Erdbeermundallergie 

Inka Neumarkt

 

Impressum


 

Deutsche Erstausgabe
Copyright Gesamtausgabe © 2020 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

  

Cover: Michael Schubert

  

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2020) lektoriert.

  

ISBN E-Book: 978-3-95835-526-2

  

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Prolog

 

Das konnte nicht sein. Sie war bloß übermüdet.

Marge schüttelte den Kopf, rieb sich die Augen. Wahrscheinlich hatte sie Erscheinungen, Hormone, Symptome. Zum Beispiel diese Hitze, die ihr vom Bauch zum Hals zu den Ohren aufstieg. Der warme Luftzug im Nacken, der wie ein Atemhauch wirkte. Wie ein Atemhauch?

Marge erstarrte.

Jemand stand hinter ihr, stand ganz nah hinter ihr. Flüsterte, äußerst erregt, in ihr Ohr:

 

»Wie nennt man die breite Schlagseite des Hammerkopfes?«

a) Rutsche b) Bahn

c) Killer d) Hau

 

Kapitel 1

 

Sie musste dringend raus aus dem Teil.

Verzweifelt presste Marge ihren Rücken gegen die Lehne, schob, schubberte, wand sich, soweit es denn ging, nach rechts. Dann nach links. Verdammt. Es war ja nicht nur ihr Rücken, der juckte. Unerträglich juckte. So sehr, dass sie sich nach einem Nacktbad im Kaktusfeld sehnte. Viel schlimmer war es auf der anderen Seite. Ihre Brüste fühlten sich an wie mit Juckpulver paniert.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Sie schlug mit einer Faust auf das Lenkrad. Diese Mistdinger standen in Flammen. Zwei gute Hände voll, hatte ihr Mann vor Urzeiten liebevoll dazu gesagt, die Verkäuferin nannte es ein üppiges D, und Marge fragte sich zum hundertsten Mal, wie sie geglaubt haben konnte, dass Erdbeersorbet ihre Farbe, Spitze ihr Stil und Super-Outlet eine gute Idee wäre? Hatte ihr nicht unlängst jemand erzählt, dass Krätze wieder in Mode gekommen war? Wörtlich genommen.

Sie schob ihre rechte Hand von oben ins Körbchen und kratzte. Linderung brachte das kaum, doch der Wagen geriet aus der Spur, und eilig legte Marge ihre Hand aufs Lenkrad zurück. Sie hasste dieses Monsterfahrzeug. Autofahren konnte sie ohnehin überhaupt gar nicht ausstehen, die Begeisterung dafür schien ihr so abwegig wie die Freude am Steilwandklettern. Entsprechend bescheiden waren ihre Fahrkünste. Sie musste dringend eine Möglichkeit finden, mit dem Riesengeschoss mal anhalten zu können. So lange würde sie es doch wohl noch ertragen. Schließlich war sie kein Kind mehr. Eine erwachsene Frau, die stramm auf die Fünfzig zuging, verdammt, hatte sich schließlich, gefälligst, im Griff.

Einundzwanzig, atmen, zweiundzwanzig, atmen, dreiund… ach, leck mich!

Fluchend griff sich Marge nun mit der linken Hand in die Wäsche. Niemals zuvor hatte sie Sehnsucht nach künstlichen Fingernägeln verspürt. In diesem Moment würde sie für Gel-Fingernägel glatt ihre Seele verkaufen. Lang, spitz gefeilt, ihretwegen auch scheußlich lackiert, mit Glitzersteinchen beklebt. Hauptsache richtige Krallen zum Kratzen.

Mist! Wieder kam das Gefährt aus der Spur, zog diesmal erwartungsgemäß in die andere Richtung. Irgendwo musste man doch mal abbiegen können, abfahren von dieser blöden Straße, wenigstens ein Stückchen zur Seite, wo man einfach herumstehen konnte.

Seit mindestens zigtausend Jahren fuhr sie schon endlose, ländliche Landstraßen entlang. Und hatte keinen Schimmer, wo sie überhaupt war. Irgendwo im Nichts. Links und rechts zogen Felder an ihr vorbei, und auch Felder, und dann gab es noch Felder. Auf beiden Seiten der zu schmalen Straße erklärte ein Graben, dass Seitenstreifen nur was für Weicheier waren. Manchmal wurde sie trotzdem überholt. Die Welt war mit Irren bevölkert, aber das wusste sie längst.

Einundzwanzig, atmen, zweiundzwanzig, atmen.

Verrückt! So sehr hatten sie ihre Brüste nicht mal in der Stillzeit genervt. Weder bei Leander, obwohl der sie reichlich gefordert hatte, noch bei Marlene.

