Cover

ALEXANDER LOMBARDI · SANDRA BINDER

imageDie 4 vom See

Der Wächter
der goldenen Schale

image

ISBN 978-3-417-22977-6 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2020 SCM Verlag in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Inhalt

Die 4 vom See – das sind …

Was bisher geschah

Kapitel I: Auf dem Speicher

Kapitel 1: Der Phönix

Kapitel 2: Streit

Kapitel 3: Der Unfall

Kapitel II: Freundschaft

Kapitel III: Friederike

Kapitel IV: Ein Ball im Schloss

Kapitel V: Nachts im Park

Kapitel 4: Opa Hans hat Geburtstag

Kapitel 5: Schuld und Vergebung

Kapitel 6: Ein Brief, der alles ändert

Kapitel 7: Schloss ohne Schlüssel

Kapitel VI: Ein Schlüsselloch wird gefunden

Kapitel VII: Michi und Friederike

Kapitel VIII: Was der alte Stallbursche erzählt

Kapitel 8: Der Wächter

Kapitel 9: Das Geheimnis lüftet sich

Kapitel IX: Ludwig und Friederike

Kapitel X: Der Erbe

Kapitel 10: Die Schale

Kapitel 11: Die Legende

Kapitel 12: Ein Abend am Seeufer

Nachwort der Autoren: Was stimmt – was stimmt nicht?

Die 4 vom See – das sind …

image

Antonia Reihmann

Alter: 12

Hobbys: Klettern, Archäologie

Beste Freundin: Emma

Lieblingsort: Antonia hängt am liebsten im »alten Heinrich« ab oder sitzt auf dem Burgturm und guckt auf den Starnberger See. Außerdem klettert sie auf jeden Berg, der ihr in die Quere kommt.

Lieblingsessen: Wiener Schnitzel mit Pommes

Besondere Kennzeichen: trägt immer Jeans und Sneaker. Hat Diabetes.

image

Emma Weiß

Alter: 12

Hobbys: Reiten, Biologie

Beste Freundin: Antonia

Lieblingsbeschäftigung: auf ihrem Pferd »Firestorm« reiten, mit ihren Freunden abhängen, Lesen, Träumen und in ihrem Labor forschen

Besondere Kennzeichen: Emma ist Vegetarierin. Sie trägt eine Brille und geht ohne Pferdeschwanz nicht aus dem Haus.

image

Franky Giuliani

Alter: 12

Hobbys: Computer, Zocken, Kochen

Bester Freund: Jaron

Lieblingsessen: Pizza und Döner

Besondere Kennzeichen: Franky trägt am liebsten Jogginghosen. Auf seine Baseballkappe würde er niemals verzichten. Außerdem hat er immer das neueste Smartphone.

image

Jaron Rahn

Alter: 12

Hobbys: Kung-Fu

Bester Freund: Franky

Lieblingsbeschäftigung: mit seinen Freunden zusammen sein, in Flugzeugbüchern stöbern, Flugzeugmodelle bauen

Lieblingsessen: Currywurst mit Pommes

Besondere Kennzeichen: hat immer perfekt gestylte Haare.

Was bisher geschah

Antonia, Jaron, Emma und Franky leben am Starnberger See und sind die besten Freunde. Antonia und Jaron wohnen beide in der Seeburg, einer Jugendherberge direkt am Ufer. Emma lebt mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter ein paar Kilometer südlich davon und Frankys Eltern gehört die Pizzeria am Sportplatz in Allmannshausen.

Vor einigen Monaten sind die »vier vom See« durch Zufall unter der Dorfkirche in Allmannshausen auf eine verborgene Gruft gestoßen und haben darin eine Broschenfassung und einen Bernstein entdeckt. In die Brosche ist ein lateinischer Spruch eingraviert: Et absterget Deus omnem lacrimam ab oculis – Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Das ist ein Vers aus der Offenbarung, dem letzten Buch der Bibel.

Es gibt eine Legende, nach der diese Brosche zum Versteck eines unbezahlbaren Schatzes führen soll: einer goldenen Schale aus dem Tempel in Jerusalem, die schon seit zweitausend Jahren am Ufer des Starnberger Sees versteckt sein soll.

Allerdings ist die Brosche zunächst noch nicht vollständig – es fehlen offenbar noch zwei Edelsteine, die neben dem Bernstein in die Fassung gehören. Die vier Freunde machen sich auf die Suche. Mit Scharfsinn und viel Glück finden sie den zweiten Stein unter einer kreuzförmig gewachsenen Eiche und den dritten Stein schließlich am Ort einer versiegten Quelle.

Hilfe bekommen sie dabei immer wieder von Richard Weixlhammer, einem Antiquitätenhändler, der sehr viel über die Legenden rund um den See weiß. Als sie ihm jedoch von der verborgenen Gruft erzählen, reagiert er ganz anders als erwartet. Die Freunde sind sich nicht einig, ob sie ihm vertrauen können.

Noch jemand scheint sehr viel über den Schatz zu wissen: Opa Hans, ein alter Fischer, der für Antonia eine Art Ersatzopa ist. Sie hat großes Vertrauen zu ihm und auch die anderen drei schätzen seinen Rat. Sobald aber von der Schatzsuche die Rede ist, wird Opa Hans sehr verschlossen. Er warnt die Freunde mehrmals davor, die Suche fortzusetzen.

