand ich den Weg zu dem, was ich liebte.

Ich besuchte öfter einen Freund und nahm immer meine Gitarre mit. Er war ein großartiger Fingerpicking-Gitarrist; während wir uns einen Joint teilten, zeigte er mir einige Blues-Licks. Damals lebte er bei seiner Mutter Jeannie, einer wirklich scharfen Lady britisch-indischer Herkunft, die in der Vergangenheit in Londons Windmill Theatre als Tänzerin gearbeitet hatte. Wenn sie von der Arbeit kam, wurde sie von zwei kichernden Teenagern empfangen, die ihren Spaß hatten.

Manchmal tanzte sie zu unserem Gitarrenspiel. Während mein Blick über ihren Körper glitt, wurde mein Mund immer trockener. Ich begehrte sie, doch ich hätte niemals mit meinem Freund darüber reden können. Ich wollte von ihm so viel wie möglich über das Gitarrenspiel erfahren und ihn bloß nicht verärgern. Ein Spruch wie „Ich stehe auf deine Mutter, und, ach ja, wie greift man einen F-Dominantsept-Akkord?“ wäre wohl nicht klug gewesen.

Der Einzige, mit dem ich über meine Gefühle reden konnte, war ein Kumpel namens Brian. Schon bald machte ich mich auf den Weg zu seinem Haus, um ihm von meinem sexuellen Frühlingserwachen zu berichten. Wir hockten uns in sein Zimmer, und während Brian einen Joint kurbelte, versuchte ich ihm von Jeannie zu erzählen, doch ich kam nicht zu Wort, weil Brian wortgewandt von einem Buch schwärmte. Ich hörte aufmerksam zu, als er mir von den Figuren und der Handlung erzählte. Es handelte von den USA und zog mich augenblicklich in den Bann.

Brian überreichte mir feierlich Jack Kerouacs On the Road.

Ich ging nach Hause, machte es mir in meinem Zimmer bequem und begann mit der Lektüre. Es war für mich eine unvergleichliche Offenbarung. Zum ersten Mal hielt ich ein Buch in Händen, das einen Neubeginn schilderte, das die Lust des Aufbruchs und des Reisens beschrieb – all das, was ich mir schon immer gewünscht hatte, was ich schon als kleines Kind verwirklichen wollte. On the Road handelte von Jazz, Sex, Dope und von der Hoffnung. Ich war mir sicher, in diesem ruhelosen Romantizismus die Vorlage eines Lebensentwurfes für mich gefunden zu haben, und liebte jede einzelne Seite mit zügellosem Enthusiasmus. Das Werk überragte alles, was ich bis zu dem Zeitpunkt gelesen hatte.

On the Road war das erste Buch, in dem ein Drogenrausch beschrieben wurde. Mich beruhigte die Tatsache, dass auch andere kifften und dann sogar noch Werke darüber verfassten. Schnell erkannte ich, dass der Erzähler Sal Paradise, in der Handlung ein Schriftsteller, den schwierigen, aber trotzdem magischen Dean Moriarty liebte. Ich sehnte mich nach einem Menschen in meinem Leben, der solch eine Magie ausstrahlte. Nachdem ich erst mal Dean Moriarty zu meinem Helden auserkoren hatte, überraschte mich nichts und niemand mehr. Alles schien möglich.

Durch dieses Buch inspiriert, wollte ich die USA von Küste zu Küste bereisen, immer weiter westwärts fahren, bis die Brandung des Pazifiks meine Knöchel umspülte. Ich wollte in zwielichtigen Kaschemmen mit durchgeknallten Typen kiffen, mich ohne Ziel treiben lassen, einfach die pure Lebenslust spüren und alles genießen, was ich sah und erlebte – und später dann nach Mexiko City fahren. In dem Buch wurde aus einer Reise durch die USA mit hoher Geschwindigkeit die Metapher für eine Reise ins Innerste der Psyche.

Bis zum heutige Tag gehört On the Road zu den wenigen Romanen, die ich von vorne bis hinten gelesen habe, ich hielt inne und machte weiter – drei Mal. Nach der Lektüre erkannte ich, dass ich ein „Beatnik“ bin. Oder, um genau zu sein, ganz nach dem Vorbild des Werks ein Beat werden wollte.