Ach, die Kinder! Laut schluchzte Marge ein paar Tränen fort. Wären die Kinder erreichbar gewesen, wäre sie gar nicht hier. Dann hätte sie nämlich nicht … dann hätte er nicht … Dummes Zeug! Mit Leander und Marlene hatte das alles gar nichts zu tun. Es lag einzig an ihrem …

Verdammt, das Jucken ließ einfach nicht nach. Wenn es hier überall Felder gab, musste es doch auch irgendwo Feldwege geben. Irgendwann würde einer von der Straße abgehen, dort könnte sie ein Stück hineinfahren und endlich dieses juckende, verfluchte Scheißding von einem mist-kack-sadistischen BH ausziehen. Wie kamen die Leute denn auf ihre Felder, wenn es hier keine beschissenen Feldwege gab?

Verzweifelt blickte Marge die Straße entlang. Und dann fiel es ihr wieder ein: Arielle! Arielle – die Schlampe, wie sie von heute an nur noch heißen würde – hatte ihr von der Krätze erzählt. Hast du schon gehört, Maa-haadsch?, hatte sie gesagt, immer sagte sie Maa-haadsch, und Marge biss seit Jahren dabei die Zähne zusammen. Maa-haadsch, stell dir mal vor, es gibt wieder Krätze, ist das nicht eklig? Und ob! Beim Anprobieren in Billigläden, hatte Arielle gesagt und Marge dabei angeschaut, als wäre sie eine Risikogruppe, könne man sich diese Mittelalter-Krankheit heute glatt wieder wegholen. Schämen müsse sich niemand dafür, nicht wahr? Maa-haadsch?

Komm schon, Marge, atmen. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, atmen, atmen, denk einfach nicht dran, nicht an Arielle, diese Schlampe, nicht an – da! Endlich ein Feldweg.

Mit einem Ha! stieß sie die Luft aus, umklammerte das Lenkrad und wollte gerade abbiegen, um sich das zarte Spitzendessous alias eiserne Jungfrau mit Stechmücken vom Körper zu reißen, als ein Trecker auf eben diesem Feldweg auftauchte. Wie aus dem Nichts. Und vor ihr auf die Landstraße fuhr. Aber so ein Ding konnte nicht aus dem Nichts erscheinen, nicht plötzlich da sein, sich heimlich herangeschlichen haben. Wusste Marge ja, und deshalb war sie verwirrt und fuhr am Feldweg vorbei.

Verdammt! Vermutlich dauerte es eine Ewigkeit, bis die nächste Gelegenheit kam. Falls jemals wieder eine Gelegenheit kam. Niemals wieder würde eine Gelegenheit kommen. Ach, das Leben war eine Tortur. Dazu hatte sie jetzt auch noch einen Trecker vor sich. Volles Programm! Mit einem normal großen Auto dürfte sie ihn auf dieser Straße nicht überholen, aber mit diesem dämlichen Monster von einem Wohnmobil könnte sie es auch nicht.

Sie drückte sich gegen den Sitz. Tränen standen ihr in den Augen. Sie hatte keine Lust mehr. Für eine Sekunde war sie versucht, einfach die Augen zu schließen. Tolle Idee. Dann würde man später über sie sagen, sie sei mit zerkratzen Brüsten auf einen Traktor gekracht. Lieber sollte sie Arielle, die Schlampe, erwürgen. Oder Clemens. Ihren Mann. Also nicht den Mann von Arielle, dieser Schlampe. Die hatte nämlich keinen. Deswegen hatte sie auf Clemens gelegen. Dem Mann von ihr, Marge, wie sie seit ihrem dreizehnten Lebensjahr genannt werden wollte. Weil sie den Namen Margarethe Agathe, den ihr ihre Mutter wegen deren Mutter aufgedrückt hatte, so schrecklich fand. Lieber würde sie sterben, als so genannt zu werden. Wobei Arielle auch auf Clemens liegen würde, wenn sie einen eigenen Mann hätte. Weil sie nämlich eine ganz blöde Schlampe war. Und keine beste Freundin, wie Marge die letzten fünfzehn Jahre angenommen hatte.

Verdammter Scheiß! Fuhr der Trecker jetzt noch langsamer? Sie würde ihn nie überholen, nie eine Chance zum Anhalten finden, das Jucken würde niemals aufhören, nicht, solange die Spitzenwäsche ihre Brüste umschloss. Nichts würde sich ändern, wenn sie nicht irgendwas unternahm. Nie. Niemals.

Hatte der Trecker überhaupt einen Motor? Oder wurde er von Schlitten-Schnecken gezogen?