Doch sie lassen sich nicht abhalten. Jetzt, wo sie die komplette Brosche haben, kann es nicht mehr lange dauern, bis sie ihr Ziel erreicht haben. Was sie allerdings genau mit der Brosche anfangen sollen, wissen sie noch nicht …

image

Ludwig erinnerte sich noch deutlich: »Sucht in den Ecken«, hatte Sepp, der alte Stallbursche, genuschelt. Leichter gesagt als getan, dachte Ludwig, als er mit seinem Freund Michi nun in dem großen, dunklen Raum unter den Dachbalken stand. Hier gibt es viele Ecken.

Michi hielt seine Lampe hoch, ihr Schein fiel über Kisten voller Gerümpel und zerbrochene Möbel.

Staub kitzelte Ludwig in der Nase. Er nieste.

»Was hat Sepp noch mal gesagt, wie sieht der Sekretär aus?«, fragte Michi.

»Etwa so groß wie ich, und aus dunklem, gemasertem Holz«, erklärte Ludwig. »Obendran sei ein Schmuckelement, dem eine große Ecke fehlt. Das sei auch der Grund, warum das Ding auf dem Speicher gelandet ist.«

»Vor dreizehn Jahren«, hatte der Stallbursche erzählt, »hat das Schloss ein neues Obergeschoss bekommen. Und als wir die Möbel eingeräumt haben, ist dem Willy auf der Treppe der Sekretär aus den Händen gerutscht und die Stufen hinuntergefallen.«

Sepp hatte gegrinst. »Da ist mir aufgefallen, dass sich ganz hinten über der Tischplatte etwas verschoben hatte. Es sah aus wie die Tür eines kleinen Faches. Das hat man vorher nicht sehen können. Ein Geheimfach!«

Und genau danach suchten sie jetzt. Michi, sein bester Freund, war sofort Feuer und Flamme gewesen, als Ludwig ihm davon berichtet hatte. Beide waren noch nie hier oben auf dem Speicher gewesen.

Michi ging ein paar Schritte weiter, und Ludwig trat an ein windschiefes Regal, das mitten im Raum stand.

image

Schlosshotel Unterallmannshausen, Frühjahr 2019

In welcher Ecke der Sekretär wohl steht?, überlegte Jaron, während er sich aufmerksam auf dem Dachboden von Schloss Unterallmannshausen umschaute. Den Schlüssel mit dem FB-Monogramm drehte er dabei in seiner Tasche.

Hinter sich hörte er, wie Isabelle in der staubigen Luft nieste. »Gesundheit«, sagte er, ohne sich umzudrehen.

»Danke«, schniefte sie. »Was willst du eigentlich hier oben? Sollen wir nicht lieber wieder runtergehen? Wir könnten eine Runde im Pool schwimmen.«

Sie hatte ihn nur widerwillig hier heraufgeführt und war an der Tür zum Speicher stehen geblieben. Als Jaron sie um eine Schlossführung gebeten hatte, hatte sie bestimmt ein anderes Programm im Sinn gehabt. Seit ihrer Geburtstagsfeier im vergangenen Herbst hatte Isabelle immer wieder versucht, ihm näherzukommen.

Doch Jaron war ihr bisher stets ausgewichen. Er fand Isabelle hübsch, mochte aber ihre zickige und eingebildete Art nicht, obwohl sie zu ihm immer nett war. Diesmal aber nutzte er ihr Interesse, denn nur so bekam er die Gelegenheit, den Speicher des Schlosshotels nach dem Sekretär abzusuchen.

»Warum denn?«, wiegelte Jaron ab. »Hier ist es doch voll cool.«

»Na ja«, meinte Isabelle und wischte angewidert mit dem Finger über einen alten Tisch, »ich find’s ekelig und gruselig.«

»Stimmt, und deswegen ist es doch voll spannend. Vielleicht finden wir ja einen Schatz.«

»Ja, klar.« Isabelle verdrehte die Augen, holte ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und putzte sich lautstark die Nase.

»Weißt du, was das für Möbel sind?«

»Keine Ahnung«, sagte sie verschnupft, »ich war noch nie hier oben.«

»Echt nicht? Krass.«

Jaron ließ den Strahl seiner Taschenlampe über den Dachboden schweifen. Direkt vor ihm, mitten in dem großen Raum, stand ein Regal. Von oben, durch eine Stelle im Dach, wo es mit Glasziegeln gedeckt war, fiel ein wenig Tageslicht. Staub wirbelte im Lichtkegel der Taschenlampe, Spinnweben hingen überall. Es roch nach Politur und alten Büchern. Altertümlich irgendwie, dachte Jaron, aber nicht unangenehm.

Er trat einen Schritt auf das Regal zu und sah nach, was dort auf den Brettern lag.

Erstaunt streckte er dann seine freie Hand aus. »Hier liegen Waffen!«, rief er dem Mädchen zu, das sich immer noch nicht vom Fleck gerührt hatte. Er nahm einen der Gegenstände und drehte ihn hin und her. »Ich glaube, das ist eine Armbrust«, überlegte er.

»Schön«, schnaubte Isabelle. »Können wir dann bitte wieder gehen?«

»Ja, gleich«, sagte Jaron und legte die Waffe wieder auf ihren Platz zurück. »Nur noch diese Ecke dort.« Er hatte bemerkt, dass dort tatsächlich Möbel standen. Ob der Sekretär des jungen Grafen dabei war?

image

Schloss Unterallmannshausen, im Jahr 1894

»Schau, mal, Luggi«, rief Michi, griff nach einem der verstaubten Gegenstände, die in dem Regal lagen, und hob ihn hoch. Es war eine Armbrust. »Mann, die ist ja mächtig schwer«, meinte er, während er damit herumfuchtelte.