Jahre später erfuhr ich, dass die Figur des Dean Moriarty aus On the Road auf Neal Cassady basierte, dem Freund des Schriftstellers Ken Kesey, der den Bus der Merry Pranksters fuhr. (Die Pranksters waren eine Gruppe von Freigeistern und Suchenden, die sich 1960 um Kesey scharten.) Die Grateful Dead kannten Neal Cassady und hielten große Stücke auf ihn. In der Zukunft sollte ich mich also um eine Band kümmern, die tatsächlich einem meiner Helden begegnet war! Um mich frei entfalten zu können – und das wollte ich dringend –, musste ich die Schule aufgeben und verdammt noch mal aus Großbritannien verschwinden.

Die Aussicht, genau wie mein Vater ein Lohnsklave zu werden, erfüllte mich mit großer Angst. Soweit ich es einschätzen konnte, sahen die Lehrer in mir einen Handwerker mit großem Potenzial, vielleicht einen Klempner, der seinen Lebensunterhalt mit der Scheiße anderer verdient. Doch das wollte ich auf gar keinen Fall, vielen Dank auch! In bester Teenager-Manier suchte ich mit finsterem Blick nach Alternativen, die mir ein Leben mit einen Minimum an Arbeit ermöglichten. Tja, Lebensentwürfe, die sich auf Sex und Musik stützten, waren nicht allzu leicht zu finden, und so dachte ich an einen Job in der Unterhaltungsindustrie, denn dort gab es eben Sex und Musik – meine wichtigsten Freizeitbeschäftigungen – im Übermaß. Glaubte ich zumindest.

In der Musik, diesem schillernden Spektrum von heißen Gitarren bis zu glamourösen Frauen, lag meine Bestimmung, und dort wollte ich meine bislang unerkannten Talente verwirklichen. Das Musikgeschäft schien wie für mich gemacht zu sein. Das redete ich mir ständig ein. Dort schätzte man die Eigenschaften, mit denen ich glücklicherweise geboren wurde – natürliche Geschicklichkeit, genau die richtige Portion Charme, harte Eier wie die von King Kong, und Schultern breiter als die Strandpromenade in Brighton.

Zu der Zeit war ich noch blauäugig und erkannte nicht, dass die Scheiße anderer Leute mein Leben auf eine albtraumhafte Art überschwemmen würde, noch lange nach der Schulzeit. Die Lehrer hatten mir ja unmissverständlich prophezeit, dass Scheiße meinen Job bestimmen werde! Als ich mich auf das Musikgeschäft einließ, wurden die Probleme der anderen unausweichlich zu meinen eigenen, was es das Sprichwort audrückte: „Es ist immer die gleiche Scheiße, nur mit anderen Fliegen!“ Außer ihnen die Ärsche abzuwischen und die Zähne zu putzen, habe ich wirklich alles für die Musiker gemacht. (Allerdings sollten Chrissie Hynde und Marianne Faithfull in Deutschland merken, dass ich eine deutliche Grenze ziehe. Ich werde niemals in einem fremden Land Hygieneprodukte für Frauen kaufen, wenn ich der Sprache nicht mächtig bin!)

Früher jedoch faszinierten mich all die Millionen Einzelheiten und Details, die man beachten musste, um ein erfolgreiches Konzert auf die Beine zu stellen. Dort – an vorderster Front – wollte ich mein Feldbett aufstellen und für eine erfolgreiche Produktion kämpfen. Schnell entwickelte ich in Bezug auf die Arbeit einen starken Realitätssinn, da vor allem die Musiker meist nicht wussten, auf welchem Planeten sie gerade schwebten, ganz davon abgesehen, was der Begriff „realistisch“ überhaupt bedeutet. Sie hatten sich diesen Job ausgesucht, um ihre Träume wahrzumachen und sich nicht mit den unbedeutenden Nichtigkeiten des ganz normalen Lebens rumzuschlagen. Ihre Devise lautete: „Die Realität ist was für Leute, die nicht mit Drogen umgehen können.“

Ich erreichte mein Ziel, wurde persönlicher Tourmanager und begleitete zwei der größten Bands aller Zeiten: die unsterblichen Rolling Stones aus Großbritannien, bei denen Keith („The Man That Death Forgot“) Richards den Ton angab, und die legendären Grateful Dead aus Kalifornien, bei denen ein eher langsamer und zögerlicher Jerry („The Tainted Saint“) Garcia den Weg wies. Ich bin der Einzige, der für beide Bands in dieser Funktion gearbeitet und trotz aller widrigen Umstände überlebt hat, um meine Geschichte zu erzählen. Man muss sicherlich nicht betonen, dass hier das launenhafte Schicksal eine wichtige Rolle spielte, aber Moment mal – ich erzähle jetzt schon zu viel.