Vielleicht würde es helfen, wenn sie die Körbchen zur Seite schob. Umständlich fummelte sie den Verschluss auf, immerhin war der sexy Frontalverschluss eine sinnvolle Wahl gewesen. Heute hätte wirklich ein guter Tag werden können. Einen Mops-Quäler stopfte sie rechts unter die Achsel, einen nach links. Es war das letzte Treffen vor der Show gewesen. Seit Wochen arbeitete sie schon darauf hin. Es sollte eine Präsentation ihrer Jugend-Schreib-Gruppe werden, eine Mischung aus Texten und Musik. Die Jugendlichen übernahmen sogar das Catering selbst. Zwischendurch, ganz unaufdringlich, sollte es kurze Lesungen der Literaten-Runde geben, bei der Marge selbst seit einiger Zeit Mitglied war. Genaugenommen, betonte Marge stets, machten die Jugendlichen also die ganze Arbeit selbst, was natürlich einerseits stimmte, andererseits war alles durchaus zeit- und kraftaufwendig, weshalb es wohl völlig okay war, ein wenig erschöpft zu sein. Manchmal kam sie sich vor, wie eine Hundertjährige in einem Hollywoodfilm. Was völliger Nonsens war. Niemals würde eine Hundertjährige in einem Hollywoodfilm mitspielen dürfen, aber sie wusste, was sie damit ausdrücken wollte. Und dass Clemens solche Formulierungen nicht immer verstand, war Teil des Problems. Des Problems, das ihr bis dato zwar tendenziell nervig, aber dennoch erträglich vorgekommen war.

Verdammt! Jetzt juckten nicht nur ihre Brüste und der Streifen auf dem Rücken, jetzt war auch das Krabbeln unter den Achseln kaum noch zu ertragen. Clemens hatte ihre Sehnsucht nach künstlerischem Ausdruck immer als liebenswerte Ambitionen belächelt, dafür hatte sie seinen Spaß am Campen immer als putziges Hobby abgetan. Jeder hätte sich vom anderen wohl etwas mehr gewünscht, aber so lief das eben in einer langjährigen Ehe. Man machte Kompromisse. Die eine mehr, der andere weniger.

Marge schnaubte. Seit wann ging das schon so? Überhaupt alles. Und dann diese Fahrt. Wann war sie wutschnaubend losgefahren, bloß weg vom Gorinsee, vom Campingplatz, von ihrem ehemaligen Leben?

Nein. Das war nicht übertrieben.

Mit der rechten Hand versuchte sie sich den linken BH-Träger von der Schulter zu reißen. Keine gute Idee. Schnell hielt sie das Lenkrad wieder mit beiden Händen.

Vermutlich war er mit dem Ding auch nicht häufig gefahren. Er. Clemens. Clemens, der Arsch, dachte sie. Das wurde jetzt sein offizieller Name. Genau. Clemens, der Arsch. Nicht: Herr! Doktor! Clemens! Siebenthal!

Jedes einzelne Wort hinterließ einen Spucketropfen auf dem Armaturenbrett. Die würde sie da lassen. Auf seinem geliebten, heiligen Wohnmobil-Monster.

Ein einziges Mal hatten sie darin gemeinsam Urlaub gemacht. Im Teutoburger Wald. Es war grässlich gewesen. Nicht, weil ihr der Komfort gefehlt hatte. Das hatte sie alles zu Hause. Da hatte sie längst ihr Badezimmer zu einer Wellness-Oase umgestaltet. Sogar ein Mini-Bar-Kühlschrank stand neben der großen Wanne. Für ihre spezielle Cellulite-Creme, hatte sie Clemens, dem Arsch, erklärt. Der ihr vielleicht alles glaubte, sich aber vielleicht auch einfach für nichts interessierte. Zumindest fand er nie die Prosecco-Fläschchen, die darin standen und nach jedem Wannen-Erholungs-Urlaub ersetzt wurden. Wenn sie sich schon fühlte wie das Klischee einer unzufriedenen Gattin, wollte sie wenigstens auch die Vorzüge abbekommen.

Im Teutoburger-Wald-Urlaub hatte er ihr ständig erzählt, wie romantisch das alles sei, wie jung er sich fühle. Sie hätte sich damals auch gern jung gefühlt. Es fiel ihr jedoch nicht ganz leicht, weil ihr Mann mit Camper-Senioren beim Kaffeeklatsch saß und ausdauernd über die Vorzüge künstlicher Hüftknochen sprach. Dazu bezeichnete er diesen Flugzeugträger von einem Mobil als improvisiert und den Stellplatz habe er, wie er ständig betonte, völlig spontan gebucht. Etwa ein Jahr im Voraus. Mit Frühbucher-Rabatt. Aber sie war bereit gewesen, das Beste aus der Sache zu machen, schließlich war es ja auch ein ganz kleines bisschen niedlich, dass er sich Gedanken darüber machte, wie sie sich eine schöne Zeit machen könnten. Deshalb hatte sie eine Weile darüber nachgedacht, wie sie völlig spontan eine aufregende Sex-Szene inszenieren könnte, hatte sich hübsch ausgezogen, lasziv zwischen Bett und Sitzecke geklemmt, er war hocherfreut auf sie zugekommen, hatte sie hochgehoben, sie hatte ihre Füße auf seine Schultern gestellt, und als sie gerade dachte, das kann ja doch noch richtig aufregend werden, hatte der Boden unter ihren Füßen geruckelt, nachgegeben, Clemens, der Arsch, war in den Knien eingeknickt, Marge war mit ihren Füßen abgerutscht, war hinter ihm hergefallen, auf ihn drauf, hatte auf seinem Kopf gesessen, aber wirklich vollkommen anders als erfreulich. Er hatte danach eine Beule am Hinterkopf, und sie hatte sich die Hüfte ausgerenkt.