Ludwig trat zu ihm, nahm die Waffe in die Hände und betrachtete sie mit Kennerblick. »Die muss richtig alt sein«, erklärte er dann und legte sie an. Er kniff ein Auge zu und visierte seinen Freund an.

Der wich erschrocken einen Schritt zurück und rief: »He, mach keinen Unsinn!«

Ludwig lachte und nahm die Armbrust wieder herunter. »Angsthase!« erwiderte er. »Da liegt doch gar kein Bolzen drauf.«

»Bolzen?«

»Ja, die Munition. Mit solchen Armbrüsten hat man früher kleine Metallstifte verschossen. Hauptsächlich auf der Jagd.« Ludwig legte die Waffe wieder in das Regal zurück und sah sich um.

Als Michi die Armbrust weiterhin stirnrunzelnd betrachtete, boxte Ludwig ihn in die Seite. »Komm weiter, ich will endlich wissen, ob Sepp die Wahrheit gesagt hat.«

Daraufhin leuchtete Michi in den Raum hinein. In einer Ecke stapelten sich Hirschgeweihe und ausgestopfte Tiere – wohl Exemplare, die entweder keinen Platz mehr in der eindrucksvollen Trophäensammlung im Herrenzimmer von Ludwigs Eltern gefunden hatten oder beschädigt waren.

An einer Wand lehnten Bilder. Eines davon zeigte einen Jungen, etwa so alt wie Ludwig selbst, in einer altmodischen blauen Jacke. Aufrecht stand er da, die rechte Hand auf eine Säule gelegt, und sah den Betrachter etwas schüchtern an. Ein hässlicher Riss, der quer über die Leinwand ging, ließ keinen Zweifel daran, warum dieses Gemälde zurzeit nicht in der Ahnengalerie hing. Vermutlich sollte es irgendwann restauriert werden.

Michi verschwand zwischen einigen Möbeln, der Lampenschein flackerte gedämpft über die Holzbalken am Dachstuhl.

Ludwig beeilte sich, seinem Freund zu folgen.

Als er zu ihm trat, betrachtete Michi gerade einen schrankähnlichen Gegenstand, der in einer Ecke an die Dachschräge gerückt war. »Ist es das?«, fragte er.

»Könnte sein«, antwortete Ludwig. Das Möbelstück sah tatsächlich in etwa so aus, wie Sepp den Sekretär beschrieben hatte. »Lass uns mal genauer nachschauen.«

Gemeinsam räumten sie einen Kinderwagen mit zerbrochenem Rad, zwei Stühle ohne Sitzfläche und einen ganzen Haufen löchriger Säcke beiseite, um an das Möbelstück heranzukommen. Dabei wurde so viel Staub aufgewirbelt, dass Michi nun ebenfalls niesen musste.

Ludwig ärgerte sich wieder einmal darüber, dass er so schlechte Augen hatte. Bei schwacher Beleuchtung konnte er manche Einzelheiten kaum wahrnehmen. Er kniff die Lider zusammen und fuhr mit den Händen über das Holz.

Michi stand neben ihm und hielt die Lampe.

image

Schlosshotel Unterallmannshausen, Frühjahr 2019

Unter der Dachschräge, im hintersten Winkel, sah Jaron ein Möbelstück, das ganz an die Wand gerückt war.

Er ging um das Regal herum und zwängte sich zwischen den Gegenständen hindurch, die hier aufgetürmt waren: Stapel von vergilbten Büchern, zerbrochene Tische und Stühle, die aussahen, als hätten sie noch vor Kurzem in einem der Hotelzimmer gestanden. Weiter hinten gab es alte Hirschgeweihe und gerahmte Fotografien – alles Mögliche, was im Schlosshotel einmal seinen Dienst getan hatte und nun nicht mehr gebraucht wurde.

Während Jaron sich vorkämpfte, nahm er eine Menge Dreck mit. Und als er endlich vor dem Möbelstück stand, sah seine Jeans ganz weiß aus.

Der Sekretär hatte etwa Jarons Größe und bestand aus dunklem, gemasertem Holz. In den Aufsatz schienen, soweit das unter der dicken Staubschicht zu erkennen war, Muster in einem anderen Material eingearbeitet zu sein.

Jaron ließ den Schein der Lampe über jedes Detail gleiten und versuchte, das, was er sah, mit dem Ölgemälde zu vergleichen. Das muss es sein, dachte er. Zur Sicherheit schaute er sich noch einmal um, aber etwas Vergleichbares konnte er nirgends entdecken.

Obwohl das Möbelstück in einem schlimmen Zustand war – eine Schranktür war abgerissen und an dem oberen Schmuckelement fehlte eine Ecke –, strahlte es immer noch Reichtum und Luxus aus. Es war deutlich, dass es einmal sehr beeindruckend gewesen sein musste.

Als Jaron die Fächer oberhalb der Tischplatte betrachtete, machte sich Enttäuschung in ihm breit. Der Aufsatz war stark beschädigt, auch hier fehlten die Türen zu einigen Fächern. Ob da noch irgendwo etwas zu finden war?

Er beugte sich weiter vor und leuchtete in ein Fach rechts von der Aussparung in der Mitte. An der Rückwand hatte sich ein Brett verkantet. Und schließlich entdeckte Jaron sogar ein kleines Schlüsselloch, das er fast übersehen hätte.

Ob dort ein Geheimfach ist? Ob Ferdinand da wohl etwas aufbewahrt hat?

Er zog den kleinen silbernen Schlüssel aus seiner Tasche und musterte ihn. Würde er passen?

»Können wir jetzt endlich gehen?«, maulte Isabelle von Weitem. »Mir wird auch langsam kalt.« Sie hatte sich noch immer keinen Zentimeter vom Fleck gerührt.

Geh mir nicht auf die Nerven, dachte Jaron und sagte beschwichtigend: »Ja, gleich!«

Als Jaron und seine Freunde den silbernen Schlüssel in einer verborgenen Gruft unter der Sankt-Valentins-Kapelle gefunden hatten, hatten sie zunächst nichts damit anfangen können. Erst später hatten sie herausgefunden, dass das Monogramm FB auf Ferdinand von Beilstein hinwies, der Ende des 16. Jahrhunderts in jener Gruft ums Leben gekommen war. Die Freunde vermuteten, dass der Schlüssel zu einem Sekretär gehörte, der auf dem Porträt des jungen Grafen abgebildet war.

Jaron steckte den Schlüssel in das kleine Schlüsselloch. Er passte, und Jarons Puls beschleunigte sich. Vorsichtig drehte er den Schlüssel und brauchte dafür mehr Kraft, als er erwartet hatte.

Es knirschte, dann knackte es leise.

Jaron zog an dem Brett, bis es sich schließlich bewegte. Er fegte mit der Hand Staub und Schmutz beiseite, um besser in das Geheimfach hineinsehen zu können. Dann hob er sein Handy und leuchtete.

Das Fach war leer.

image

Schloss Unterallmannshausen, im Jahr 1894

Das dunkel gemaserte Holz des Sekretärs schimmerte im Zwielicht. Fein ausgearbeitete Ornamente schmückten den beschädigten Aufsatz.

»Ich glaube, wir haben das richtige Möbelstück gefunden. Da sind noch alte Papiere drin«, sagte Michi, während er sich bückte. »Briefe oder so.« Er griff in ein Fach und holte einen Stapel alter Briefumschläge heraus, die mit einem Lederstreifen zusammengebunden waren.

Ludwig trat noch dichter heran und spähte in die Fächer über der Tischplatte. »Leuchte mal hier hinein«, bat er seinen Freund.

Michi tat ihm den Gefallen.

Die meisten der kleinen Türen ließen sich nicht öffnen, als Ludwig an ihnen rüttelte. Schließlich nahm er seinem Freund die Lampe aus der Hand und beugte seinen Kopf über die Platte. Er sah, dass ein Teil der Rückwand aus ihrer Fassung gerutscht war.

»Genau wie Sepp beschrieben hat«, sagte er über die Schulter zu Michi. »Das sieht aus wie eine Geheimtür!«

»Zeig mal«, verlangte Michi und stieß Ludwig beiseite.

»He!«, protestierte der und wich zurück.

Michi murmelte: »Tschuldigung«, und tastete mit den Fingern an der Kante entlang. »Da ist auch ein Schlüsselloch«, sagte er. »Aber es sitzt ganz in der Ecke, nur schwer zu entdecken.« Er griff an das Brett und rüttelte daran.

Ludwig lachte. »So leicht kriegst du das bestimmt nicht auf.«

»Muss ich gar nicht«, keuchte Michi und zog kräftiger. »Ich will ja nur mal einen Blick hineinwerfen.« Und tatsächlich schaffte er es, die Tür ein wenig weiter nach außen zu biegen.

Mit einem Mal gab das Holz nach.

»Na toll, jetzt hast du es kaputt gemacht«, beschwerte sich Ludwig.

Michi zuckte mit den Schultern. »Ach was, das können wir leicht wieder einsetzen. Und jetzt können wir immerhin in das Fach schauen. Leuchte doch mal.«

Sein Freund hielt die Lampe höher, und Michi griff, so weit er konnte, in das Fach hinein.

Ludwig beobachtete, wie er im Schrank umhertastete und schließlich die Hand wieder ins Freie zog. Er hielt ein zusammengefaltetes Papier darin. »Das ist alles, was drin lag«, sagte er und faltete das dünne Blatt vorsichtig auseinander.

Neugierig beugte sich Ludwig darüber.

Es war eine Zeichnung mit schwarzer Farbe, die aussah wie Kohle. Es schien, als hätte jemand das Blatt auf eine unebene Oberfläche gelegt und das Darunterliegende abgepaust. Im schwachen Licht der Lampe konnte Ludwig leider kaum etwas erkennen.

Michi aber sagte: »Das ist ein Vogel! Ein Vogel auf einem Ast.« Er hob das Blatt näher an die Augen. »Und hier steht etwas: ›Der erste Hinweis auf das Versteck der Schale. Relief im Fels auf der Rottmannshöhe. Ferdinand von Beilstein, 1571.‹«

Er ließ das Papier sinken. »Es stimmt also, was Sepp erzählt hat«, sagte er und sah Ludwig triumphierend an. »Am Würmsee ist eine kostbare goldene Schale versteckt, die aus dem Tempel in Jerusalem stammt. Wie aufregend!«

Nachdem sie die Zeichnung wieder zusammengefaltet hatten, steckte Ludwig sie ein. Er freute sich schon darauf, sie bei besserem Licht zu studieren.