Später, beim Senioren-Kaffee, waren sich alle einig gewesen, was für ein Glück man gehabt hatte, dass dem Wohnmobil nichts passiert war – als nämlich der winzige Camper von dem Neuen dagegen gerutscht war. Der nämlich zu blöd gewesen war, um sein Ding vernünftig zu sichern.

Ja. Bringt eure Dinger immer schön in Sicherheit.

Wie, um alles in der Welt, hatte es Arielle, die Schlampe, hinbekommen, auf zwei Quadratmetern eine heiße Affäre zu inszenieren? Und wie, um alles in der Welt, hatten sie es geschafft, dass es ihr, Marge, nicht aufgefallen war? Sie war so eine Idiotin! Es war wirklich nicht zum Aushalten.

Noch immer schlich der Trecker vor ihr her. Auf dessen Rückseite prangte eine riesige Erdbeere, mit einem Schriftzug darunter, der nicht mehr zu entziffern war. Ganz verstaubt und verblasst.

Komm schon, Marge. Nicht schon wieder heulen. Wenn das Gefährt dort vor ihr Schritttempo vorgab, könnte sie doch vielleicht das Lenkrad kurz mit den Knien festklemmen, und ganz, ganz schnell den BH ausziehen. Außer ihnen war schließlich sonst niemand unterwegs. Oder sie hielt einfach kurz auf der Straße an. Wen würde das stören? In dem Moment zog ein Mercedes laut hupend an ihr vorbei. Vor Schreck begann sie zu husten.

Scheiß drauf. Sie trat auf die Bremse. Mit einem Satz blieb das Monster stehen. Großartig! Vielleicht sollte sie es einfach hier stehenlassen. Ein Schild dran kleben: zu verschenken. Den Schlüssel stecken lassen. Die Leute nahmen doch jeden Mist mit.

Ihr Kopf sackte aufs Lenkrad. Sie war so müde. So unendlich müde. Sie schloss die Augen. Doch bevor die ganzen dunklen, schweren Gedanken, die ihr Gehirn bevölkern wollten, ihre Chance nutzen konnten, warf sich das grässliche Jucken dazwischen. Inzwischen pritzelte und prickelte jeder Quadratzentimeter ihres Oberkörpers. Krätze? Ernsthaft? Unter Reizwäsche hatte sie bisher etwas anderes verstanden.

In einer ihrer Geschichten würde sie das niemals schreiben, das wäre total übertrieben. Wenn sie dann noch erklärte, dass ausgerechnet der Mann, der sie bestärkt hatte, mehr Zeit ins Schreiben zu investieren, weil sie gut wäre, wirklich, sehr gut, nichts anderes wollte, als ihr an die Wäsche … wie unglaubwürdig.

Ach, scheiße! Sie zog sich den Pulli über den Kopf. Wollte sich den Pulli über den Kopf ziehen. Hatte dabei leider vergessen, dass er hinten am Ausschnitt diesen kleinen Knopf hatte, der sie beim Zufummeln fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Aber sie sah toll darin aus. Eben wegen des Ausschnitts, der sehr eng am Hals saß, wenn dieser kleine Knopf endlich geschlossen war. Über den Kopf bekam man das Ding dann natürlich nicht. Beim besten Willen nicht. Man konnte noch so daran herumzerren. Mit den Armen nach oben gestreckt.

Was anderes fiel Marge jetzt auch nicht mehr ein. Sie zog und zappelte, riss und fluchte, und blieb doch gefangen in einem hellblauen Sack. Einem hellblauen Designersack, immerhin. Der ihre Brüste sehr gut zur Geltung brachte. Gerade jetzt. Wirklich eindrucksvoll, wie sie gegen das Lenkrad schlackerten, nackt und wundgekratzt. Denn der verseuchte BH hing ja vollkommen nutzlos an den Seiten herum. Irgendwann pegelte die Verzweiflung ihre Hysterie wenigstens soweit herab, dass Marge einfiel, sie müsste ja nur die Arme senken, den Pullover zurück über den Körper ziehen, den kleinen Knopf auffummeln und dann ganz bequem alles noch einmal versuchen.

Da fragte eine sehr tiefe Stimme in ihrem Kopf: »Alles in Ordnung?«

»Was?«

Und vor ihrem inneren Auge erschien Marge plötzlich die ganze Szene von außen, ihre erhobenen Hände, ihre schlenkernden Brüste, ihr BH in Erdbeersorbet und ihr Gesicht, das unter dem Pullover leuchtend rot anlief, und sie begriff, dass die Stimme real war. Irgendwer hatte die Fahrertür aufgemacht.