»Komm schon, lass uns gehen«, forderte er seinen Freund auf. »Hier gibt es wohl nichts Interessantes mehr zu entdecken.«

»Ich will erst noch die Tür wieder einsetzen«, meinte Michi und schaffte es auch tatsächlich, das herausgelöste kleine Brett wieder am richtigen Platz zu verstauen. Dann ging er seinem Freund hinterher.

Als sie bei dem Regal mit den alten Jagdwaffen vorbeikamen, blieb er jedoch stehen und griff noch einmal in ein Fach. »Schau mal, Luggi, die ist besonders schön.« Er hob mit beiden Händen eine Armbrust hoch, deren Griff und Schaft mit metallenen Ornamenten verziert waren. Er legte sie auf einen Arm und beugte den Kopf darüber.

Mit einem leisen Pfeifen schwenkte er die Waffe in Richtung Ludwig. Der sah ihm dabei zu und lächelte nur.

Dann drückte Michi den Abzug.

Brennender Schmerz durchzuckte Ludwigs Kopf. Im selben Moment ertönte hinter ihm ein Klirren, als ob eine Vase in tausend Scherben zersplittert sei.

Er schrie auf und griff sich über dem rechten Ohr an seinen Kopf. Als er die Hand zurückzog, war sie voller Blut.

Michi hatte die Armbrust fallen lassen und war mit zwei Schritten bei seinem Freund. »Luggi«, rief er erschrocken. »Was ist denn jetzt passiert?«

»Die Armbrust war geladen, du Idiot!«, schrie Ludwig ihn an. Tränen stiegen in seine Augen, und er hatte das Gefühl, dass Blut in den Kragen seiner Lodenjacke tropfte.

Auch in Michis Augen standen Tränen. »Das wusste ich nicht! Es tut mir so leid, Luggi. Lass mal sehen.«

»Lass mich!«, fauchte Ludwig verärgert. Die Stelle, wo ihn der Bolzen gestreift hatte, brannte heftig. Er fühlte, dass ihm ein wenig schwindelig wurde.

Schnell drehte er sich um und ging zu der Falltür zurück, durch die sie auf den Dachboden geklettert waren.

Michi folgte ihm schweigend.

Kapitel 1:

Der Phönix

Am Starnberger See, Frühjahr 2019 – ein paar Tage vorher

»Aaah! Solo una canzone!«, sang Franky und übertönte damit sogar die voll aufgedrehte Box, die er im alten Heinrich installiert hatte. Weil er nur etwa jeden zweiten Ton korrekt traf und den Rest einfach improvisierte, klang diese Mischung äußerst schrill.

Jaron, die Hand an der Außenklinke des ausgemusterten Zirkuswagens, drehte sich zu Antonia um und sah sie stirnrunzelnd an. »Hat noch keiner von uns herausgefunden, wo er diese blöde Box versteckt hat, mit der er uns immer karaoke-foltert?«

Antonia seufzte. »Nein, wie du unschwer hören kannst, hat das noch niemand geschafft. Keine Ahnung, wie Franky das hinkriegt.«

Der Wagen, auf dem das Logo eines Zirkus Heinrich langsam verblasste, war der Treffpunkt der vier Freunde, wo sie in Ruhe neue Abenteuer planen konnten. Und Die vier vom See, wie sie sich nannten, hatten in den vergangenen Monaten schon so einige davon bestanden.

Plötzlich wäre Jaron beinahe die Tür an die Stirn geprallt, so schnell wurde sie von innen aufgestoßen.

Dann stapfte Emma sichtlich genervt die Stufen hinunter und knallte die Tür hinter sich zu. »Er feiert«, schnaubte sie, »und behauptet, das mache man in Italien so. Wenn das stimmt, will ich da nie hin.«

»Also feiern wir heute nicht nur seinen Geburtstag, sondern er hat den Gips tatsächlich ab?«, fragte Jaron.

Emma nickte. »Ja, das hat geklappt. Er ist ihn los.«

Franky hatte sich vor etwa zwei Monaten bei einem Fußballspiel den Ellbogen verletzt. Die Heilung hatte sich aus verschiedenen Gründen in die Länge gezogen, sodass er den Arm eine ganze Weile in Gips gehabt hatte. Das war für den begabten Programmierer und Hacker eine echte Einschränkung gewesen.

Also schon irgendwie verständlich, dass ihm zum Feiern zumute ist, dachte Jaron und grinste in sich hinein. Und dann ist auch noch sein Geburtstag – eine bessere Gelegenheit gibt es nicht.

Die Tür des Zirkuswagens wurde erneut aufgerissen und Franky breitete die Arme aus. »Amici!«, rief er. »Kommt doch rein, hier ist Party! Ich habe Pizza dabei – Zeit zu feiern!«

Aus der offenen Tür drang die Popmusik nun so laut, dass Jaron ihn kaum verstehen konnte. Gleichzeitig roch er einen verlockenden Duft und merkte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. Frankys Vater servierte in seiner Pizzeria am Sportplatz die beste Pizza der ganzen Gegend.

»Gerne. Aber nur, wenn du den Lärm runterfährst«, rief Antonia.

»Lärm? Welchen Lärm?«, erwiderte Franky.

»Mach dieses Gejaule aus!«, brüllte sie und trat näher.

Beschwichtigend hob er die Hände. »Jo, chill mal. Ihr habt einfach keine Ahnung von guter Musik.«

»Jetzt mach leiser!«

»Ja, ja, keine Sorge.« Mit diesen Worten drehte Franky sich um und verschwand im Wagen.

Jaron, Emma und Antonia folgten ihm.

Nachdem Franky die Musik mithilfe seines Handys auf ein erträgliches Maß reduziert hatte, winkte er seinen Freunden, sich zu setzen. Auf dem kleinen Tisch am Fenster standen vier offene Pizzaschachteln neben einer Flasche Limonade und Gläsern.

Obwohl Jaron es kaum erwarten konnte, mit dem Essen anzufangen, folgte er dieser Aufforderung nicht sofort. Etwas anderes kam zuerst. »Hey, zeig mal her!«, sagte er zu seinem Freund.

Daraufhin schob Franky strahlend einen Ärmel hoch und streckte ihm seinen Arm entgegen. Der war sichtlich dünn geworden, die Haut war völlig bleich und ein wenig verschrumpelt. »Das hat so dermaßen gestunken, als sie den Gips abgemacht haben«, berichtete er geradezu triumphierend. »Und eine ganze Schicht Haut konnte ich abrubbeln.«

»Igitt!«, sagte Emma. »Wenn du so eklige Sachen erzählst, kannst du deine Pizza gleich allein essen.«

»O super«, freute er sich. »Da gibt es noch was viel Ekligeres, wisst ihr, als ich …«

»Stopp!«, sagte Jaron. »Ich hab Hunger, lasst uns essen.«

Alle setzten sich an den Tisch. Antonia sprach ein kurzes Dankgebet, dann griffen alle herzhaft zu. Franky hatte jedermanns Lieblingspizza besorgt – für Emma mit Pilzen, Antonia liebte Pizza Hawaii und Jaron Salami.

Franky selbst hatte seine ganz eigenen Vorstellungen von gutem Geschmack: Er kombinierte am liebsten Sardellen mit Peperoniwurst.

»Erzähl doch mal, was du zum Geburtstag gekriegt hast«, forderte Jaron ihn auf, während er in sein erstes Stück Pizza biss.

»O Mann, ihr werdet es nicht glauben: Meine Eltern haben einen 3-D-Drucker springen lassen!«

»Echt? Wahnsinn«, kommentierte Emma kauend, »so was hätte ich auch gerne. Dann kannst du jetzt alles ausdrucken, was du brauchst?«

Franky nickte. »Nur Pizza funktioniert leider nicht.«

Alle lachten.

Franky griff schon nach dem zweiten Stück. »Jetzt, wo ich wieder ganz fit bin, könnten wir doch eigentlich einen neuen Versuch starten. Was unsere Suche nach der Schale angeht, meine ich.«

Seit dem vergangenen Sommer bemühten sich die vier Freunde, ein großes Rätsel zu lösen: Franky war im Internet auf eine Legende gestoßen, die besagte, dass am Starnberger See ein geheimnisvoller Schatz versteckt sei. Unter der nah gelegenen Sankt-Valentins-Kapelle hatten die Freunde durch Zufall eine Gruft entdeckt, die mehrere Hinweise enthalten hatte: ein altes Tagebuch, dessen Schrift allerdings so verwischt war, dass sie nichts damit anfangen konnten, ein silberner Schlüssel, die Fassung einer Brosche und ein sichelförmiger Bernstein.

Offenbar sollte die Brosche – sobald sie komplett war – zum Versteck einer wertvollen goldenen Schale führen, die aus dem Tempel in Jerusalem stammte.

Die fehlenden beiden Steine, die neben dem Bernstein in die Broschenfassung hineinpassten, hatten die Freunde inzwischen auch tatsächlich gefunden. Doch immer noch hatten sie keine Ahnung, was sie mit dem Schmuckstück anfangen sollten.

Außer ihnen schienen noch zwei weitere Personen von der Existenz der Schale zu wissen: der Antiquitätenhändler Richard Weixlhammer – und Hans Bernwieser, ein älterer Fischer, der in einer Hütte direkt am See wohnte und für Antonia sozusagen ein Ersatz-Opa war. Beide Männer hatten ihnen schon gelegentlich gute Tipps gegeben und sie sogar aus gefährlichen Situationen gerettet.

Allerdings verhielten sich die beiden Männer manchmal auch ziemlich merkwürdig, sodass die Freunde nicht wussten, ob sie ihnen trauen sollten.

Emma seufzte zufrieden und schob ihre Pizzaschachtel von sich. »Ja, wir sollten weitersuchen. Aber ganz ehrlich: Ich habe keine Ahnung, wie wir das anstellen sollen. Noch mal Weixlhammer fragen? Oder Opa Hans? Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Idee wäre.«

Jaron zuckte mit den Schultern, und auch Antonia sah ratlos aus.

»Jetzt bleibt mal ganz locker und lasst das Onkel Franky machen.« Vergnügt stopfte Franky sich den letzten Bissen in den Mund und wischte sich seine Hände an der Hose ab.

»Ja, klar, und wie willst du weiter vorgehen, ›Onkel Franky‹?«, meinte Antonia schnippisch.

»Lasst uns doch einfach noch mal in Ruhe über alles nachdenken und zusammentragen, was wir bisher schon herausgefunden haben.«

»Na, wenn du meinst, dass das mit dem Denken bei dir klappt«, foppte Jaron seinen besten Freund.

»Lasst den Meister nur machen«, gab Franky selbstsicher zurück, worauf Antonia schnaubte und Emma kicherte.