Okay, Marge, beruhig dich. Einfach den Pullover nach unten ziehen. Geht kinderleicht.

Sie nahm die Hände herunter. Wollte die Hände herunternehmen. Warum ging das denn nicht? Verdammt! Irgendwo hing sie fest. Wie eine eingesponnene Fliege zappelte sie im Netz.

»Alles gut«, sagte die Spinne. »Alles wird gut, ich helf Ihnen ja.«

Marge glaubte das nicht. Laut quiekend zappelte sie weiter herum. Noch lauter quiekte sie, als sie schließlich von zwei kräftigen Händen gepackt wurde. Mit ein paar Handgriffen, die sie nicht richtig mitbekam, wegen der Geschwindigkeit und wegen der Panik, wurde sie aus dem peinlichsten Teil der Situation befreit. Soll heißen, der Pullover saß wieder dort, wo Pullover hingehören. Und der Kopf schaute oben heraus.

Ein dunkelhaariger Mann in bäuerlicher Arbeitskleidung nickte ihr zufrieden zu.

Beeindruckt nickte sie zurück: »Sie haben lebhafte Kinder, oder?«

»Früher mal Schweine.«

»Ja …« Verlegen wich sie seinem Blick aus. »Warum haben Sie angehalten?«

»Sie eiern ja nun schon ‘ne ganze Weile so rum. Hin und her. Dann bleiben Sie plötzlich stehen. Vielleicht is‘ Ihnen schlecht. Hab ich mir überlegt.«

»Danke. Das ist nett.« Das meinte sie auch so, trotzdem war sie sauer auf ihn. Weil er sie in dieser peinlichen Situation gesehen hatte. Weil sie immer noch ihre Wäsche loswerden wollte. Der Mensch sollte jetzt, bitte, wieder fahren. Weg sein. Aber er stand neben dem Wohnmobil, mit verschränkten Armen, und sah sie an. Worauf wartete er? »Sie haben doch sicher viel zu tun …«

»Ihnen geht's wirklich gut?«

Nein. Absolut nicht. So was von überhaupt gar nicht. »Ja, alles prima. Wirklich. Herzlichen Dank.« Sie wollte jetzt, bitte, einfach nur weiterfahren.

»Na, wenn Sie meinen …« Er zuckte mit den Schultern und ging.

Wo war sie hier gelandet?

Tuckernd fuhr der Trecker davon. Bald wäre sie ihm wieder auf den Fersen, doch erst einmal sollte er ein Stück Abstand bekommen.

Sie fummelte am Knopf des Pullovers herum, bekam ihn auf, rieb sich den Hals. Dann wartete sie noch ab, bis der Trecker kaum noch zu sehen war.

Mit einer schnellen Bewegung zog sie den Pullover über den Kopf, riss sich den BH von ihrem Körper, öffnete das Fenster und schmiss das Scheißding hinaus. Was selbstverständlich nicht ganz korrekt war. Aber heute war überhaupt gar nichts korrekt gelaufen, und wenn dieses krätzeverseuchte Teil noch weiter mit ihr das Cockpit teilen würde, würde es sie irgendwann angreifen.

Blödsinn.

Trotzdem!

Ein Wagen fuhr hupend vorbei und erinnerte Marge daran, dass sie oben ohne hier saß. Schnell schlüpfte sie wieder in den Pullover. Besser. Ein ganz kleines bisschen besser. Wenn es Dinge gab, die halfen, sich besser zu fühlen, gab es Dinge, die halfen, sich besser zu fühlen.

Scheiße! Sie brauchte wirklich ganz dringend eine Pause. Bald wurde es dämmerig, sie war müde und schlapp. Es wäre nicht gut, noch lange mit diesem Geschoss durch die Gegend zu fahren. Stieße ihr selbst etwas zu, wäre sie nicht böse drum, aber mit so einem Schlachtschiff konnte man versehentlich ganze Dörfer plattfahren. Wenn es welche gäbe. Einfach weiterfahren? Was blieb ihr übrig.

Nach einer Weile ging ein Feldweg rechts von der Straße ab, den wollte sie jetzt nicht mehr haben. Kurz angehalten hatte sie ja, und zum Übernachten war ihr der reine Wegesrand nicht geheuer. Also fuhr sie weiter. Begleitet von rhythmischem Magenknurren. Dringend etwas essen musste sie also auch, aber das war sicher ihr geringstes Problem. Wie sie Clemens, den Arsch, kannte, hatte er bestimmt Unmengen von Lebensmitteln in den Schränken gebunkert. Man konnte ihm nicht vorwerfen, vollständig ohne Leidenschaften zu sein. Sein Bauch wuchs kontinuierlich. Dennoch holten sich einige Patienten ernsthaft bei ihm Diät-Tipps. Obwohl sie ihn seit Jahren kannten. Seit seinen schlanken Jahren. Ja, Marge, manche Menschen glaubten alles, was man ihnen erzählte.