Der Computerspezialist griff nach seinem Tablet. »Also, auf dem letzten Stein, den wir an der Zährenborn-Quelle gefunden haben, war ein Vogel abgebildet, richtig?«

»Richtig«, sagte Antonia.

»Hol den Stein doch mal her.«

»Aber natürlich, großer Meister, ich tue alles, was du sagst«, erwiderte sie ironisch und stand auf.

Emma stapelte inzwischen alle Kartons aufeinander und räumte den Tisch ab.

Antonia holte die Brosche aus ihrem Versteck und legte sie auf die Tischplatte. Die runde Broschenfassung war etwa so groß wie eine Mandarine. Auf der Rückseite war unter der Nadel ein lateinischer Spruch eingeritzt: Et absterget Deus omnem lacrimam ab oculis – Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, ein Spruch aus der Offenbarung, dem letzten Buch der Bibel.

Die einzelnen Bestandteile dieses Spruchs fanden sich auch auf den drei Steinen, die sich in die Fassung einsetzen ließen.

In einen sichelförmigen Bernstein war außerdem ein Kreuz eingearbeitet; es hatte sie zu einem Baum geführt, dessen zwei Stämme kreuzförmig übereinandergewachsen waren.

Dort hatten sie den zweiten Stein entdeckt, einen Mondstein in der Form eines Fisches. Die Tränen oder Wassertropfen darauf hatten auf das Versteck des dritten Steins hingewiesen: eine längst versiegte Quelle namens Zährenborn.

Der dritte Stein, eine Koralle, den sie dort gefunden hatten, war wieder sichelförmig. Auf ihm war ein Vogel zu sehen. Er saß auf einem Ast, reckte den langen Hals und breitete die Flügel aus.

Dieser letzte Stein, so hofften die Freunde, würde sie nun endlich zum Versteck der goldenen Schale führen.

»Okay, wir hatten uns geeinigt, dass dieses Vogelvieh ein Phönix sein könnte«, meinte Jaron.

»Ja, nachdem ich tagelang im Internet nach allen möglichen Vogelbildern geforscht habe«, ergänzte Franky.

»Das war ja für den großen Meister kein Problem, oder – Onkel Franky?« Antonia zog die Augenbrauen hoch.

Franky grinste. »Ich lese mal vor, was wir über diesen komischen Phönix schon alles rausgefunden haben.« Er öffnete Wikipedia und las:

»Der Phönix (…) ist ein mythischer Vogel, der am Ende seines Lebenszyklus verbrennt oder stirbt, um aus dem verwesenden Leib oder aus seiner Asche wieder neu zu erstehen. Diese Vorstellung findet sich heute noch in der Redewendung ›wie Phönix aus der Asche‹ für etwas, das schon verloren geglaubt war, aber in neuem Glanz wieder erscheint … Bei den Christen galt er als Sinnbild der Auferstehung.«

»Schon krass«, kommentierte Jaron, als Franky fertig war.

»Okay, so viel zum Phönix. Was haben wir noch?«, fragte Emma.

Antonia begann aufzuzählen: »Wir haben es mit drei verschiedenen Symbolen zu tun, jedes bezieht sich auf den Bibelspruch auf der Brosche. Et absterget Deus bedeutet ›Gott wird abwischen‹.« Sie betrachtete die Brosche, die sie in der Hand hielt.

»Dem Anfang des Spruchs können wir das Kreuz auf dem Bernstein zuordnen. Es ist das Zeichen für Jesus – also Gottes Sohn«, stellte Jaron fest. »Und der zweite Stein mit der Inschrift omnem lacrimam – ›alle Tränen‹ – hatte Tränen eingraviert.«

»Dass dies zusammenpasst, ist offensichtlich. Vermutlich soll der dritte Stein mit der Inschrift ab oculis – ›von ihren Augen‹ – auf eine Erneuerung hinweisen. Der Phönix als Symbol der Auferstehung lässt sich damit gut vereinbaren«, überlegte Franky, während er weiter konzentriert auf sein Tablet starrte. »Der ganze Spruch steht in der Offenbarung, also dem Buch der Bibel, das sich mit der Wiederkunft von Jesus beschäftigt. Wenn Jesus wiederkommt, wird er alle Tränen abwischen, er wird alles neu machen und wir werden auferstehen.«

»Mag ja alles stimmen«, warf Jaron ein, »klingt alles logisch. Aber was ich nicht verstehe: Auf welchen Ort weist denn nun der Phönix hin? Von dem Kreuz und den Tränen konnten wir die Verstecke der beiden fehlenden Steine herleiten. Aber worauf bezieht sich dieses Federvieh – auf einen Hühnerstall vielleicht?«

Die anderen drei lachten.

»Hühnerstall ist gut«, prustete Franky. »Und die Schale als Osternest – passt doch.«

»Jetzt aber mal ernsthaft: Was sollen wir mit dem Phönix anfangen – habt ihr eine Ahnung?«, fragte Jaron.

»Nein, keinen Schimmer«, gab Emma zu.

Auch Antonia und Franky schüttelten den Kopf.

»Und was sollen wir dann jetzt machen?«

»Vielleicht gehen wir einfach noch mal an den Anfang unserer Suche zurück«, schlug Franky vor. »Damals haben wir bei Weixlhammer doch dieses Buch über die Legenden vom Starnberger See gesehen, wisst ihr noch? Inzwischen habe ich es nicht nur online gelesen, sondern mir sogar ein Exemplar der Printausgabe besorgt. Und ratet mal, wie die Autorin heißt.«

»Keine Ahnung, sag schon«, erwiderte Jaron ungeduldig.