Verdammt. Sie sollte nicht an ihn denken. Nicht an ihn und nicht an Arielle, diese Schlampe. Nicht an die Szene, die ihr heute Nachmittag entgegengesprungen war. Nichtsahnend hatte sie die Tür des Wohnmobils aufgerüttelt und dahinter einen nackten Hintern erblickt, der sich so ungelenk auf und ab bewegte, dass sie im ersten Moment hatte lachen müssen. Bis sie begriff, was dort eigentlich geschah. Bis sie die Tätowierung erkannte, von der sie Arielle, dieser Schlampe, einst eindringlich abgeraten hatte. Im Grunde hätte sie spätestens damals im Morbid-Ink-Studio begreifen sollen, dass mit Arielle etwas nicht stimmte. Man sollte keinem Menschen trauen, der sich eine rote Trickfilm-Krabbe auf den Hintern tätowieren ließ.

Der Molch und der Lurch, die schwimmen bloß durch … sang Marge ganz leise. Tränen tropften ihr auf die Hände. Jetzt flennte sie schon wieder, weshalb sie beinahe das Schild übersah. Im letzten Moment erkannte sie den Wegweiser, der nicht mehr ganz frisch wirkte, aber gerade noch glaubwürdig, und auf eine Jugendherberge mit angeschlossenem Campingplatz hinwies.

Es gelang ihr, auf den Weg abzubiegen. Mit wachsender Skepsis folgte sie dem rumpeligen Feldweg, bis irgendwann ein großer Parkplatz erschien. Vor einem flachen, sehr langen Gebäude. Oder breit? In jedem Fall versperrte der grundsätzlich weiße Flachbau den Blick auf alles, was wohl dahinter lag. Felder, vermutete Marge, gefolgt von Feldern, und dann gab es sicher noch Felder. Anmeldung, stand über einer der Türen.

Marge parkte. Außer ihr stand niemand auf dem Platz. In der Mitte der blass-rosa gepflasterten Fläche stand ein Rollcontainer für Hausmüll.

Mit etwas zittrigen Beinen stieg Marge aus ihrem Gefährt, ging langsam über den Parkplatz zur Anmeldung. Über einem Tresen stand noch einmal Anmeldung, auf dem Tresen lagen Kugelschreiber, eine Tageszeitung und Bonbonpapier, hinter dem Tresen war niemand zu sehen.

Marge rief laut Hallo, dann lauter Guten Abend. Sie wartete ab, rief noch ein paarmal, und war gar nicht böse, dass niemand auf sie reagierte. Müde trottete sie über den Platz, der ein wenig wie ein Fährterminal wirkte, stieg in den Wohnbereich des Mobils und schloss die Tür.

 

Kapitel 2

 

Ein Schrei hallte über den blass-rosa gepflasterten Parkplatz, brachte beinahe den Restmüllcontainer zum Rollen, prallte gegen die Fenster der Jugendherberge. Das Kind sollte so etwas wirklich nicht sehen. Es wollte doch nur – ja, was eigentlich?

Da stand dieses riesige Wohnmobil vollkommen schief vor der Herbergstür, als ob es niemandem gehörte, und es hatte einfach nur mal geguckt, ob sich die Tür vielleicht öffnen ließe. Es hatte doch einfach nur geguckt.

Und dann hatte sich die Tür ganz einfach öffnen lassen.

Niemand hätte doch vorhersehen können, welch schrecklicher Anblick sich dahinter bot.

Quer über einen umgestürzten Hocker, der beinahe die Tür blockierte, lag eine reglose Gestalt, die Beine waren seltsam nach oben gedreht, ein Arm hing zur Seite, der andere war ausgestreckt, als hätte die Person, die dort lag, noch mit letzter Kraft versucht, aus dem Wagen herauszukommen.

Eine Frau, dachte das Kind, und sah die langen, zerzausten Haare, den hellblauen Pullover, der ganz eng am Hals saß. Eine tote Frau.

Dann würgte das Kind, denn der Geruch, der aus dem Inneren des Campers herauswaberte, war widerlich.

Was war das?

Das Kind, vielleicht war es zehn oder elf Jahre alt, konnte sich nicht erinnern, jemals etwas so Widerliches gerochen zu haben, eine Mischung aus Klo und Schweiß und Alkohol und irgendetwas Unbekanntem. Selbst mit dem Tuch der Jugendgruppen-Uniform, das es sich zum Schutz vor die Nase hielt, konnte es immer noch etwas riechen.

Als es spürte, wie sich Hände auf seine Schultern legten, schrie es gleich noch einmal auf. Da drang eine resolute Stimme an das Ohr des Kindes.

»Anna-Sophie«, mahnte jemand, »Anna-Sophie, du musst dich beruhigen.«

Also gut, wenn sie das musste. Sie räusperte sich, noch einmal, zog ihr Tuch von der Nase, schob es am Hals zurecht.

»Na, geht doch.«

Geht gar nicht, wollte das Mädchen sagen, aber es hatte keine Lust auf eine Rede von Frau Gnesebeke, ihrer Gruppenleiterin, in der sicher solche Wörter wie Verantwortung, Vorbildfunktion und Contenance vorkommen würden.

Diese Reden waren immer sehr lang. Frau Gnesebeke kam bei diesen Grundsatzreden immer sehr nah an einen heran. Dann roch man ihre Zigaretten, die sie heimlich rauchte. Glaubte sie wirklich, das fiel nicht auf?

Die Leiterin hatte also die Hände in Anna-Sophies Schultern gekrallt und nahm selbst erst jetzt wahr, was da vor ihr lag. Wie sollte sie mit dieser Situation umgehen? Gab es Anweisungen dafür? Sie war gerade mit ihrer Gruppe auf einer Wanderung.

Langsam, ohne die Hände von der Schulter des Mädchens zu nehmen, blickte Frau Gnesebeke sich um. Sie musste ihre Gruppe doch beisammen halten. Aber da brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Hinter ihr hatte sich inzwischen die gesamte Jugendgruppe versammelt. Jemand hatte horrorfilmreif geschrien, da müsse man hin. Zum Glück hatte sie das Handy-Verbot durchgesetzt.

Mit weit aufgerissenen Augen und Mündern starrten alle ins Wohnmobil. Auf die reglose Frau. Auf die strähnigen, dunklen Haare, den Kopf, der von der Bank herabhing. Auf den verzweifelt ausgestreckten Arm, die seltsam verrenkten Beine, die Hose, die etwas herabgerutscht war.

»Iihh, guck mal, ich kann den Po von der Toten sehen.«

»Äh, du bist ja ein perverser Spanner …«

»Was denn? Ich kann doch nichts dafür, wenn ich das sehen kann.«

»Wieso ist die denn tot?«

»Ist doch gar nicht klar, ob die tot ist.«

»So, wie das hier stinkt, ist die schon seit Wochen hinüber.«

»Jetzt reißt euch gefälligst zusammen!«

Anna-Sophie stöhnte erleichtert auf, als Frau Gnesebeke die Hände von ihren Schultern nahm. Sicher würde sie dort blaue Flecken bekommen.

»Contenance!«

Ein Raunen waberte durch die Gruppe. Da passierte endlich mal was wirklich Aufregendes, und sie sollten sich zusammenreißen?

»Wir haben eine gewisse Verantwortung, auch aufgrund unserer Vorbildfunktion. Wir werden jetzt also in Ruhe darüber nachdenken, wie wir mit dieser Situation umgehen.«

Alle sahen weiterhin in das Wohnmobil hinein, unverändert lag dort der seltsam verdrehte Körper, doch durch die Rede ihrer Gruppenleiterin, die so vertraut, so üblich und öde klang, hatte der Anblick ein wenig seinen schaurig-schönen Reiz verloren. Nun dachte man ernsthaft darüber nach, was zu tun war und in welcher Reihenfolge.

»Polizei rufen?«

»In der Herberge Bescheid geben?«

»Rettungswagen?«

»Oder Mund-zu-Mund-Beatmung?«

»Hä? Dafür ist es ja nun wirklich zu spät. Die ist doch so was von hin!«

Alle nickten. Da war nichts mehr zu machen. Und diese Erkenntnis beruhigte seltsamerweise. Das war wirklich gruselig und aufregend und man würde sehr lange eine sehr gute Geschichte erzählen können, aber ganz sicher konnte einem hier nichts Schlimmes passieren. Niemand war in Gefahr.

Da hob die tote Frau ihren Kopf, riss ihre Augen auf und gab einen seltsam gurgelnden Laut von sich. Frau Gnesebeke und ihre Pseudo-Pfadfinder stoben vor Schreck auseinander, liefen so schnell über den Parkplatz, in Richtung Feld, Wald und Wiese, dass jeder von ihnen nachträglich eine Ehrenurkunde dafür erhielt.

Niemand bekam mehr mit, wie Marge in hohem Bogen auf den Parkplatz kotzte und dann die Tür zuknallte.

Jetzt wurde sie richtig verrückt, oder?

Wenn man einen Haufen kleiner uniformierter Leute vor sich sah, waren das sicher die berüchtigten weißen Mäuse. Sie blieb reglos liegen, ihr Magen rumorte, hoffentlich musste sie sich nicht noch einmal übergeben. Sobald sie das Gefühl hatte, einigermaßen unfallfrei aufstehen zu können, würde sie Kopfschmerztabletten suchen. Tabletten einwerfen. Einen Zentner. Mindestens.