Franky griff in seinen Rucksack, holte ein abgegriffenes kleines Büchlein mit verblasstem grünem Leineneinband hervor und streckte es den anderen hin. »Die Autorin heißt Martha Weixlhammer.«

»Gibt’s ja nicht!«, rief Emma.

»Krass«, ergänzte Jaron. »Ist die mit unserem Antiquitätenhändler verwandt?«

»Könnte schon sein«, meinte Antonia.

»Vielleicht macht es doch Sinn, dass wir noch mal mit Weixlhammer reden.« Franky blickte in die Runde.

Antonia verzog das Gesicht. »Oh, nee, bitte nicht, ich trau diesem schrägen Vogel nicht über den Weg.«

»Ja klar, du willst bestimmt zu Opa Hans gehen, oder?«, sagte Franky etwas gereizt.

»Genau, das will ich! Der scheint nämlich mehr zu wissen, als er uns bisher erzählt hat.«

»Aber er rückt eben nicht mit der Sprache raus«, gab Emma zu bedenken. »Und er hat sich manchmal schon reichlich merkwürdig benommen.«

»Das stimmt«, erklärte Jaron. »Und was Weixlhammer betrifft: Wenn er uns vor einigen Wochen nicht unterstützt hätte, hätten wir diese Dr. Dragumir mit ihren Machenschaften jedenfalls nicht drangekriegt.«

Dr. Dragumir hatte Frankys Arm in der Klinik in Kempfenhausen behandelt; die Freunde waren dahintergekommen, dass sie Gelder im großen Stil unterschlagen hatte. Bei der spektakulären Aufdeckung des Skandals hatte der Antiquitätenhändler zum Schluss tatkräftig mitgeholfen.

»Ich bin derselben Meinung wie Franky: Ich denke, wir sollten noch mal mit Weixlhammer reden«, fuhr Jaron fort. Das mutige Vorgehen des alten Mannes hatte ihm imponiert, auch wenn dieser, zugegeben, ziemlich verschroben war.

»Ich bin für Opa Hans«, sagte Antonia bockig.

»Leute, so kommen wir doch nicht weiter«, seufzte Emma. »Wie wäre es, wenn wir uns aufteilen und jedem der beiden nur zwei Fundstücke zeigen? Dann weiß keiner von ihnen, dass wir schon die komplette Brosche haben, und wir kriegen doppelte Hilfe.«

»Gar keine blöde Idee«, stimmte Franky zu. »Obwohl Opa Hans die zusammengesetzte Brosche ja schon gesehen hat, als er mich damals im Krankenhaus besucht hat.«

»Mag sein, aber vielleicht weiß er das nicht mehr«, sagte Antonia. »Ich finde den Vorschlag auch gut.«

»Also, dann machen wir es so«, entschied Jaron. »Du und Franky, ihr sprecht mit Opa Hans, und, Emma, wir beide gehen zu Weixlhammer.«

»In Ordnung. Aber bevor wir das tun, möchte ich die Brosche gerne noch genau dokumentieren«, erklärte Emma. »Um sicherzugehen, dass wir noch alle Hinweise haben, sollte sie abhandenkommen.«

»Ganz die Wissenschaftlerin«, zog Jaron sie auf.

Emma begeisterte sich für Naturwissenschaften und war unangefochten die Beste von ihnen, was Sachwissen, Experimente oder logisches Denken betraf.

Ohne auf seinen gutmütigen Spott einzugehen, holte sie einen Maßstab von der kleinen Werkbank, auf der sie immer ihre Versuche aufbaute. Sie positionierte die einzelnen Steine so, dass sie vom Tageslicht gut ausgeleucht wurden, legte den Zollstock daneben und fotografierte alle vier Fundstücke erst getrennt und dann zusammengesteckt von allen Seiten. Hinterher verstaute sie alles wieder in ihrem Versteck.

»So«, schloss sie befriedigt, »jetzt müssen wir die Originale gar nicht mehr mitnehmen, wenn wir zu Weixlhammer und Opa Hans gehen. Die Fotos genügen.« Sie tippte auf ihrem Smartphone und versendete die Bilder an ihre drei Freunde.

»Clever«, kommentierte Jaron, während er die Fotos auf seinem Display betrachtete.

»Tja.« In Emmas Stimme schwang ein kleiner Stolz, als sie ihre Brille zurechtrückte.

»Okay«, sagte Antonia, »dann kann’s ja losgehen. Onkel Franky, sprechen wir morgen mit Opa Hans, wenn wir zu seiner Geburtstagsfeier gehen?«

»Aber natürlich, Chefin«, sagte er strahlend, »der Meister ist bereit.«

»Hast du eigentlich sein Geschenk besorgt, wie wir es abgesprochen hatten?«, fragte Emma.

»Klar«, sagte Antonia und deutete auf ein kleines Päckchen, das auf Emmas Labortisch lag. »Ein Smartphone für Senioren, wie geplant. Mein Vater hat sich um die SIM-Karte gekümmert, und eingerichtet ist das Handy auch schon. Opa Hans kann also gleich lostelefonieren. Seine neue Nummer schicke ich euch noch.«

»Super!«, lobte Emma, dann wandte sie sich an Jaron. »Und wir gehen zu Weixlhammer?«

»Ja, machen wir«, bestätigte Jaron, »aber erst am Mittwoch. Ich hab morgen Training und hinterher reicht die Zeit nicht mehr.«

Emma nickte.