Das hatte sie echt super hinbekommen. Was hatte sie sich dabei gedacht? Okay, blöde Frage. Und jetzt halluzinierte sie also Pfadfinder herbei. Wobei die vielleicht sogar echt sein könnten. Gestern war sie doch auf dem Parkplatz einer Jugendherberge gestrandet. In solchen Gegenden trieben sich Jugendgruppen für gewöhnlich herum.

Verdammt. Ihr Schädel würde gleich platzen. Den großen Auftritt mit Jugendgruppe hatte sie sich noch bis gestern Mittag irgendwie anders vorgestellt. Auch erfreulicher. Bis dahin waren die Vorbereitungen für den Auftritt ihrer Jugendschreibgruppe großartig gelaufen. Eine Gruppe, die sie anleitete, weil Clemens, der Arsch, ihr das an Herz gelegt hatte. Er habe da ein so schönes Projekt für sie entdeckt, einfach goldrichtig für sie. Eine Patientin habe davon erzählt, und sofort, sofort!, habe er an sie, Marge, seine wunderbare, begabte, künstlerische Ehefrau gedacht. Wie gut diese Arbeit zu ihr passen würde!

In Wahrheit hatte er da bloß an Arielle, diese Schlampe, gedacht, und wie gut es ihm passen würde, wenn seine dämliche, vollblinde Ehefrau anderweitig beschäftigt wäre.

Die Schreibgruppe war für Kinder aus sogenannten schwierigen Verhältnissen geplant. Sie hasste diese Kategorisierungen, diesen Gutmensch-Rassismus, hatte also gesagt, sie leite entweder ein Schreib-Projekt für alle Kinder, die Lust dazu hätten, oder keines.

Das wäre dann aber kompliziert mit den Fördergeldern. Ach …? Man wolle ja denen helfen, die sich das nicht leisten können. Dann bezahlten die anderen in der Gruppe eben Geld dafür, wo sei bitte das Problem, hatte sie erwidert. Dann bekäme man nichts mehr aus dem Fördertopf, den man dafür im Auge habe.

Es war noch eine Weile so unverständlich hin- und hergegangen, bis sie ihrem Mann gesagt hatte, er werde jetzt ein Schreibprojekt für Kinder unterstützen, und er hatte gesagt: Fein. Und wenn sie jetzt darüber nachdachte, dass sie das für eine nette Geste gehalten hatte, kam ihr wirklich nochmal alles hoch.

Einundzwanzig, atmen, zweiundzwanzig, atmen.

Er hatte einen ganzen Schreibkurs finanziert, um ungestört pimpern zu können. Wenn das mal keine gute Geschichte war.

Die Arbeit selbst hatte ihr wirklich gefallen. Die Kinder waren großartig, hatten Spaß am Schreiben und waren irrwitzig kreativ. Wenn man auch keine Lieblingsschüler haben soll, gab es da trotzdem einen Jungen, der irrsinnig gute Geschichten schrieb. Lasse hatte ein besonderes Talent. Ihn förderte sie vielleicht immer ein bisschen mehr. Und durch ihre Arbeit hatte sie Menschen kennengelernt, die sie sonst nicht unbedingt getroffen hätte.

Verdammt. Es kam ihr doch wieder hoch, sie merkte, dass da noch einiges war, was rausmusste.

Sie atmete durch, sah sich vorsichtig um.

Hatte sie dieses Chaos wirklich allein angerichtet?

Sie würde ja erneut kotzen wollen. Aber dafür war hier einfach kein Platz.

Ächzend schob sie sich in die Ecke der Sitzbank, stellte ein Kissen neben sich auf. Hielt das Kissen gut fest. Hielt es sehr gut fest. Zog die Knie an. Dumme Idee. Mit zusammengebissenen Zähnen streckte sie die Beine auf der Bank ganz langsam aus.

Nachdem sie gestern hier gelandet war, hatte sie die Schränke zunächst nach etwas Essbarem abgesucht. Also schön, ganz zuerst nach etwas Trinkbarem, aber wer hätte ihr das verdenken wollen? Wenn ihr Mann dieses Gefährt als Liebesnest eingerichtet hatte, musste es auch irgendwo Sekt geben. Das gehörte schließlich zum klassischen Verführungsrepertoire dazu, das war ein Gesetz, und bestimmt kein ungeschriebenes, ganz sicher stand das in Dating-Ratgebern oder Frauenzeitschriften. Gut. Nach dem Sekt musste sie dann auch nicht lange suchen. Er stand, wo er hingehörte: im Kühlschrank. Eine geöffnete Flasche, zur Hälfte geleert, verschlossen mit dem Sektverschluss, den sie vor Jahren beim Räumungsverkauf eines Haushaltswarengeschäfts gekauft und seitdem nie wiedergefunden hatte.

Prost! sinnliche StundenDarauf trink ich! Cheers!